Rückspiegelungen Episode 1 - Vom Verlieren der Liebe - Christoph Klesse - E-Book

Rückspiegelungen Episode 1 - Vom Verlieren der Liebe E-Book

Christoph Klesse

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Beschreibung

Robert ist gerade 10 Jahre alt. Da hat er einen Anfall von Hellsichtigkeit. Die 4jährige Annemarie, die er beim Spielen im Sandkasten beobachtet, wird ihm als Mutter seiner zukünftigen Kinder "offenbart". Sie erscheint ihm aber viel zu jung. Da taucht die im Alter zu ihm passende Evelyn auf, die ihn nach einem Kuss als ihren Bräutigam betrachtet. Kurz darauf tauscht R. versehentlich auch mit A. einen Kuss, die ihn daraufhin ebenfalls als ihren zukünftigen Ehemann reklamiert. E. und R. sind drei Sommer lang miteinander befreundet. Als ihre Sexualität erwacht und bedrängt, trennen sie sich einvernehmlich mit dem Versprechen, ihre Beziehung fortzusetzen, wenn die Zeit für die Tanzstunde gekommen ist. Beide erinnern sich rechtzeitig an ihr Versprechen. Sie finden wieder zusammen. In den folgenden Jahren wird ihre Liebe nicht nur einmal in Frage gestellt, setzt sich aber am Ende durch. Ein befreundeter Pater, seit ihrer Kindheit ihr geistlicher Mentor, traut sie heimlich. Nach weiteren Komplikationen, scheint sich alles zum Guten zu wenden. Das Paar steht kurz vor der standesamtlichen Hochzeit. Da wird E. Opfer eines mysteriösen Unfalls. R. spürt, dass sie in Lebensgefahr schwebt. Plötzlich steht die Welt auf dem Kopf. Die Personen, die E. und R. am nächsten stehen, verwandeln sich in ihre unerbittlichsten Feinde. R. kämpft für die Liebe, doch er hat keine Chance. In einem Netz aus Eitelkeit, Täuschung und Lüge geht sie verloren. Dabei spielt der Vater von R., der sich von E. angezogen fühlt, eine Schlüsselrolle. Jahre später, R. ist inzwischen mit A. verheiratet, erscheint E. gänzlich unerwartet in seiner Welt, und das nicht nur einmal. Schließlich begibt sich R. auf die Suche nach ihr. Seine Mutter, seine Frau und die Schwester von E. behaupten, seine Erinnerungen an E. seien größtenteils Einbildungen oder Wunschträume. Die E., die R. im Verlauf seiner Suche findet, hat keine Ähnlichkeit mit der E. seiner Jugend. Was war wirklich? Was ist wirklich?

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Erschienen 2018Stand 30.4.2019Alle Rechte vorbehaltenDruck und Bindung epubli(Holzbrinck Digital Content Group)

Christoph KlesseRÜCKSPIEGELUNGEN

Episode 1

Vom Verlieren der Liebe

Vorwort

Evelyn und Robert lernen sich als Kinder kennen und lieben. Ihre Beziehung –immer wieder unterbrochen- dauert ein volles Jahrzehnt. Dann wird Evelyn Opfer eines mysteriösen Unfalls. Plötzlich scheint die Welt auf dem Kopf zu stehen. Die Personen, die Evelyn und Robert am nächsten stehen, verwandeln sich in ihre unerbittlichsten Feinde. Im Netz von Täuschungen und Lügen geht die Liebe verloren, aber immer wieder erscheint Evelyn unerwartet in Roberts Welt. Jahrzehnte später begibt sich Robert auf die Suche: Was war wirklich? Was ist wirklich? „Es fällt mir schwer, diese Geschichte aufzuschreiben. Nicht, dass ich Mühe hätte, mich zu erinnern, nein, meine Erinnerungen sind weder unscharf noch unvollständig, noch zweifelhaft. Sie sind wie viele kurze Filme, die ich vor meinem inneren Auge beliebig aufrufen und abspulen kann. Aber aus heutiger Sicht erscheint mir diese Geschichte sinnlos, wie ein Gegenstand, der mit viel Mühe aus Eis geschnitzt wurde, um bereits vor seiner Fertigstellung wieder zu schmelzen. So viel Anstrengung für nichts!

Zwei Küsse, zwei Frauen

Diese Geschichte beginnt im frühen Sommer des Jahres 1957 in Kronstadt an der Donau. Zu Ostern war ich von der Grundschule in die Oberschule übergetreten und fuhr seither morgens mit dem Schulbus zum Edwald-König-Gymnasium in der Innenstadt. Der Bus fuhr auch das Mädchengymnasium an und war ganz überwiegend mit Mädchen besetzt, die sich erstaunlich viel zu sagen hatten. Bald hatte ich ein paar ausgemacht, die interessanter erzählten als die anderen und mir deshalb besonders attraktiv vorkamen. Leider beachteten mich diese, ausnahmslos deutlich älter als ich, überhaupt nicht. Ich war Luft für sie. Einige schüchterne Versuche, ein Gespräch zu beginnen, endeten kläglich: „Was weißt du denn schon, Kleiner“, war eine der netteren Antworten auf meine Annäherungsversuche. Das Viertel, in dem meine Familie wohnte bestand im Kern aus Einfamilienhäusern. Am äußeren Rand entlang der Mondstraße, wo sich auch die Bushaltestelle befand, war es mit Wohnblocks bebaut. Inmitten dieser Blocks war ein großer Sandkasten eingerichtet, in dem die Kinder des Viertels bei trockenem Wetter spielten, vor allem die Mädchen. Eines frühen Abends,auf dem Weg von einem Freund nach Hause zum Abendessen, kam ich wie oft an diesem Sandkasten vorbei. Es war ein sonniger Tag. In Sand tummelten sich heute besonders viele Kinder. Dass die älteren Mädchen im Bus mir keine Beachtung schenkten, so ging es mir durch den Kopf, war enttäuschend. Kurzentschlossen setzte ich mich auf eine Bank am Rand des Spielplatzes, um Lage und Aussichten zu überdenken. Damals machte ich mir ernsthaft Gedanken darüber, wie ich (sobald ich alt genug war) die Frau fürs Leben finden würde. Meine naive Vorstellung lief darauf hinaus, dass es in dieser Welt eine und nur eine Frau gab, die für mich bestimmt war. Aber wie sollte ich sie finden? Dabei fiel mir das Märchen von den zwei Königskindern ein, die nicht zusammenkommen konnten, weil sie durch tiefes Wasser getrennt waren. Mann und Frau konnten sich offenbar finden und am Ende immer noch verfehlen. Aber schon das Finden schien eine unlösbare Aufgabe. Was könnte ich beispielsweise tun, wenn die Frau, die darauf wartete, von mir gefunden zu werden, Chinesin war? Ich befragte meine Mutter, die mit meinem Vater sehr glücklich zu sein schien. Meine Mutter erklärte mir: „Du brauchst die richtige Partnerin nicht zu suchen. Im rechten Moment wird sie einfach da sein. Vielleicht ist sie schon (noch unerkannt) längst in deiner Nähe. Ich selber habe deinen Vater seit meinem vierten Lebensjahr gekannt, aber erst zwanzig Jahre später als den Richtigen erkannt. Du musst also einfach Geduld haben.“ Die meisten Mädchen im Sandkasten, den ich jetzt genauer in Augenschein nahm, schienen zwischen vier und fünf Jahre alt zu sein. Meine Mutter war sechs Jahre jünger als mein Vater, jedenfalls gab sie sich so aus. Sechs Jahre war offenbar der ideale Altersunterschied zwischen Mann und Frau. Mit einem Schlag realisierte ich, dass meine künftige Frau eines der kleinen Mädchen sein könnte, die im Sandkasten spielten, und die ich bisher praktisch nicht wahrgenommen hatte. Vom Alter her würde es passen. Ich fasste die Kinder jetzt genauer ins Auge. Ein Mädchen fiel mir auf, das einen kleinen, ziemlich ungezogenen Bruder dabeihatte. Der Kleine hatte nichts Konstruktives im Sinn. Er wollte nur kaputt machen, was die anderen Kinder gebaut hatten. Seine Schwester hinderte ihn daran, geduldig und konsequent, und ließ sich gleichzeitig von ihrem eigenen Bauwerk nicht ablenken. Und wenn es dem bösen Buben doch einmal gelang, ein Sandgebilde zu beschädigen, half sie beim Wiederaufbau. Mir fiel auf, dass ihre Hände sich sehr geschickt und zielbewusst bewegten. Diese Hände zogen mich in eine Art hypnotischen Bann. Konnte dieses Mädchen, das etwas Besonderes an sich hatte, für mich bestimmt sein? Ich musste es wissen. Das war mir ganz plötzlich äußerst wichtig. Unmöglich noch Jahre zu warten. Ich wandte mich bittend an Gott, forderte ihn auf, mir meine Lebenspartnerin zu offenbaren, bot ihm als Gegenleistung an, nie wieder an ihm zu zweifeln. Plötzlich senkte sich eine Art Kraftfeld auf mich nieder, durchdrang mich, und ich wusste ohne irgendeinen Zweifel, dieses Mädchen wird die Mutter deiner Kinder sein. Ich überlegte, welchen Nutzen ich von diesem Wissen hatte und stellte überrascht fest, dass dieses Kind ja viel zu jung für mich war. Ich konnte auf viele Jahre hinaus nichts mit ihm anfangen. In meinen Jugendjahren war ich damit von Liebesabenteuern ausgeschlossen. Ich musste warten, bis das kleine Mädchen volljährig war, bevor ich mich ihm nähern konnte und dann wäre ich schon vierundzwanzig Jahre alt. Meine Jugend wäre bereits vorüber. Ich versuchte, der göttliche oder engelhafte Präsenz, die ich noch immer spürte, zu überreden, eine andere ältere Gefährtin für mich auszusuchen, oder mir zumindest eine zweite Gefährtin zuzuweisen, mit der ich (als ihr Ritter) meine Jugendjahre teilen würde. Ich war damit einverstanden, die Partnerin zu wechseln, wenn ich für Beruf und kinderreiche Familie gereift war. Es entspann sich eine Diskussion mit und. gegen zwei Stimmen, von denen ich nicht sicher war, ob sie in meinem Kopf redeten oder außerhalb von mir. Für ein paar Momente hatte ich den Eindruck, dass die engelhafte Stimme dem Vater des Sandkastenmädchens gehörte, der -so stellte ich mir vor- von einem Balkon im fünften Stockwerk des nächsten Wohnblocks, auf mich herunterblickte. Etwas Weißes beugte sich über die Balkonbrüstung. Ein Hemd? Flügel? Die zweite Stimme schien aus einem Busch in der Nähe zu kommen. Ich hatte den Verdacht, dass sie meinem Vater gehörte, der mir einreden wollte, ich solle mich dem göttlichen Ratschluss verweigern. Ich erinnerte mich an die Lotterie der blinkenden Asse, ein Gewinnspiel, das ich vor ein paar Tagen auf der örtlichen Kirmes gespielt hatte. Ich hatte ungefähr fünfmal hintereinander auf das richtige Feld gesetzt, das Feld auf dem das blinkende Licht stehenblieb. Ich hatte dieses Feld mit einem Gefühl absoluter Sicherheit vorhergesehen. Aus dem Kreis der umstehenden Spieler und Zuschauer wurden Stimmen laut, hier sei Betrug im Spiel. Meine Gewinnserie komme durch falsches Spiel zustande. Ich wehrte mich gegen diese Anschuldigung. Wie um Gottes willen sollte ich das Spiel manipulieren? Ich hörte auf, selbst zu setzen, sagte aber noch ein paar Mal das Gewinnfeld korrekt voraus, bis mich der Betreiber des Standes verärgert aufforderte, mich zu entfernen. Jetzt suggerierte mir die Stimme aus dem Busch, sie kam mir vor wie die Stimme eines Teufels, ich solle die engelhafte Präsenz zu einer Runde blinkende Asse auffordern. Käme das Licht auf einem schwarzen Ass zu stehen, würde das dunkelhaarige Sandkastenmädchen die einzige Frau in meinem Leben sein. Bliebe das Licht auf einem roten Ass stehen, dann würde mir eine andere Frau, eine ältere, blondhaarige zugewiesen. Ich sollte das blinkende Licht so manipulieren, das es sich teilte und auf einem schwarzen und einem roten Ass gleichzeitig zum Stehen kam. Damit würde ich beide Frauen gewinnen. Der Vorschlag kam mir sündhaft vor, aber ich ließ mich überreden, und die engelhafte Präsenz ließ sich auf das Spiel ein. Tatsächlich blieb das Blinken auf einem roten und einem schwarzen Feld stehen. Ich nahm an, der Teufel höchst selbst habe das Spiel manipuliert. Der Engel schien das Ergebnis zu akzeptieren, obwohl es ihm nicht gefiel. Er wirkte verärgert und verschwand. Ich blieb allein auf der Bank zurück. Es dämmerte langsam, und das Mädchen im Sandkasten, die Mutter meiner Kinder, fing an von innen heraus heller zu werden. Ihr Kopf war umgeben von einem Leuchten, als werde sie von der Sonne direkt angestrahlt. Ich war ziemlich durcheinander und kam zu spät zum Abendessen. Am nächsten Tag vertraute ich mich meiner Mutter an, führte sie zum Sandkasten und zeigte ihr das Mädchen. Meine Mutter meinte „Behalte sie nur im Auge.“ Und sie tat mir einen großen Gefallen, indem sie Namen, der Vorname war Annemarie, und Adresse des Mädchens herausfand. Etwa vier Wochen nach diesem Ereignis, das mich stark beunruhigte, lernte ich Evelyn kennen. Sie war blond, anderthalb Jahre jünger als ich, und zweifellos die mir zugesprochene Gefährtin meiner Jugend, aber ein schwieriger Fall, der mich viele Jahre in Atem hielt. Erstaunlicherweise lernte mich am gleichen Abend das Sandkastenmädchen kennen und betrachtete mich fortan als ihren künftigen Ehemann. Diese „Offenbarung“, so nannte ich mein Erlebnis, hatte mich ziemlich erschüttert. Hatte ich mich mit meiner Gier, in die Zukunft zu blicken, versündigt? War mir etwa tatsächlich ein kurzer Blick in mein Schicksal gewährt worden, oder war das Ganze nur eine verrückte Phantasie? Die Wochen danach schlief ich schlecht und träumte schwer. Tagsüber war ich auf der Hut. Wenn ich schon gestraft werden sollte, sollte es mich wenigstens nicht unvorbereitet treffen. Und schließlich war ich in Sorge, dass ich die für mich vorgesehene blonde Gefährtin, falls es eine solche geben sollte, verfehlen könnte. Der für meinen Fall zuständige Engel würde dann sagen: „Es tut mir ja wirklich leid, aber ich habe für dich getan, was ich konnte. Du hättest halt die Augen aufmachen müssen.“ Einige Wochen nach dem seltsamen Erlebnis am Sandkasten fuhren mein Vater, der ungewöhnlich früh nach Hause gekommen war, und ich mit dem Fahrrad zum Schwimmverein am Langen See. Nach der Arbeit war mein Vater zumeist schweigsam und taute erst im Laufe des Abends auf. Oft blieb er aber den ganzen Abend über streng und verschlossen. So umgänglich wie heute hatte ich ihn noch nie erlebt. Ich fragte ihn, ob er befördert worden sei, und nachdem er dies verneinte, ob er vielleicht im Lotto gewonnen hätte. Die Frage, nicht ganz ernst gemeint, denn mein Vater hatte sich immer strikt gegen Glücksspiele ausgesprochen, wurde von ihm gleichfalls verneint. Mein Vater wusste von meiner „Offenbarung“ und den daraus folgenden Besorgnissen. Meine Mutter, der ich mich mitgeteilt hatte, was das Mädchen mit den Zöpfen anging, war der Meinung, ihrem Mann alles erzählen zu müssen. Mein Vater und ich hatten dann ausführlich über das Erlebte gesprochen. Von meinem „Handel“ mit den höheren Mächten und einem zweiten Mädchen hatte ich aber niemandem erzählt. Mein Vater hatte mich beruhigt: „Auch wenn du jetzt vielleicht tatsächlich schon die Frau erkannt hast, die einmal die Mutter deiner Kinder sein wird, darfst du trotzdem vorher Freundinnen haben und kannst dich auch unbesorgt verlieben. Es wird sich schon alles fügen.“ In seiner guten Laune, die er jetzt im Schwimmbad versprühte, versprach er mir zu helfen, und zwar jetzt gleich. „Wenn du willst, kann ich eine Freundin für dich finden.“ Ich sagte ihm: „Aussuchen möchte ich sie schon lieber selbst, aber was soll ich dann tun?“ „Geh einfach zu ihr und sprich mit ihr“, war die Antwort. „Aber was soll ich ihr sagen?“ fragte ich zweifelnd. „Sag ihr, dass sie dir gefällt, oder mach ihr irgendein anderes Kompliment und dann sag, dass du gern ihr Freund sein möchtest.“ „Ich bekomme bestimmt kein Wort heraus“, erwiderte ich. „Dann gib ihr eben einfach einen Kuss“, erklärte mein Vater gut gelaunt, dann wird sie dir nicht widerstehen können“. „Ich glaube eher, dass ich mir damit eine Ohrfeige einhandle,“ antwortete ich bekümmert. „Wenn du hier trübselig herumsitzt, wirst du jedenfalls niemanden finden. Du musst dich unter die Leute mischen, mit ihnen reden. Pass auf, wie ich es mache.“ Mein Vater stand auf, ging leutselig umher, grüßte hier und da jemanden, sprach die eine oder andere Person, zuerst Männer, dann auch Frauen an, schien mit der einen oder anderen Frau geradezu zu flirten. Mir war das ziemlich peinlich. Und das sagte ich ihm auch, als er zurückkam und mich aufforderte, es ihm gleich zu tun. „Ein bisschen musst du schon mitarbeiten, wenn wir eine Freundin für dich finden sollen, sonst kann ich dir auch nicht helfen. Und du solltest schon gar nicht herumsitzen und grübeln. Das hilft dir nicht weiter. Komm wenigstens mit ins Wasser und schwimm eine Runde. Mit ein paar Muskeln hast du sowieso bessere Chancen.“ Ich hatte keine Lust zu schwimmen, erschöpft und übermüdet, wie ich war. Mein Vater fing wieder an herumzulaufen, und ich, um seine Peinlichkeiten nicht mit ansehen zu müssen, verzog mich in einen wenig frequentierten Teil des Bades. Hier waren im Wasser Schwimmbahnen abgeteilt für Wettkämpfe und am in Terrassen ansteigenden Ufer standen Sitzbänke für Zuschauer. Oberhalb der Sitzbänke befand sich eine freie sandige Fläche. Zwischen den Sitzbänken spielten ein kleines Mädchen und ein noch kleinerer Junge. Es waren, wie ich überrascht feststellte, das Mädchen aus meiner „Offenbarung“ und ihr Bruder. Ich setzte mich auf eine Bank und beobachtete die beiden. Ihnen zuzuschauen, beruhigte mich. Die Kleine mit den langen braunen Zöpfen hatte tatsächlich etwas an sich. Sie spielte in einer ruhigen, zielgerichteten Weise. Geduldig aber bestimmt reagierte sie auf chaotische Anfälle ihres Bruders, der an ihrer systematischen Art des Spielens wenig Gefallen fand. Das Zuschauen machte mich noch müder. Ich ging deshalb zurück an den Strand, legte mich auf die mitgebrachte Decke und schloss die Augen. Mein Vater war nicht zu sehen, wahrscheinlich war er zum Schwimmen gegangen. Ich schlief ein. Als ich erwachte, näherte sich die Sonne dem Horizont. Es war kühler geworden. Mein Vater fasste mich am Arm und sagte, „Wir müssen jetzt gehen. Wir sind sonst zu spät zum Abendessen.“ Schlaftrunken setzte ich mich auf und erstarrte. Bevor ich eingeschlafen war, war der Platz vor mir leer gewesen. Jetzt saß dort, unmittelbar vor mir ein Mädchen mit blonden Haaren im Badeanzug. Es wandte mir den Rücken zu. Ich konnte sein Gesicht also nicht sehen. Das Mädchen war kleiner als ich, aber schätzungsweise gleichaltrig. Es saß ganz allein auf einem Handtuch, obwohl es zu jung war, um sich ohne Familienangehörige um diese abendliche Zeit im Schwimmverein aufzuhalten. Ich stellte mir vor, dass es hübsch war. War es sie? War dies etwa die Gefährtin, auf die ich gewartet hatte? Mein Vater drängte: „Wir müssen jetzt wirklich gehen“. „Nein“, antwortete ich flüsternd, „noch nicht, auf keinen Fall“. Ich stand auf und ging zum Wasser, schaute eine kurze Weile auf den See hinaus, bevor ich mich unauffällig umdrehte, halb erwartend, das Mädchen würde dann verschwunden sein. Es war nicht verschwunden, saß vielmehr ganz ruhig da und schaute mich an. Sie schaute mich an. Ihr Blick, der meinem nicht auswich, schien nachdenklich und ein wenig abschätzend. Lag eine Aufforderung in diesem Blick? Und sie war hübsch. Sie sah tatsächlich genauso so aus, als wäre sie einem meiner Träume entsprungen, nur jünger. Ich setzte mich wieder auf die Decke und überlegte krampfhaft, wie ich sie ansprechen könnte. Leider fiel mir überhaupt nichts ein, jedenfalls traute ich mich nicht. Mein Vater sagte: „Nun mach schon und rede mir ihr“. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, erwiderte ich flüsternd.“ „Sag ihr einfach, dass sie dir gefällt und dass du sie gern kennenlernen möchtest“. „Das kann ich nicht, das hört sich doof an.“ „Dann gib ihr eben einfach einen Kuss. Dann brauchst du gar nichts zu sagen“, schlug mein Vater vor, diesmal schon etwas lauter. Ich hatte Angst, das Mädchen könne die Unterhaltung mithören und bat ihn, doch bitte leiser zu sprechen. Plötzlich drehte sich das Mädchen halb um und sah mich von der Seite an. Ich vermochte den Blick nicht zu deuten, aber er lähmte mich. Mein Vater stand auf und sagte: „Vielleicht lasse ich dich jetzt besser allein.“ Um dem Blick des Mädchens auszuweichen und um mich zu beruhigen, mein Herz pochte und meine Kehle war wie zugeschnürt, legte ich mich wieder auf den Rücken, schloss die Augen, und stellte mir in den unterschiedlichsten Varianten vor, wie ich die Unbekannte anreden würde. Erst als ich spürte, dass mein Vater sich wieder neben mich setzte, machte ich die Augen auf. Das Mädchen war verschwunden. Ich war maßlos enttäuscht und schimpfte mit meinem Vater: „Du hättest mir Bescheid geben müssen, als du gemerkt hast, dass sie geht. Jetzt werde ich sie nie wiedersehen.“ Mein Vater lachte: „Guck dich mal richtig um.“ Das tat ich. Das Mädchen war nicht nach Hause gegangen. Es saß jetzt vielmehr zusammen mit einer Frau, die seine Mutter sein musste, und einem zweiten Mädchen, das in einem Buch las, offenbar eine Schwester, vielleicht zwanzig Meter entfernt zu meiner Linken. „Jetzt kann ich sie nicht mehr ansprechen, so etwas Blödes“, ärgerte ich mich. Wie konnte ich bloß die Gelegenheit verstreichen lassen. „Du musst nur einfach hingehen, und wenn du dich nicht traust wegen der Mutter, dann mach zuerst der ein Kompliment und frag sie einfach, ob du mit ihren Töchtern sprechen kannst. „Das kann ich doch nicht machen.“ „Pass auf“, sagte mein Vater, jetzt klang er schon leicht verärgert, „ich gehe jetzt hin, gebe deiner kleinen Freundin einen Kuss in deinem Namen und sage ihr, dass du sie kennenlernen möchtest. Sie hat dann bestimmt nichts dagegen.“ „Du spinnst wohl“, erwiderte ich entsetzt, du kannst doch nicht einfach ein Mädchen küssen. Da bekämen wir ja richtig Ärger.“ „Das glaube ich zwar nicht“, meinte mein Vater leichthin: „ich werde aber folgendes machen, wenn es dir recht ist. Ich gebe der Mutter einen Kuss und lege bei ihr ein gutes Wort für dich ein. Dann gehst du hin, küsst die Tochter, und dann können wir endlich nach Hause fahren. Wenn du es übrigens besonders galant machen willst, führst du dich erst bei der Mutter ein. Also bringen wir es hinter uns, sonst bekommen wir heute nichts mehr zum Abendessen.“ „Das kannst du doch nicht machen,“ rief ich verzweifelt.“ Heute war meinem Vater alles zu zutrauen, davon war ich nach allem, was schon vorgefallen war, überzeugt. „Der Ehemann dieser Frau ist sicher auch in der Nähe, das gibt am Ende noch eine Auseinandersetzung. Der Mann wird sich das doch nicht gefallen lassen, wenn du einfach seine Frau küsst.“ „Das lass mal meine Sorge sein. Mit dem werde ich schon fertig,“ erwiderte mein Vater und marschierte los. Ich blieb sitzen und dachte bei mir: „Er wird es doch auf keinen Fall tun. Er wird doch unmöglich einer anderen Frau als meiner Mutter einen Kuss geben. Das kann er doch nicht tun. Er will sich nur einen Scherz mit mir machen. Das ganze Gerede vom Küssen ist nur ein alberner Jux, auf den ich nicht hereinzufallen brauche“. Aber mein Vater sprach die fremde Frau tatsächlich an, ja er scherzte mit ihr, wobei er ein-, zweimal zu mir herübersah. „Sie machen sich jetzt auch noch lustig über mich. Das ist die Höhe.“, dachte ich verbittert. „Jetzt stehe ich völlig blamiert da.“ Ich wollte mich schon abwenden, zumal mir war, als ob das Mädchen mich jetzt angrinste. Auch die Schwester hob den Kopf aus ihrem Buch und schien missbilligend in meine Richtung zu schauen. Da nahm mein Vater die fremde Frau in den Arm, flüsterte ihr etwas ins Ohr und küsste sie auf den Mund. Und die Frau ließ es sich gefallen. Ich glaubte zu träumen, rieb mir die Augen. Das bildete ich mir doch alles nur ein. Aber die Frau erwiderte den Kuss sogar und lachte dabei. Dann flüsterten sie noch miteinander, bevor mein Vater sie losließ und zu mir zurückkam. „Jetzt bist du dran“, sagte er knapp. „Die Mutter ist einverstanden. Los jetzt gib deinem Herzen einen Stoß. Heute ist mein Glückstag, und ich gebe dir von meinem Glück ein Stück ab. Du hast nichts zu befürchten. Heute kann nichts schiefgehen. Mach der Mutter ein Kompliment und dann küss die Kleine oder sprich mit ihr. Sie scheint ja wirklich nett zu sein.“ Das Mädchen schaute mich weiter an, so kam es mir jedenfalls vor. Lachte es mich aus? Wenn ich jetzt nicht meinen Mut zusammennahm, würde ich als Feigling dastehen. Langsam und ganz unerwartet spürte ich eine unbekannte Kühnheit in mir hochsteigen. Ich fühlte mich leicht, und ich stand auf wie in Trance und ging erhobenen Hauptes zu der Familie hinüber. Ich blickte nicht auf das Mädchen, sondern nur auf die Mutter. Ich musste um die beiden Mädchen herumgehen, bevor ich mich zu ihrer Mutter beugen konnte, die sich wieder hingesetzt hatte. „Sie haben hübsche, und sicher auch sehr nette Töchter“, hörte ich mich reden und fuhr gleich fort: „Wenn sie älter werden, werden sie sicherlich noch viel schöner. Denn sie gehen bestimmt nach Ihnen.“ „Du bist ja ein richtiger kleiner Kavalier“, antwortete diese. „Das hast du wohl von deinem Vater. Möchtest du mir auch einen Kuss geben?“ „Sehr gern“, sagte ich, und küsste sie schnell ganz leicht auf die Wange. „Dein Vater hat dir ja wirklich schon allerhand beigebracht“, lachte die Frau, und ich flüsterte ihr schnell ins Ohr: „Ich möchte gern ihre jüngere Tochter kennenlernen.“ „Oh, wenn du magst, dann küss ruhig beide“, lachte die Frau. „Lass mich aus dem Spiel“, warf die ältere Tochter ein -ich hielt sie für ein oder zwei Jahre älter als ich selber war- ohne den Kopf aus ihrem Buch zu heben. „Ich glaube, vom Alter passt die jüngere besser zu mir“, sagte ich. Und dann ging ich zu dieser, setzte mich vor ihr in den Sand und schaute sie an. „Ich heiße Robert“, sprach ich sie an, „ich möchte dich gerne kennenlernen.“ Sie sagte gar nichts, sondern schaute mich erst ernsthaft an, dann hielt sie mir eine Wange hin. Als ich mich ihr vorsichtig näherte, bog sie ihren Hals jedoch rasch zurück, so dass mein Mund ihre Wange nicht mehr erreichen konnte. Nachdem sie meine Verblüffung ausgekostet hatte, hielt sie mir die andere Wange vors Gesicht. Bevor ich jedoch einen Kuss platzieren konnte, das gleiche Spiel. „Es wäre einfacher, wenn du einen Moment stillhalten würdest“, flüsterte ich. „Du musst es richtig machen“, flüsterte sie zurück, “stell dich nicht so an!“ Und als ich sie verständnislos anschaute, fügte sie hinzu. „Du musst mich halten. Und blamier mich jetzt bloß nicht.“ Instinktiv legte ich einen Arm halb um sie, den Rest der Welt hatte ich in der Zwischenzeit vergessen, legte die freie Hand um ihren Hals und zog sie vorsichtig zu mir. Sie hielt die Augen geschlossen, und ich berührte mit meinen Lippen ganz vorsichtig ihren Mund. Als ich sie losließ und sie die Augen wieder aufmachte, schaute sie mich einen Moment verträumt an, so kam es mir jedenfalls vor, dann schlang sie blitzschnell die Arme um meinen Nacken und drückte ihre Lippen auf meine, deutlich fester und länger, als ich es umgekehrt getan hatte. „Vielen Dank“, sagte ich. Mehr fiel mir nicht ein, und sie sagte jetzt auch nichts mehr. Verstohlen blickte ich mich um. Mutter und Schwester schienen sich nicht weiter um mich zu kümmern. Meinen Vater konnte ich nicht sehen, auch niemanden, der ihr Vater sein konnte. Dieser unsichtbare Vater, von dessen Nähe ich überzeugt war, beunruhigte mich jetzt einigermaßen. Ich konnte mir die Familie nicht ohne Vater vorstellen. Und der musste irgendwo in der Nähe sein. Wenn auch die Mutter einverstanden war, dass ich ihre Tochter küsste, dem Vater musste das noch lange nicht recht sein. Ich war bereit, jederzeit die Flucht zu ergreifen, sollte der Vater auftauchen. Während ich mich noch unauffällig umschaute und dabei feststellte, dass die Küsserei jedenfalls keinen öffentlichen Skandal ausgelöst hatte, legte das Mädchen, das mich gerade geküsst hatte, eine Hand auf meinen Arm und sagte: „Lass mich jetzt bitte allein. Ich muss nachdenken.“ „Worüber denn?“, fragte ich ohne zu überlegen. „Darüber, was ich mit dir anfangen soll.“ „Du könntest zum Beispiel mit mir reden“, schlug ich vor. „So einfach ist das nicht“, erwiderte sie, „geh jetzt bitte!“ „Wenn du das möchtest“, murmelte ich, stand widerstrebend auf, wobei ich mich gleichzeitig irgendwie erleichtert fühlte, bedankte mich noch mit einem Nicken bei der Mutter und ging zurück zu meinem Vater. Um nicht mit ihm sprechen zu müssen, versteckte ich mich außer Sichtweite, um nachzudenken. Ich hatte es getan. Ich hatte sie geküsst. Das gab mir ein gutes Gefühl. Und sie gefiel mir. Aus der Nähe hatte sie mir sogar sehr gut gefallen. Sie hatte blaue Augen, die in einer Weise aufblitzen konnten, die mir bei anderen Mädchen noch nicht aufgefallen war. Sie war kein bisschen verlegen. Und langweilig, wie ich Mädchen ihres Alters eigentlich einschätzte, war sie bestimmt nicht. Sie hatte, soviel war klar, ihren eigenen Kopf, und sie hatte mich, unfassbar aber wahr, richtig geküsst. Das war völlig unerwartet gekommen, und ich konnte mir darauf keinen Reim bilden. Vielleicht wollte sie sich ja doch nur über mich lustig machen, aber in ihrem Kuss hatte nichts Kokettes gelegen. Sie hatte ernsthaft geschaut, was immer dies auch bedeuten mochte. Dann hatte sie mich allerdings gleich weggeschickt, und was sollte ich nun wiederum davon halten? Ich ging wieder zu der Stelle mit den Sitzbänken, wo das kleine Mädchen mit den Zöpfen und ihr Bruder immer noch spielten. Das Mädchen versuchte, den Bruder zu überreden, mit ihr Hochzeit zu spielen. Das anschließende Festmahl hatte sie mit Hilfe von feuchtem Sand und Förmchen schon vorbereitet. Sie wollte die Braut sein, der Bruder sollte den Bräutigam und zugleich den Priester vorstellen. Mit dieser Doppelrolle war der Kleine sichtlich überfordert. Außerdem gefiel ihm das ganze Spiel nicht. Ich setzte mich in die Nähe und beobachtete die beiden. Die Kleine bemerkte mich, kam auf mich zu und forderte mich auf, die Rolle des Priesters zu übernehmen. Sie bat mich nicht etwa, sie forderte es. Ich willigte ein teils aus Überraschung, teils aus Neugier. Ich wollte beobachten, wie sie sich, die einen ausgeprägten Willen zu besitzen schien, anstellen würde. Die beiden Kinder stellten sich vor mir auf, hielten sich bei der Hand. Als die Braut sich anschickte, ihr Jawort zu geben, und ich meine Hand auf die verschränkten Hände der beiden Kinder segnend legte, riss sich ihr Bruder los. So kam es, dass ich nur ihre Hand in meiner hielt, als sie „ja“ sagte. Ihr Bruder war jedoch schnell wieder eingefangen. Jetzt wollte die Braut noch einen Kuss von ihm haben. Er wollte das gar nicht. „Halt ihn fest“, sagte die Kleine. „Stell dich nicht so an“, sagte ich zu ihrem Bruder. Nachdem der sich nicht überreden ließ, seine Schwester zu küssen, entschied diese, dass sie stattdessen ihn küssen werde. „Halt ihn gut fest“, sagte sie an mich gerichtet. Ich versuchte, den Kleinen zu halten, ohne ihm Zwang anzutun. Als sich ihr Mund seinem näherte, riss der Kleine sich los und ließ sich zu Boden fallen. Ich stolperte, und die Lippen des Mädchens trafen meinen Mund anstatt den Mund ihres Bruders. „Jetzt bist du mit mir verheiratet“, lachte sie mich an und strahlte. „Quatsch, das war nur ein Versehen“, erwiderte ich. „Das war kein Versehen“, antwortete sie trotzig, „du bist jetzt mein Bräutigam.“ Ich versuchte, ihr das auszureden, ohne rechten Erfolg. Dann zog ich es vor, mich aus dem Staube zu machen, bevor ihr Vater oder ihre Mutter womöglich noch mitbekamen, was sich hier abspielte. Ich war erschüttert. Vor wenigen Wochen hatte mir eine Stimme, von der mir nicht klar war, ob sie einer höheren Macht, meinem Vater oder purer Einbildung entsprang, vorhergesagt, dass dieses Mädchen mir als Frau bestimmt sei, womit ich überhaupt nicht einverstanden war, da sie viel zu jung für mich war, und jetzt betrachtete sie mich ihrerseits schon als Bräutigam. Ich kehrte ziemlich belämmert zu meinem Vater zurück und erzählte ihm stockend, was vorgefallen war, wobei ich immer wieder zur Seite schielte auf das blonde Mädchen, das mich ungeniert und entweder spöttisch oder herablassend anschaute. Klar deuten konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht. Es wandte den Blick sofort ab, wenn ich den Kopf in seine Richtung bewegte. Mein Vater war amüsiert. „Jetzt hast du also zwei Frauen am Hals“, sagte er gut gelaunt. „Kommst du damit klar?“ „Ich glaube nicht“, antwortete ich. „Sieh es mal von der Seite“, fuhr mein Vater fort, „wenn du dich mit einer verkrachst, hast du immer noch die andere in petto.“ „Was soll ich mit einem kleinen Kind anfangen?“ maulte ich. „Sie wird jeden Tag älter“, sagte mein Vater ungerührt „und außerdem ist das vielleicht ein Zeichen dafür, dass du von den Frauen vorläufig überhaupt noch die Finger lassen solltest.“ Ich schüttelte bockig den Kopf. Auf die Blonde wollte ich nicht verzichten. „Na, du hast jetzt jedenfalls gelernt, dass man mit Frauen sehr vorsichtig sein muss. Ehe du dich versiehst, haben sie dich schon am Wickel.“ „Mich hat niemand am Wickel“, protestierte ich schwach. „Na, vielleicht bist du ja jemand, der zwei Frauen aushalten kann.“ „Meinst du, so was ist möglich?“ fragte ich. „Vieles ist möglich“, erwiderte mein Vater vage und damit war die Diskussion beendet. Er schlug vor, jetzt endlich aufzubrechen. Ich wehrte den Vorstoß ab und erklärte, ich könne auf gar keinen Fall vor dem blonden Mädchen nach Hause gehen. „Na gut, dann warten wir noch ein bisschen“, willigte mein Vater ein. Ich legte mich wieder auf den Rücken, schloss die Augen und versuchte nachzudenken. Hatte ich nicht tatsächlich zwei Gefährtinnen haben wollen, eine Blonde, die meiner Mutter ähnlich sein sollte, für die nahe Zukunft und eine Brünette, die meiner Lieblingstante ähneln sollte, für später? Hieß das etwa, ich müsste dann die erste aufgeben? Das schien mir unfair, das wollte ich nicht, und ehe ich mich versah, war ich wieder eingenickt. Ich wachte auf, als mein Vater mir einen Stups versetzte. „Wir können jetzt nach Hause“, sagte er, „deine Freundin ist gegangen.“ Ich war entsetzt. Ich wusste ja gar nichts über das Mädchen. „Kennst du die Familie?“, fragte ich hoffnungsvoll. „Keine Ahnung“, erwiderte mein Vater. Ob das nun stimmte oder nicht, wie sollte ich sie wiedersehen, wenn ich nicht mal wusste, wie sie hieß. „Sie sind vielleicht noch in den Umkleidekabinen“, rief ich. „Ich gehe nachschauen“. Als ich mich rasch erhob, sah ich die ganze Familie, diesmal mit Vater, der voranging. Sie gingen entlang der Kabinen für Männer in Richtung Ausgang. Meine Wunschfreundin wandte den Kopf in meine Richtung. Ich glaubte, ihr Gesicht ganz deutlich sehen zu können, obwohl es schon dämmerte. Ihr Gesicht, und nur ihr Gesicht, niemandes sonst, schien von der untergehenden Sonne hell erleuchtet, oder es leuchtete aus sich heraus. Wie konnte das sein? In diesem Augenblick traf es mich wie ein Schlag zwischen die Schulterblätter. Das war sie, das war das Mädchen meiner Träume. Von diesem Augenblick an war ich in sie verliebt, ohne es zu wissen. Was ich ohne jeden Zweifel wusste, war: Sie ist die Richtige. Ich rannte los, ich musste sie, bevor sie das Bad verließ, nach ihrem Namen fragen. Nahe dem Ausgang holte ich sie ein. Sie stand in der Nähe ihres Vaters, der mit dem Bademeister redete. Mutter und ältere Schwester waren nicht zu sehen, vielleicht waren sie weitergegangen zu den Umkleidekabinen für Damen, rechts neben dem Ausgang. Ich trat auf das Mädchen zu, alle Verlegenheit war von mir abgefallen, und stellte mich nochmals vor, diesmal mit meinem vollen Namen. Dabei behielt ich ihren Vater, der mit dem Bademeister sprach, im Auge. Gerade wollte ich sie nach ihrem Namen fragen, als ich hörte, dass ihr Vater die ganze Familie im Schwimmverein anmeldete und dabei seinen Nachnamen, „Rothfeld“ nannte. Ich brauchte das Mädchen also gar nicht mehr zu fragen. Ich würde es hier im Schwimmbad wiedersehen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Darüber bemerkte ich zunächst gar nicht, dass meine Freundin in spe mit mir redete. Als ich mich ihr halbherzig wieder zuwandte, klang sie verärgert: „Dauernd läufst du mir nach. Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen.“ „Ich wollte nur deinen Namen wissen. Jetzt kann ich dich gern in Ruhe lassen.“ „Du wirst mich aber nicht in Ruhe lassen. Du wirst mir weiter nachlaufen. Glaub bloß nicht, ich hätte nicht gemerkt, was mit dir los ist. Und denk ja nicht, dass ich dich jemals leiden werde, das wird auf keinen Fall passieren. Da brauchst du dir gar keine Mühe geben.“ „Oh“, versuchte ich zu scherzen, „das kann man nie wissen, wenn man sich erst mal geküsst hat.“ „Ich muss dich vielleicht wegen des Küssens heiraten, aber deshalb muss ich dich noch lange nicht mögen,“ antwortete das Mädchen hitzig, dann etwas versöhnlicher; „du kannst ja auch eigentlich nichts dafür, ich hätte dich nicht anschauen dürfen, da musstest du dich ja in mich verlieben.“ „Nein bin ich nicht“, behauptete ich, „ich bin nicht verliebt. Davon, dass man angeschaut wird, verliebt man sich nicht und überhaupt, wir müssten uns erst mal kennenlernen.“ Das mit dem Anschauen hatte ich nicht verstanden. Was meinte sie damit? Sie würde es mir erst Jahre später erklären. „Du bist zugegeben ziemlich hübsch“, schmeichelte ich ihr: „Vielleicht werde ich mich ja noch in dich verlieben, aber nur …“, ich wollte sagen: „wenn du auch nett bist.“ Dazu kam ich aber nicht mehr. „Haben wir ein Problem, junger Mann?“ Ihr Vater trat von hinten auf mich zu. Ich drehte mich zu ihm um und antwortete eilig: „Nein, kein Problem. Ich wollte Ihre Tochter nur nach ihrem Namen und ihrer Adresse fragen, damit ich sie wieder treffen kann. Aber das hat sich ja erledigt.“ „Erledigt? Hast du so schnell gemerkt, wie eitel sie ist? Willst du dich jetzt nicht mehr mit ihr anfreunden?“ „Doch, doch“, beeilte ich mich zu sagen, „aber ich weiß ja jetzt, dass Sie wiederkommen werden.“ „Ganz gewiss, und ich denke, meine Tochter braucht tatsächlich einen Freund, und du könntest, glaube ich, richtig für sie sein. Sie ist nämlich ziemlich eingebildet in letzter Zeit. Du hast es ja selbst gehört. Rück ihr ruhig mal gehörig den Kopf zurecht, damit sie zur Vernunft kommt.“ Mit diesen Worten, nahm er seine Tochter bei der Hand und zog sie in Richtung Ausgang oder Kabinen, während diese mir noch einen blitzenden Blick zuwarf. Ich brachte gerade noch ein höfliches „Auf Wiedersehen“ zu Wege. Ihr Vater sagte etwas zu ihr, und ich verstand ihren Vornamen „Evelyn.“ „Evelyn“, in Gedanken wiederholte ich den Namen ein paar Mal und war zunächst einfach platt. Ich hatte sie, das Mädchen meiner Träume, gefunden. Ich hatte ihre Mutter geküsst. Ihre Mutter hatte mir erlaubt, Evelyn zu küssen. Evelyn hatte mich zurückgeküsst. Sie meinte, mich heiraten zu müssen. Sie mochte mich nicht. Da war auch noch die Sache mit dem Anschauen. Ihr Vater hatte mich tatsächlich aufgefordert, mich mit ihr anzufreunden. Er hatte mich aufgefordert! Er war mir wegen des Küssens offenbar überhaupt nicht böse. Mein eigener Vater hatte sich in einer Weise aufgeführt, die ich noch nie an ihm erlebt hatte. Zu allem Überfluss hatte mich noch ein zweites Mädchen geküsst, das mich jetzt offenbar ebenfalls als ihren Bräutigam betrachtete. Nichts schien mit rechten Dingen zuzugehen, aber aufregend war es, und irgendwie war es doch für mich nicht schlecht gelaufen, und wenn Evelyn meinte, mich heiraten zu müssen, würde sie sich schon noch dazu herablassen, ein bisschen netter zu sein. Auf dem Nachhauseweg erklärte mir mein Vater, der jetzt wieder völlig normal erschien, dass wir der Mutter besser kein Wort von der ganzen Geschichte erzählen sollten. „Wir sagen einfach, wir seien beide müde gewesen und eingeschlafen, also kein Wort von irgendwelchen Küssen. Wir wollen deine Mutter nicht beunruhigen.“ Das erschien mir sehr vernünftig. Meine Mutter war über die späte Heimkehr verärgert. Sie hatte sich schon Sorgen gemacht. Entsprechend einsilbig verlief das Abendessen, und danach verzog ich mich gleich ins Bett und schlief lange und traumlos. Ich habe übrigens nie herausgefunden und auch nie versucht herauszufinden, was mit meinem Vater an diesem Abend los war. Nachfragen hätte den Zauber, und Zauber war im Spiel, gebrochen. Jedenfalls befürchtete ich das. Ich fragte auch Evelyn nie, wieso sie, als ich sie zum ersten Mal erblickte, nicht bei ihrer Familie saß, sondern direkt vor mir, sodass ich sie nicht übersehen konnte. Als wir uns sieben oder acht Jahre später über die Anfänge unserer Beziehung unterhielten, hatte sie, so gab sie jedenfalls zunächst vor, alles über die ersten Jahre unserer Bekanntschaft vergessen. Als dann ihre Erinnerung in Teilen zurückkehrte, waren wir uns schnell darüber einig, dass unsere Eltern, mindestens aber unsere Väter, arrangiert haben mussten, dass wir uns kennenlernten. Jedenfalls kam uns beiden diese erste Begegnung irgendwie abgekartet vor. Ich meinte damals auch, mich erinnern zu können, dass ihr und mein Vater sich länger unterhalten hatten, bevor mein Vater Evelyns Mutter küsste, aber sicher war ich mir nicht. Ich hatte kein Bedürfnis, das Küssen zu wiederholen, nicht mit Evelyn und schon gar nicht mit ihrer Mutter, der ich den ganzen Sommer über möglichst aus dem Weg ging. Durch das Küssen fühlte ich mich Evelyn allerdings verpflichtet, und ohne diesen ersten Kuss hätte ich mit Sicherheit in den folgenden Wochen nicht so geduldig versucht, mit diesem merkwürdigen Mädchen ins Gespräch zu kommen. Ich musste sie dazu bringen, mit mir zu reden. Und das war, wie sich herausstellen sollte, keine leichte Aufgabe.

Erster Sommer: Das merkwürdige Mädchen

In den nächsten Wochen traf ich Evelyn regelmäßig im Schwimmverein an, zumeist abends oder an den Wochenenden. Sie kam mit ihrer Familie, gelegentlich auch nur mit ihrer älteren Schwester. Meist war ich vor ihr da, und ließ mich dann am Strand nieder, immer an der gleichen Stelle auf halber Höhe zwischen See und Aufgang zu den Kabinen. Wenn Evelyn erschien, setzte sie sich nicht zu ihrer Familie, sondern breitete ihr Badetuch zwischen meinem Liegeplatz und dem Seeufer aus und setzte sich mit dem Rücken zum See, so dass sie mir das Gesicht zuwandte. Dann schloss sie die Augen. Damit gab sie mir ausgiebig Gelegenheit, mir ihre Gesichtszüge einzuprägen, was, wie sie mir viele Jahre später erklärte, tatsächlich ihre Absicht war. Wenn ich selber die Augen nur ein wenig offenhielt, um gerade noch zu erkennen, was sie anstellte, schlug sie ihre auf und schaute mich unverwandt an, wie sie später erläuterte, um sich an mich zu gewöhnen. Öffnete ich meine Augen wieder, so schloss sie ihre sogleich, aber offensichtlich nicht ganz. Wenn ich meine wieder schloss, schaute sie mich sofort wieder aufmerksam an. So ging das eine Zeitlang, vielleicht zwei Wochen. Schließlich raffte ich mich eines Nachmittags auf, ging zu ihr, setzte mich neben sie in den Sand und fragte: „Hast du Lust, dich mit mir zu unterhalten?“ Die Antwort war ein knappes „Nein!“. Ein wenig konsterniert sagte ich: „Na schön“, und ging wieder zu meinem Platz zurück. Das nächste Mal fragte ich nicht, sondern eröffnete das Gespräch mit einer Bemerkung über das Wetter und die Wasserverhältnisse. Sie würdigte mich keiner Antwort. So ging das einige Male. Das Äußerste, was ihr zu entlocken war, waren Bemerkungen wie: „Worüber sollte ich mit dir schon reden?“ oder „Mit Jungens kann man nicht reden!“ Ich war nahe daran, aufzugeben, aber ihr merkwürdiges Verhalten reizte mich. Was war das für eine seltsame Person, die behauptete, mich heiraten zu müssen, wovon sie nach wie vor mit großer Selbstverständlichkeit auszugehen schien, aber nicht mit mir sprechen wollte? Bei meiner Schwester erkundigte ich mich, worüber sich Mädchen unterhalten. Dann schlug ich Evelyn Themen vor: Puppen, Schlagersänger, Mode. Nichts verfing. Ich unterbreitete ihr Angebote, brachte zum Beispiel einen Ball mit: „Wollen wir Ball spielen?“ „Ball spielen ist doof!“ „Kommst du mit ins Wasser?“ „Ich gehe nicht ins Wasser“. Sie ging tatsächlich nie ins Wasser. Nur bis zum Bauch schlug ich ihr vor, nur bis zu den Knien, nur die Füße ins Wasser setzen. Alle meine Vorschläge wurden abgewiesen. Schließlich saßen wir nur noch schweigend nebeneinander. Das fand sie ganz in Ordnung. Wenn ich zwischendurch schwimmen gegangen war, aus dem Wasser zurückkam und mich mit der nassen Badehose auf mein Handtuch setzte, schimpfte sie mit mir, das sei ungesund. Ich müsse die Badehose wechseln und eine trockene anziehen. Das tat ich nun gerade nicht. Sich von diesem Mädchen auch noch herumkommandieren zu lassen, das kam nicht in Frage. Als es mir langweilig wurde, nur herumzusitzen, begann ich, Bücher mitzubringen und neben ihr sitzend zu lesen. Sie interessierte sich für meine Lektüre scheinbar nicht. Kaum war ich aber im Wasser, blätterte sie gleich verstohlen in meinem Buch, gab dies aber hinterher nicht zu. Selber lesen wollte sie nicht im Gegensatz zu ihrer Schwester, die eine richtige Leseratte war. „Ich höre lieber Musik“, kommentierte Evelyn. Gelegentlich erinnerte ich sie an unser Kennenlernen: „Wenn du mich später einmal heiratest, fändest du es nicht besser, wenn wir vorher anfangen miteinander reden?“ „Ich muss dich zwar heiraten, aber reden muss ich mit dir deshalb noch lange nicht“, bekam ich zur Antwort. Ich erzählte ihr schließlich: „Es gibt übrigens noch ein Mädchen, das mich heiraten will“, und berichtete ihr von der Vierjährigen und ihrem Bruder. Sie glaubte mir die Geschichte natürlich nicht und wollte die Kleine sehen und mit ihr sprechen. Dazu kam es schließlich auch, aber es dauerte ein paar Tage, denn der Vater des Mädchens besuchte den Schwimmverein mit seinen Kindern nur unregelmäßig. Fast hatte ich die Angelegenheit schon abgetan, als ich das kleine Mädchen eines Abends doch beim Spielen entdeckte. Und tatsächlich, auf Evelyns entsprechende Frage nannte die Kleine mich ihren zukünftigen Mann. Als Evelyn sie in harschen Ton aufforderte, sich solchen Unsinn aus dem Kopf zu schlagen, fing sie an zu weinen und drohte, ihren Vater zu rufen. Rasch zog ich Evelyn, die sich heftig aufregte, weg, bevor die Kleine ihre Drohung wahrmachen konnte. Der Grund, warum Evelyn das Wasser mied, war eine angeblich nicht überwindbare Angst. Sie behauptete, in der Nähe von Wasser einen Sog zu verspüren, der sie in die Tiefe ziehen wollte. „Und Schwimmen kann ich sowieso nicht“, sagte sie. Ich fragte sie, wie es denn zu Hause beim Baden in der Badewanne wäre, sie bade doch sicher regelmäßig. „Da habe ich meine Schwimmente, die beschützt mich,“ war die Antwort. Daraufhin schlug ich ihr vor, sie solle die Gummiente mitbringen, aber das wollte sie doch nicht. Also nahm ich von zu Hause die gelbe Badewannenente meiner Schwester mit. Damit brachte ich Evelyn immerhin dazu, mich einmal ans Ufer zu begleiten, wo ich die Ente umständlich ins Wasser setzte, aber diese Ente hatte keine Wirkung auf Evelyns angebliche Wasserphobie.