Ruhe sanft in Oxford - Veronica Stallwood - E-Book

Ruhe sanft in Oxford E-Book

Veronica Stallwood

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Beschreibung

Kate Ivorys Mutter plagen Ängste: Sie wird erpresst, erhält Drohbriefe und erkrankt plötzlich. Kate ist überzeugt, dass die Freemans, ein Paar, mit dem ihre Mutter seit Kurzem befreundet ist, etwas damit zu tun haben. Sie mischen sich ständig in ihre Angelegenheiten ein und verhindern sogar, dass sie einen Arzt aufsucht, obwohl es ihr offensichtlich schlecht geht. Bald wird auch Kate bedroht. Als dann noch ihre geliebte Katze ermordet wird, setzt sie alles daran, den Tätern das Handwerk zu legen.

Ein neuer Fall für die ermittelnde Schriftstellerin Kate Ivory. Eine atmosphärische Kriminalserie mit einer besonderen Heldin, deren scharfe Beobachtungsgabe und ungewöhnliche Methoden die gemütliche britische Stadt Oxford ordentlich durchwirbeln. Perfekt für Liebhaber von intelligenter und charmanter Cosy Crime, für Leser von Martha Grimes und Ann Granger.

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Seitenzahl: 425

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

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Über das Buch

Kate Ivorys Mutter plagen Ängste: Sie wird erpresst, erhält Drohbriefe und erkrankt plötzlich. Kate ist überzeugt, dass die Freemans, ein Paar, mit dem ihre Mutter seit kurzem befreundet ist, etwas damit zu tun haben. Sie mischen sich ständig in ihre Angelegenheiten ein und verhindern sogar, dass sie einen Arzt aufsucht, obwohl es ihr offensichtlich schlecht geht. Bald wird auch Kate bedroht. Als dann noch ihre geliebte Katze ermordet wird, setzt sie alles daran, den Tätern das Handwerk zu legen.

Über die Autorin

Veronica Stallwood kam in London zur Welt, wurde im Ausland erzogen und lebte anschließend viele Jahre lang in Oxford. Sie kennt die schönen alten Colleges in Oxford mit ihren mittelalterlichen Bauten und malerischen Kapellen gut. Doch weiß sie auch um die akademischen Rivalitäten und den steten Kampf der Hochschulleitung um neue Finanzmittel. Jedes Jahr besuchen tausende von Touristen Oxford und bewundern die alten berankten Gebäude mit den malerischen Zinnen und Türmen und dem idyllischen Fluss mit seinen Booten? doch Veronica Stallwood zeigt dem Leser, welche Abgründe hinter der friedlichen Fassade lauern.

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2005 by Veronica Stallwood

Titel der englischen Originalausgabe: »Oxford Letters«

Originalverlag:Headline Book Publishing,

A division of Hodder Headline

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2011 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anke Stockdreher

Titelillustration: © Phosphor art/DavidHopkins

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3468-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

1

Endlich war der Frühling auch in Oxford angekommen und schlich auf Zehenspitzen die Cowley Road entlang.

Nachdem sich der Frühnebel aufgelöst hatte, wurde ein Schmutzfilm auf den Bürgersteigen sichtbar, der alles andere als Frühlingsgefühle hervorrief. In abgelegenen Seitenstraßen jedoch, ein Stück weit entfernt von den großen Verkehrsadern, wagten sich die ersten grünen Knospen hervor. Der Himmel über den Schieferdächern zeigte ein vielversprechendes Blau, und in Vorgärten und Blumenkästen reckten die ersten Narzissen neugierig ihre gelben Köpfchen in den sanften Wind. Schon bald würden an jedem Laternenpfahl Pflanzkörbe mit Petunien und Lobelien hängen, und staubige Fenster würden sich öffnen, um warme Luft hereinzulassen und dröhnender Musik zu gestatten, aus den Wohnungen zu entkommen und sich zu den Missklängen des Verkehrslärms zu gesellen.

Mit Beginn der warmen Jahreszeit überprüften Hausbesitzer die Wertsteigerung ihrer Immobilie seit dem vergangenen Herbst. Falls sie die Narzissen überhaupt bemerkten, dann lediglich als Blickfang für potenzielle Käufer, und auch die Petunien in ihren Hängekörben dienten lediglich als Hinweis darauf, dass man sich hier in einem aufstrebenden Stadtviertel befand, in das zu investieren sich lohnte. Sobald die Sonne sich wieder hinter einer Wolkenbank verschanzte und ein leichter Sprühregen einsetzte, träumten Paare davon, East Oxford gegen die Lavendelfelder der Provence oder die Olivenhaine von Zakynthos einzutauschen. Doch das Erwachen des Frühlings würde die Käufer sicher bald aus ihrem Winterschlaf locken.

Raphael Brown, seines Zeichens Immobilienmakler, drehte das Schild an seiner Tür auf »Geöffnet« und freute sich zuversichtlich auf einen Tag, an dem sich veränderungswillige Hausbesitzer bei ihm die Klinke in die Hand geben würden, um ihren Besitz zu veräußern.

Er schaltete seinen Computer ein und bewunderte einen Augenblick lang das pfiffige Logo auf der Startseite, ehe er seine E-Mails abrief. Zweiundfünfzig Nachrichten erwarteten ihn – achtundvierzig davon waren Spams. Als er gerade eine der Anfragen erledigt hatte, ging die Tür auf und ein Paar trat ein. Raphael (den außer seiner Mutter jedermann Rafe nannte), stand von seinem Schreibtisch auf und ging den beiden entgegen, weil seine Assistentin Jenny, die gewöhnlich die Begrüßung übernahm, auf einem Außentermin war. Die Kaufabsicht stand dem Paar geradezu ins Gesicht geschrieben.

»Wir sind auf der Suche nach einer Immobilie«, sagte der Mann dann auch wie auf ein Stichwort.

Oh ja, so sahen die idealen Käufer aus! Der Mann war hochgewachsen, etwa Anfang fünfzig und wirkte recht fit. Sein gebräuntes Gesicht ließ darauf schließen, dass er während der kalten Wintermonate irgendwo wärmende Sonnenstrahlen genossen hatte. Sein teurer Anzug war gerade robust genug, um auch für das Landleben zu taugen. Der modische Schnitt seiner silbergrauen Haare ließ ihn jugendlicher erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Der Mann sah aus, als wäre er einer Anzeige der Zeitschrift Country Life entstiegen.

Auch Rafe wurde einer genauen Begutachtung unterzogen, dessen war er sich bewusst. Die grauen Augen des Mannes nahmen jedes einzelne Detail auf und verweilten lange auf Rafes Stirn, als versuche er, dessen Gedanken zu lesen. Rafe wich dem Blick aus und schaute aus dem Fenster auf den sauberen, sehr neu aussehenden Wagen, der genau auf der durchgezogenen, gelben Linie parkte. Ein BMW.

»Ist das Ihr Auto?«, erkundigte er sich.

Der Mann lächelte zustimmend.

»Sie sollten sich vorsehen. Die Politessen hier sind wie die Geier«, warnte Rafe. Doch der Mann machte lediglich eine wegwerfende Handbewegung; ein Bußgeldbescheid schien ihm nicht mehr zu bedeuten als eine Busfahrkarte, und Rafe ärgerte sich, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben.

Die Frau war etwa im gleichen Alter wie ihr Mann. Die weiche Frisur machte das Bestmögliche aus ihrem runden Allerweltsgesicht. »Danke für die Warnung«, sagte sie mit einer Stimme, die so wohlig war wie eine Daunendecke in einer kalten Nacht. »Marcus würde sich schwarzärgern, wenn er schon wieder einen Strafzettel bekäme. Und irgendwie – Sie kennen das sicher – wäre dann wieder ich an allem schuld.« Sie blinzelte ihm verschwörerisch zu und neigte sich freundschaftlich in seine Richtung.

»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragte er sie. »Vielleicht sind sogar noch ein paar Kekse im Haus.«

»Nein danke«, erwiderte sie freundlich. »Ich glaube, Marcus möchte gern mit seinen Hauskauf-Plänen vorankommen.« Und dann lächelte sie Rafe an. Es war ein herzliches, mütterliches Lächeln, das sanfte Fältchen in die Winkel ihrer vergissmeinnichtblauen Augen zauberte. Rafe wusste sofort, dass diese Frau wirklich eine äußerst nette Dame war. Sie wirkte wie ein Mensch, dem man problemlos alles anvertrauen konnte, was einem auf der Seele lag. Mit einem mitfühlenden Ausdruck im Gesicht und leicht zur Seite geneigtem Kopf würde sie einfach nur da sein und aufmerksam zuhören. Wahrscheinlich konnte man ihr alles beichten – sogar die hoffnungslose Verzweiflung, die er an jenem Dezembermorgen gefühlt hatte, als Trish in dem alten Volvo einfach aus ihrer Ehe davongefahren war, während die Kinder ihre blassen, traurigen Gesichter an die Rückscheibe gedrückt hatten. Hastig wehrte sich Rafe gegen das Aufsteigen dieser Erinnerungen und widmete seine Aufmerksamkeit wieder ganz und gar seinen Kunden.

Er straffte seinen Rücken, streckte dem Mann die Hand entgegen und stellte sich vor: »Rafe Brown.«

»Marcus Freeman«, antwortete der Mann. Freemans Handschlag war fest und selbstbewusst. »Und das ist meine Frau Ayesha.«

Rafe stellte drei Sessel im Kreis um einen niedrigen Tisch, bat die Freemans, sich zu setzen, und holte seinen Laptop. Er schaltete ihn ein, sah zu, wie sein Logo beruhigend über den Bildschirm glitt, öffnete einen neuen Kundensatz und machte sich bereit, alle Angaben einzutragen.

Als er ihre Namen schreiben wollte, erklärte Ayesha entschuldigend: »Offiziell heiße ich Sheila; Sie können mich natürlich unter diesem Namen führen.«

»Aber Ayesha passt viel besser zu Ihnen«, entgegnete Rafe galant.

»Unser Haus in Kent haben wir schon verkauft«, sagte Marcus. »Wir wollen einen Neuanfang in einer Stadt machen, die keine traurigen Erinnerungen für uns bereithält.« Rafe schloss aus seinem Gesichtsausdruck, dass vermutlich eine Familientragödie sie bewogen hatte, sich in einer anderen Gegend anzusiedeln.

»Und Oxford ist wirklich ansprechend und kultiviert, finden Sie nicht?«, fügte Ayesha hinzu.

»Auf jeden Fall gibt es hier eine sehr rege Kulturszene, Mrs Freeman.«

»Nennen Sie mich doch Ayesha«, sagte sie und bedachte ihn ein zweites Mal mit ihrem warmen Lächeln.

»Wie ich gehört habe, scheint die Stadt trotz der gegenwärtigen Wirtschaftslage über einen grundsoliden Immobilienmarkt zu verfügen.«

Rafe konnte seine positive Meinung von Oxford nur bestätigen. »Dann brauchen Sie also keine Finanzierung?«, hakte er nach.

»Durchaus nicht«, bestätigte Marcus.

»Sie werden es sicher nicht bereuen, Ihr Geld in Oxford anzulegen«, fuhr Rafe fort. »Dank der Universitäten und des Tourismus ist der Immobilienmarkt ständig in Bewegung. Auch die Kliniken tragen ihren Teil dazu bei.«

»Wir haben uns im Vorfeld schon ein wenig in der Stadt umgesehen, um uns ein Bild davon zu machen, welche Gegenden für uns infrage kommen«, berichtete Ayesha.

»Gut gefallen haben uns North Oxford und Headington«, fügte Marcus hinzu, »aber Sie wissen sicher besser als wir, wo wir sonst noch fündig werden könnten.«

»Richtig, Rafe.« Ayesha nickte. »Was schlagen Sie vor?«

»Grandpont ist eine recht angenehme Wohngegend«, sagte Rafe. »Und natürlich Jericho.«

»Für meinen Geschmack stehen die Häuser in Jericho zu dicht beieinander«, wandte Ayesha ein. »Außerdem machen einige Straßenzüge einen etwas schäbigen Eindruck, finden Sie nicht?«

»Und was Grandpont angeht, so liegt es auf der falschen Seite der Stadt«, setzte Marcus nach.

Die beiden hatten ihre Hausaufgaben wirklich gründlich gemacht, dachte Rafe, auch wenn er nicht in allen Punkten mit ihnen übereinstimmte.

»Wir wäre es mit einem Anwesen in den ländlichen Außenbezirken?«, fragte er.

»Zu provinziell«, sagte Marcus.

»Zu abgelegen«, fügte Ayesha hinzu. »In den Dörfern wohnen entweder Pendler oder Leute, die nur über das Wochenende kommen. Das bedeutet, dass es dort die meiste Zeit sehr ruhig und ziemlich ausgestorben ist. Ich glaube, das wäre nicht das Richtige für uns.«

»Dann kommen tatsächlich nur North Oxford und Headington in Betracht«, sagte Rafe.

»Wir suchen etwas, wo es weder massenhaft Motorräder noch an den Straßenecken herumlungernde Jugendliche gibt«, machte Marcus deutlich. Außerdem müsse das Haus über mindestens drei großzügig bemessene Schlafzimmer und zwei ebensolche Empfangsräume sowie über ein Studio oder Büro verfügen, fuhr er fort.

»Dann arbeiten Sie also zu Hause?«, erkundigte sich Rafe, der neugierig war, auf welche Art Marcus seinen offenkundigen Reichtum erworben hatte.

»Ich habe mich zwar aus dem Berufsleben zurückgezogen, kann es aber nicht ertragen, den ganzen Tag untätig herumzusitzen«, antwortete Marcus Freeman, was Rafe keinen Deut weiterbrachte. Er betrachtete die großen, wohlgeformten und sorgfältig manikürten Hände des Mannes. Freeman unterstrich seine Worte mit Gesten, die in Rafes Augen beinahe wie die Bewegungen eines Priesters beim Gottesdienst wirkten und ihn an seine Zeit als Messdiener erinnerten. Auch Freemans volltönende Stimme trug zu dem Eindruck bei, dass er von Berufs wegen Überzeugungsarbeit zu leisten hatte. Allerdings konnte Rafe sich nicht vorstellen, dass ein Geistlicher genügend verdiente, um sich nach seiner Pensionierung ein weitläufiges Anwesen in einem der besten Viertel von Oxford leisten zu können, und irgendwie wirkte Freeman auch nicht wie ein Pfarrer im Ruhestand. Dazu machte er doch einen zu weltlichen Eindruck.

Ayesha Freeman betrachtete ihren Gatten mit ruhigem Blick. Sie schien seine Energie zu bewundern, ohne es ihm gleichtun zu wollen. Sie hatte es sich in ihrem eiförmigen Sessel bequem gemacht, als fühle sie sich ganz zu Hause. In gewisser Weise erinnerte sie Rafe an eine entspannt daliegende, dekorativ aussehende Rassekatze, obwohl er immer noch der Meinung war, dass sie wunderbar zuhören konnte.

»Liebling, vergiss bitte nicht, dass wir unbedingt einen Garten brauchen«, sagte sie zu ihrem Mann. Ihre Worte beschworen in Rafe einen warmen Sommertag herauf – Bienengesumm, eine Hängematte unter einem Apfelbaum und ein beschlagenes Glas mit kühler Limonade. Er stellte sich vor, neben ihr zu sitzen und ihr die Geheimnisse seines Lebens anzuvertrauen.

»Ich kann ohne Pflanzen und Blumen einfach nicht leben«, fügte sie lächelnd hinzu. »Grünes Laub und das leise Rascheln von Blättern im Wind verleihen einem Ort erst wirklich spirituelle Ruhe, finden Sie nicht?«

Rafe wurde der Antwort enthoben, weil Marcus lebhaft fortfuhr: »Außerdem brauchen wir eine Doppelgarage und ausreichend Platz für weitere Autos, falls einmal Freunde zu Besuch kommen.«

Rafe gab alle geforderten Kriterien in den Computer ein und bestätigte schließlich die aufgelisteten Informationen mit einem Tastendruck.

»Es dauert ein paar Sekunden«, entschuldigte er sich. »Jetzt wird unsere Datenbank durchsucht.« Die Freemans warteten. »Ich bin gespannt, wie viele Übereinstimmungen wir finden.« Rafe prüfte die Angaben auf dem Bildschirm, ehe er erfreut aufblickte. »Aha, da haben wir es. Ich glaube …«

In diesem Augenblick flog die Tür auf. Rafes Konzentration war dahin, ebenso wie das gerade noch fast innige Band zwischen Makler und Kundschaft. Er drehte sich um und vergaß dabei sogar kurzfristig sein berufsmäßiges Lächeln. Natürlich! Roz Ivory und Mrs Fordham. Es war Roz, die in ihrer üblichen, überschwänglichen Art die Tür aufgerissen hatte. Rafe erhob sich halb aus seinem Sessel. Zwar wollte er die Freemans keinesfalls vernachlässigen, doch Fordham und Ivory waren regelmäßige und zuverlässige Kundinnen, die er respektvoll behandeln musste. Er änderte seinen Gesichtsausdruck, der nun ein freundliches Willkommen zeigte.

»Setzen Sie sich doch, meine Damen. Sie dürfen sich auch gern eine Tasse Kaffee holen; Sie wissen ja, wo Sie alles finden, nicht wahr, Mrs Fordham?«

»Bauträger«, erklärte er den Freemans leise. »Es könnte durchaus sein, dass sie gerade an einem Haus arbeiten, das für Sie infrage käme. Wenn Sie gestatten, frage ich kurz nach. Vielleicht können Sie es besichtigen, ehe jemand anderes die Gelegenheit dazu erhält.«

»Sie sind beschäftigt, Rafe, und wir haben noch einige Besorgungen zu machen. Vielleicht kommen wir besser später noch einmal wieder.« Roz Ivory hatte das rote Haar hochgesteckt, trug Jeans mit Farbspritzern und sah aus, als warte sie nur auf Arbeit.

»Ich schlage vor, wir kommen in zwanzig Minuten noch einmal vorbei.« Das war die immer präzise Mrs Fordham. Sie wirkte stets ordentlich und brachte es fertig, selbst in Jeans und Karohemd schick und geschäftsmäßig auszusehen. Rafe hatte jedoch den Eindruck, dass sie sich in förmlicher Kleidung wohler fühlen würde, ganz im Gegensatz zu Roz, die – gäbe man ihr die Gelegenheit – vermutlich barfuß und in einem Sarong herumliefe und ihr rotes Haar offen trüge. Er hatte sich angewöhnt, Roz beim Vornamen zu nennen, obwohl sie ein gutes Stück älter war als er. Hingegen hatte er große Mühe, sich vorzustellen, dass es jemanden gab, der Mrs Fordham ganz ungezwungen Avril nannte.

»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, Rafe.« Roz beugte sich über seinen Sessel und stellte einen Terrakotta-Topf mit weiß blühenden Narzissen auf den Tisch. Dabei krümelte sie feuchte Blumenerde auf die Tischplatte. Das durch das Fenster einfallende Licht brach sich in den Diamanten, die sie am Finger trug: einen mit fünf großen Steinen besetzten Platinring sowie einen Solitär, der das Herz einer jeden Fußballerbraut hätte höherschlagen lassen. Typisch Roz Ivory, schon zu Malerarbeiten am frühen Morgen dicke Klunker zu tragen! Entweder war das Geschäft mit den Häusern lukrativer, als Rafe vermutet hätte, oder sie hatte sich in früheren Jahren der Verehrung eines sehr reichen Mannes erfreut.

»Welch köstlicher Duft«, freute sich Ayesha Freeman und lehnte sich mit halb geschlossenen Augen zurück. »Ich spüre geradezu, wie er meine Nerven beruhigt und meinen Geist erfreut. Diese Blumen sind einfach entzückend.«

»Sie sollen nur daran erinnern, dass endlich der Frühling da ist«, sagte Roz. »Wenn die Narzissen blühen, dauert es meiner Erfahrung nach höchstens noch ein bis zwei Wochen, ehe es richtig warm und sonnig wird.«

Zwar nahm der Regen draußen immer weiter zu und ein kühler Wind rüttelte an der Tür, doch Roz war und blieb optimistisch.

»Vielen, vielen Dank, Roz. Das war wirklich sehr aufmerksam von Ihnen«, sagte Rafe und wischte mit seinem Taschentuch die Blumenerde vom Tisch. »Ach, übrigens, wie kommen Sie mit Ihrem Projekt in North Oxford voran? Das Haus muss doch inzwischen fast fertig sein.«

»Aus diesem Grund sind wir hier. Wir wollten es Ihnen zeigen und Sie davon überzeugen, dass wir wieder einmal ein vielversprechendes Objekt auf den Markt bringen können. Sie werden es lieben!«

»Aber selbstverständlich wollten wir Sie nicht bei einem Kundengespräch unterbrechen«, warf Mrs Fordham ein.

»Natürlich wollen wir auch erfahren, ob Sie etwas Neues für uns in Ihrem Bestand haben«, fuhr Roz unbeirrt fort. »Wir würden gern so schnell wie möglich weitermachen. Haben Sie irgendetwas Interessantes in Ihren Büchern, Rafe? Wir sind gerade so richtig schön in Schwung.«

»Gönnen Sie mir ein wenig Zeit, etwas herauszusuchen, meine Damen. Aber natürlich freue ich mich schon sehr auf das frisch renovierte Haus. Haben Sie vielleicht zufällig ein paar Fotos mitgebracht?«

»Leider nicht«, antwortete Roz.

»Ich schlage vor, dass ich in einer Stunde zu Ihnen hinauskomme und eine Kamera mitbringe.« Rafe wollte sich auf keinen Fall ein derart gutes Geschäft entgehen lassen. Er wandte sich den Freemans zu. »Nach allem, was ich bisher darüber gehört habe, könnte es genau das Richtige für Sie sein. Allerdings wird man sich vermutlich darum reißen, sobald es auf dem Markt ist.«

»Wenn Sie sich dessen so sicher sind, kommen wir vielleicht am besten gleich mit«, schlug Marcus vor.

»Ich denke, es ist noch nicht so weit, dass es besichtigt werden kann«, wandte Avril ein. »Die Feinarbeiten sind noch nicht ganz beendet, nicht wahr, Roz?«

Marcus ließ Roz keine Zeit zu antworten. »Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Marcus Freeman, und das ist meine Frau Ayesha.«

Roz und Avril nannten ihre Namen und schüttelten Marcus die Hand. Ayesha sah nur zu.

»Ich bin der Meinung, es könnte nicht schaden, wenn wir Mr und Mrs Freeman die Baustelle zeigen, Avril«, wandte sich Roz an ihre Freundin.

»Sagen Sie doch bitte Marcus.«

»Und ich bin Ayesha.«

»Wie wäre es, wenn wir uns in drei Tagen treffen«, schlug Avril vor. »Wir versprechen Ihnen, dass wir das Haus vorher keinem anderen Interessenten zeigen.«

Rafe wusste, dass es sinnlos war, Mrs Fordham zu überzeugen, weniger vorsichtig zu sein und die Gelegenheit zu einem raschen Verkauf beim Schopf zu packen. Weil aber Roz’ Präsentationstalent den Preis durchaus um einige Tausend Pfund in die Höhe treiben konnte, hütete er sich, ihren Entschluss zu kritisieren.

»Ich denke, auf drei Tage kommt es uns nun wirklich nicht an«, meinte Ayesha und nickte zustimmend. »Wir kaufen ohnehin nicht das erstbeste Haus, sondern wollen uns zunächst einmal ein Bild davon machen, was sich derzeit auf dem Markt tut. Und da sind wir bei Rafe sicher in ausgezeichneten Händen.«

Eine wirklich vernünftige Frau, dachte Rafe.

»Gut, dann machen wir uns jetzt auf den Weg«, verkündete Roz. »Rafe, wir sehen uns in einer Stunde in North Oxford, einverstanden?«

»Jenny muss jeden Augenblick zurück sein«, erwiderte Rafe. »Sobald sie da ist, habe ich Zeit, Sie dort zu treffen. Ich begleite Sie nach draußen, meine Damen.«

Draußen vor der Tür berichtete er den beiden rasch, dass die Freemans nicht nur äußerst solvente Kunden, sondern obendrein auch ein wirklich charmantes Paar seien.

»Trotzdem schadet es nichts, sie ein paar Tage zappeln zu lassen«, sagte Avril.

»Auf diese Weise wird die Spannung umso größer«, fügte Roz heiter hinzu. Sie wusste sehr genau, dass sie sich um den raschen Verkauf des Hauses nicht die geringsten Sorgen zu machen brauchte.

Rafe wartete, bis sie in ihren Lieferwagen gestiegen und davongefahren waren, ehe er sich wieder seinen geduldig wartenden Kunden zuwandte.

»Die beiden Damen stehen in dem Ruf, ausgesprochen zuverlässige Bauträger zu sein«, erklärte er den Freemans. »Sie bestehen auf hohen Qualitätsstandards und haben stets pfiffige Ideen für den Innenausbau. Vor allem Roz Ivory ist in puncto Design ein echtes Naturtalent. Beide sind seit etwa drei Jahren im Geschäft und kennen den Markt in- und auswendig. Und jetzt«, fügte er rasch hinzu, »sollten wir uns vielleicht einmal die anderen infrage kommenden Immobilien anschauen.«

»Richtig. Wir müssen schließlich den hiesigen Markt erst noch sondieren. Trotzdem interessiert mich brennend, was die beiden Damen anzubieten haben. Sie sollten für uns einen festen Termin ausmachen, sobald eine Besichtigung möglich ist.«

Rafe druckte die Exposés einiger Häuser aus und gab den Freemans seine Handynummer, damit sie ihn jederzeit kontaktieren konnten. »Ich kümmere mich, wie von Ihnen gewünscht, um die jeweiligen Besichtigungstermine und begleite Sie«, sagte er. »Wenn es Ihnen recht ist, nehmen wir uns morgen den ganzen Vormittag Zeit.«

»Sie haben uns wirklich ein gutes Stück weitergeholfen«, meinte Marcus und stand auf.

»Ich bin sicher, Sie finden etwas ganz Außergewöhnliches für uns, Rafe«, sagte Ayesha und erhob sich ebenfalls.

Rafe begleitete das Paar nach draußen. Von rechts näherte sich ein kleiner Mann mit einem Wieselgesicht und dem zielstrebigen Gang eines Fanatikers. Er trug eine Mütze mit einem gelben Band, hatte ein Notizbuch in der Hand und beäugte den BMW der Freemans.

»Steig ein.« Marcus Freemans Stimme klang plötzlich scharf. Offenbar war er gewohnt, dass man ihm blindlings gehorchte. Ayesha winkte Rafe vom Beifahrersitz aus noch einmal freundlich zu, dann gab Marcus Gas.

Rafe kehrte in sein Büro zurück und schloss die Tür hinter sich. Das Telefon klingelte. Er ging zum Schreibtisch und hob ab. »Rafe Brown«, meldete er sich. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Während er sich um die Routineanfrage kümmerte, wollten ihm die Freemans nicht aus dem Kopf gehen. Auch wenn Marcus und Ayesha die von Ivory und Fordham angebotene Immobilie nicht kauften, würde er bestimmt etwas Passendes in einem angemessen teuren Stadtviertel finden. Er und Ayesha hatten sich wirklich gut verstanden, so viel stand fest.

Oh ja, diese beiden waren ernsthaft an einem Kauf interessiert – und er war genau der Richtige, um das entsprechende Anwesen für sie zu finden.

Er holte eine Untertasse, stellte sie unter den Topf mit den Narzissen und wischte die letzten Erdkrümel von der Schreibtischplatte. Roz hatte recht: Der Frühling war endlich da. Eine Zeit für hervorragende Geschäftsabschlüsse lag vor ihm.

2

Folgt man dem offiziellen Jahrbuch von Oxford, beginnt das neue Jahr dort nicht im Januar, sondern im Oktober. Der Herbst ist die Zeit, die Erlebnisse des vergangenen Jahres noch einmal zu sichten und zu bearbeiten, ehe man sie ordentlich irgendwo verstaut, zusammen mit den in den vergangenen zwölf Monaten gemachten Fehlern. Dann nimmt man ein neues Jahrbuch zur Hand und schmiedet Pläne, wie man lange Abende und feuchte, neblige Morgen mit Recherchen für Romane und neuen Ideen füllen könnte.

Und das war auch gut so, dachte Kate Ivory, während sie ein wirklich gelungenes Foto eines in der Augustsonne glitzernden norwegischen Fjords aussuchte und auf das graue Kartuschenpapier ihres Ferientagebuchs klebte. Sobald sie die Notizen des letzten Urlaubs ins Reine geschrieben und mit den dazugehörigen Fotos illustriert hatte, könnte sie die Bestandaufnahme des vergangenen Jahres abschließen und davon träumen, was sie mit dem neuen Jahr anfangen würde.

Sie schlug die Seite um und wählte aus dem Fotostapel das Bilder eines Gletschers aus, der in einen türkisfarbenen See mündete. Im Vordergrund stand eine sonnengebräunte Gestalt mit kurzem, braunen Haar. Ein schmales, längliches Gesicht lächelte in die Kamera. Jon Kenrick. An diesem Ort und diesem Morgen hatte er einmal seinen abwehrend und beschäftigt wirkenden Ausdruck abgelegt und sah sofort zehn Jahre jünger aus.

Kate dachte daran, wie sie sich kennengelernt hatten: Es war im Haus ihrer Freundin Camilla gewesen. Damals war ihre Sicherheit in Gefahr gewesen, und er benötigte ihre Hilfe bei einer seiner Ermittlungen. Seit damals wusste sie, dass Jon nicht etwa für die Polizei arbeitete, sondern für den nationalen Geheimdienst, und sich mit organisierter Schwerstkriminalität beschäftigte. Ihre Beziehung hatte sich langsam entwickelt. Zwar liegen zwischen London und Oxford nicht einmal neunzig Kilometer, doch die Entfernung hinderte sie daran, sich spontan zu treffen. Sie verabredeten sich an den Wochenenden entweder bei ihm oder bei ihr und fuhren ab und zu für ein paar Tage zum Segeln auf sein Boot. Während der Ferien in Norwegen hatten sie das erste Mal eine längere Zeit miteinander verbracht. Stillschweigend und ohne Diskussionen waren sie übereingekommen, dass sie beide Menschen waren, die ihren Freiraum brauchten.

Jon sah wirklich ausgesprochen gut aus, und das war wohl auch die Meinung der blonden Frau gewesen, die in Balestrand im gleichen Hotel wie Kate und Jon gewohnt hatte. Eines Morgens hatten sie und ihr Ehemann sich zum Frühstück an ihren Tisch gesetzt. Die Frau schien Jon äußerst amüsant zu finden, lauschte entzückt jedem seiner Worte und legte vertraut die Hand auf seinen Arm. Schließlich schlug sie vor, dass sie zu viert ein Boot mieten und den Fjord erkunden sollten. Glücklicherweise war Jons Reaktion genau so ausgefallen, wie Kate gehofft hatte. Er lehnte freundlich ab, und als sie allein waren, sagte er zu ihr: »Lass uns morgen ganz früh aufbrechen, sonst setzen sie sich am Ende noch einmal zu uns.«

»Magst du sie etwa nicht?«, hatte Kate gefragt.

»Sie sind ja ganz nett, aber wir beide haben so wenig Zeit miteinander, dass ich nicht bereit bin, dich mit anderen zu teilen. Jedenfalls noch nicht.« Für Kate hatte diese Antwort einen Schritt vorwärts in ihrer Beziehung bedeutet.

Auf dem nächsten Bild standen sie und Jon nebeneinander. Er hatte ihr den Arm um die Schulter gelegt, und sie sahen beide fit, sonnengebräunt und glücklich aus. Kate fand den Gedanken beruhigend, nie wieder ein Wochenende allein verbringen zu müssen, wenn sie es nicht wollte. Das Problem lag einzig darin, dass sie sicher sein musste, genau so ein Wochenende haben zu können, wenn ihr danach war.

Das Klingeln des Telefons störte die sonnendurchfluteten Erinnerungen.

»Ausgerechnet jetzt!« Kate schaute auf dem Display nach dem Namen des Anrufers, doch dort stand nur eine ihr nicht geläufige Nummer. »Hallo?«

»Hallo, hier ist Avril Fordham.« Die sehr korrekt klingende Stimme gehörte der Geschäftspartnerin ihrer Mutter. »Mir ist klar, dass wir uns kaum kennen, Kate, aber ich muss unbedingt mit jemandem reden und wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden soll.«

Kate erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen mit Avril. Eine attraktive Frau in den Sechzigern hatte auf den perlenbestickten Kissen auf Roz’ dunkelrotem Sofa gesessen und Earl Grey Tee getrunken, während Kate und Roz begehrliche Blicke auf die von Kate mitgebrachte Flasche Rioja warfen und überlegten, ob sie sich ein Glas einschenken durften. Eine ausgesprochene vernünftige Frau – das war Avril in Kates Augen.

»Es geht um Ihre Mutter«, sagte Avril.

Was hatte Roz nun angestellt? Hatte sie wieder einmal versucht, auf unkonventionelle Weise zu Geld zu kommen? Kate war davon ausgegangen, dass Avril nicht nur einen beruhigenden Einfluss auf Roz ausübte, sondern dass die beiden auch ganz gut von ihren Hausverkäufen leben konnten. Oder hatte sich Roz in einen unpassenden Mann verliebt? Allmählich wurde sie für solche Dinge doch wohl zu alt, oder? Konnte es tatsächlich sein, dass sie immer noch schillernde, unzuverlässige Männer anzog? Zuzutrauen war ihr alles.

»Ich habe mich wirklich bemüht, sie zur Vernunft zu bringen, aber sie will einfach nicht auf mich hören«, fuhr Avril fort.

»Was ist denn mit ihr? Was hat sie angestellt?« Kate war sich jetzt fast sicher, dass Avril ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigen würde.

»Entschuldigen Sie bitte, es ist mir wirklich peinlich, und ich will Sie auch bestimmt nicht kritisieren, aber ich glaube, Sie haben sie länger nicht gesehen«, sagte Avril vorsichtig.

»Aber ich habe sie doch erst vorletzte Woche getroffen«, begann Kate, hielt aber sofort inne. »Nein, Sie haben recht. Ich bin jetzt seit vierzehn Tagen aus dem Urlaub zurück, und mein letzter Besuch bei ihr kann gut und gern zwei Wochen vor meiner Norwegen-Reise gewesen sein. Das macht insgesamt fast sechs Wochen. Aber sie mag es nun einmal nicht, wenn ich jeden Tag vor ihrer Tür stehe, und eine Postkarte habe ich ihr auch geschickt.«

»Das glaube ich Ihnen gern«, sagte Avril. »Ich weiß auch, dass Sie beide sehr unabhängige Menschen und sehr beschäftigt sind. Es ist nur so, dass ich mir Sorgen um sie mache und dachte, Sie sollten wissen, dass da etwas nicht stimmt. Sie hat Ihnen sicher nichts erzählt, oder? Jedenfalls wäre das typisch für sie.«

»Aber was hätte sie mir erzählen sollen? Ich glaube, Sie sollten vielleicht ganz von vorn anfangen.«

»Ganz von vorn?« Avril seufzte. »Ich habe Ihre Mutter wirklich gern, und wir arbeiten ganz ausgezeichnet Hand in Hand. Allerdings muss ich gestehen, dass ich mit ihrer Einschätzung von Menschen oft nicht übereinstimme.«

»Um was geht es dieses Mal? Ist es ein zwielichtiger, unpassender Mann? Oder ein verrücktes Weib, das sie auf der Wüstenreise mit Yak-Karawane kennengelernt hat und das jetzt plötzlich vor ihrer Haustür steht und um Asyl bettelt?« Man hätte meinen können, Kate spreche von einer ausgeflippten Jugendlichen und nicht etwa von einer Frau, deren Tochter deutlich über dreißig war.

»Ich glaube nicht, dass es in der Wüste Yaks gibt«, meinte Avril unsicher. »Und es ist auch nicht so abwegig, wie Sie fürchten. Bei ihren neuen Freunden handelt es sich um ein Ehepaar, das durchaus achtbar zu sein scheint. Ich persönlich mag die beiden nicht besonders, aber das ist mein Problem und nicht Ihres. Aber wenn das alles wäre, hätte ich Sie nicht angerufen. Es geht um Roz’ Gesundheit. Darüber mache ich mir Sorgen, Kate.«

»Als ich das letzte Mal bei ihr war, sah sie aus wie das blühende Leben …« Kate brach ab. Stimmte das? Hatte sie sich überhaupt die Mühe gemacht festzustellen, ob es Roz gut ging oder nicht? Sie hatte ununterbrochen Pläne für ihren Urlaub mit Jon geschmiedet und war durch Roz’ Haus in East Oxford gewirbelt, ohne tatsächlich etwas zu sehen. Vermutlich wäre ihr nicht einmal aufgefallen, wenn ihre Mutter an irgendeiner tödlichen Krankheit gelitten hätte.

»Solche Dinge sind wirklich tückisch«, sagte Avril. »Ich bin sicher, ein Außenstehender nimmt Veränderungen wahr, die Familienmitgliedern verborgen bleiben, weil sie ganz allmählich vonstattengehen. Wenn es um die eigenen Angehörigen geht, sieht man nur das, was man erwartet, und ist zutiefst schockiert, wenn sie plötzlich ins Krankenhaus müssen.«

»Krankenhaus?«

»Oh nein! Das war nur ein Beispiel. Es ging nicht um Roz …«

»Vielleicht hätte ich merken müssen, dass etwas nicht stimmt, aber ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Sagen Sie mir doch bitte – was genau hat Roz?«

»Sie hat abgenommen.« Avrils Stimme klang jetzt wieder sehr geschäftsmäßig. »Außerdem hat sie ihre übliche Energie verloren. Sie kennen sie ja, Kate. Wenn wir den ganzen Tag auf der Baustelle geschuftet haben und ich mir nichts sehnlicher wünsche, als die Füße hochzulegen und mir irgendeine Schnulze im Fernsehen anzuschauen, macht sie sich fertig zum Ausgehen.«

»Das ist typisch Roz.«

»Aber seit Neuestem entschuldigt sie sich dauernd, sie fühle sich so schlapp. Um drei Uhr nachmittags packt sie ihre Sachen zusammen und geht nach Hause, um sich ins Bett zu legen. Und wenn ich mir ihr blasses Gesicht und die Ringe unter ihren Augen ansehe, weiß ich, dass sie genau dorthin gehört. Sagen Sie ehrlich: Ist das die Roz, die wir beide kennen?«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Kate langsam. »Ein solches Verhalten kenne ich nicht von ihr. Ich habe nie erlebt, dass Roz sich während des Tages ins Bett gelegt hätte. Was meint denn ihr Arzt dazu?«

»Genau das habe ich gemeint, als ich mich eben über ihre Freunde ausließ. Soweit ich informiert bin, war sie bisher nicht beim Arzt. Diese Freunde – sie heißen Freeman – besuchen sie jeden Tag und kurieren mit allerlei merkwürdigen Dingen an ihr herum. Aber Roz ist nicht bereit, sich die Zeit zu nehmen, einen richtigen Arzt aufzusuchen. Sie behauptet, es wären ohnehin alles Quacksalber und Scharlatane. Und Krankenhäuser sind, wenn man Roz glaubt, äußerst gefährliche Orte. Ich verstehe natürlich, dass man Angst vor dieser scheußlichen MRSA-Infektion haben kann, aber trotzdem wird man in Krankenhäusern in aller Regel eher kuriert als krank gemacht.«

Kate seufzte. Sie wusste, wie gereizt Roz reagieren konnte. Wahrscheinlich versuchte sie, sich mit irgendwelchen Tinkturen zu behandeln, und wurde dabei von ihren Freunden auch noch unterstützt. Und wenn Avril versuchte, sie zur Vernunft zu bringen, wurde sie vermutlich erst recht dickköpfig.

»Ich glaube, ich sollte sie so schnell wie möglich besuchen. Merkwürdig, dass sie mich nicht angerufen und mir gesagt hat, dass es ihr nicht gut geht. Ich hätte ja immerhin für sie einkaufen oder ihr im Haushalt helfen können.«

»Das genau ist die andere Sache«, sagte Avril. »Hier kommen diese Freemans ins Spiel. Sie scheinen ständig bei ihr zu sein, machen Besorgungen und kochen für sie. Roz ist, wie Sie wissen, meine Geschäftspartnerin, aber im Augenblick ist es mir unmöglich, sie zur Vernunft zu bringen. Wissen Sie, in unserem Job steht eine Menge Geld auf dem Spiel – ich hoffe, Roz ist mir nicht böse, dass ich Ihnen das anvertraue. Aber sobald ich versuche, ein geschäftliches Thema anzuschneiden, platzen diese Leute herein und verhindern jedes vernünftige Gespräch. Wenn man ihnen zuhört, könnte man meinen, wir unterhielten uns über Marcus Freemans Eigentum – nicht über Roz’ und meine Immobilien.«

Auch wenn ihre Mutter manchmal über die Stränge schlug, so hatte Kate doch bisher immer den Eindruck gehabt, dass Roz ihre Arbeit wirklich ernst nahm.

»Gehen diese Leute keiner Arbeit nach?«, fragte Kate.

»Nicht, dass ich wüsste. Sie scheinen nicht gerade am Hungertuch zu nagen, daher gehe ich davon aus, dass sie nichts Besseres zu tun haben, als ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Ich bin sicher, sie meinen es gut, aber ich wünschte, sie hielten sich da einfach heraus.«

»Wissen Sie was? Ich fahre jetzt zu Roz und rufe Sie später zurück.«

»Würden Sie das tun? Da fällt mir wirklich ein Stein vom Herzen.« Avril schien mehr Vertrauen in Kates Einflussmöglichkeiten zu setzen als Kate selbst. »In dieser Woche müssten wir uns um ein neues Objekt kümmern, das wir renovieren können, aber Roz redet sich dauernd heraus und will alle Entscheidungen mir überlassen.«

»Das ist nun wirklich ganz und gar nicht ihre Art. Sie haben recht – sie ist offenbar krank. Aber wissen Sie vielleicht Näheres über diese Freemans?«

»Nicht sehr viel. Sie reden eine Menge, ohne etwas Vernünftiges zu sagen. Ich weiß nur, dass sie vor einigen Monaten aus Kent kamen. Offenbar haben wir sie kurz nach Ende des Winters bei unserem Immobilienmakler kennengelernt, allerdings haben sie bei mir keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Rafe ließ sie eines unserer Projekte besichtigen, und sie haben es auch über den grünen Klee gelobt – allerdings war es wohl zu klein für ihre Bedürfnisse.«

»Aber sie sind dann wohl mit Roz in Kontakt geblieben. Ich frage mich, warum.«

»Roz ist ein sehr geselliger Mensch, und vielleicht finden die Freemans sie einfach nett. Nach ihrem Weggang aus Kent ist es nur normal, dass sie neue Freundschaften schließen wollen.«

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, räumte Kate die Erinnerungen an ihren Urlaub mit Jon fort. Die beiden in Jeans gekleideten, kerngesunden Gestalten lächelten nach wie vor, als sie sie in ihrem Album verstaute, doch jetzt erschien ihr das Lächeln selbstsüchtig und gefühllos.

Sie nahm die erstbeste Jacke vom Kleiderhaken im Flur und verließ das Haus. Roz schien wirklich nicht ganz auf dem Posten zu sein, aber wenn Kate sie jetzt anriefe, würde ihre Mutter sie sicher mit irgendwelchen Ausreden abwimmeln. Deshalb hielt Kate es für angeraten, unangekündigt zu erscheinen. Unterwegs würde sie im Covered Market ein paar köstliche Kleinigkeiten einkaufen. Roz liebte gutes Essen, und auch einer Flasche australischen Rotwein war sie sicher nicht abgeneigt.

Als Kate die Markthalle verließ, hielt sie eine Plastiktüte voller Leckereien aus dem Feinkostladen in der Hand. Sie bog nach rechts in die Turl Street ab und musste sofort in die Toreinfahrt eines Colleges ausweichen, weil eine schwatzende Touristengruppe die Straße in ihrer ganzen Breite für sich in Anspruch nahm. Eine Weile blieb sie stehen und bewunderte die hübschen, alten Gebäude und den makellos grünen Rasen im Innenhof. Der wilde Wein an den Sandsteinmauern fing die Strahlen der Nachmittagssonne ein und glühte in allen denkbaren Schattierungen von Gold bis Rot. Ein kleiner Torbogen duckte sich am anderen Ende des Rasens im Schatten und schien nicht nur in einen weiteren, in der grünen Dämmerung hoher Bäume liegenden Hof, sondern geradewegs in die Vergangenheit zu führen. Schließlich leerte sich der Bürgersteig, und Kate ging weiter durch das 21. Jahrhundert, ehe ihr die nächste Besuchergruppe den Weg versperrte.

3

Kate klingelte und wartete, aber kein vertrauter Schritt polterte die Treppe hinunter und näherte sich der Tür. Hinter ihr parkte das Auto ihrer Mutter am Straßenrand. Der dottergelbe VW-Käfer, den Roz gefahren hatte, als sie vor ungefähr fünf Jahren plötzlich wieder in Kates Leben aufgetaucht war, gehörte der Vergangenheit an. Inzwischen besaß Roz einen makellosen, silberfarbenen Peugeot, dessen Anwesenheit bewies, dass Kates Mutter zu Hause sein musste. Kate trat ein paar Schritte zurück und blickte zu den Schlafzimmerfenstern hinauf. Die Vorhänge waren halb zugezogen, als hätte sich der Wohnungsinhaber am Morgen nicht entscheiden können, ob er aufstehen oder sich doch lieber mit einem Kaffee und ein paar knusprigen Croissants wieder ins warme Bett kuscheln solle. Kate klingelte erneut. Dieses Mal glaubte sie, eine Bewegung im Haus wahrzunehmen. Jemand schlurfte widerwillig auf die Tür zu. Normalerweise hätte Roz jetzt in ihrer überschwänglichen Art die Tür aufgerissen und sich wortreich für die lange Wartezeit entschuldigt, doch die Tür öffnete sich nur einen Spaltbreit und Roz stand einfach nur stumm im Flur und schaute ihre Tochter an.

»Darf ich hereinkommen?«, fragte Kate.

»Ja natürlich«, antwortete Roz und trat einen Schritt zur Seite, damit Kate ins Wohnzimmer durchgehen konnte. Ihre Stimme klang müde und antriebslos.

Außerdem hatte sich Roz auch äußerlich verändert. Kate ärgerte sich über sich selbst, dass sie den Wandel nicht schon früher und ohne Avrils Hinweis wahrgenommen hatte. Roz’ Gesicht war schmal geworden. Sie trug kein Make-up, und ihre Haut wirkte fahl. In ihrem roten Haar zeigten sich graue Strähnen, die Kate nie zuvor wahrgenommen hatte. Sogar Roz’ Schultern hingen ein wenig. Kate wurde plötzlich bewusst, dass ihre Mutter alt aussah. Und diese Feststellung kam so unerwartet, dass sie Kate beunruhigte.

»Soll ich uns einen Tee machen?«, fragte Kate besorgt.

»Ich war immer der Meinung, dass du dir um diese Tageszeit normalerweise eher ein Glas gut gekühlten Weißwein gönnst«, erwiderte Roz so scharfzüngig wie immer, was Kate mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis nahm. »Wie wäre es, wenn du uns beiden eines einschenkst? Eine offene Flasche steht im Kühlschrank.«

Jetzt hörte sie sich wieder ganz nach der guten alten Roz an. Vielleicht hatte sie ja doch nichts Bedrohliches. Möglicherweise nur einen Virus. Solche Infektionen waren um diese Jahreszeit keine Seltenheit. Wer wusste schon, was in der feuchten Luft Oxfords alles herumschwirrte!

»Ich habe dir ein paar leckere Kleinigkeiten aus dem Feinkostladen mitgebracht«, verkündete Kate. »Und eine Flasche Rotwein, um dich wieder auf die Beine zu bringen. Soll ich die Sachen einräumen?«

»Ich denke, dazu bin ich noch ganz gut selbst in der Lage.« Die Bemerkung, dass sie ›wieder auf die Beine‹ gebracht werden solle, schien Kates Mutter gar nicht zu gefallen. »Lass sie einfach auf dem Küchentisch stehen.« Erfreut nahm Kate zur Kenntnis, dass Roz interessiert an dem belgischen Schinken und dem französischen Käse schnupperte und dass sie das Weinetikett las, ehe sie die Flasche im Regal verstaute. »Danke für die Mitbringsel. Aber wie komme ich zu der Ehre dieses unvorhergesehenen Besuchs und der leckeren Geschenke?«

»Ich habe dich seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen«, erwiderte Kate. »Und da ich ohnehin durch den Covered Market musste, dachte ich mir, ich schaue mal, was gerade im Angebot ist.«

Roz warf ihr einen Blick zu, der nichts von seiner Schärfe und Skepsis eingebüßt hatte, aber sie antwortete lediglich: »Deine Postkarte mit dem Eisbären hat mir gut gefallen. Könntest du bitte die Gläser holen? Ich schenke uns einen Wein ein.«

Sie nahmen ihre Gläser mit ins Wohnzimmer und machten es sich auf Roz’ bequemen Sofas zwischen den vielen, weichen Kissen gemütlich. Bei näherem Hinsehen fiel Kate auf, dass das Zimmer anders aussah als sonst. Sie war bestimmt niemand, der mit dem Finger über Regale fuhr, um nach Staub zu suchen, und genau genommen waren ihr staubige Regale ziemlich egal, allerdings musste sie zugeben, dass Roz’ Haus einen ungepflegten Eindruck machte. Auch in der Küche hatte sich ein ziemlicher Berg schmutziges Geschirr neben der Spüle gestapelt.

»Wenn du dich müde fühlst, darfst du ruhig die Füße hochlegen«, sagte Kate.

»Hör auf mit dem Getue, Kate. Es passt nicht zu dir und erinnert mich an Avril … Ah!« Sie brach ab und warf ihrer Tochter einen misstrauischen Blick zu. »Avril hat dich angerufen, richtig? Sie hat sich bei dir ausgeweint, und ihre Besorgnis ist bei dir auf fruchtbaren Boden gefallen. Deswegen bist du so plötzlich mit vollwertiger Gesundheitskost und aufbauenden Getränken hier aufgekreuzt und hast dich nach meinem Befinden erkundigt. Ich habe doch recht, nicht wahr?«

»Glaubst du nicht, dass ich so etwas auch ohne vorherige Aufforderung durch Avril tun könnte? Außerdem würde ich Rotwein, Ardennenschinken und Vignotte nicht unbedingt als gesundheitsfördernde Vollwertkost bezeichnen.«

»Aber sicher! Schau dir die Franzosen doch an! Und Avril ist ein wirklich feiner Kerl, aber sie kann einem mit ihrer Fürsorglichkeit ganz schön auf die Nerven gehen«, behauptete Roz.

»Ich halte sie für außergewöhnlich vernünftig«, entgegnete Kate, ohne ihre Mutter darauf hinzuweisen, dass der Schinken aus Belgien und der Wein aus Australien stammte.

Mutter und Tochter starrten sich an. Es machte keinen Sinn, sich mit Roz zu streiten, wenn sie dickköpfig auf ihrer Meinung beharrte.

»Avril hat mich angerufen, weil sie sich Sorgen macht, und es ist mindestens zwei Monate her, dass ich das letzte Mal hier war. Nun mal ehrlich: Wie geht es dir?«

Roz musterte ihre Tochter über den Rand ihres Glases hinweg. »Wie schon gesagt – mir geht es blendend.«

Kate versuchte es erneut. »So siehst du aber ganz und gar nicht aus. Hast du dich gegen Grippe impfen lassen?«

»Ich werde den Teufel tun und mir freiwillig eine Spritze voller Gift in den Arm piksen lassen. Die Gefahr, sich beim Arzt einen Infekt zu holen, ist viel größer als der Nutzen der Vorbeugung. Mich wirst du so schnell in keiner Praxis finden.«

»Es wäre aber wirklich sinnvoll …«

»Du weißt, was ich von Ärzten halte, Kate. Sie sind samt und sonders Quacksalber und Scharlatane. Habe ich dich als Kind je von einem Arzt behandeln lassen?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Richtig. Und nun schau dich an – aus dir ist ein wunderbar starkes und gesundes Prachtweib geworden.«

»Ich möchte bezweifeln, dass dieser Umstand ausschließlich auf die Vermeidung von Arztbesuchen zurückzuführen ist«, wandte Kate ein und musste wieder an ihren herrlichen Urlaub mit Jon denken. Wie sollte sie es anstellen, das Gespräch wieder auf die Gesundheit ihrer Mutter zu bringen? Ihre Mutter schien wild entschlossen, auf keinen Fall zuzugeben, dass etwas mit ihr nicht stimmen könne.

Während Kate noch darüber nachdachte, wie sie am einfühlsamsten vorgehen sollte, hörte sie, wie die Haustür aufgeschlossen wurde.

»Roz, meine Liebe«, trällerte eine weibliche Stimme.

»Wir sind’s nur«, fügte ein Mann hinzu.

»Im Wohnzimmer«, rief Roz, und Kate fragte sich, wer ihrer Mutter wohl so nahestand, dass er einen Schlüssel zu ihrer Wohnung besaß. Ihr persönlich war nie ein solcher anvertraut worden, und ihr fiel auch niemand ein, der früher schon einmal einen besessen hätte.

4

»Das sind meine Freunde, die Freemans«, verkündete Roz, und da sie keineswegs überrascht zu sein schien, vermutete Kate, dass sie die Leute erwartet hatte. Vielleicht kamen sie jeden Tag um diese Uhrzeit. Sie verspürte wahrscheinlich eine ähnliche Anwandlung von Unmut wie Avril, wenn die Freemans in ihre geschäftlichen Unterredungen hineinplatzten.

Marcus Freeman kam ins Wohnzimmer. Seine Frau folgte ihm im Abstand von zwei Schritten. Die Art, wie sie den Raum unmittelbar mit ihrer Präsenz erfüllten, erinnerte Kate an Schauspieler. Keine Vorurteile, Kate, ermahnte sie sich. Aber auch wenn sie sich ihrer Mutter gegenüber bestimmt nicht für besonders besitzergreifend hielt, hätten die Leute sich durchaus ein wenig zurückhaltender geben können, wenn sie schon ein Privatgespräch unterbrachen, oder etwa nicht?

»Das sind Marcus und Ayesha«, stellte Roz die beiden vor.

»Und das muss die Tochter sein, von der wir schon so viel gehört haben«, sagte Ayesha. Marcus strahlte Kate warmherzig an.

Falls Kate erwartet hätte, dass sich hinter dem Namen Ayesha eine exotische Schönheit verbarg, so wäre sie enttäuscht worden. Die Frau musste etwa Anfang fünfzig sein, hatte farbloses Haar, hellblaue Augen und ein unscheinbares, blasses Gesicht. Sie war kleiner als Kate und trug ein wallendes, leicht folkloristisch angehauchtes Gewand, in dem sie kürzer und breiter wirkte, als sie in Wirklichkeit war. Kate kannte den in Zimttönen, Preußischblau und Aubergine gestreiften Stoff aus einer der teuersten Boutiquen auf der High Street. Die Freemans schienen wirklich nicht am Hungertuch zu nagen, wie Avril sich ausgedrückt hatte.

»Liebste Kate, wie schön, Sie endlich kennenzulernen!« Ayesha nahm Kates Rechte in beide Hände und schaute ihr tief in die Augen. »Ich bin sicher, dass wir die besten Freunde werden.«

»Ach ja?« Kate fragte sich, wie die Frau so etwas nach einer Bekanntschaft von höchstens dreißig Sekunden behaupten konnte. »Also, ich weiß nicht …«

Ayesha lachte. »Sie glauben mir nicht! Sie halten mich für eine lästige, alte Frau, nicht wahr?«

»Nein, natürlich nicht!«, widersprach Kate. Angesichts von Ayeshas Freimütigkeit fühlte sie sich entwaffnet.

»Sie und ich haben eine ganze Menge gemeinsam, und ich weiß, dass wir miteinander klarkommen. Vertrauen Sie mir. Ich habe einen guten Instinkt für solche Dinge«, versicherte Ayesha. Sie trat einen Schritt zurück und musterte Kate kritisch. »Allerdings erkenne ich nur wenige Eigenschaften Ihrer Mutter in Ihnen. Sie sind sich nicht sehr ähnlich, nicht wahr?«

»Ich denke, wir haben beide einen starken Willen und sind manchmal etwas dickköpfig«, erwiderte Kate und zog ihre Hand zurück. Nach und nach begann sie, sich für Ayesha zu erwärmen.

»Sie will damit sagen, dass sie genauso starrköpfig ist wie ihr Vater«, warf Roz ein.

»Oh, was für ein schlimmer Verlust!«

»Ich glaube, ich bin inzwischen darüber hinweg«, bemerkte Kate. Sie mochte es nicht, wenn sich Fremde – eigentlich galt das sogar für Freunde – in heikle Ereignisse aus ihrer Vergangenheit einmischten.

»Er war nicht gerade ein bemerkenswerter Mann«, stellte Roz fest. »Wenn du schon einen Elternteil verlieren musstest, Kate, dann war es sicher besser, dass es ihn erwischt hat, und nicht mich. Ohne deine Mutter, die dich ab und zu aus deinem Hang zur Spießigkeit reißt, wärst du bestimmt eine furchtbar langweilige Person geworden.«

»Keine Sorge, Kate, wenn Sie nicht dabei sind, sagt Ihre Mutter niemals unfreundliche Dinge über Sie. Im Gegenteil, sie spricht immer ausgesprochen schmeichelhaft von Ihnen, und Marcus und ich sind richtig aufgeregt, endlich die erfolgreiche Autorin kennenzulernen«, sagte Ayesha besänftigend.

»Nun …«, meinte Kate, der die Schmeichelei guttat und die froh war, das peinliche Thema umgangen zu haben.

»Ich glaube, für uns ist es eine Premiere«, mischte sich Marcus begeistert ein. »Wir haben noch nie eine erfolgreiche Schriftstellerin persönlich kennengelernt und ganz ungezwungen mit ihr gesprochen. Kann man Ihre Bücher bei Blackwell’s oder Borders kaufen?«

»Ich denke schon, dass sie den einen oder anderen Titel vorrätig haben«, bestätigte Kate und bemühte sich, einigermaßen bescheiden auszusehen.

»Dann müssen wir gleich morgen hin. Sagen Sie, haben Sie im Augenblick etwas in Arbeit?«

»Das ist eine unendliche Geschichte, nicht wahr, Kate?«, bemerkte Roz trocken.

»Mehr oder weniger. Immerhin verdiene ich mir damit meinen Lebensunterhalt.«

»Aus Ihrem Mund klingt es so alltäglich!«, rief Ayesha. »Dabei bin ich ganz sicher, dass Sie manchmal morgens dasitzen und auf einen Geistesblitz warten. Sagen Sie, was tun Sie, um Ihre Spiritualität zu beleben?«

»Tja, äh …« Kate war der Ansicht, die Freemans noch nicht gut genug zu kennen, um mit ihnen über ihre Wochenenden mit Jon zu sprechen. Hilfe suchend sah sie sich zu Roz um, doch Roz lehnte mit geschlossenen Augen in den Kissen und amüsierte sich vermutlich über Kates Unbehagen. »Meiner Meinung nach wirken ein langer Spaziergang oder eine Runde Jogging am Kanal und im Wald geradezu Wunder«, sagte sie schließlich.

»Kommunikation mit der Natur.« Ayesha nickte anerkennend. »Eine wahre Quelle der Inspiration.«

»Zumindest hilft es mir beim Nachdenken«, bemerkte Kate lahm. Sie wollte den Quellen ihrer Inspiration nicht zu tief auf den Grund gehen – nicht, dass sie noch versiegten! »Es hat etwas mit Ruhe und körperlicher Betätigung zu tun. Den Boden zu schrubben kann durchaus eine ähnliche Wirkung haben.«

»Komm, setz dich zu mir, Ayesha«, sagte Roz, die ihre Augen wieder geöffnet und sich aufgesetzt hatte. Sie rutschte ein Stück zur Seite und klopfte mit der flachen Hand auf das Sofakissen neben sich. Genau so machte es Kate, wenn sie ihre rote Katze Susanna überzeugen wollte, sich zu ihr vor den Fernseher zu kuscheln. Tatsächlich erinnerte Ayesha ein wenig an eine Katze – eine große, flauschige, ganz und gar von sich selbst überzeugte Katze, die nur darauf wartete, dass ein wohlmeinender Mensch ihre Schüssel mit Sahne füllte. Es war diese Versunkenheit in sich selbst, die Kate an Katzen bewunderte.

In sanft raschelnder, edelsteinbunter Seide durchquerte Ayesha den Raum, setzte sich neben Roz und begann, leise mit ihr zu tuscheln. Die beiden anderen blieben außen vor. Kate wandte sich zu Marcus Freeman. Er war vielleicht ein Jahr älter als seine Frau, mit sehr kurz geschnittenem Silberhaar, einem Gesicht, dessen Sonnenbräune die von Kate um einiges übertraf, und einer Haltung, die deutlich demonstrierte, wie wohl er sich in seiner Haut fühlte. Seine Kleidung sah aus, als trüge jedes einzelne Stück ein Designerlabel.

»Lassen Sie sich von Ayesha nicht erschrecken«, sagte er, legte eine Hand auf Kates Arm und lächelte auf sie hinab. »Sie ist manchmal sehr impulsiv, aber grundehrlich. Und wenn sie sagt, dass Sie beide eines Tages Freundinnen sein werden, dann können Sie sich darauf verlassen.« Seine Hand war warm und schwer und schien sie kontrollieren zu wollen. Kate wünschte, er würde sie wegnehmen. Als ob er ihr Unbehagen spürte, ließ er sie nur Sekunden später los.

»Warum setzt ihr beiden euch nicht hin und macht es euch bequem?«, schlug Roz in einer kurzen Pause ihrer Unterhaltung mit Ayesha vor. Marcus’ Blick fiel auf die Weingläser. Für eine Sekunde glaubte Kate, ein leichtes Stirnrunzeln zu erkennen.

»Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten?«, fragte sie.

»Für uns ist es dazu noch etwas zu früh am Abend«, lehnte Ayesha lächelnd, aber mit einem leisen Vorwurf in der Stimme ab. »Aber ein kleines Glas naturreiner Bioapfelsaft wäre nett.«

»Ach, Roz, beinahe hätte ich es vergessen: Ich habe dir etwas zum Abendessen besorgt. Nur einen leichten, nährstoffreichen Snack, der die Verdauung nicht allzu sehr belastet. Vielleicht sollte ich die Sachen besser in den Kühlschrank stellen.«

»Die Vitaminpräparate bitte auch«, forderte Ayesha ihn auf.

»Aber natürlich. Bei dieser Gelegenheit kann ich uns auch gleich den Apfelsaft holen. Möchtest du auch ein Glas, Roz?«

»Danke, im Augenblick nicht«, erwiderte Roz und fügte hinzu: »Und was schulde ich euch für das Essen und die Präparate? Dieses Mal will ich es endlich bezahlen.«

»Wie du meinst«, sagte Marcus, ehe er sich Kate mit bekümmerter Miene zuwandte. »Es tut mir wirklich leid, aber wenn ich gewusst hätte, dass Sie uns heute mit Ihrer Anwesenheit beehren, hätte ich ein wenig großzügiger eingekauft.« Mit seiner wohlgeformten Hand beschrieb er eine ausholende Geste.

»Keine Sorge, ich hatte nicht vor, lang zu bleiben«, antwortete Kate rasch. »Ich wollte mich nur kurz aus dem Urlaub zurückmelden und Hallo sagen.«

»Roz hat uns schon erzählt, dass Sie sehr beschäftigt sind«, sagte Ayesha. »Natürlich ist es für Sie als erfolgreiche Autorin schwierig, Zeit für regelmäßige Besuche bei Ihrer Mutter zu finden. Wir verstehen das sehr gut und machen Ihnen bestimmt keinen Vorwurf deswegen.«

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob Roz …«

»Sie brauchen auch keine Angst zu haben, dass sie vereinsamt«, warf Marcus ein.

»Ich wollte nicht …«

»Jedenfalls nicht, solange Ayesha und ich da sind«, fügte er hinzu. »Roz hat uns erklärt, dass Sie und Ihre Mutter recht unterschiedliche und sehr unabhängige Menschen sind und sich nur gelegentlich treffen. Sie werden übrigens feststellen, dass wir während Ihrer Abwesenheit für einige kleine, aber gesunde Veränderungen im Leben Ihrer Mutter gesorgt haben, die sicher dazu beitragen, ihre körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern.«