Rückspiegelungen Episode 3 - Christoph Klesse - E-Book

Rückspiegelungen Episode 3 E-Book

Christoph Klesse

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Beschreibung

Im Herbst seines Lebens unternimmt der Physiker Wolfgang den Versuch, eine Liebesbeziehung, die er als Student durchlebt und durchlitten hat, zu erinnern. Dabei muss er erkennen, dass seine Erinnerungen nicht nur unvollständig und fehlerhaft sind, sondern dass er bestimmte Erinnerungen bewusst manipuliert hat. "Ich will ein Gedächtnis haben, angefüllt mit den richtigen Erinnerungen. Dass ich es besser machen kann, das will ich glauben. Und dabei ziehe ich den kürzeren, indem ich es besser mache." Im Zuge des dreimal mit unterschiedlichem Ergebnis wiederholten Versuchs, die Vergangenheit zu rekonstruieren, bevor sie gänzlich vergessen ist, gewinnt er eine verlorene Erinnerung zurück. Sie und eine zufällige Begegnung führen zu einem neuen Anfang. "Es ist leicht, die Liebe zu töten, aber totzukriegen ist sie nicht."

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Im Herbst seines Lebens unternimmt der Physiker Wolfgang den Versuch, eine Liebesbeziehung, die er als Student durchlebt und durchlitten hat, zu erinnern.  Dabei muss er erkennen, dass seine Erinnerungen nicht nur unvollständig und fehlerhaft sind, sondern dass er Erinnerungen bewusst manipuliert hat.

„Ich will ein Gedächtnis haben, angefüllt mit den richtigen Erinnerungen.  Dass ich es besser machen kann, das will ich glauben.  Und dabei ziehe ich den kürzeren, indem ich es besser mache.“

Im Zuge des dreimal wiederholten Versuchs, die Vergangenheit zu rekonstruieren, bevor sie gänzlich vergessen ist, gewinnt er eine verlorene Erinnerung zurück.  Sie und eine zufällige Begegnung führen zu einem neuen Anfang.

12. Juli 2016 im Selbstverlag

2. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

Druck und Bindung epubli 

(Holzbrinck Digital Content Group)

Prolog: Albträume 

Einem kurzen verregneten Sommer folgte ein langer sonnenwarmer Herbst. Jetzt, Ende Oktober, tragen die Laubbäume noch ihre Blätter. Die Baumkronen leuchten rot und gelb, als wolle die Natur vor Einbruch des Winters noch einmal richtig auftrumpfen. Ich habe mein fünfundsechzigstes Lebensjahr vollendet und mich zu diesem Anlass mit einer Reise quer durch Europa beschenkt.Jetzt gehe ich auf ein Gebäude zu, das einer Kirche ähnelt. Stufen führen nach unten in einen hohen dunklen Raum. Ich kniee nieder vor einem Podest, auf dem ein Sarg steht. Ich weiß, im Sarg liegt eine Tote, und ich bin gekommen, um Totenwache zu halten. Die Tote im Sarg ist die Liebe, und ich habe sie getötet. Ich betrauere sie ohne Bedauern. Jetzt hebt sich der Sargdeckel. Die Tote setzt sich auf. Ihr Gesicht wird ein leuchtender Spiegel, und in ihm erscheinen eines nach dem andern die Gesichter der Frauen, die ich einmal geliebt habe. Die Tote ruft: „Komm! “ Ich kann mich nicht bewegen, erstarre, versteinere, kämpfe dagegen an und wache auf.Wieder dieser Albtraum! Seit Wochen quält er mich nun schon. Trotzdem nicke ich noch einmal ein und stehe übergangslos am Rand eines dunklen Gewässers, aus dem ein kalter Nebel aufsteigt, der sich zu unzusammenhängenden Bildern verdichtet. Am Grund dieses schwarzen Wassers bewegt sich träge etwas Unförmiges, Großes. Ich fühle einen Sog und schrecke auf.Dieses Mal bin ich gleich hellwach und finde mich im Intercity auf der Fahrt von Junghafen nach Kaltstadt. Ausnahmsweise habe ich die erste Klasse gewählt und belege in einem fast leeren Waggon ein Zugabteil für mich alleine, kann so ungestört meinen Gedanken nachhängen. In Junghafen bin ich zur Schule gegangen. In Kaltstadt, meinem heutigen Reiseziel, habe ich studiert. Seither habe ich beide Städte gemieden. Zusammenhanglose Erinnerungsbilder an die Schul- und Studienzeit ziehen jetzt ungewollt und ungewohnt an meinem inneren Auge vorbei. Sollte ich in diesen fast schon vergessenen Lebensabschnitt noch einmal eintauchen, bevor er gänzlich vergessen ist? Ist das die Botschaft des Traums?Jedenfalls habe ich meine Reisepläne korrigiert und Aufenthalte in Junghafen und Kaltstadt eingeschoben, bevor ich nach Victoria heimkehre. Diese ungeplanten Abstecher unternehme ich, weil mir ein unangenehmer Traum lästig ist, und ich wundere mich über mich selbst. Was ist in mich gefahren? Pläne so kurzfristig umzustoßen, ist nicht meine Art, und die Vergangenheit hat mich bisher nicht beschäftigt. Sie erschien mir uninteressant, allenfalls unerfreulich. Aber vielleicht ist es ja gar nicht so falsch, wenn ich mein Leben jetzt offener einrichte, mir Zeit nehme für Vergangenes. „Werde ich alt?“ frage ich mich. Niemand antwortet. Ich lausche den Fahrgeräuschen des Zugs, einem Takt, der mich beruhigt. Durch das Abteilfenster schaue ich den Herbstbildern nach, die an mir vorbeifliegen wie Lebensjahre, und tauche in Erinnerungen an meine Zeit in Kaltstadt ein.Ich bin in dieser Stadt Mitglied der Vereinigung Christlicher Studenten, dem VCS, und wohne im Studentenwohnheim, das von dieser Organisation unterhalten wird, dem Dietrich-Bonhoeffer-Heim. Zusammen mit meinem Freund, Klaus Eisenschroth, habe ich im VCS eine Studentengruppe gegründet, die sich den Namen der „RING“ gegeben hat. Von ihren Mitgliedern wird sie scherzhaft „Ring der Nibelungen“ genannt. In diesem Kreis verbringe ich den größeren Teil meiner freien Zeit. Wohnheim und RING führen mich nacheinander mit zwei Frauen zusammen, in die ich mich ernsthaft verliebe. Beide Beziehungen misslingen jedoch, genauso wie eine Jugendliebe, die zehn Jahre lang meine Schulzeit und die ersten Studiensemester bestimmt hat.Während ich noch in Gedanken versunken bin, erreicht der Zug Frauenstein. Eine Dame, vermutlich ein paar Jahre jünger als ich, betritt das Abteil, holt mich in die Gegenwart zurück. Sie sieht gut aus, lebensfroh und unternehmungslustig. Das dunkelgrüne Kostüm steht ihr ausgezeichnet. Ihr dunkelbraunes Haar fällt offen auf die Schultern. Ihre Gegenwart ist mir angenehm, macht es mir leicht, die frische Erinnerung an den Albtraum beiseite zu schieben. Ich bin behilflich, ihren Koffer im Gepäckfach zu verstauen und komme mit ihr ins Gespräch. Ihr nächstes Reiseziel ist Münchheim. Von dort will sie in die USA fliegen, um Freunde zu besuchen. Ich erzähle ihr von meinem Leben erst in den Staaten, dann in Kanada und von meinen bescheidenen aktuellen Reiseplänen. Sie wirft ein: “Ich habe auch in Kaltstadt studiert, allerdings nur zwei Semester, dann bin ich nach Hollburg zurückgekehrt, wo ich mein Physikstudium begonnen hatte“. Bis zu ihrer kürzlich erfolgten Pensionierung arbeitete sie in Frauenstein als Mathematik- und Physiklehrerin. Dass ich ebenfalls Physiker bin, liefert weiteren Gesprächsstoff. Wir unterhalten uns angeregt.Der Zug nähert sich Karlsberg. Meine Reisebekanntschaft muss umsteigen. „Schade, dass keine Zeit mehr ist, unser Gespräch zu vertiefen“, sage ich. Wir lachen beide, tauschen Visitenkarten aus, ohne besondere Absicht. Im Bahnhof trage ich ihren Koffer auf den Bahnsteig. Sie winkt mir nach, als der Zug wieder anfährt.In Kaltstadt besuche ich Freunde aus meiner Studienzeit, deren Telefonnummern ich über das Internet ausfindig gemacht habe. Im Gespräch versuche ich vorsichtig auszuloten, ob die Kameraden, mittlerweile alte Herren so wie ich, sich an meine Liebschaften erinnern. Das Ergebnis ist ernüchternd. Niemand erinnert sich an meine Frauengeschichten, als hätten sie sich gar nicht zugetragen. Der Reihe nach besuche ich die Stätten, an denen ich mich während meiner Studienzeit aufgehalten habe, darunter das Dietrich-Bonhoeffer-Heim, das äußerlich unverändert ist. Ein Student, der mir im Hausflur entgegenkommt und nach meinem Begehr fragt, ist so freundlich, mich durch das Haus zu führen. Überraschend hat sich in den Zimmern nichts verändert. Die Möbel sind nach über vierzig Jahren noch dieselben. Jedes Zimmer ist jetzt allerdings mit einem Telefon ausgestattet. Das ist neu. Zu meiner Zeit gab es nur ein Telefon je Stockwerksflügel, das im Flur an der Wand hing. Die alten Halterungen hat man belassen.Für die Mitglieder des RINGs, die im Heim wohnten, hatte der Techniker der Gruppe, Felix, heimlich ein Haustelefonsystem eingerichtet. Das Telefonieren lief über die Klingelanlage des Heims. Über diese Anlage konnte der Pförtner die Heimbewohner in ihren Zimmern anklingeln, zum Beispiel, um Besuch anzukündigen.Vor meinem inneren Auge sehe ich die Nibelungen im Heim an ihren Schreibtischen. Sie halten Hörer in den Händen und sprechen gleichzeitig in die Muscheln. Die Sätze wandern wie Fäden durch das Netz, das die Telefone miteinander verbindet. Die Fäden wandern immer schneller. Jetzt kann ich einzelne Worte verstehen, alltägliche Fragen, Liebesschwüre, Beschimpfungen. Die Stimmen werden lauter. Dann Stille. Ich stehe in der Kapelle des Wohnheims. Hier hat sich nichts verändert. Auch der Garten, auf den ich von der Dachterrasse herunterschaue, sieht noch genauso aus wie vor vierzig Jahren. Der gekrönte Steinfrosch am Rand des kleinen Teiches, spuckt noch immer unerlöst einen Wasserstrahl ins Becken, ohne dass dieses überläuft.Mein Führer entpuppt sich als Sohn der ehemaligen Nibelungen Katharina und Klaus. Ich bitte ihn, Grüße an die Eltern auszurichten. Der Vater, Klaus, Mitbegründer des RINGs lebt immer noch in Kaltstadt, ebenso wie die Mutter. Mariella Hohenfeld, meine dritte Liebe, ist Inhaberin eines Lehrstuhls für neuere deutsche Literaturwissenschaft. Sie wohnt mit ihrem Mann in der Nähe des Schillerparks. Melanie Malchareck, meine zweite Liebe, ist nach dem Studium als Gymnasiallehrerin nach Weilburg nicht weit von Kaltstadt gezogen. Sie unterrichtet Deutsch und Geschichte. Ich könnte Melanie oder Mariella anrufen, aber ich bin meiner Erinnerungen und meiner Absichten zu unsicher. Ich bin nicht einmal sicher, dass ich die beiden Frauen wiedererkennen würde.Das Kulturprogramm, das ich nebenbei absolviere, ist hochklassig. Höhepunkte sind „Hänsel und Gretel“ von Humperdinck und die „Sechste“ von Mahler. Ansonsten bleibt der Besuch in Kaltstadt unergiebig, verlorene Zeit. Die Orte, die mir in meiner Jugend etwas bedeutet haben, lassen mich –vielleicht mit Ausnahme des Wohnheims- kalt. Erinnerungen lösen sie nicht aus, aber wenigstens hören meine Albträume auf.In Junghafen war es mir nicht anders ergangen. Die Orte meiner Jugend waren wiedererkennbar, auch wenn mir einige Örtlichkeiten viel kleiner vorkamen als damals, zum Beispiel der See, an dem ich im Alter von zehn Jahren meine erste Liebe, Eva Rothfeld entdeckt hatte. Auch mit Junghafen verbindet mich nichts mehr. Wieder zu Hause in Victoria, stürze ich mich in die Arbeit, bevor das neue Semester beginnt, lasse Kaltstadt und RING zunächst hinter mir, aber die Vergangenheit lässt sich nicht mehr abschütteln. Die Gesichter der Personen, die meine Jugend geprägt haben, drängen vor mein inneres Auge, werden mit jedem Tag schärfer und lebendiger. Das unförmige Etwas im dunklen See meines Halbbewusstseins bewegt sich stärker, will an die Oberfläche, will greifbare Erinnerung werden.In meiner freien Zeit suche ich nach alten Tagebüchern. Mir fällt schließlich ein, dass ich die meisten vor vielen Jahren vernichtet habe. Langsam reift der Entschluss, einige Jugenderlebnisse nochmals aufzuschreiben. Ich werde mit Erinnerungen an Mariella anfangen, so unvollständig diese auch sind. Diese dritte, so glaube ich, ist die einfachste meiner Liebesgeschichten. Einzelne Ereignisse dieser Geschichte kann ich wie einen Film vor meinem inneren Auge abspulen.Ich versetze mich zurück in das Jahr 1970, das Jahr, in dem ich Mariella kennenlernte, und erinnere mich unversehens an eine Urlaubsfahrt des RINGs. Etwa ein Dutzend Nibelungen, darunter auch ich, fuhren im September gemeinsam in die Ferien mit dem Ziel Toskana.Schon am ersten Reisetag war für mich und meine beiden Beifahrerinnen, Doris und Marlene, die Fahrt zu Ende. Sonntags um die Mittagszeit bei strahlendem Sonnenschein und auf fast leerer Autobahn hatte ich bei Tempo 130 unverschuldet einen schweren Unfall. Während ich einen PKW gerade überholte, wechselte dieser unvermittelt auf meine, die linke Spur, um seinerseits den Wagen vor uns zu überholen. Nach links auf den Grünstreifen ausweichend kollidierte ich mit der Leitplanke und verlor die Kontrolle über das Fahrzeug. Der Wagen, den meine Eltern mir schweren Herzens ausgeliehen hatten, und der vor der Reise noch rasch mit Sicherheitsgurten ausgestattet worden war, überschlug sich, ohne andere Fahrzeuge zu touchieren, und kam auf einer tiefer gelegenen Wiese, das Dach im Erdboden halb vergraben, zum Stehen. Das Dach war stark eingedrückt. Wir drei Insassen trugen nur leichte Verletzungen davon. Die beiden anderen Autos mit RING-Mitgliedern, ein Kleinbus und ein PKW, fuhren ein gutes Stück hinter uns und wären beinahe an der Unfallstelle vorbeigefahren, ohne uns zu bemerken.Fast zufällig bemerken die anderen Nibelungen die Unfallstelle auf. Sie halten an, stehen dann schockiert in einer Reihe am äußeren Rand des Standstreifens und schauen herunter auf die tiefer liegende Wiese mit dem Wrack. Mariella steht mitten in der Reihe. Ihr Blick ist auf mich gerichtet. Sie schaut halb ungläubig, halb entsetzt. Auch heute noch steht mir ihr Gesicht deutlich vor Augen. Ich halte inne. Dieses Bild hat einen Fehler. Zur Zeit des Unfalls lebte Mariella in Maiburg, wusste noch nichts vom RING. Wir lernten uns erst im November, zwei Monate nach dem Unfall, kennen. Trotzdem, auch jetzt, da ich mir darüber im Klaren bin, dass das Bild falsch ist, sehe ich die Szene ganz deutlich vor mir. Es gelingt mir nicht, Mariella aus dem Bild zu löschen. Wie weit, so frage ich mich, kann ich meinem Gedächtnis trauen? Ich nehme mir vor, fragwürdige Erinnerungen nach Möglichkeit auszusortieren. Mehr fällt mir im Augenblick nicht ein, und so tauche ich unverzagt wieder in das Jahr 1970 ein, dieses Mal direkt zu dem Abend, an dem ich Mariella kennenlernte.

 

Erster Versuch: Beziehungsprotokoll 

Ich lerne Mariella auf einer Sitzung des VCS im Dietrich-Bonhoeffer-Heim kennen. Sie ist Mitglied im VCS und gerade von Maiburg, ihrer Heimatstadt, nach Kaltstadt umgezogen, um hier ihr Studium fortzusetzen. Über den VCS hat sie vom RING erfahren, und Klaus Eisenschroth hat sie gleich als Mitglied für den RING angeworben. Nach dem Ende der Sitzung versammeln sich die Teilnehmer in der Kellerbar, um dort den Abend ausklingen zu lassen. Mariella und ich kommen ins Gespräch. Ich bin von ihr bezaubert und begleite sie am späten Abend zu Fuß nach Hause. Sie wohnt zur Untermiete bei einer alleinstehenden älteren Dame.Schon auf dem Rückweg ins Heim kommen mir Zweifel. Wie wird Mariella bei unserer nächsten Begegnung auf mich wirken? Wird der Zauber verflogen sein? Es wäre nicht das erste Mal, dass mir so etwas widerfährt.

Bis zum Jahresende begegnen wir uns noch mehrfach auf RING-Veranstaltungen und auch im kleineren Kreis. Jedes Mal begleite ich sie hinterher nach Hause. In den Weihnachtsferien, die ich im Elternhaus in Perzhaag verbringe, bin ich soweit, dass ich mir Mariella als feste Freundin vorstellen kann. So äußere ich mich jedenfalls gegenüber meiner Mutter. Noch bin ich aber nicht bereit für eine neue Beziehung, halte mich bedeckt, beobachte. Im Fasching lade ich Mariella zweimal zu Kostümbällen ein. Schon auf dem ersten Ball wird mir klar, dass ich in sie verliebt bin aller Vorsicht zum Trotz. Zu vorgerückter Stunde schlägt Mariella zunächst Klaus und dann auch mir vor, an einer Party teilzunehmen, die sie für Ostern in ihrem Elternhaus in Maiburg plant. Ich bin mir nicht sicher, ob die vage gehaltene Einladung ernst gemeint ist. Brieflich bitte ich Mariella in den Osterferien um nähere Auskunft. Mein Schreiben bleibt unbeantwortet, woraus ich schließe, dass die Einladung hinfällig ist.Umso größer ist meine Überraschung, als mich am Ostermontagabend Klaus aus Maiburg anruft und wissen will, wo ich denn bleibe. Als ich erkläre, dass ich mich nicht eingeladen gefühlt habe, richtet Klaus mir aus, natürlich sei ich eingeladen, Mariella habe fest mit mir gerechnet. Für das Missverständnis entschuldigt sie sich in den darauffolgenden Tagen mit einem Brief. Sie habe es in der vorösterlichen Hektik einfach verpasst, mein Schreiben zu beantworten. Ich sei hoffentlich nicht verärgert. Sie freue sich jedenfalls auf ein Wiedersehen in Kaltstadt.Zurück in Kaltstadt lade ich sie zum Essen ein. Es wird ein sehr angenehmer, ja fast romantischer Abend. Auf dem Nachhauseweg zu Mariellas Wohnung halten wir einander an den Händen. Ich bin darauf eingestellt, sie zum Abschied zu küssen. Mariella verschwindet jedoch so eilig im Hausflur und lässt die Haustüre so rasch ins Schloss fallen, dass ich sie nicht einmal umarmen kann.Während der nächsten Monate verabreden wir uns häufiger, wahren aber eine vorsichtige Distanz. Es bleibt beim Händchenhalten. Diese im Rückblick trotzdem schöne Zeit ist nur dadurch getrübt, dass Mariella unseren freundschaftlichen Kontakt vor den anderen RING-Mitgliedern verborgen halten will. Ich finde nicht heraus, warum.Anfang Juni und von einem Tag zum andern ist es mit dem unschuldigen Glück vorbei. Paradise lost! Ohne erkennbaren Anlass ist Mariella verärgert, ja geradezu wütend. Sie lässt sich nicht dazu bewegen, den Grund dafür zu nennen. Nachdem sie für mich unverständlich unsere freundschaftliche Beziehung abgebrochen hat, begegnen wir uns weiter regelmäßig innerhalb des RINGs, aber nur noch dort. Mariella verhält sich bei diesen Gelegenheiten mir gegenüber so neutral, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen. Ich halte es umgekehrt genauso. Allzu viele Gedanken mache ich mir zunächst darüber nicht. Mariellas Zorn wird verrauchen, und dann wird sich das Missverständnis - um etwas Anderes kann es nicht handeln - in Luft auflösen. Dass wir zueinander passen, was den meisten Freunden und Bekannten rasch auffällt (zumindest hält man uns für Geschwister), kann auch Mariella nicht verborgen bleiben. Leider löst sich gar nichts auf. Sie scheint zufrieden und hat wohl, das wird mir zunehmend deutlich, kein Interesse mehr an mir.Mitte des Jahres teilt sich der RING auf Betreiben von Klaus und Katherina, die mit seiner Entwicklung hin zu einem Klub für Freizeitgestaltung unzufrieden sind, in zwei Gruppen. Mariella und ich schließen uns der neuen Teilgruppe, RING II, die von Klaus geführt wird, an. Für ein weiteres halbes Jahr behalten wir unsere „Verkleidungen“ bei, als ob, das ist meine Sicht, ein absurder Fasching immer weiterginge. Wer macht den ersten Schritt? Ich kann meinen Stolz nicht überwinden, zumal ich ja zu dem Schluss gekommen bin, dass Mariella an mir nicht oder jedenfalls nicht mehr interessiert ist. Aber woher soll sie denn wissen, was sie mir bedeutet? Vielleicht hat sie ihre anfängliche Zuneigung abgetötet, weil sie annahm, sie sei unerwidert. Mein Kummer darüber schlägt schließlich in Resignation um, bis Mariella eine ungeahnte Initiative ergreift.Eines Tages spät im Jahr finde ich in meinem Postfach einen Brief von Klaus vor, in dem dieser behauptet, Mariella würde sich von mir belästigt fühlen. Ich starre sie bei Veranstaltungen der Gruppe penetrant an. Mariella sei dies sehr unangenehm. Sie sei nahe daran, deshalb aus dem RING auszutreten. In den folgenden Gesprächen mit Mariella, Klaus, sowie Katharina löst sich dieser Vorwurf in Luft auf. Ich finde zu dem Schluss, dass Mariella möglicherweise auf verquere Weise versucht hat, herauszufinden, ob mir noch an ihr liegt. Dass ich sie liebhabe, gebe ich im Gespräch mit ihr, Katherina und Klaus unumwunden zu. Aber was hat sie davon? Sie kann nicht ernsthaft annehmen, dass ich nach solchen Vorwürfen, noch irgendeinen Versuch unternehmen könnte, ihr näher zu kommen. Und sie hält sich weiterhin bedeckt. Meine spontane Absicht, aus dem RING auszutreten, mache ich nicht wahr, was mir heute ganz unerklärlich ist, sondern beschließe, zunächst einmal abzuwarten. Widerwillig nehme ich sogar an einem Wochenende in einer Berghütte teil, das die Gruppe schon länger geplant hat. Ich kann mich an heftigen Liebeskummer erinnern, gegen den ich während dieser kurzen Tage in den Bergen ankämpfe. Die Intensität meiner wieder aufgeflammten Gefühle, die ich mir freilich nicht anmerken lasse, überrascht mich.Das Telefon klingelt. Ich tauche auf. Bis ich mich in der Gegenwart orientiert habe, hat das Klingeln schon wieder aufgehört. Ich bereite mir ein frugales Abendbrot. Beim Essen grüble ich über den Brief von Klaus und die Tage in der Berghütte. Zwischen dem Brief und dem Aufenthalt in der Hütte muss etwas passiert sein, das mich über eine bloße Vermutung hinaus sicher machte, dass Mariella meine Zuneigung doch erwiderte. Aber dieses „Etwas“ muss ich bis zum Hüttenwochenende gleich wieder verdrängt haben. Die ersten Tage auf der Hütte war ich ja überzeugt, dass ich Mariella nichts bedeute. Nach dem Wochenende gehen wir, so merkwürdig es mir jetzt vorkommt, wieder miteinander aus, also muss irgendein Umstand uns während dieser Tage in den Bergen einander wieder nähergebracht haben. Aus Gründen, die mir ebenfalls nicht klar sind, erreichen wir die ursprüngliche Unbeschwertheit des Umganges miteinander jedoch nicht wieder. So tief ich auch in die Vergangenheit eintauche, mehr gibt sie nicht preis.Mitte des Jahres löst sich der RING ganz unspektakulär auf. Danach sehen Mariella und ich uns nur noch selten. Bis Dezember 1972 kann mich an keine einzige Begegnung erinnern. Aus meinem Tagebuch geht hervor, dass ich Mariella nach wie vor liebe, und dies auf eine zunehmend reifere Weise. Aber einmal mehr unterstelle ich, dass meine Gefühle nicht erwidert werden. Dann aber taucht unvermittelt eine sehr lebendige Erinnerung auf, die mich wiederum vom Gegenteil überzeugt.Kurz vor Jahresende stattet meine Tante Rita der Kaltstadt einen Besuch ab, um weihnachtliche Einkäufe zu erledigen. Als sie von mir erfährt, dass am Abend im Wohnheim eine Tanzveranstaltung angesagt ist, freut sie sich, mich zu begleiten. Mariella ist auf dem Ball anwesend, tanzt aber nicht. Rita wundert sich, dass ich keine feste Freundin habe. Ich schlage ihr vor, sie solle aus den anwesenden Frauen eine zu mir passende heraussuchen. Ritas Wahl fällt auf Mariella. Ich gestehe meine einseitige Zuneigung. Rita macht sich daraufhin mit Mariella bekannt und führt unter vier Augen ein längeres Gespräch mit ihr. Danach erklärt sie mir, dass Mariella meine Gefühle erwidere, ich aber meine ja nicht zeigen würde, was sie ganz unsicher mache.Im neuen Jahr ergreife ich endlich die Initiative und suche Mariella auf. Indem ich selber ganz offen bin, hoffe ich, sie dazu bewegen zu können, sich ebenfalls zu bekennen. In Mariellas Zimmerkommt es zu einer halb ernsthaften, halb scherzhaften Auseinandersetzung. Ihre Vermieterin, die mitgehört hat, greift ein und fordert Mariella auf, doch endlich zuzugeben, dass sie mich gernhat. Und ich solle doch bitte mit dem Gerede aufhören und Mariella einfach in den Arm nehmen. Der Auftritt der Zimmerwirtin hat den Bann gebrochen. Kaum hat sie die Wohnung verlassen, um uns, wie sie erklärt, ein ungestörtes Zusammensein zu ermöglichen, fallen wir uns in die Arme und von da direkt ins Bett, wo wir uns, als sei es ganz selbstverständlich lieben. Danach überkommt Mariella allerdings prompt ein schlechtes Gewissen. Sie verlangt, dass wir unsere Gefühle nochmals auf die Probe stellen, indem wir uns für eine Zeitlang trennen, jedenfalls nicht miteinander schlafen. Sie verweist auch auf eine Jugendliebe, die sie möglicherweise noch nicht überwunden habe.Ich besuche sie, wie ich es ihr angekündigt habe, noch dreimal im Abstand von jeweils mehreren Monaten. Dreimal erkläre ich ihr mehr oder weniger überzeugend meine Liebe. Mariella will oder kann sich aber nicht festlegen. Ich spüre, wie ich mich von Monat zu Monat verhärte. In Worten kann ich Mariella zwar mittlerweile meine Gefühle antragen. Zu Taten kann ich mich jedoch nicht mehr durchringen. Schon der Gedanke, Mariella in den Arm zu nehmen, blockiert mein Sprachzentrum.Aber wenn ich mich auf Sprechen reduziere, kann ich ihr entspannt gegenübertreten. Von Mariella erwarte ich, dass sie sich ohne Wenn und Aber dazu bekennt, dass wir ein Paar werden. Wenn sie das -aus welchen Gründen auch immer- nicht will oder nicht kann, dann werde ich aufgeben, dann wird und muss die Liebe sterben. Aber ich bin geduldig, ich werde noch warten, ich werde Mariella und der Liebe Zeit geben.Es kommt anders. Mein dritter Besuch bei Mariella wird zum endgültigen Abschied. Zwar hatte ich genau dieses abschließende Adieu voraus gesehen, war zumindest darauf eingestellt, aber am Ende doch überrascht. So endgültig hatte ich mir „endgültig“ nicht vorgestellt. 

Ausbeute ungenügend

Hier halte ich inne, drucke das Geschriebene aus und lege es fürs Erste beiseite. Dann mache ich mich wieder daran, die Unterlagen zusammenzustellen, die ich für meine Seminare und Vorträge, ich nehme am universitären Lehrbetrieb mit reduzierter Stundenzahl noch teil, im neuen Semester benötige. Lange hält es mich aber nicht bei der Physik. Einmal mehr gehe ich den Ausdruck meiner Erinnerungen an Mariella durch und bin unzufrieden. Ich habe zu viel ausgelassen, zu Vieles vergessen. Mein eigenes Verhalten in dieser Geschichte ist mir schwer begreiflich. Dieses hin und her, „liebt sie mich, liebt sie mich nicht“, ist mir ganz befremdlich. Der Bericht scheint insgesamt falsch und gleichzeitig trivial.Ich spüre einen inneren Widerstand schon beim Lesen, noch mehr habe ich diesen Widerstand beim Schreiben bemerkt. Etwas in mir sträubt sich, tiefer zu forschen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Mit Mühe überwinde ich mich und durchsuche, auf mich selber wütend, alte Aktenordner nach Briefen und weiteren Dokumenten. Was den RING angeht, werde ich fündig. Ein ganzer Leitzordner ist ihm gewidmet. Dieser Ordner enthält Mitgliederlisten, Veranstaltungsprogramme, das RING-Konzept in verschiedenen Fassungen und mehr. An manche Mitglieder des RINGs, so stelle ich verblüfft fest, kann ich mich überhaupt nicht erinnern, obwohl ich ausweislich der Unterlagen mit ihnen in engem Kontakt stand. Ein weiterer Ordner fällt mir in die Hände. Er umfasst den Briefwechsel mit meiner Großmutter. Ausgerechnet ihr habe ich immer mal wieder über den RING und meine zweite Liebe, Melanie berichtet. Zu Mariella findet sich in den Briefen leider kein Sterbenswort. Endlich entdecke ich noch ein altes Ringbuch, in das neben einigen Briefen maschinengeschriebene Tagebuchseiten eingelegt sind. Es sind schwer lesbare Durchschläge der Originalseiten. Die Originale selbst bleiben verschwunden. Leider berichtet das Tagebuch, eigentlich eher ein Kopfkissenbuch, nur über wenige konkrete Ereignisse. Die meisten Seiten enthalten Gedankensplitter, Erwägungen, gute Vorsätze. Die Seiten, auf denen ich die ersten Begegnungen mit Mariella notiert habe, sind erhalten. Etwa ein dreiviertel Jahr nach unserem Kennenlernen habe ich die ersten Monate unserer Bekanntschaft im Tagebuch festgehalten, wie ich mich jetzt erinnere, um mir Mariella aus dem Kopf zu schreiben, was mir nicht gelang.Mit dieser Erkenntnis gab ich damals das Schreiben über Mariella wieder auf. Immerhin habe ich nun genug Informationen, um Abfolge und Datierung einer ganzen Reihe von Ereignissen halbwegs abzusichern. Ich hefte also die erste Niederschrift ab und starte einen zweiten Versuch. Dieses Mal werde ich mehr ins Detail gehen. Schließlich werde ich den Versuch machen zu bewerten, inwieweit ich diesen Erinnerungen trauen kann. Gestärkt durch eine halbe Tafel Lindt-Schokolade und eine Tasse Nescafé hole ich tief Luft und tauche wieder ab, hinunter in die Dunkelheit, bis ich einen hellen Punkt entdecke, der rasch größer wird, als ich mich nähere. Einen Moment lang stehe ich meinem vergangenen Ich gegenüber, das mich für einen Augenblick überrascht und verwirrt anblickt. Wenigstens kommt es mir so vor. Jetzt schaut W. auf seine Armbanduhr, dreht sich um und öffnet die Tür.

Zweiter Versuch: Die Realität des Irrealen 

Erste Begegnung

Laut Tagebuch lerne ich Mariella Hohenfeld zu Beginn des Wintersemesters 1970/71 auf einer Versammlung des VCS Kaltstadt kennen:Ich treffe mit Verspätung ein. Mir ist entgangen, dass der Sitzungsbeginn vorverlegt wurde. In Türnähe finde ich einen freien Stuhl. Mir schräg gegenüber sehe ich Klaus, Mitbegründer des RINGs, rechts neben ihm seine Freundin Katharina, auf diese folgend Melanie, meine Ex-Liebe, links neben Klaus eine blonde Frau, die mir unbekannt ist, eine attraktive Person, schlank,