Rufmord - Ein Leben unter Mordverdacht - Walter Nickl - E-Book

Rufmord - Ein Leben unter Mordverdacht E-Book

Walter Nickl

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Beschreibung

Als der beliebte Geldbriefträger am 2. Dezember 1975 das Postamt verließ, ahnte er nicht, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hatte. Auch der 17-jährige Mittelschüler, der zur selben Zeit am Lateinunterricht teilnahm, hätte sich wohl nie vorstellen können, wenige Wochen später in Handschellen von einem Polizisten wie ein Schwerverbrecher durch das Stadtzentrum gezerrt zu werden. War dieser beispiellose Justizirrtum eine Verkettung unglücklicher Zufälle oder das Ergebnis des Erfolgsdrucks, unter den die Kriminalisten von den Medien gesetzt wurden? Musste man der Öffentlichkeit nach wochenlangem Misserfolg bei den Mordermittlungen endlich einen Mörder präsentieren? In diesem Buch schildert der seinerzeitige Hauptverdächtige im spektakulären Mordfall seinen jahrzehntelangen Kampf gegen ungeheuerliche Anschuldigungen der Exekutive und Justiz, in Folge aber auch der Gesellschaft und beleuchtet Hintergründe und Geschehnisse, die der Öffentlichkeit bisher verborgen geblieben sind.

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Inhaltsverzeichnis

Walter Nickl

Prolog

Das Begräbnis

Der Raubmord

Werner

Wendepunkt in Werners Leben

Der Hosendieb

Plötzlich unter Mordverdacht

Kreuzverhör

Gemeindearrest

Das Geständnis

Spießrutenlauf

Atempause

Justizdilemma

Untersuchungshaft

Der Mordprozess

Erster Prozesstag

Zweiter und dritter Prozesstag

Vierter Prozesstag

Fünfter und letzter Prozesstag

Das Urteil

Das Leben danach

Werners neues Leben

Realisierung der Lebensziele

Der Rückschlag

Hoffnungsschimmer

Persona non grata

Hexenjagd

Neue Herausforderungen

Öffentliche Hinrichtung

Manipulationsverdacht

Gegenoffensive

ExpertInnenmarathon

Und was nun?

Epilog

Walter Nickl

RUFMORD

Ein Leben unter Mordverdacht

Die wahre Geschichte

Wolfgang Hager Verlag

Walter Nickl

Rufmord

Ein Leben unter Mordverdacht

Die wahre Geschichte

Copyright 2024

by Wolfgang Hager Verlag

A-8852 Stolzalpe 70

www.wolfgang-hager-verlag.at

Umschlaggestaltung: Tobias Wölfler

Coverfoto: Walter Nickl beim Mordprozess, als er mitansehen musste, wie seine Mutter bei ihrer Zeugenaussage einen Nervenzusammenbruch erlitt.

Mit freundlicher Erlaubnis der Kronenzeitung, Titelfoto der Ausgabe vom

20. Oktober 1976.

ISBN 978-3-903443-27-3

Die beschriebenen Geschehnisse in diesem Buch beruhen auf wahren Begebenheiten.

Die Namen der meisten handelnden Personen sind frei erfunden und stehen in keinem Zusammenhang mit noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen. Ähnlichkeiten sind unbeabsichtigt und rein zufällig. Lediglich die Rechtsanwälte Dr. Michael Stern und Dr. Gerald Ruhri, die ORF-Fernseh-Journalisten Dr. Günther Ziesel und Dr. Peter Fichna, sowie der Leserbriefschreiber Dr. A. Bachzelt werden namentlich genannt.

Ortsnamen entsprangen der Fantasie des Autors, mit Ausnahme der Landeshauptstädte Graz und Innsbruck, sowie der österreichischen Bundeshauptstadt Wien und Hamburg in Deutschland.

Alle enthaltenen Informationen über den gegenständlichen Mordfall entstammen dem Ermittlungsakt der Polizei und des Untersuchungsrichters, der dem Autor dieses Buches zum großen Teil vorliegt, der Anklageschrift von 1976, dem Gerichtsprotokoll der Hauptverhandlung, den Erinnerungen des Autors und tagebuchähnlichen Aufzeichnungen seines Vaters, die dieser seit Beginn der gegen seinen Sohn erhobenen Verdächtigungen geführt hatte.

Außerdem wurden auch zahlreiche noch vorhandene Zeitungsberichte aus dieser Zeit zur Ergänzung herangezogen, um allen LeserInnen ein möglichst umfangreiches, objektives Bild zu verschaffen.

Anm. des Verlages:

Mit der Zusammenlegung von Gendarmerie, Bundessicherheitswachekorps und Kriminalbeamtenkorps am 1. Juli 2005 wurde die Bundesgendarmerie in die Bundespolizei überführt.Im Fluss der Erzählung der folgenden wahren Geschichte wird nicht immer exakt zwischen Gendarmerie und Polizei unterschieden, da sich die Handlung über das Jahr der Zusammenlegung und Begriffs-Vereinheitlichung hinaus erstreckt. D.h. welcher Begriff auch immer verwendet wird, gemeint ist stets die Polizei im heutigen Sinn.

Prolog

Als der beliebte Geldbriefträger Josef Bachler am 2. Dezember 1975 das Postamt in Kirchfeld verließ und sich – trotz des schlechten Wetters – gut gelaunt auf seinem mit Postsendungen vollgepackten Fahrrad auf den Weg in sein Zustellrayon machte, ahnte er nicht, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hatte.

Auch der 17-jährige Mittelschüler Werner, der zur selben Zeit am Lateinunterricht im örtlichen Gymnasium in Kirchfeld teilnahm, hätte sich wohl nie vorstellen können, dass er schon wenige Wochen später an einem Freitagmorgen in Handschellen von einem Polizisten wie ein Schwerverbrecher durch das Ortszentrum der Einkaufsstadt gezerrt werden würde.

War dieser beispiellose Justizirrtum eine Verkettung unglücklicher Zufälle oder schlussendlich das Ergebnis des Erfolgsdrucks, der den Kriminalisten von den Medien zur Aufklärung des grausamen Verbrechens auferlegt worden war? Wollte oder musste man daher der Öffentlichkeit nach wochenlangem Misserfolg bei den Mordermittlungen endlich einen Mörder präsentieren?

In diesem Buch schildert der seinerzeitige Hauptverdächtige in diesem spektakulären Mordfall seinen jahrzehntelangen, unerbittlichen Kampf gegen ungeheuerliche Verdächtigungen und Anschuldigungen der Exekutive und Justiz, in Folge aber auch der Gesellschaft und beleuchtet Hintergründe und Geschehnisse, die der Öffentlichkeit bisher verborgen geblieben sind.

Im Buch nennt er sich selbst „Werner“ und schafft damit den nötigen Abstand zwischen ihm und der fiktiven Person für eine objektive, faktenbasierte und möglichst emotionsbefreite Berichterstattung.

Das Begräbnis

Es ist Dezember 2021. Ein schöner, aber kalter Wintertag in der Obersteiermark.

Und es ist still. Sehr still, im „Raum der Stille“, der erst kürzlich erbaut und am neuesten Stand der Technik seiner Bestimmung übergeben wurde. Maximal 25 Trauergäste finden auf bequemen Sesseln Platz im Raum – ideal für Trauerfeiern im engeren Familienkreis.

Bei weitem ausreichend für die kleine Trauerfamilie, die sich heute vor dem aufgebahrten Sarg von Adelheid eingefunden hat. Nicht alle, aber immerhin neun der engsten Angehörigen sind gekommen, um sich in würdevollem Rahmen zu verabschieden.

Ganz vorne in der ersten Reihe Sohn Werner, der wie immer alles organisiert hatte. Prinzipiell tut er das ja gerne und sein Organisationstalent war auch jahrzehntelang eine große Hilfe in seinem Berufsleben bis zur Pensionierung, nur diesmal war es ihm nicht leichtgefallen.

Links neben ihm seine Schwester Renate, die ihn bei den Begräbnisvorbereitungen unterstützt hatte und zu rechter Hand seine geliebte Frau Rosina – seit 40 Jahren mit Werner verheiratet.

Dahinter sitzen Thomas und Sarah, Sohn und Schwiegertochter von Werner und Rosina. Sie waren aus Graz angereist und als letzte eingetroffen. Werner hatte vor dem Gebäude auf sie gewartet, um Sie willkommen zu heißen und zum „Raum der Stille“ zu begleiten. Die Begrüßung war höflich aber kühl. Werner spürte die Anspannung, die seit einigen Monaten zwischen ihnen herrschte. Das stimmte ihn noch trauriger, als er ohnehin schon war.

Clara, Enkel von Adelheid und Tochter von Werner und Rosina, ist mit Sohn Jakob gekommen, dem Urenkel von Adelheid. Dahinter sitzen noch Werners Ex-Schwiegersohn Manfred mit Sohn Luca. Manfred war bis zur Scheidung vor acht Jahren mit Sissi, der jüngeren Tochter von Werner und Rosina verheiratet gewesen, die nicht zur Verabschiedung gekommen ist. Sie hatte kurz nach der Scheidung wieder geheiratet und danach – angeblich auf Wunsch ihres neuen Ehemannes – alle Kontakte zu ihrer Familie abgebrochen und war weggezogen.

Sie warten auf den Diakon, der die Trauerfeier gestalten wird und auch einmal Religionslehrer von Clara und Thomas auf dem Gymnasium gewesen war.

Totenstille. Die Angehörigen lassen ihre Blicke über das fröhliche Foto von Adelheid am Flatscreen an der Wand und den Lärchensarg mit dem Sarggesteck aus Rosen und Gerbera in Rosa und Weiß schweifen. „In Liebe und Dankbarkeit. Deine Familie“ steht auf den rosa Schleifen, die sich am Sarg anschmiegen. Links und rechts neben dem Sarg brennen Öllichter in Kerzenform. Eines davon ist erloschen, wohl durch den Luftzug, der beim Öffnen und Schließen der Türen entsteht.

Links neben dem Sarg nochmals ein silberfarben gerahmtes Foto von Adelheid, das sie fröhlich lachend zeigt. So war sie aber nicht immer, die zweifache Mutter, dreifache Oma und fünffache Uroma. Das Leben hatte es nicht sehr gut gemeint mit ihr: 1931 in einfachste Verhältnisse geboren, wurde sie von ihrer Mutter weggelegt, wuchs bei einem „Kleinkeuschler“, einem kleinen Bauern mit wenigen Stück Vieh auf, wo sie schon als Kind hart arbeiten musste, um danach die Volksschule besuchen zu dürfen. Als junge Frau lernte sie als Dienstmagd Werner sen. kennen und lieben, der sie bald heiratete. Dieser Ehe entsprangen zuerst Renate und drei Jahre später Werner jun. Es schien, als ob es das Schicksal doch noch gut mit ihr meinte, bis 1975 ihr Sohn Werner aus heiterem Himmel 17-jährig unter Mordverdacht geriet. Tage- und nächtelange Verhöre der gesamten Familie durch die Kripo, eine neunmonatige Untersuchungshaft ihres Sohnes, Nervenzusammenbruch beim Mordprozess! Noch nicht ganz erholt von dieser Odyssee schlug das Schicksal zehn Jahre später erneut zu: Ihr geliebter Gatte Werner erlag 56-jährig einem Krebsleiden. Von diesem Doppelschock erholte sie sich niemals mehr richtig.

Die Trauergäste werden durch den näherkommenden Diakon aus ihren Gedanken gerissen, der bedächtig den Gang zum „Raum der Stille“ entlang schreitet, eintritt, sich kurz umblickt und vorsichtig die Tür schließt, um kein unpassendes Geräusch zu erzeugen. Respektvoll verneigt er sich vor dem aufgebahrten Sarg von Adelheid, dann dreht er sich um und blickt für einige Sekunden schweigend auf die kleine Trauergemeinde.

Es war eine würdevolle Trauerfeier für Adelheid. Das war wohl das Mindeste, was Werner und Renate für sie tun konnten, sagen die beiden noch am offenen Grab, nachdem der Sarg der Erde übergeben worden war und sich alle Angehörigen von ihr ein letztes Mal verabschiedet hatten.

Thomas spricht noch kurz mit dem Diakon und tauscht Höflichkeiten aus. Man kennt sich ja aus der Schulzeit. Als Vater Werner dazukommt, ist die kurze Unterhaltung auch schon zu Ende. Schade, Werner hätte sich auch noch gerne am Gespräch beteiligt. Vielleicht auch nur, um mit Sohn Thomas wieder den zuletzt verlorenen Kontakt zu pflegen.

Die kleine Trauergemeinschaft weiß nicht so recht, wie’s weitergeht. Werner übernimmt – wie schon so oft in seinem Leben – die Initiative und schlägt vor, über den etwas längeren asphaltierten Weg zurück zum Parkplatz zu gehen. Die direkte Verbindung über den Heldenfriedhof sei schlecht geräumt und vereist, meint er. Es hatte Ende November mehrmals heftig geschneit und der Schnee war durch die anhaltende Kälte größtenteils auch liegen geblieben.

Werner und Rosina hatten zuvor zu Hause vereinbart, ihren Sohn Thomas mit seiner frisch angetrauten Frau Sarah nach der Trauerfeier noch zu sich nach Hause einzuladen. Vielleicht könne man bei dieser Gelegenheit noch mal vernünftig über alles reden, was zur Entscheidung für die unterschiedlichen Familiennamen der beiden geführt hatte.

Thomas‘ Eltern leiden sehr darunter, dass der Kontakt zum geliebten Sohn fast gänzlich abgebrochen ist, der sich verständlicherweise schützend vor seine junge Frau stellte, als sein Vater ihn Monate nach der Hochzeitsfeier fragte, warum Sarah ihren Mädchennamen behielt und nur er nun einen Doppelnamen trägt. Für Werner war die Vermutung naheliegend, dass Thomas damit seine Frau und präventiv auch seine etwaig noch auf die Welt kommenden Kinder wohl vor möglichen Konfrontationen mit dem durch den seinerzeitigen Mordverdacht vor 46 Jahren befleckten Familiennamen seines Vaters schützen wollte.

Werner fasst sich also ein Herz und fragt die beiden, ob sie noch mitkommen würden zu ihm und Rosina nach Hause. Spontan wird die Einladung abgelehnt, man müsse sofort wieder zurückfahren nach Graz.

Enttäuscht bittet Werner Sohn Thomas noch kurz mitzugehen zu seinem Auto. Er habe etwas mitgenommen für ihn und Sarah. Werner hatte – wie immer – vorausgedacht. Zwar hatte er gehofft, dass die beiden nach der Trauerfeier auf ein klärendes Gespräch mit zu ihm nach Hause kommen würden, aber gerechnet damit hatte er nicht. So hatten Rosina und er zur Sicherheit zwei Weihnachtsgeschenke ins Auto gelegt und zur Trauerfeier mitgenommen.

Sohn Thomas ist sichtlich überrascht.

Man wünscht sich höflich ein schönes Weihnachtsfest und weg sind sie.

Werner und Rosina stehen etwas fassungslos am Parkplatz und wissen nicht so recht, wie ihnen geschah. Werner hatte in der Aufregung überhaupt vergessen, sich von den übrigen Trauergästen zu verabschieden. Peinlich! Schnell holt er das per WhatsApp nach – gute moderne Zeit!?

Rat- und ziellos fahren Werner und Rosina mit dem Auto durch die Gegend. Nach Hause wollen die beiden jetzt noch nicht. Zu viele Gedanken quälen sie. Gedanken an die verstorbene Mutter und Schwiegermutter, Gedanken an den „verlorenen“ Sohn Thomas.

Spontan ruft Werner Schwester Renate an, um gemeinsam noch irgendwo einen Kaffee zu trinken und zu reden …

Während Rosina und Renate tratschen und am Kaffee nippen, schwirren viele Gedanken und Selbstvorwürfe durch Werners Kopf. Wie soll das weitergehen mit Sohn Thomas, warum holt ihn immer wieder die Vergangenheit ein? Eine Vergangenheit – für die er noch dazu nichts kann! Hat er nicht schon genug gelitten in den letzten 46 Jahren? Wann hat das endlich ein Ende?

Suizidgedanken kommen auf und lassen sich auch mit Hartnäckigkeit nicht verdrängen. Was soll er tun?

Noch in der folgenden, schlaflosen Nacht beschließt Werner, seine Geschichte niederzuschreiben. Vielleicht befreit ihn das von den Selbstvorwürfen, von seiner Ratlosigkeit, wie es in seinem Leben weitergehen soll. Egal worin diese Niederschrift mündet, wenn es ihm hoffentlich nur helfen möge, wieder einen Sinn in seinem Leben zu finden.

Der Raubmord

Unfreundliches Wetter schlug dem Geldbriefträger Josef Bachler entgegen, als er mit seinem Fahrrad am Morgen des 2. Dezember 1975 um ca. 09.25 Uhr das Postamt in Kirchfeld verließ. Bachler war an und für sich ein sehr positiver Mensch, meist gut gelaunt und wohl deshalb auch sehr beliebt in seinem benachbarten Wohnort Petersdorf, wo er auch in der örtlichen Blaskapelle die Tschinelle schlug.

Das nasskalte Wetter an diesem Tag war aber auch ihm nicht angenehm, trotzdem ließ er sich dadurch nicht die gute Laune verderben, und so schob er sein schwarzes Damenrad tapfer durch die Nebelschwaden in Richtung des ihm zugewiesenen Zustellrayons.

Einen Teil der Poststücke hatte er auf den Gepäckträger des Rades, den Rest in eine an der Lenkstange hängende Aktentasche, wo auch noch lose zwei Pakete baumelten, und in seine Briefträgerumhängetasche gepackt.

Nach außen hin also ein zeitgemäßes, bekanntes Bild eines Postzustellers, das Bachler so abgab.

Doch diesmal war wieder Monatsbeginn und somit Auszahlungstag für die Pensionen.

Josef Bachler hatte daher an diesem Tag neben den üblichen Briefen, Postkarten, Paketen und dem Werbematerial auch eine größere Geldsumme bei sich, die er den Pensionisten in seinem Zustellgebiet auszuzahlen hatte.

Ein Geldbetrag von 100.000,- Schilling befand sich in seiner Umhängetasche, weitere mehr als 80.000,- Schilling waren in einer Brusttasche verwahrt, die eigentlich für reine Geldzusteller vorgesehen war, aber an starken Auszahlungstagen auch von Gesamtzustellern verwendet wurde.

Angekommen beim ersten Haus seiner Zustelltour lehnte Bachler sein bepacktes Fahrrad an einen davor befindlichen Hydranten und betrat das Mehrparteienhaus um ca. 9.30 – 9.35 Uhr. Sein erster Zustellversuch der Rente an eine betagte Bewohnerin misslang jedoch, da diese sein Läuten an der Wohnungstür überhörte. Bachler hinterließ ihr eine Zeitung und eine Postkarte eingeklemmt in der Türschnalle und wollte wohl später nochmals vorbeischauen.

Er verließ diesen Trakt des Hauses und betrat das Nebenhaus, wo er im Hauseingang auf einen Wäschezusteller traf, der gerade aus dem Haus kam. Laut späterer Aussage des Wäschezustellers sei das zwischen 09.30 und 09.40 Uhr gewesen. Er habe nicht auf die Uhr geschaut.

Anschließend zahlte Bachler im Tiefparterre des Nebenhauses einer 68-jährigen Pensionistin die Rente aus und übergab ihr eine Aufforderung zum Empfang eines Gerichtsbriefes für den bei ihr wohnhaften, aber zu der Zeit nicht anwesenden, Enkelsohn. Er erzählte ihr auch, dass er die Nachbarin zuvor nicht angetroffen habe.

Der Briefträger trank noch ein Dosenbier bei der Pensionistin und verließ nach ca. fünf Minuten wieder deren Wohnung, um im angrenzenden Eckhaus einer dort im Hochparterre wohnhaften Angestellten einer Apotheke eine Zeitschrift zuzustellen.

Dorthin gelangte man entweder über die Straße, einen Hinterhof oder durch einen Keller. Welchen Weg der Geldbriefträger an diesem Tag nahm, konnte nachträglich nicht mehr eindeutig festgestellt werden …

Um ca. 10.00 Uhr begab sich die Angestellte der Apotheke aus ihrer Wohnung im Hochparterre des Eckhauses in den Hinterhof, um ihren Müll in den dort befindlichen Mülltonnen zu entsorgen. Auf dem Rückweg sah sie nach Betreten des Stiegenhauses durch die hofseitige Tür auf den oberen Stufen des Kellerabganges Blutspuren und verstreutes Münzgeld und bei genauerem Hinschauen schließlich unten, etwas entfernt von der letzten Kellerstufe, die Füße und den unteren Körperteil des Briefträgers. Sie schaute zwar nicht weiter nach, um welche Person es sich konkret handelte, nahm aber an, dass es nur Josef Bachler sein konnte, da dieser ja in der letzten Zeit die Zustellung der Post in ihrem Hause besorgte.

Eilig lief sie zurück in ihre Wohnung und verständigte um 10.05 Uhr telefonisch Rettung und Gendarmerie.

Der aus mehreren Kopfwunden blutende Briefträger Josef Bachler wurde von der Rettung umgehend in das örtliche Krankenhaus gebracht, wo er trotz Notoperation am Abend desselben Tages verstarb.

Aus den Spuren am Tatort – Blutlachen, Blutspritzer, Lage des schwer verletzten Briefträgers, Blutbefleckung seiner Kleidung, Lage der Gegenstände, die Josef Bachler bei sich geführt hatte (Umhängetasche, Geld, Poststücke, Kugelschreiber, Uniformmütze) – und dem gerichtsmedizinischen Gutachten nach der Obduktion der Leiche wurde folgender Tathergang rekonstruiert:

Josef Bachler wurde von dem oder den Täter(n) durch mehrere, wuchtige Hiebe mit einem schweren länglichen Gegenstand niedergeschlagen. Dabei traf ein wuchtiger Hieb die Uniformmütze und verursachte daher keine Hautverletzungen, führte aber bereits zu einem Schädelbruch und damit zur sofortigen Wehrlosigkeit des Opfers.

Diese Verletzung hätte lt. gerichtsmedizinischem Befund schon genügt, um den Tod des Josef Bachler herbeizuführen.

Dennoch wurde mit offenbar zwei gänzlich unterschiedlichen Tatwerkzeugen noch mehrmals auf den Kopf des wahrscheinlich schon am Boden liegenden Briefträgers eingeschlagen. Lt. Gutachten wurden insgesamt bis zu neun Hiebverletzungen festgestellt. Demnach wurden die ersten und meisten Hiebe mit einem sehr schweren stangenartigen Gegenstand, zum Beispiel einer Eisenstange, und dann erst auch einige mit einem wesentlich leichteren, zackenartigen Werkzeug (eventuell einer sehr groben Raspel) ausgeführt.

Dies führte zur Überlegung des gerichtsmedizinischen Gutachters, dass es unter der Voraussetzung der Verwendung zweier unterschiedlicher Werkzeuge in vorgenannter Reihenfolge „in hohem Grade wahrscheinlich ist, dass an der Tötung des Josef Bachler zwei Täter gleichzeitig beteiligt waren“. Denn „kein zielbewusster Täter wechselt ein taugliches Werkzeug gegen ein untaugliches aus!“ – so der Gerichtsmediziner.

Nach der Spurenlage haben der oder die Täter das Opfer anschließend von der Stiege in die Auffindungslage geschleift, offenbar um den Körper aus der Sicht des Stiegenhauses zu bringen, wobei die Schleifspuren am Boden des Tatortes und an der Kleidung des Josef Bachler entstanden.

In der Eile dürfte(n) der oder die Täter den in der Schulter- bzw. Umhängetasche befindlichen Geldbetrag von 100.000,- Schilling übersehen haben, aus der Leibtasche wurden ca. 79.000,- Schilling geraubt.

Möglicherweise wurde(n) der oder die Täter auch durch die Angestellte der Apotheke, die ihren Müll entsorgte, zur vorzeitigen Flucht veranlasst.

Hinsichtlich der Tatzeit gab es infolge widersprüchlicher Aussagen unterschiedliche Varianten. Davon ausgehend, dass der Briefträger die Wohnung der Pensionistin, wo er ein Dosenbier trank, nach deren Aussage um ca. 09.35 – 09.40 Uhr verließ, und in das Nebenhaus ging, wo er überfallen und ermordet wurde, müsste die Tatzeit um etwa 09.45 Uhr gewesen sein. Gefunden wurde das Opfer von der Angestellten der Apotheke aber erst um ca. 10.00 Uhr. Innerhalb dieser Zeitspanne musste das Verbrechen also passiert sein.

Neben persönlichen Gegenständen des Mordopfers wurden als Spuren am Tatort noch ein zusammengeknülltes Taschentuch und Fuß- bzw. Schuhspuren im Hinterhof des Tathauses gesichert, die allesamt im Nachhinein weder dem Briefträger, noch den Hausbewohnern, noch dem späteren Hauptverdächtigen oder dessen Familienangehörigen zugeordnet werden konnten.

Es lag daher nahe, dass Fußspuren und Taschentuch von dem oder den unbekannten Täter(n) stammten.

Die erhebenden Kriminalbeamten mussten sich aber später vom Verteidiger des Hauptverdächtigen mangelnde Professionalität in der Tatortarbeit, das heißt fehlerhafte Sicherung und Auswertung der Tatortspuren, vorwerfen lassen.

Werner

„Wozu lebt der Mensch?“

Streng und autoritär blickte der großgewachsene Pfarrer fragend herab auf die angehenden Firmlinge. Seine Hände waren verschränkt, während er in seiner langen schwarzen Kutte auf Antworten der eingeschüchterten Kinder wartete. Ängstlich schauten einige zu Boden, die anderen blickten sich etwas ratlos gegenseitig an. „Was meint er denn?“, dachten sich wohl die meisten. Niemand schien die Antwort zu wissen, oder sie trauten sich einfach nicht, etwas zu sagen, in der Angst, es könnte falsch sein und dem Pfarrer nicht gefallen. Immerhin hatte der ja schon mehrmals damit gedroht, all jene nicht zur Firmung antreten zu lassen, die die von ihm im Firmungsunterricht dargebrachte Lehre nicht entsprechend verinnerlichen und wiedergeben können, oder die von ihm angeordnete Anwesenheitspflicht bei seinen Messen nicht befolgen.

Niemand antwortete. Betretenes Schweigen der Kinder. Der Pfarrer fragte mit immer schärfer werdendem Ton nach.

Werner dachte bei sich: „Ich weiß die Antwort! Soll ich mich trauen, es zu sagen?“ Eingeschüchtert schaute er sich um. Alle anderen blickten betreten zu Boden.

Spontan streckte Werner seine rechte Hand empor, um dem Pfarrer zu signalisieren, dass er gerne was sagen möchte. Unsicher presste er dabei Zeige- und Mittelfinger zusammen und ballte die restlichen Finger zu einer Faust, ganz so wie man in dieser Zeit als Schüler gelernt hatte „aufzuzeigen“.

„Na, da schau her, der Werner weiß auch mal was!“, reagierte der Pfarrer etwas spöttisch. „Also dann Werner, wozu lebt der Mensch?“

Der strenge Blick des Pfarrers machte Werner aber wieder unsicher. Soll er sich wirklich trauen, das zu sagen? Was ist, wenn’s falsch ist? Aber er war sich doch so sicher, dass es stimmt. Sah er doch tagtäglich, wie sich seine Eltern abmühen mussten und schufteten, um den Lebensunterhalt zu verdienen und das kleine bescheidene Heim zu erhalten. Auch den Eltern seiner Freunde aus der Nachbarschaft ging’s nicht viel anders. Alle mussten hart und viel arbeiten.

„Der Mensch lebt, um zu arbeiten!“, schoss es plötzlich aus Werners Mund heraus und er erschrak selbst etwas ob seines Mutes.

Mit dieser Antwort dürfte der Pfarrer wohl nicht gerechnet haben. Mit vom Zorn verzerrtem Gesicht ging er auf Werner zu, packte ihn mit seiner linken Hand am Hemdkragen und mit seiner rechten am Ohr und fragte gefährlich leise nochmals nach: „Wozu lebt der Mensch?“

Werner hatte Angst, aber er war von der Richtigkeit seiner Antwort so überzeugt, dass er zwar kleinlaut, aber doch bestimmt wiederholte: „Der Mensch lebt um zu arbeiten!“

Der Pfarrer hielt Werner noch immer verkrampft mit einer Hand am Hemdkragen und mit der anderen am linken Ohr. Spontan riss er ihn so zu sich hoch auf Augenhöhe und blickte den Buben hasserfüllt an. Langsam löste er seine rechte Hand von Werners Ohr, holte aus und versetzte dem vor Angst mittlerweile schon schlotternden Jungen eine schallende Ohrfeige.

„Damit du es weißt und dir ewig merkst: Der Mensch lebt, um Gott zu dienen!“

Dieses Erlebnis sollte Werner tatsächlich zeit seines Lebens in Erinnerung bleiben. Nicht die eingeforderte Antwort, wohl aber die Methodik, mit der versucht worden war, ihn davon zu überzeugen.

Seitdem entwickelte sich in seinem Unterbewusstsein vorerst unbemerkt aber stetig eine Abneigung, ein Widerstand gegen Ungerechtigkeit. Immer wieder mal sollte sich in seinem späteren Leben diese innere Rebellion gegen Unrecht auch nach außen bemerkbar machen. So mischte er sich ein, wenn Menschen schlecht behandelt oder zu Unrecht für etwas beschuldigt wurden – auch wenn es ihn nichts anging. Das brachte ihn naturgemäß öfters in schwierige Situationen und war seinem Beliebtheitsgrad nicht sehr zuträglich.

Der Mensch lebt, um zu arbeiten!

An diesen Satz sollte Werner sich nicht nur sein Leben lang erinnern, er kennzeichnete auch irgendwie seinen Lebenslauf. Manchmal dachte er sich, ob das wohl ein Fluch sei, der seitdem auf ihm laste? Obwohl er ja seit seiner Taufe immer ein zwar nicht intensiv praktizierender, aber doch gläubiger Katholik war, schien es der „Herrgott“ nicht immer sehr gut mit ihm zu meinen.

Schon in der Volksschule war er einmal zu Unrecht beschuldigt worden, seine Notdurft in fester Form vor dem Schulgebäude verrichtet zu haben.

Er war ein sehr guter und braver Schüler gewesen in der Volksschule, stets mit besten Noten. Vielleicht hatte ihn ja gerade deswegen ein(e) Mitschüler(in) aus Neid denunziert, für das braune Häuflein vor der Schule verantwortlich zu sein.

Werner weinte bitterlich und beteuerte inbrünstig seine Unschuld vor Lehrerin, Direktorin und seinen Eltern. Geglaubt haben ihm nur seine Eltern. Die Wahrheit kam nie zu Tage …

Zu Hause im Dorf war Werner schon manchmal auch ein Lausbub. Zusammen mit seinen Freunden aus der Nachbarschaft gründete man eine „Kinderbande“, die den Nachbarn den einen oder anderen Streich spielte und sich spielerisch mit anderen gleichaltrigen „Banden“ der Umgebung „bekämpfte“. Der naheliegende Wald und ein kleiner Bach wurden zum „Eldorado“ der heimischen Kinder.

Gerne erzählte er später immer allen von seiner „wunderschönen Kindheit“, in der es ihm – trotz bescheidener Verhältnisse – dank seiner Eltern an nichts gefehlt hatte. Alle in der Umgebung hatten gleich viel oder gleich wenig, waren mit dem zufrieden, was sie hatten und halfen sich auch immer gegenseitig.

Werner liebte und schätzte seine Eltern sehr, die sich täglich abrackerten, um ihm und seiner Schwester Renate ein schönes Leben zu ermöglichen und die es auch verstanden, Feste zu feiern mit Freunden und Nachbarn. Gute, alte Zeit …!

Aber auch schon in dieser Zeit wurde Werner öfters Ziel von anonymen Denunzierungen, falschen Anschuldigungen, hauptsächlich für Sachbeschädigungen im Dorf, die in Wahrheit andere begangen hatten. Möglicherweise hatte das ja auch mit seiner „Führungsrolle“ in der Kinderbande zu tun, die bekannt war für deren Lausbubenstreiche.

Im Alter von zehn Jahren kam Werner ans Gymnasium in Kirchfeld. Die Volksschule hatte er mit lauter „Einser“ abgeschlossen und so die Berechtigung für die – damals noch geforderte – Aufnahmsprüfung am Gymnasium erworben, die er schließlich auch problemlos schaffte.

Gleichzeitig meldete ihn sein Vater in einem Fußballverein im nahegelegenen Kirchfeld an, da sein Sohn schon zu Hause ein leidenschaftlicher Fußballspieler war und gemeinsam mit seinen Freunden und teilweise auch mit deren Vätern viel Zeit am selbst improvisiert errichteten Fußballplatz verbrachte.

Der Fußballklub befand sich nur wenige Fahrminuten mit dem Rad entfernt von Werners Elternhaus, in der sogenannten „Neustadt“ von Kirchfeld. Einem kleinen Stadtteil am Westrand der Stadt, auf der anderen Seite des Baches, wo Werner zu Hause war. Viele Bewohner der „Neustadt“ wohnten noch in den kleinen Holzbaracken, die man dort nach dem Zweiten Weltkrieg als Notunterkünfte für die Obdachlosen nach der Bombardierung von Kirchfeld errichtet hatte. Einige hatten es wohl meist aus finanziellen Gründen noch nicht geschafft, sich eine neue Existenz aufzubauen, oder es einfach verabsäumt, sich rechtzeitig um Alternativen umzusehen. Auch die Stadtgemeinde Kirchfeld dürfte da wohl weggeschaut und die Menschen jahrzehntelang ihrem Schicksal überlassen haben. Und so hausten die meisten Bewohner dieses Stadtteils trotz der bescheidenen Verhältnisse noch immer recht zufrieden in ihren notdürftigen Holzhütten.

Viele davon waren sehr nette und bescheidene Menschen, oft mit vielen Kindern, denn die staatliche Kinderbeihilfe war ein wesentlicher Eckpfeiler ihrer Existenz. Aber die nachfolgende Generation, die Kinder und Jugendlichen der „Neustädter“, sah den stetig steigenden Wohlstand in der Umgebung im Kontrast zu ihrem eigenen bescheidenen Dasein. Einige konnten damit nicht umgehen und so entwickelte sich manchmal eine Art revolutionärer Gegenreaktion von enttäuschten Jugendlichen, die ihr „Territorium“, ihren Stadtteil, ihre Community schützen und verteidigen wollten gegen alles und jeden, was sich in späteren Jahren manchmal leider auch in krimineller Energie entlud.

Werner aber war trotz seiner Mitgliedschaft in der Kinderbande seines Dorfes, die sich naturgemäß auch schon einmal das eine oder andere „Gefecht“ mit den benachbarten Kindern aus der Neustadt lieferte, im Fußballklub von Beginn an willkommen und akzeptiert. Das hatte vielleicht auch den Grund, dass sein Vater als gelernter Tischler vielen Bewohnern der Holzbaracken immer gerne und kostenlos bei kleinen Reparaturen geholfen und für einige auch Möbel und Einrichtungsgegenstände angefertigt hatte.

Aber auch Werner etablierte sich schnell als talentierter Fußballtormann, dessen Können man schätzte und förderte.

In den ersten Schuljahren am Gymnasium war Werner ein guter Schüler, wenn auch die Noten nicht mehr nur „Einser“ waren. Die vier Klassen Unterstufe absolvierte er in diesem Sinne eher unauffällig ohne Probleme.

Wie die meisten seiner Klassenkameraden entschied er sich in der Oberstufe – entgegen seinen Neigungen – für den „realistischen“ Zweig, mit Schwerpunkt Mathematik ab der fünften und Darstellender Geometrie ab der siebten Klasse, um die für ihn sehr angenehme Klassengemeinschaft nicht verlassen zu müssen.

Eine Fehlentscheidung, wie sich später herausstellen sollte.

In der fünften und sechsten Klasse musste Werner sich dann schon sehr bemühen und intensiv Lernen und Üben, um die mathematischen Heraus-forderungen zu bewältigen. Aber er schaffte auch das, obwohl der Notenschnitt darunter litt.

In der siebten Klasse stellte sich dann heraus, dass „Darstellende Geometrie“ nicht zu den Talenten von Werner zählte. Inzwischen war er auch sechzehn Jahre alt geworden und voll in der Pubertät. Gemeinsam mit seinem Vater hatte er sich ein Moped gekauft, eine Puch MC 50 in Rot. Ein Kultgerät! Sein Vater hatte es vorfinanziert und Werner arbeitete in den Sommerferien als Ferialpraktikant, je einmal in einer Möbelfabrik und für einen ortsansässigen Installateur am Bau, um vereinbarungsgemäß seinem Vater die Hälfte des Kaufpreises zurückzuzahlen.

Werner war viel unterwegs mit seinem Moped, im Sommer und im Winter – das ganze Jahr über. Altersbedingt zog es ihn raus zu den Freunden, zu den Mädchen, bei denen er auch gut ankam.

Er begann die Schule zu schwänzen, anfangs um dem ungeliebten Fach „Darstellende Geometrie“ zu entgehen, dann auch um sich mit Mädchen zu treffen. Dadurch verschlechterten sich aber auch seine schulischen Leistungen in einigen anderen Unterrichtsfächern. Ein Teufelskreis!

Immer öfter schwänzte er die Schule, um unangenehme Prüfungen zu vermeiden oder wegen der Rendezvous mit den Mädchen, bis er schließlich einmal im zweiten Semester der siebten Klasse nach Hause kam und sein Vater am Küchentisch saß, vor sich sieben Mahnungen vom Gymnasium, die er mittels „blauem“ Brief erhalten hatte.

Mit traurigen, wässrigen Augen sah Werner sen. seinen Sohn an und sagte nur: „Dass du so dumm bist, hätte ich mir nicht gedacht!“ Dann stand er auf und ging weg. Die sieben Mahnungen ließ er am Tisch liegen.

Das war der Moment, in dem Werner „aufwachte“! Aufwachte im Sinne von „Zur Besinnung kommen“. Er stand doch tatsächlich in sieben Unterrichtsgegenständen auf „Nicht genügend“!

Im Sommer desselben Jahres musste Werners Vater ins Krankenhaus Kirchfeld zu einer komplizierten Struma-Operation, die wegen seiner Herzkrankheit für ihn nicht ganz ungefährlich werden konnte. Die Aufregungen um Werners schulische Probleme waren da natürlich nicht gerade förderlich.

Nicht zuletzt deswegen hatte sich Werner in den Monaten davor so richtig ins Zeug gelegt, die Schule nicht mehr geschwänzt und Tag und Nacht gelernt, um seine Mahnungen auszubessern und seinem Vater zu beweisen, dass er nicht „so dumm“ sei, wie dieser gemeint hatte.

Die Taktik des Vaters war aufgegangen …

Sechs von den sieben angemahnten Gegenständen konnte Werner schließlich positiv abschließen. Das siebte Fach, Darstellende Geometrie, schaffte er dann auch noch im Zuge einer Nachprüfung nach den Sommerferien, die er neben seiner Ferialpraxis dafür hauptsächlich mit Lernen verbringen musste.

Damit war er berechtigt in die achte Klasse, die Maturaklasse, aufzusteigen.

Er hatte seine Lektion gelernt und wollte nun zeigen, was er draufhat.

Wendepunkt in Werners Leben

Hochmotiviert bereiteten die angehenden Maturanten des Gymnasiums Kirchfeld die Räumlichkeiten im städtischen Volkshaus für ihren bevorstehenden Maturaball vor. In wenigen Tagen, am Samstag den 22. November 1975, sollte es so weit sein.

Auch Werner war mit Tatendrang dabei – Arbeiten war er gewöhnt von zu Hause und hier im Kreise seiner Klassenkameraden machte es ja zusätzlich auch noch Spaß.

Im Eifer des Dekorierens hatte er die zwei uniformierten Beamten der Gendarmerie (diese wurde in Österreich im Jahre 2005 in „Polizei“ umbenannt) nicht bemerkt, die sich unter den Schülern erkundigten, ob auch ihr Mitschüler Werner anwesend sei. Erst als die Gendarmen ihn direkt ansprachen, nahm er sie wahr.

Die Polizisten fragten ihn höflich, ob er kurz mitkommen könne auf den Gendarmerieposten Kirchfeld, um seine Zeugenaussage wegen einer Rauferei am Wochenende davor zu Protokoll zu geben.

Werner war an fraglichem Wochenende zufällig Zeuge einer Rauferei in einem Lokal in seinem Heimatort geworden, wo er sich mit seinen Freunden aufhielt. Drei ihm nicht bekannte Männer hatten im Gasthaus zu streiten begonnen und nachdem die Streithähne sich nicht beruhigten und sogar zu raufen anfingen und im Lokal randalierten, hatte der Wirt die Gendarmerie zu Hilfe gerufen.

Als die Beamten eintrafen, hatte sich die Auseinandersetzung gerade vor das Lokal verlagert, aber die Raufbolde wollten auch trotz des Eingreifens der Gendarmen nicht von sich ablassen, vielmehr wurden auch diese verbal bedroht. Unter dem Einsatz ihrer Gummiknüppel gelang es den Polizisten schließlich aber doch, die Schläger zu überwältigen und festzunehmen.

Wie die meisten Gäste der Gaststätte war auch Werner Zuseher des Geschehens gewesen und seine Daten waren daher von der Polizei für eine spätere Zeugenaussage notiert worden.

Gerne stimmte Werner zu und informierte seine Mitschüler, dass er kurz mit den Gendarmeriebeamten auf den Posten Kirchfeld mitgehe, um dort seine Aussage zu Protokoll zu geben.

Auf dem Weg dorthin sagten die Polizisten, dass sie schon alles vorbereitet hätten und es daher nicht sehr lange dauern würde.

Werner verstand zwar nicht ganz, was sie meinten, machte sich aber auch nicht wirklich Gedanken darüber.

Auf der Polizeiinspektion war ihm dann aber schnell alles klar, nachdem ihm „seine“ Zeugenaussage fix und fertig in schriftlicher Form, getippt auf einer Schreibmaschine, mit den Worten „Du brauchst nur mehr zu unterschreiben!“ zur Unterschrift vorgelegt wurde.

Er brauchte also gar nicht mehr auszusagen, denn die Beamten hatten für ihn die Aussage schon vorformuliert und niedergeschrieben, um ihren Einsatz der Gummiknüppel bei der Rauferei entsprechend zu rechtfertigen. Fehlte nur noch seine Unterschrift.

Als Werner zögerte und vorsichtig nachfragte, was er denn da unterschreibe, wurde ihm versichert, dass alles so geschrieben sei, wie’s passiert ist und dass eben die Polizisten gezwungen gewesen wären, die Gummiknüppel zu verwenden, um die Raufenden zur Räson zu bringen.

Werner war eigentlich nicht ganz behaglich zumute, etwas zu unterschreiben, das er nicht gelesen bzw. gesagt hatte, er gab aber dann doch dem Drängen der Beamten nach und unterschrieb das Protokoll. Vielmehr er ja auch möglichst schnell wieder zurück ins Volkshaus von Kirchfeld wollte, um mit seinen Schulkameraden noch den Festsaal für den Maturaball fertig zu schmücken.

Nur wenige Wochen später wird Werner sich immer wieder auf dieses Erlebnis auf dem Polizeiposten erinnern, wo ihm vor Augen geführt wurde, mit welchen Methoden die Polizei damals anscheinend bei Bedarf gearbeitet hat, um zu einer „Wunschaussage“ zu kommen.

Es war Dienstag, der 2. Dezember 1975. Ein nasskalter, unfreundlicher Tag.

Wie immer war Werner mit seinem Moped, der roten Puch MC 50, zur Schule gefahren und nun nach anstrengenden sechs Unterrichtsstunden wieder auf dem Nachhauseweg. Es dürfte so etwa 13:45 Uhr gewesen sein, als er zu Hause in seinem Elternhaus eintraf.

In der Küche des kleinen Wohnhauses befand sich nur seine Schwester Renate, seine Eltern waren noch bei der Arbeit. Noch bevor Werner ablegen konnte, fragte ihn seine Schwester sichtlich aufgeregt: „Weißt du schon, was passiert ist?“ „Was soll schon passiert sein“, dachte sich Werner und schüttelte gleichgültig den Kopf. „Nein, was denn?“, sagte er schließlich wenig interessiert, denn entgegen seiner Schwester und seiner Mutter beteiligte er sich kaum an irgendwelchen Tratschereien über Nachbarn oder andere Personen.

„Der Briefträger Bachler wurde heute niedergeschlagen und beraubt!“, erzählte Renate noch immer ganz erregt. „Ach geh, du spinnst ja. Das gibt’s ja gar nicht!“, antwortete er nun sichtlich betroffen, denn der Briefträger Josef Bachler war aus seinem Wohnort und auch ihm gut bekannt. Werner hatte mit der Tochter von Bachler vier Klassen der örtlichen Volksschule besucht.

Renate sagte, sie habe diese Information aus den Nachrichten im Radio von vorhin und sie erzählte weiter, dass sie an diesem Morgen ihre Freundin in Kirchfeld besucht hätte und am Vormittag auf dem Heimweg am Tatort vorbeigegangen sei. Dort habe sie auffallend viele Menschen herumstehen und das mit Poststücken beladene Fahrrad des Briefträgers Bachler, angelehnt an einen Wasserhydranten, gesehen. Das Fahrrad des Briefträgers kenne sie schon seit langer Zeit, da er auch in ihrem Wohnbereich einmal Postzusteller gewesen war.

Sie hätte angenommen, dass man den kleinen Kiosk neben dem Hydranten mit dem angelehnten Rad überfallen habe, denn es wären auch einige Gendarmeriebeamte ganz aufgeregt herumgelaufen und vor dem Haus sei ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht gestanden.

Eine neben ihr stehende Schaulustige habe noch gemeint, dass man „den“ nicht so leicht erwische.

Schließlich hätte sie dann aber ihren Fußmarsch nach Hause fortgesetzt.

Während Werner sein Mittagessen einnahm, redeten er und Renate noch weiter fassungslos über dieses unglaubliche Verbrechen.

Am nächsten Tag erfuhren sie dann aus den Medien, dass Josef Bachler trotz sofortiger Notoperation im Krankenhaus Kirchfeld noch am Tag des Überfalls an den Folgen seiner schweren Verletzungen verstorben war.

Die Betroffenheit wegen des grausamen Mordes am Geldbriefträger Josef Bachler im Wohnort von Werner und im ganzen Bezirk Kirchfeld war enorm. Auch Werner und seine Familie waren fassungslos über dieses brutale Verbrechen, weil man die Familie Bachler auch kannte. Manchmal hatte man sich im örtlichen Dorfgasthaus gesehen, wo sich auch Werner öfters mit seinen Freunden traf.

Es war tagelang das Gesprächsthema in allen Kaufhäusern, Lokalen und auf der Straße. Alle Tages- und Wochenzeitungen berichteten verständlicherweise ausführlich und intensiv über den Mord mit fetten Schlagzeilen. Alle Bewohner von Kirchfeld und Umgebung wünschten sich eine rasche Aufklärung des Verbrechens und man ächtete die unbekannten Täter. Wie oft in solchen Situationen machten schnell Gerüchte und Verschwörungstheorien die Runde und jeder hatte tiefes Mitgefühl mit der Familie des ermordeten Briefträgers.

So sprachen natürlich auch Werner und seine Freunde am Freitag nach dem Mord im Dorfgasthaus darüber, wo man sich – wie meist zum Beginn des Wochenendes – getroffen hatte, um zu plaudern und gemeinsame Aktivitäten für Samstag und Sonntag zu besprechen. Otto, ein Jugendfreund von Werner, mit dem er aufgewachsen war, meinte, er wolle dem Herrn Bachler, der am nächsten Tag beerdigt werde, die letzte Ehre erweisen und fragte Werner, ob er mitkomme. Werner sagte unter dem Vorbehalt zu, dass er vom Unterricht frei bekäme, denn das Gymnasium in Kirchfeld war zu der Zeit noch eine Sechs-Tage-Schule mit Unterricht von Montag bis Samstag. Otto hingegen absolvierte gerade eine Schlosserlehre und hatte zum Wochenende frei.

Der Klassenvorstand hatte Werner für die Teilnahme am Begräbnis freigestellt und so fuhren Otto und Werner am nächsten Tag gemeinsam mit dem Moped in die benachbarte Katastralgemeinde, um an der Verabschiedung des Briefträgers teilzunehmen.

Die Anteilnahme der Ortsbewohner war unglaublich. Man hatte das Gefühl, alle waren gekommen, um sich vom beliebten „Seppl“ zu verabschieden und seiner Familie ihr Mitgefühl auszudrücken. Auch die örtlichen Vereine, Blasmusik und Kameradschaftsbund, sowie eine Abordnung der Briefträger von Kirchfeld waren aufmarschiert und standen in Formation. Die Musikkollegen untermalten die Trauerzeremonie herzzerreißend und als sich der Kameradschaftsbund vom Josef mit drei Salutschüssen verabschiedete, während sich der Sarg mit dem Leichnam langsam ins Grab senkte, brachen alle Dämme.

Auch Werner wurde von dieser Welle des Mitgefühls und der Traurigkeit mitgerissen und konnte seinen Tränenfluss nicht verhindern. Er war ohnehin „nah am Wasser gebaut“, wie man so sagt, aber in Freundeskreisen versuchte er das altersbedingt immer zu verbergen. Als 17-jähriger junger Bursche wollte sich auch er halt meist schon männlicher darstellen, als er es zu diesem Zeitpunkt war.

Nur langsam konnten sich die zahllosen Trauergäste nach der Verabschiedung vom Friedhof entfernen. Die kleinen Ausgänge waren für eine derart große Schar an Besuchern nicht ausgelegt.

Am Dienstag, den 9. Dezember 1975, eine Woche nach dem Briefträgermord, wurde Werner von seiner Mutter Adelheid kurz nach 22.00 Uhr aus dem Bett geholt. Ein Exekutivbeamter in Zivil vom Gendarmerieposten Kirchfeld war gekommen und ersuchte Werner und seine Mutter, kurz zum Posten Kirchfeld mitzukommen, um eine tags davor von der Wäscheleine gestohlene Hose von Werner zu identifizieren. Man hätte den Hosendieb schon gefasst und die Identifikation der Hose durch Werners Mutter und ihn sei praktisch nur noch Formsache.

Adelheid hatte am Sonntag, den 7. Dezember gegen Abend mit der neuen vollautomatischen Waschmaschine, die Werner sen. einige Tage davor in Kirchfeld gekauft hatte, Wäsche gewaschen, unter anderem auch zwei Jeans von Sohn Werner. Am Morgen des nächsten Tages hängte sie die Bettwäsche und die Hosen zum Trocknen auf die Wäscheleine vor dem Haus. Eine von Werners Jeans wurde von dort am Nachmittag des gleichen Tages von einem vorerst Unbekannten gestohlen, was von Werners Eltern auch sofort nach der Wahrnehmung des Fehlens einer Hose telefonisch zur Anzeige gebracht worden war.

Beim Abnehmen der schon trockenen Bettwäsche am Nachmittag hatte Adelheid einen jungen Burschen gesehen, der auf der Straße vor dem Haus langsam vorbeiging und sie aufmerksam beobachtete. Da sie vermutete, dass dies unter Umständen der Hosendieb gewesen sein könnte, gab sie dem Gendarmeriebeamten bei der telefonischen Anzeigenerstattung des Diebstahls auch eine entsprechende Personenbeschreibung.

Als Werner und seine Mutter mit dem Exekutivbeamten das Haus verließen, kam plötzlich ein zweiter Mann um die Hausecke, der sich ebenfalls als ziviler Ermittlungsbeamter des Gendarmeriepostens Kirchfeld vorstellte. Werner kam das schon etwas sonderbar vor und, unerfahren wie er war, fragte er sich, warum der zweite Beamte wohl vor dem Haus gewartet habe?

Mit einem Dienstwagen des Gendarmeriepostens Kirchfeld fuhr man schließlich zu viert in die benachbarte Bezirkshauptstadt. Werner ging davon aus, dass die Sache schnell erledigt sein werde, denn entweder war das seine Hose oder nicht und er wollte ja auch möglichst schnell wieder ins Bett, um am nächsten Tag ausgeschlafen in die Schule zu kommen. Er konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass dies der Beginn einer mittlerweile fast 50-jährigen Odyssee sein sollte …

Der Hosendieb

Jakob Preisitz war der örtlichen Gendarmerie schon länger als Herumtreiber und vorbestrafter Kleinkrimineller bekannt und so wurde der Siebzehnjährige auch von einer Polizeistreife am Morgen des 9. Dezember 1975 um 09.00 Uhr im Warteraum des Bahnhofes Kirchfeld, wo er anscheinend die Nacht davor verbracht hatte, aufgegriffen und zum Gendarmerieposten Kirchfeld gebracht, um zu überprüfen, ob er für einen angezeigten Fahrraddiebstahl in Frage käme.

Preisitz hatte zwei Monate davor nach einem halbjährigen Aufenthalt in einer Bundeserziehungsanstalt das Moped von Werner aus dem Fahrradkeller des Gymnasiums gestohlen und dann den Fehler gemacht, damit am Grundstück von Werners Eltern vorbeizufahren. Dabei war er von Werner, der mit seinem Vater gerade die Hecke schnitt, gesehen worden. Werner hatte sein Moped sofort erkannt und auch der Fahrer kam ihm irgendwie bekannt vor. Er fuhr daher unverzüglich mit dem Fahrrad zur Gendarmerie, um darüber zu berichten. Auf dem Weg dahin, war ihm auch eingefallen, wo er dem vermeintlichen Mopeddieb schon mal begegnet war. Der diensthabende Beamte fuhr mit ihm dann auch sogleich im Dienstwagen in diese Region und tatsächlich traf man dort auf den Mopeddieb Jakob Preisitz, der gerade andere Jugendliche mit Werners Moped Proberunden drehen ließ, um ihnen zu imponieren.

Nach der Einvernahme wegen des Fahrraddiebstahls wurde Preisitz am selben Tag um 10.00 Uhr wieder von der Gendarmerie Kirchfeld entlassen, ohne dass den vernehmenden Beamten anscheinend etwas Außergewöhnliches an der Kleidung von Preisitz aufgefallen wäre.

Danach dürfte aber einem der Gendarmen doch die Ähnlichkeit von Jakob Preisitz mit der von Werners Mutter Adelheid beschriebenen Person aufgefallen sein, die sie kurz vor dem Hosendiebstahl auf der Straße vor ihrem Haus beobachtet hatte. Der Beamte fuhr daher zu Adelheids Arbeitsplatz, suchte mit ihr im Polizeiwagen die Umgebung ab und schon bald sahen die beiden tatsächlich Preisitz ganz in der Nähe vor sich auf der Landesstraße gehen. Sofort erkannte Adelheid in dem 17-jährigen Burschen jene Person wieder, die sich vor dem Hosendiebstahl so verdächtig vor ihrem Haus benommen hatte.

Jakob Preisitz wurde daher vom Gendarmen abermals zum Posten Kirchfeld gebracht, um ihn zum Diebstahl von Werners Hose zu befragen. In der anschließenden Vernehmung bestritt dieser allerdings vehement, etwas mit dem Hosendiebstahl zu tun zu haben, oder um die fragliche Zeit am Tatort gewesen zu sein, obwohl ihn Werners Mutter Adelheid eindeutig wiedererkannt hatte. Mangels an Beweisen musste man ihn daher wieder entlassen, anscheinend wieder ohne etwas Außergewöhnliches an seiner Kleidung zu bemerken.

Nachdem ein Polizeibeamter den Vater des Preisitz befragt hatte, welche Hosen sein Sohn besitze und sich dabei herausstellte, dass jene die sein Sohn gerade trug, nicht seine eigene sein konnte, wurde Jakob Preisitz noch am gleichen Abend des 9. Dezember von seinem Vater – ein drittes Mal an diesem Tag – auf den Polizeiposten Kirchfeld gebracht. Dort wurden während einer weiteren Vernehmung des Verdächtigen zum Hosendiebstahl durch die örtliche Gendarmerie die Beamten erstmals auf merkwürdige Flecken auf der Jeanshose des Jakob Preisitz aufmerksam. Auf Befragen der Polizei, welche Flecken er denn da auf der Hose habe, gab Preisitz den Hosendiebstahl – nach einer Ohrfeige seines Vaters – schließlich zu, er wisse aber nicht, um welche Beschmutzungen es sich auf seiner Hose handle.

Im Nachhinein stellte sich Werners Familie oft die Frage, warum den Beamten des Postens Kirchfeld während der zwei Festnahmen und Einvernahmen zuvor nichts Auffälliges an Preisitz‘ Kleidung bzw. Hose aufgefallen war und dieser dann plötzlich, nach Konfrontation mit den verdächtigen Flecken, seine vorherige Aussage widerrief und den Hosendiebstahl sofort zugab. Hatte er die beiden Male davor, als er von den Polizisten aufgegriffen und anschließend vernommen worden war, überhaupt die gleiche Hose angehabt?

Preisitz gab nun weiter zu Protokoll, dass er seit dem Mordtag, dem Dienstag 2. Dezember 1975, nicht mehr zu Hause in der Wohnung seines Vaters gewesen sei. Er habe sich eine ganze Woche in Kirchfeld und Umgebung herumgetrieben, teilweise in verschiedenen Gasthäusern aufgehalten und meist am Bahnhof Kirchfeld im Warteraum geschlafen.

Nach dem Diebstahl von Werners Hose sei er zur Wohnung seiner Tante gegangen und habe dort im Keller die gestohlene Hose angezogen und seine braune Hose unter der Kellerstiege versteckt. Danach habe er sich wieder in der Gegend herumgetrieben, bis er am nächsten Tag am Bahnhof in Kirchfeld von einer Gendarmeriestreife aufgegriffen und zur Überprüfung zum Posten mitgenommen worden war.

Seit dem 08. Dezember 1975 abends habe er die gestohlene Hose ununterbrochen getragen, aber niemals auffällige Flecken darauf gesehen oder bemerkt, bis ihn jetzt die Kriminalbeamten darauf angesprochen hätten.

Aufgrund der Angaben des Preisitz, dass er die gestohlene Jeanshose im Keller seiner Tante angezogen und seine eigene braune Hose dort unter der Kellerstiege versteckt hätte, hielt die Polizei Nachschau, konnte aber keine Hose an genanntem Ort vorfinden.

Erst am nächsten Tag, dem 10. Dezember 1975, wurde bei einer nochmaligen Nachschau der Polizei im Beisein von Preisitz eine schwarze (!) Jeanshose vorgefunden.

Aus dem Ermittlungsakt konnte der Verfasser dieses Buches den Widerspruch der Hosenfarbe des Preisitz, schwarz oder braun, nicht aufklären. Anscheinend wurde dem seitens der Behörde auch nicht nachgegangen.

Über seine Zeitverwendung am Mordtag, den 2. Dezember 1975, befragt, gab Jakob Preisitz in den mehrmaligen Einvernahmen verschiedene, sich widersprechende Versionen zu Protokoll: