Böses Spiel in Oxford - Veronica Stallwood - E-Book

Böses Spiel in Oxford E-Book

Veronica Stallwood

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Beschreibung

Kate Ivorys neue Nachbarn scheinen auf den ersten Blick ganz normale Leute zu sein. Der eine, Jeremy Wells, ist ein zurückhaltend wirkender Oxforder Gelehrter. Die anderen, Edward und Laura Foster, sind ein älteres Ehepaar, das seinen Ruhestand genießt. Der Friede wird jäh zerstört, als die Senioren erschossen werden. Erst sieht es aus, als wären die beiden einer Verwechslung zum Opfer gefallen. Doch schon bald findet Kate heraus, dass nichts so ist, wie es scheint. Ihre Nachbarn haben offenbar ein gefährliches Doppelleben geführt ...

Ein neuer Fall für die ermittelnde Schriftstellerin Kate Ivory. Eine atmosphärische Kriminalserie mit einer besonderen Heldin, deren scharfe Beobachtungsgabe und ungewöhnliche Methoden die gemütliche britische Stadt Oxford ordentlich durchwirbeln. Perfekt für Liebhaber von intelligenter und charmanter Cosy Crime, für Leser von Martha Grimes und Ann Granger.

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Seitenzahl: 380

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26

Über das Buch

Kate Ivorys neue Nachbarn scheinen auf den ersten Blick ganz normale Leute zu sein. Der eine, Jeremy Wells, ist ein zurückhaltend wirkender Oxforder Gelehrter. Die anderen, Edward und Laura Foster, sind ein älteres Ehepaar, das seinen Ruhestand genießt. Der Friede wird jäh zerstört, als die Senioren erschossen werden. Erst sieht es aus, als wären die beiden einer Verwechslung zum Opfer gefallen. Doch schon bald findet Kate heraus, dass nichts so ist, wie es scheint. Ihre Nachbarn haben offenbar ein gefährliches Doppelleben geführt ...

Über die Autorin

Veronica Stallwood kam in London zur Welt, wurde im Ausland erzogen und lebte anschließend viele Jahre lang in Oxford. Sie kennt die schönen alten Colleges in Oxford mit ihren mittelalterlichen Bauten und malerischen Kapellen gut. Doch weiß sie auch um die akademischen Rivalitäten und den steten Kampf der Hochschulleitung um neue Finanzmittel. Jedes Jahr besuchen tausende von Touristen Oxford und bewundern die alten berankten Gebäude mit den malerischen Zinnen und Türmen und dem idyllischen Fluss mit seinen Booten ? doch Veronica Stallwood zeigt dem Leser, welche Abgründe hinter der friedlichen Fassade lauern. Über den Autor

Veronica Stallwood

Böses Spielin Oxford

Ein Kate-Ivory-Krimi

Ins Deutsche übertragen vonUlrike Werner-Richter

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2001 by Veronica Stallwood

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Oxford Double«

Originalverlag: Headline Book Publishing, A division of Hodder Headline

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Gerhard Arth/Stefan Bauer

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von © shutterstock: Megin

Illustration: © phosphorart/David Hopkins

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-3467-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Audrey Quinn, die perfekte Reisebegleiterin

Ich möchte dem Unternehmen Clays of St Ives in Suffolk, und hier insbesondere Herrn Steve Jones dafür danken, mich in die Geheimnisse des Druckens eingeweiht und meine Fragen bezüglich unterschiedlicher Druckprozesse beantwortet zu haben. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass keiner der Charaktere dieses Romans irgendwelche Ähnlichkeiten mit lebenden, bei Clays angetroffenen Personen aufweist.

1

Wie kommt ein Mann dazu, eine Perücke zu tragen?

Über diese Frage dachte Kate Ivory nach, während sie den schrillen Protest eines kleinen, französischen Mädchens über sich ergehen ließ, das sich standhaft weigerte, das Flugzeug ohne seinen Spielzeughasen zu verlassen. Das Mädchen und seine Mutter, die sich übrigens ebenso laut und schrill gebärdete, blockierten erfolgreich den schmalen Gang. Man hatte eigens eine Stewardess dazu abgestellt, den verlassenen Sitzplatz abzusuchen; den übrigen Fluggästen allerdings blieb nichts anderes übrig, als mehr oder weniger geduldig darauf zu warten, das Flugzeug endlich verlassen zu dürfen. Kate, die sich hinter einer Frau in einem grauen Anorak eingequetscht wiederfand, hatte den Hinterkopf eines Mannes weiter vorn studiert und war zu der Überzeugung gekommen, dass es sich bei dem glänzenden, kastanienfarbenen Haar eindeutig um ein Kunstprodukt handeln musste. Die Farbe war einfach zu perfekt und passte überdies nicht zu der sehr hellen Haut des Trägers. Das, was man vom Nacken sehen konnte, gehörte mit Sicherheit keinem alten Mann; Kate tippte auf ein Alter zwischen zwanzig und dreißig. Sie wünschte sich, er würde sich wenigstens einmal kurz umdrehen, damit sie sein Gesicht sehen könnte, doch seine gesamte Aufmerksamkeit wurde von dem ungebärdigen Kind in Anspruch genommen.

»On l’a trouvé«, verkündete die Stewardess. Die Fluggäste gerieten in erwartungsvolle Bewegung.

Natürlich mochte es viele triftige Gründe dafür geben, dass ein Mann seinen kahlen Schädel mit fremdem Haar schmückte, dachte Kate. Eine Krankheit zum Beispiel. Oder Eitelkeit. Ihrer Erfahrung nach waren Männer mindestens ebenso eitel wie Frauen. Sie kannte nicht einen einzigen Mann, der an einem Spiegel vorübergehen konnte, ohne sein Abbild zu begutachten.

Es ging immer noch nicht weiter in Richtung Ausgang. In der Kabine war es stickig. Der Atem der Frau im grauen Anorak, den Kate zwangsläufig teilte, roch nach Wein. Ob der Mann unter seiner Perücke nicht fürchterlich ins Schwitzen geriet? Kate ertappte sich dabei, dass sie sich voller Mitleid am Kopf kratzte. Ihr kurz geschnittenes Haar war ihr eigenes und kunstvoll silberblond mit cremefarbenen Strähnchen getönt. Kate konnte den Blick einfach nicht von der Perücke wenden. Plötzlich lief der Nacken des Mannes puterrot an, als hätte der Mann bemerkt, dass er ihre Aufmerksamkeit erregte.

Endlich ging es zögernd vorwärts. Kate sah auf die Uhr. Ihr blieben noch siebzehneinhalb Minuten bis zur Abfahrt des Busses von Gatwick nach Oxford.

Das aufsässige kleine Mädchen stampfte mit den Füßen auf und lamentierte weiter, obwohl man ihr den Spielzeughasen längst zurückgegeben hatte. Der Kopf mit der kastanienbraunen Perücke neigte sich ein Stück zur Seite und schaffte es, sich an Mutter und Kind vorbeizuschlängeln. Kate beschleunigte so gut es eben ging. Sie wollte versuchen, Schritt mit ihm zu halten.

Falls der Mann wirklich eitel war, wieso hatte er dann ausgerechnet diese auffällige Farbe gewählt? Kate, deren Schriftstellerinnenblick kaum etwas entging, bemerkte, dass er durchaus nicht schlecht gekleidet war. Er trug einen hellen Trenchcoat zur schwarzen Hose; unter dem Mantelkragen kam ein dunkelblaues Hemd zum Vorschein. Seine Hände steckten in braunen Lederhandschuhen, obwohl die Temperaturen weiß Gott nicht winterlich waren. Die Handschuhe eines Diebes, dachte Kate. Nein, das war lächerlich! Jetzt ging wirklich die Fantasie mit ihr durch. Vielleicht hatte der arme Kerl eine hässliche Hautkrankheit, die zu Haarausfall und schuppigen Händen führte.

Irgendwann entschwand der Mann ihren Blicken. Kate war aufgefallen, dass er nur eine kleine Tasche bei sich hatte, die als Bordgepäck zugelassen war. Wahrscheinlich würde er seinen Bus noch erwischen, während sie sich damit vergnügen durfte, fremder Leute Koffer auf dem Gepäckband an sich vorbei Karussell fahren zu sehen. Sie hätte besser auch nur eine kleine Tasche mitgenommen, sagte sie sich, während sie einem blau uniformierten Mann ihren Pass zeigte. Doch dann hätte sie ihre fünf Paar Lieblingsschuhe zu Hause lassen müssen, ganz zu schweigen von dem cremefarbenen Seidenblazer und den sieben Taschenbüchern Ferienlektüre.

Der Mann mit der Perücke hatte gespürt, dass jemand ihn anstarrte, während alle darauf warteten, das Flugzeug verlassen zu können. Es war kein konkretes Gefühl gewesen – nur eine Art Kribbeln im Nacken, das er zunächst als Produkt seiner Fantasie abzutun versuchte.

Doch dann begann er, sich Sorgen zu machen. War seine Perücke etwa verrutscht? Hatten sich Strähnen seines eigenen, unscheinbaren Haares herausgestohlen und dazu geführt, dass man seine Eitelkeit belächelte? Er versuchte, sich in einem der Fenster zu spiegeln, konnte jedoch nicht viel erkennen. Allerdings zeigte das ungenaue Spiegelbild auch keine ins Auge springenden Mängel. Und so bemühte er sich, entspannt und ruhig zu wirken, wenn er es auch nicht wirklich war.

Er bemerkte sehr wohl, dass ihm fremde Schritte folgten, als er das Flugzeug über die Rampe verließ. Wurde er etwa verfolgt? Er drehte sich jedoch nicht um, sondern stellte sich vor der Passkontrolle an und gab seinen Reisepass ab. Der Beamte warf einen Blick in das Papier und unterzog ihn selbst dann einer eingehenden Musterung. Die Perücke fiel ihm anscheinend nicht auf. Es war geschafft!

Die Schritte hinter ihm blieben an der Passkontrolle kurz zurück, um anschließend schneller zu werden, bis sie ihn fast wieder erreicht hatten. Immer noch lehnte er es ab, sich umzudrehen und nachzusehen, wer ihm da nachlief. Erst als die Frau ihren Koffer vom Gepäckband abholte, bekam er sie endlich zu Gesicht. Sie hätte eben nicht so viele Klamotten mit ins Ausland nehmen sollen, dachte er gehässig. Das blonde, mit einem interessanten Karamell-Ton gesträhnte Haar der Frau war hervorragend und wahrscheinlich sehr teuer geschnitten und glänzte gesund. Noch vor wenigen Monaten wären ihm die besonderen Details einer weiblichen Frisur sicher nicht aufgefallen. Doch seit er diese Perücke gekauft hatte – passte die Farbe überhaupt zu ihm? Hätte er sich vielleicht doch besser für etwas Diskreteres entscheiden sollen? –, interessierte er sich nicht nur für Haar im Allgemeinen, sondern ganz besonders für Frauenhaar.

Natürlich beachtete die Frau ihn überhaupt nicht. Seine Nerven hatten ihm wieder einmal einen Streich gespielt. Sie würdigte ihn keines Blickes, sondern wartete gespannt darauf, dass ihr Koffer hinter der Sichtblende auftauchte. Ihre farbenfrohe Kleidung war von guter Qualität und reisetauglich. Darunter verbarg sich eine gut mittelgroße Frau, nicht zu hochgewachsene, mit einwandfreier Figur. Unter anderen Umständen hätte er vielleicht sogar nach einer Möglichkeit gesucht, sie anzusprechen.

Hastig rief er sich zur Ordnung. Er sollte wirklich nicht hier herumtrödeln. Wenn er sich nicht vorsah, würde er noch den Bus verpassen, und es wäre nicht sehr ratsam, während der Stunde, bis der nächste fuhr, im Flughafengebäude herumzulungern. Auf diese Weise lief man nur allzu leicht alten Bekannten über den Weg oder kam mit Fremden ins Gespräch, um dann festzustellen, dass man in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft wohnte.

Er drehte sich um und ging eilig durch die Zollkontrolle. Am grün markierten Durchgang wurde er weder aufgehalten, noch interessierte sich jemand für den Inhalt seiner Aktentasche. Ein langer Gang führte zum Busbahnhof. Er freute sich darauf, endlich die Perücke abnehmen zu können. Ob er es im Bus riskieren konnte? Das Haarteil war so warm wie eine Pudelmütze, und er spürte, wie ihm Schweißtropfen den Nacken hinunterliefen. Aber zumindest hatte er die Passkontrolle und den Zoll hinter sich. Jetzt brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen.

Die Fahrt im Überlandbus gefiel ihm. Endlich konnte er in aller Ruhe über sein Problem nachdenken. In der Kombination aus Einsamkeit und Bewegung durch die dämmrig werdende Landschaft lag ein Reiz, der seiner Meinung nach konstruktiven Gedanken ausgesprochen förderlich war.

Endlich hatte Kate auf dem Gepäckband ihren Koffer entdeckt und packte ihn am Griff. Noch bestand eine winzige Chance, den Bus um sechs Uhr zu erwischen; sie trug Jeans und Turnschuhe und fühlte sich fit genug, trotz ihres Koffers einen Sprint hinzulegen. An der Zollkontrolle verringerte sie kurz ihre Geschwindigkeit, dann sauste sie weiter.

Plötzlich stand ihr jemand im Weg. Es war ein vierschrötiger Mann mit Zottelhaaren, einem besorgten Gesichtsausdruck und drei prall gefüllten Sporttaschen, die aussahen, als wolle sich ihr Inhalt jeden Augenblick auf den Boden ergießen.

»Sam?«

»Was? Oh, hallo Kate! Was machst du denn hier?«

»Ich komme gerade aus dem Urlaub zurück. Alles in Ordnung, Sam? Soll ich dir vielleicht helfen?«

»Nein«, wehrte er hastig ab. »Nicht nötig. Wirklich nicht.«

Doch genau in diesem Moment ließ Sam eine der Taschen fallen. Kate versuchte, das Geräusch einzuordnen, das dabei zu hören war. Waren Metallgegenstände in der Tasche? Oder doch eher etwas Festes wie zum Beispiel Bücher? Sie glaubte, ein leichtes Scheppern gehört zu haben, doch das war vielleicht Einbildung gewesen.

»Du siehst aber ganz danach aus, als könntest du Hilfe gebrauchen«, beharrte Kate. »Komm, ich nehme dir eine Tasche ab.«

»Mach dir keine Mühe, Kate.« Auf Sams Gesicht bildete sich ein leichter Schweißfilm. »Ich komme wirklich allein zurecht.« Er setzte die beiden anderen Taschen ab und stellte sich davor, als wolle er sie beschützen. Es war schwierig, die Miene eines Mannes zu deuten, dessen Gesicht unter Bart und Schnurrbart fast verschwand, doch seine Stimme klang eindeutig verärgert.

»Willst du auch zum Bus nach Oxford?«, fragte Kate.

»Nein. Doch. Also, eigentlich nicht.«

Bei jedem anderen Mann wäre Kate diese Verwirrung merkwürdig vorgekommen, doch Kate kannte Sam und wusste, dass ein solches Verhalten bei ihm völlig normal war. Er war ganz und gar abhängig vom Organisationstalent seiner Frau und ohne sie offensichtlich handlungsunfähig.

»Ich glaube, wir haben ihn sowieso verpasst«, sagte Kate. »Sollen wir einen Kaffee trinken gehen?« Im Grunde legte sie nicht den größten Wert auf Sams Gesellschaft während der nächsten Stunde. Sie hatten sich nicht sehr viel zu sagen, was vor allem damit zusammenhing, dass Kate einige Monate mit Sams Bruder zusammengelebt hatte, vor wenigen Wochen jedoch wieder ausgezogen und in ihr eigenes Haus zurückgekehrt war.

»Also, ich bin mit jemandem … ich habe etwas … na ja«, stammelte Sam lahm.

»Kommst du gerade von einer Auslandsreise zurück?«, fragte Kate argwöhnisch. »Oder reist du ab?«

»Eine Verabredung«, murmelte Sam.

»Kein Problem«, sagte Kate, ohne weiter zu bohren. »Dann setze ich mich eben in den Wartebereich und lese eine Stunde.« Dass die Worte ganz allein unausgesprochen im Raum hingen, war ihr nur recht.

»Ja. In Ordnung«, sagte Sam. Er hängte sich eine der Taschen über die Schulter und nahm die beiden anderen in die Hand.

Sam und Emma hatten ihr die Sache mit George wohl doch ziemlich übel genommen, dachte Kate, während sie zusah, wie Sam davonwankte. Eigentlich schade, denn sie waren alte Freunde, und sie hatte die beiden wirklich gern. Trotzdem konnte sie schlecht mit einem Mann zusammenleben, nur weil sein Bruder es gern gesehen hätte.

Langsam schlenderte sie durch den langen Gang zum Wartebereich für die Busse. Jetzt brauchte sie sich nicht mehr zu beeilen. Im Busbahnhof roch es nach Diesel, als wäre gerade ein Bus abgefahren. Die Wartehalle war leer. Kate setzte sich, holte ein Buch aus ihrer Handtasche und begann zu lesen. Der nächste Bus fuhr um sieben. In etwa drei Stunden würde sie zu Hause sein.

Der Wind, der den Bus von Gatwick nach Oxford ordentlich zum Schaukeln gebracht hatte, hatte den Himmel von Wolken blank gefegt und dafür gesorgt, dass funkelnde Sterne zu sehen waren. Überall in der Stadt waren Lichter angegangen und zogen sich wie goldene Ketten rings um die Stadt. Die High Street war menschenleer. Der Bus näherte sich Carfax. Nicht einmal ein Kebab-Stand war zu sehen. In den College-Gebäuden rechts und links der Straße dämpften alte Fenster das elektrische Licht. Oxford sah fast aus wie vor hundert Jahren. Doch dann ließen sie das Stadtzentrum hinter sich, passierten moderne Gebäudekomplexe und hielten an einer eindeutig nicht historischen Bushaltestelle. Kate nahm ihren Koffer in Empfang und überquerte auf der Suche nach einem Taxi den kleinen Platz.

Nur wenige Stunden zuvor, in Frankreich, hatte noch Sommer geherrscht; hier in England jedoch lag eine kühle Feuchtigkeit in der Luft, die schon an den Herbst erinnerte, obwohl noch nicht einmal September war. Als das Taxi um die Ecke der Agatha Street bog, ließ Kate es anhalten. »Von hier aus gehe ich zu Fuß«, sagte sie und zahlte den Fahrpreis. Die Münzen fühlten sich schwer und zuverlässig an – nicht so minderwertig wie das fremde Geld, das sie während der vergangenen vierzehn Tage benutzt hatte. Kate konnte durchaus verstehen, warum so viele Engländer nichts davon hielten, ihre vertrauten Pfund Sterling zugunsten des Euro aufzugeben, obwohl sie selbst anderer Meinung war.

Der Fahrer registrierte die Höhe des Trinkgeldes und bedankte sich. »Kommen Sie wirklich mit diesem Gepäck zurecht?«, erkundigte er sich besorgt.

Kate hievte den Koffer aus dem Taxi, setzte ihn auf dem Bürgersteig ab und hängte sich ihre große Lederhandtasche über die Schulter. »Kein Problem«, keuchte sie.

Die roten Rücklichter verschwanden in der engen Straße. Kein Mensch war zu sehen – Kate stand mutterseelenallein in der kühlen Augustnacht. Der Mond zeigte sich als schmale Sichel, und obwohl der goldene Lichtdunst der Stadt den Himmel im Osten erhellte, konnte sie einzelne Sternkonstellationen ausmachen, deren Namen sie leider nicht kannte. Doch – eine war ihr geläufig: Unmittelbar über ihrem Haus spreizte sich der Große Bär. Endlich war sie wieder zu Hause.

Agatha Street Nummer 10 lag in der Mitte einer Ende des neunzehnten oder Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erbauten Reihe identischer Häuser. Immobilienmakler bezeichneten die Bauten gern als typisch für die Epoche – ohne allerdings näher darauf einzugehen, von welcher Epoche die Rede war.

Nach den vielen Monaten, die sie nicht in Fridesley verbracht hatte, war Kate in der Lage, die Straße mit den Augen einer Ortsfremden zu sehen. Seit die Immobilienpreise stetig anzogen, hatte sich die ursprünglich etwas verwahrloste Umgebung gemausert. Die Agatha Street lag nur fünfzehn Gehminuten vom Stadtzentrum entfernt (vorausgesetzt, man war in der Lage, forsch auszuschreiten), und inzwischen musste man einen gut bezahlten Beruf ausüben, um sich eines der Häuser leisten zu können. Ein wenig vermisste Kate den einst lebhaften Charakter der Straße, der früher von lärmenden Kindern, Skateboards und überquellenden Mülltonnen geprägt wurde. Auch die rostigen Autos, an denen ständig jemand herumreparierte, fehlten Kate beinahe, doch nichts schien den unaufhaltsamen Aufstieg von Fridesley stoppen zu können. Bald würde jedes Kind mit einem Geigenkasten herumlaufen und nur noch während der wenigen Sekunden sichtbar sein, in denen es von seiner Mutter oder einem Au-pair von der Haustür zum Geländewagen begleitet wurde.

In allen Fenstern des Hauses rechts neben dem von Kate brannte Licht. Die Venns waren ausgezogen, was bedeutete, dass Kate sich an neue Nachbarn in Nummer 12 würde gewöhnen müssen. Die neuen Besitzer hatten sich nicht die Mühe gemacht, die Vorhänge zuzuziehen, und so konnte Kate beobachten, wie eine Gestalt das Zimmer im Erdgeschoss betrat. Stimmen und lautes Lachen waren zu hören. Es musste sich wohl um die Leute handeln, von denen ihre Mutter ihr berichtet hatte. Offensichtlich genossen sie das Leben in ihrem neuen Zuhause. Roz hatte in Kates Haus gewohnt, während Kate mit George zusammenlebte, und war mit den neuen Nachbarn nicht recht warm geworden. Kate fiel ein, dass die Leute Foster hießen, und sie fand, dass das hell erleuchtete Haus und die Lachsalven einen fröhlichen und beschwingten Eindruck machten. Zwischen der Trennung von George und ihrer Ferienreise hatte sie sich ihr Haus zwar eine Woche lang mit Roz geteilt, von den Nachbarn allerdings nichts bemerkt. Jetzt freute sie sich geradezu darauf, sie endlich kennen zu lernen.

Das Haus zur Linken schien das genaue Gegenteil zu sein. Dort hatte man Jalousien anbringen lassen, durch die nur schmale Lichtstreifen nach außen drangen. Im Haus herrschte tiefe Stille. Die braunen Chintzvorhänge der alten Mrs Arden waren verschwunden. Auch hier schien ein neuer Nachbar eingezogen zu sein. Kate hatte nie besonders engen Kontakt zu Mrs Arden gehabt, die bereits in diesem Haus gewohnt hatte, als Kate in ihres einzog. Doch auf eine zurückhaltende, sehr englische Art hatten sie auf gutem Fuß miteinander gestanden. Kate hoffte, dass die alte Dame ihr Haus mit gehörigem Gewinn verkauft hatte und sich mit dem Erlös einen Lebensabend in einen luxuriösen Seniorenstift leisten konnte.

Plötzlich flammte in der ersten Etage ein Licht auf. Kate hatte gerade ausreichend Zeit, um festzustellen, dass es sich bei dem Raum um ein Arbeitszimmer handeln musste, in dem der Schreibtisch mit dem Computer im rechten Winkel zum Fenster stand und von einer großen Grünpflanze überschattet wurde, als auch an diesem Fenster die Jalousie heruntergelassen wurde. Ein Mann, stellte sie fest, weder sehr alt noch blutjung, aber dann war da nur noch ein Schatten hinter der hellgrünen Jalousie.

Wieder schallte Gelächter aus dem Haus rechts. Kate hatte den Eindruck, dass sich der Kopf hinter der Jalousie für einen kurzen Moment zu heben schien, als wäre er in einem Gedankengang unterbrochen worden. Aber das konnte ebenso gut auch Einbildung gewesen sein. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass sie sich endlich wieder den Realititäten des Lebens widmete – wie zum Beispiel dem Schreiben eines Romans.

Langsam überquerte sie die Straße. Sie wollte den Augenblick auskosten, ehe sie das Gartentor öffnete. Stell dich deinem leeren Haus, Kate, forderte sie sich auf. Der Urlaub ist vorbei.

Kaum fünfzehn Minuten später klingelte es an der Haustür.

2

Kate öffnete. Vor ihr stand eine Frau, die sie noch nie gesehen hatte.

»Mein Name ist Laura Foster«, stellte die Frau sich vor. »Willkommen daheim in der Agatha Street.«

Sie war etwa ebenso groß wie Kate und ungefähr sechzig Jahre alt. Ihren erstaunlich kleinen Kopf zierte eine glatte Kurzhaarfrisur, die Kate an die dreißiger Jahre erinnerte. Mit ihren auffallend rot geschminkten Lippen lächelte sie Kate strahlend an. Die weit geöffneten Augen, die Kates Erscheinungsbild geradezu aufzusaugen schienen, waren blau und wirkten dank eines ebenfalls blauen Lidschattens und viel Mascara auf den Wimpern wie Puppenaugen. Laura Foster hatte sich in ein schwarz-rotes Umschlagtuch gehüllt, das mit Perlen und Spiegelstückchen bestickt und mit Fransen verziert war und die Tatsache betonte, dass ihr taillenloser Körper von den schmalen Schultern angefangen, bis hin zu den ausladenden, in einem glockenförmigen Rock steckenden Hüften immer breiter wurde. Kate fühlte sich an ihre Nachttischlampe erinnert, zumal der Rock vom gleichen Blau war. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie an der Reihe war, etwas zu sagen.

»Das ist aber wirklich freundlich von Ihnen«, brachte sie hervor. Immerhin war es das erste Mal, dass jemand sie in ihrem eigenen Haus willkommen hieß.

»Wissen Sie, Edward und ich sind der Meinung, dass Sie gleich heute noch zu uns herüberkommen sollten. Eigentlich wollten wir Sie schon vor Ihrem Urlaub kennen lernen, aber Sie waren ja kaum zu Hause, als Sie auch schon wieder abgereist sind. Deshalb möchten wir gern heute auf Ihre Rückkehr anstoßen.«

»Ist es dazu nicht ein wenig zu spät?«, fragte Kate.

»Es ist gerade einmal viertel nach neun«, erwiderte Laura. Ihr spitzes Gesicht verzog sich zu einem heiteren Lächeln. »Der Abend hat doch gerade erst angefangen.«

Eigentlich hatte sich Kate darauf gefreut, eine schöne Tasse Tee aufzubrühen, sich auf ihr Sofa zu kuscheln und noch ein bisschen zu lesen, doch Lauras Lächeln wirkte ansteckend. Kate lächelte zurück und sagte: »Gut. Ich hole nur schnell meine Handtasche. Schließlich möchte ich mich nicht gleich am ersten Abend nach dem Urlaub aus dem Haus aussperren.«

»Es muss ganz schön hart für Sie sein, nach einer Partnerschaft wieder ganz allein zu leben«, sagte Laura mitleidig, während sie Kate von einem Garten in den nächsten vorausging. Ihr Gang wirkte ein wenig steif und erinnerte Kate an eine mechanische Puppe. Obwohl Laura eine Pause einlegte, als wolle sie Kate ermuntern, Stellung zu nehmen, behielt Kate ihre Gedanken über das Ende ihrer Partnerschaft geflissentlich für sich.

»Heute Abend sind wir nur zu viert«, fuhr Laura fort, »doch normalerweise steht unser Haus allen Freunden und Nachbarn offen. Wir haben es gern, wenn die Leute einfach mal vorbeischauen.« Und gerade, als Kate sich fragte, wie Laura so viele Leute bewirten wollte, fügte die neue Nachbarin hinzu: »Natürlich sind wir in solchen Fällen dankbar, wenn die Leute eine Kleinigkeit mitbringen – ein paar belegte Brötchen, einen Topf Hummus oder auch eine Tüte Chips.«

»Leider habe ich …«, begann Kate.

»Oh nein, heute Abend erwarte ich nicht, dass Sie etwas beisteuern«, unterbrach Laura sie. »Heute laden wir Sie ein.« Sie war kurz vor der Haustür stehen geblieben und senkte die Stimme. »Es tut mir so leid, dass es mit Ihnen und George Dolby nicht geklappt hat – oder sollte ich lieber sagen ›in die Hose gegangen ist‹?« Sie musste über den Ausdruck lachen. »Wir wollen auf keinen Fall, dass Sie einsam zu Hause sitzen und Trübsal blasen, meine Liebe. Wenn Sie das Gefühl haben, am Boden zu sein, kommen Sie einfach rüber zu uns.«

»Dann wissen Sie also von George und mir«, stellte Kate fest, während Laura die Haustür öffnete.

»Ich hoffe, das stört Sie nicht. Schließlich kennen Sie Fridesley – im Grunde geht es hier zu wie in einem Dorf. Wir wohnen zwar erst wenige Monate hier, aber wir wissen wirklich über alle und jeden Bescheid. Der Laden von Mrs Clack übernimmt hier sozusagen die Funktion des Dorfbrunnens.«

Kate, die seit ungefähr sieben Jahren in der Agatha Street wohnte, hatte nie etwas über die anderen Anwohner erfahren. Eine Ausnahme waren ihre früheren Nachbarn. Und auch in diesem Fall kannte sie die meisten Einzelheiten aus dem ereignisreichen Leben der Venns nur, weil sie sie durch die gemeinsame Hauswand gehört hatte.

»Als die Venns noch hier wohnten, war ich schon einmal in diesem Haus«, sagte sie, als sie den schmalen Flur betraten. Ein intensiver Geruch nach in Blätterteig gebackenen Würstchen hüllte Kate ein. Außerdem meinte sie, etwas mit Hefe zu riechen, das sie aber nicht einordnen konnte. Der Flur kam ihr kleiner und voller vor als zu Zeiten der Venns, was verwunderlich war, bedachte man, wie viel Energie Tracey Venn damit vergeudet hatte, die Kinder lautstark dazu zu bewegen, endlich aufzuräumen. Das Gefühl der Enge wurde noch verstärkt durch eine große Menge Bilder, die dicht nebeneinander an den Wänden hingen.

»Mit Harley Venn war ich sozusagen befreundet«, fügte Kate hinzu, um deutlich zu machen, dass auch sie eine eingebundene und interessierte Bürgerin Fridesleys war.

»Er scheint sich gut zu machen und bereitet sich gerade auf die mittlere Reife vor«, sagte Laura. »Außerdem hat er eine sehr nette Freundin.«

Kate kannte also noch nicht einmal die letzten Neuigkeiten von Harley.

Als sie sich umsah, wurde ihr bewusst, dass das Haus genau- so geschnitten war wie ihr eigenes – nur spiegelverkehrt. Bei näherem Hinsehen entpuppten sich die Bilder, die an den in einem warmen Goldton gestrichenen Wänden hingen, als kunstvoll gemalte Buchillustrationen.

»Haben Sie das gemacht?«, fragte Kate und blieb vor einem besonders hübschen Exemplar stehen: kräftige Farben, klare Linien, witzige Gestalten.

»Oh ja! Ich bin Kinderbuchillustratorin und hatte als solche immer viel zu tun«, antwortete Laura, die unmittelbar neben ihr stand.

»Die Bilder sind wunderschön«, erklärte Kate. Sie meinte es ehrlich.

»Danke sehr! Mir gefällt die Vorstellung, dass sie Kindern in der ganzen Welt Freude gemacht haben.«

»Haben Sie selbst auch Kinder?«

»Nein, leider nicht. Sie wissen sicher, wie das ist – man plant den Nachwuchs für irgendwann, wenn man beruflich auf festen Beinen steht. Nachdem wir uns dann jahrelang nur um die Karriere und unser Haus gekümmert hatten, war es plötzlich zu spät. Die Zeit war uns davongelaufen.«

Kate schwieg.

»Passen Sie auf, dass Sie nicht den gleichen Fehler machen«, sagte Laura traurig. Dann setzte sie mit sichtlicher Anstrengung ihr gewohntes Lächeln wieder auf und fügte hinzu: »Natürlich sehe ich die Kinder, die sich an meinen Bildern erfreuen und durch sie in eine Welt finden, die ich erschaffen habe, in gewisser Weise als meine Kinder an. Zumindest in Gedanken.«

»Malen Sie noch immer?«

»Ich illustriere auch heute noch Bücher. Edward war Lehrer und ist inzwischen pensioniert. Was mich angeht, so glaube ich jedoch nicht, dass ich meine Arbeit je aufgeben möchte. Ich habe gerade einen neuen Auftrag auf den Schreibtisch bekommen und will morgen mit der Arbeit anfangen. Es ist immer noch spannend!«

Kate überlegte, wann sie zum letzten Mal so viel Enthusiasmus für ihre eigene Arbeit an den Tag gelegt hatte. Vielleicht sollte sie sich ein Beispiel an Laura Foster nehmen!

Während Kate ihrer Gastgeberin ins Wohnzimmer folgte, stellte sie fest, dass unter Lauras blauem Rock kurze, dicke Beine hervorschauten. Sie trug grüne Söckchen und gelbe Clogs und sah damit aus wie eine Gestalt von den fröhlichen Bildern an der Wand. Kate begann, sich für ihre neue Nachbarin zu erwärmen. Allerdings war ihr klar, dass sie darauf achten musste, gewisse Bereiche ihres Lebens abzuschotten.

»Hallo Kate!«

»Das ist mein Mann Edward«, stellte Laura vor.

Edward überragte seine Frau um ein gutes Stück, hatte schütteres, graues Haar, einen Spitzbart, sehr blaue Augen und ein ziemlich rotes Gesicht. Er trug ein bunt gestreiftes Hemd zu roten Baumwollhosen und lächelte ebenso breit wie Laura. Er erinnerte Kate an einen Gnom, doch sie musste fairerweise gestehen, dass der Ursprung dieser Vorstellung eher bei den Gemälden im Flur als beim Aussehen des Mannes zu suchen war. »Hallo Edward«, grüßte sie freundlich.

Edward nahm ihre Hand in beide Hände und schüttelte sie herzlich. Sein Gesichtsausdruck war derart warm und freundlich, um nicht zu sagen aufrichtig, dass Kate am liebsten sofort mit einem gebrochenen Herzen aufgewartet hätte, damit er es flicken konnte. Allerdings waren seine Hände klein, weiß und dick; es bereitete Kate gewisse Schwierigkeiten, sich vorzustellen, dass er damit überhaupt etwas flicken konnte.

»Und das hier ist Jeremy Wells, ebenfalls ein Nachbar.«

»Ich habe vorhin bei ihm geklingelt und ihn auf einen Drink eingeladen«, erklärte Edward und ließ endlich Kates Hand los.

Kate schätzte den schwächlich wirkenden Jeremy Wells auf etwa Mitte dreißig. Als Kate ihm gegenübertrat, stand er auf, schüttelte ihr wohlerzogen die Hand und erkundigte sich höflich nach ihrem Befinden. Seine Hände waren lang und dünn und sein Handschlag längst nicht so fest, wie Kate es mochte. Er hatte so helles Haar, dass es fast grau wirkte, und seine haselnussbraunen Augen blitzten vor Intelligenz. Wahrscheinlich war er mit seinem leichten Körperbau und den hellen Farben ein sehr hübsches Kind gewesen, doch sein Kinn war für einen Mann zu weich und seine Züge zu unbestimmt für einen Erwachsenen. Er trug die verschlissenen, aber sehr sauberen Jeans und den dunkelblauen Pullover, die in Fridesley als Freizeituniform für Berufstätige galten. Kate war sich sicher, dass ihm in seinem Pullover ziemlich warm sein musste, denn im kleinen Kamin der Fosters brannte ein fröhliches Feuer.

»Ihr jungen Leute setzt euch am besten auf das Sofa«, schlug Laura vor und drückte Kate ein großes Glas Wein in die Hand. »Trinken Sie das. Nach Ihrer Reise haben Sie es sicher nötig. Wie steht es mit dem Appetit? Ich habe ein paar Kleinigkeiten vorbereitet, aber ich kann Ihnen auch gern ein Butterbrot machen, wenn Sie mögen.«

»Nett von Ihnen, aber nein danke«, sagte Kate. Das ganze Wohnzimmer war in Edelsteinfarben gehalten – saphirblau und smaragdgrün, rubinrot und amethystviolett –, und an den Wänden hingen ebenfalls Bilder. Das Sofa, auf dem sie mit Jeremy Platz genommen hatte, war granatrot und sehr bequem.

»Und wo wohnen Sie?«, erkundigte sich Kate.

»Ich bin Ihr Nachbar auf der anderen Seite; ich wohne in Nummer 8«, antwortete Jeremy. »Wir sind bereits seit fast sechs Monaten Nachbarn, aber irgendwie sind wir uns noch nie über den Weg gelaufen.«

»Ich war viel unterwegs«, bemerkte Kate, ohne genauer auf die Monate mit George Dolby, den Aufenthalt ihrer Mutter in ihrem Haus und ihre Rückkehr – ohne George – vor drei Wochen einzugehen. »Ich glaube, es gab höchstens eine Woche, in der ein Zusammentreffen möglich gewesen wäre.« Eine Woche, während der sie keine Lust auf Kontakte gehabt hatte. Sie hoffte, dass Jeremy genau wie sie selbst nicht der Typ war, der das Leben seiner Nachbarn bis ins Detail verfolgte. Bereits nach diesen wenigen Minuten in Gesellschaft von Laura und Edward verspürte sie das Bedürfnis nach ein wenig guter, altmodischer Verschwiegenheit. »Aber vielleicht haben Sie meine Mutter kennen gelernt«, fuhr sie fort. »Sie hat fast ein Jahr lang bei mir gewohnt und ist erst vor einer Woche in ihr eigenes Haus gezogen.«

»Dunkelrote Locken und ein knallgelbes Auto?«

»Genau. Allerdings fährt sie inzwischen ein etwas neueres Modell.«

»Wir haben uns ein oder zwei Mal freundlich zugenickt.«

»Diese Unverbindlichkeit in der Agatha Street wird sich jetzt schlagartig ändern«, unterbrach Laura. »Dafür werden wir sorgen. Wir halten nichts von verstaubter, englischer Zurückhaltung, nicht wahr, Edward?«

»Ganz und gar nicht. Wir alle sollten richtig gute Freunde werden.« Er lächelte Kate schelmisch an. Sein Spitzbart wackelte. »Das sage ich jungen Mädchen immer.«

Edward hatte eine so freundliche und offene Art, dass Kate nicht widersprechen konnte – noch nicht einmal der Tatsache, dass er sie als junges Mädchen bezeichnete.

»Ich habe gehört, dass Sie im Ruhestand sind«, sagte sie statt einer Antwort. »Was machen Sie mit Ihrer Freizeit?« Small Talk lag ihr zwar nicht, doch Edward und Laura zuliebe strengte sie sich ausnahmsweise einmal an. Dabei hatte sie den Eindruck, ein leises Lächeln über Jeremys Gesicht huschen zu sehen, als ob er ihr Bemühen bemerkt hätte.

»Ich werkele gern herum, wissen Sie«, antwortete Edward. »Basteln und Reparieren liegt mir irgendwie.«

»Wenn Sie irgendetwas auszubessern haben, fragen Sie einfach Edward«, warf Laura heiter ein. »Er kommt dann sofort mit seinem Werkzeugkasten und seinem Ölkännchen.«

»Ich mache mich gern nützlich«, fügte Edward hinzu, und seine blauen Augen über den rosa Wangen blinzelten ihr zu. Kate hatte den Verdacht, dass sie ihn geradezu enttäuschen würde, wenn sie nicht bei Gelegenheit mit einem verstopften Abfluss oder einem angeknacksten Stuhlbein aufwarten konnte. Dabei brauchte sie nur selten einen Handwerker, denn sie fühlte sich durchaus in der Lage, mit solchen Kleinigkeiten selbst fertig zu werden. Immerhin hatte sie erst im vergangenen Jahr eigenhändig passgenaue Bücherregale in eine Nische in ihrem Arbeitszimmer eingebaut.

Als wolle er Edward für Kates Fähigkeiten entschädigen, meldete sich jetzt Jeremy zu Wort. »Ich wünschte, ich hätte Ihre Begabung, Edward. Bei mir stehen seit Monaten jede Menge Regale samt den zugehörigen Halterungen herum, die nur darauf warten, endlich aufgebaut zu werden.«

»Dazu brauchen Sie einen Elektrobohrer«, erklärte Laura.

»Das klingt viel zu gefährlich für jemanden mit zwei linken Händen. Ich weiß nicht einmal, wie man so ein Ding benutzt«, erwiderte Jeremy.

»Ich zeige es Ihnen gern«, versprach Edward mit eifrigem Gesicht.

Jeremy lächelte nur. Kate argwöhnte, dass er seine Regale lieber ohne Hilfe vertikal als mit Hilfe horizontal sah.

»Laura hat erzählt, dass Sie gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt sind«, wandte Jeremy sich an Kate und rettete sie so vor der Aufmerksamkeit des Nachbarn. Im Vergleich zu Edwards dröhnendem Organ klang seine Stimme leicht und kühl.

»Ich habe zwei wundervolle Wochen in Frankreich verbracht.«

»Ach wirklich? Und wo, wenn ich fragen darf?«

»In Périgueux. Das ist eine hübsche, alte Stadt nicht allzu weit von Bordeaux.« Kate war Jeremy dankbar, dass er das Gespräch auf ein weniger persönliches Thema gebracht hatte, doch inzwischen schien auch Jeremy am Ende seines Vorrats an Small-Talk-Themen angekommen zu sein, denn er konzentrierte sich nur noch auf sein Weinglas. Kate überbrückte die Pause, indem sie weiterplauderte.

»Vorhin auf der Rückreise hatte ich ein witziges Erlebnis. Als ich aus dem Flugzeug steigen wollte, stand plötzlich vor mir ein Mann mit einer roten Perücke.« Die Perücke war natürlich kastanienfarben gewesen, aber für eine gute Geschichte durfte man ruhig ein bisschen übertreiben.

»Wahrscheinlich war er kahlköpfig«, wandte Laura ein.

»Aber er war jung. Und die Perücke hatte eine wirklich komische Farbe und war ganz offensichtlich aus Kunsthaar. Außerdem trug der Mann dicke Lederhandschuhe, obwohl es warm war …« Kate verstummte. Ihre amüsante, kleine Geschichte kam nicht an. Laura sah aus, als wäre sie drauf und dran, ein Rezept zur Förderung von Haarwuchs von sich zu geben, Edward starrte in die Gegend, und Jeremy beschäftigte sich immer noch intensiv mit seinem Wein. Kate wünschte, er würde mit einem anderen Gesprächsthema zur Unterhaltung beitragen. Wahrscheinlich war es ihm ordentlich auf die Nerven gegangen, dass man ihn so spät am Abend noch eingeladen hatte, um eine wildfremde Frau kennen zu lernen. Angesichts der Gutmütigkeit und Jovialität, die Laura und Edward ausstrahlten, war es fast eine Schande, wie wenig davon auf ihre Gäste abfärbte.

»Unsere arme Kate hat gerade eine sehr traurige Zeit durchlebt«, sagte Laura, als ob sie damit die pointenlose Perücken-Geschichte erklären könnte. Sie rückte mit ihrem Sessel ganz nah an Jeremy heran. »Aber wir werden nicht zulassen, dass sie sich vor Gram verzehrt, nicht wahr?«

Edward füllte mitleidig und stumm Kates Glas nach, obwohl sie noch kaum daran genippt hatte. Kate fragte sich, wie die Fosters sich den Luxus leisten konnten, ihren Wein so großzügig mit fast fremden Menschen zu teilen. Immerhin behaupteten sie, Rentner zu sein.

»Was ist denn passiert?«, fragte Jeremy pflichtbewusst und sah von seinem Glas auf. Sein leichtes Stirnrunzeln verriet Kate, dass ihn ihre emotionalen Probleme vermutlich nicht im Geringsten interessierten.

Sie öffnete den Mund, um »nichts weiter« zu sagen, doch Laura kam ihr zuvor. »Den Urlaub hatte sie bitter nötig. In der Woche, ehe sie abreiste, sah sie ganz verhärmt aus. Sie wollte vergessen, wissen Sie.«

»Also, eigentlich war es …«, begann Kate.

»Entschuldigen Sie, jetzt habe ich Sie aus der Fassung gebracht. Ich habe einfach ein viel zu loses Mundwerk und wieder einmal zu spät bemerkt, dass Sie es nicht mögen, wenn ich über diese Dinge rede, nicht wahr?«

»Nein«, sagte Kate, aber nicht aus dem Grund, den Laura vermutete.

»Ich habe gehört, Sie sind Schriftstellerin«, sagte Jeremy und wechselte damit zu Kates großer Erleichterung erneut das Thema. Die Art und Weise, wie die Fosters versuchten, sie aus der Reserve zu locken, musste für ihn fast ebenso peinlich sein wie für sie.

»Richtig. Ich schreibe Romane. Und was machen Sie beruflich?« Wenn sie sich geschickt anstellten, konnten sie Laura vielleicht davon abbringen, weiter nach Kates Liebesleben zu forschen, zumal sich auf diesem Gebiet momentan ohnehin nicht viel tat.

»Ich bin nur ein unbedeutender Wissenschaftler«, gab Jeremy zurück.

»Er ist längst nicht so unbedeutend, wie er behauptet«, platzte Laura dazwischen. »Immerhin ist er Dozent an einem der Colleges. Also, ich finde das ganz schön beeindruckend. An welchem College noch gleich, Jeremy?«

»Ich bin nicht Dozent, sondern ich habe einen Lehrauftrag«, korrigierte Jeremy. »Und ich arbeite im Bartlemas, also keinem der berühmten Colleges. Genau genommen ist es sogar ziemlich mittelmäßig.«

»Ach Jeremy, Sie sollten Ihr Licht nicht immer so unter den Scheffel stellen. Wie können Sie nur solche Dinge sagen?«

Jeremy lächelte verlegen.

»Bartlemas?«, warf Kate in dem Versuch ein, Laura zu beschwichtigen. »Da habe ich auch mal gearbeitet.«

»Auch ein Lehrauftrag?«, fragte Jeremy.

»Nein, in der Verwaltung, und zwar in Zusammenhang mit einer Sommervorlesung für amerikanische Bildungstouristen. Ich kann mich allerdings nicht erinnern, Sie dort gesehen zu haben.«

»Wir bescheidenen Lektoren haben während der Sommerferien keinen Zugang zu den Collegegebäuden. Es ist, als ob wir bis eine Woche vor Semesterbeginn überhaupt nicht existierten.«

Kate hatte genügend verbitterte Bibliothekare kennen gelernt, um die Enttäuschung hinter Jeremys Worten zu begreifen.

»Das ist doch nicht möglich«, erklärte Laura entrüstet. »Sie waren doch gestern und heute den ganzen Tag in Ihrem College!«

»Welches Fach lehren Sie?«, erkundigte sich Kate in der Hoffnung, das Gespräch ein wenig ablenken zu können.

»Ich bin Wirtschaftswissenschaftler«, antwortete Jeremy, »und arbeite als wissenschaftlicher Mitarbeiter am European Institute.«

»In diesem neuen Gebäude draußen an der Umgehungsstraße?«

»Genau da. In der berühmten Zwiebel aus Beton«, bestätigte Jeremy.

»Na, so hässlich, wie dieser Name vermuten lässt, ist es doch auch wieder nicht!«, protestierte Kate.

»Doch, leider ist es das«, widersprach Jeremy. »Es wurde von einem Ausschuss konzipiert.«

»Sie müssen Kate unbedingt von der Recherche erzählen«, warf Edward eifrig ein, »die Sie zum Thema …«

Doch Jeremy hatte seine ganze Aufmerksamkeit einer kränklich aussehenden Grünpflanze zugewandt, die neben Kate stand. Er hörte nicht mehr zu.

»Was haben Sie denn mit dieser Azalee angestellt?«, fragte er Laura streng.

»Dieses braune Ding da? Na ja, ich gieße es und halte es einigermaßen warm«, antwortete sie abwesend. Kate amüsierte sich über Jeremys besorgte Miene. Wenn Laura erklärt hätte, ihr Kind zu vernachlässigen, hätte er nicht betroffener dreinblicken können.

»Sie dürfen eine Azalee niemals mit Leitungswasser gießen«, dozierte er ernsthaft. »Die Pflanzen vertragen nämlich keinen Kalk. Wenn es irgend möglich ist, sollten Sie Regenwasser nehmen. Und weg damit von der Heizung. Sie darf nicht zu warm stehen, liebt aber die Helligkeit, obwohl man sie auch nie direkter Sonnenbestrahlung aussetzen darf. Ich weiß nicht, ob diese noch zu retten ist, aber ein wenig Pflege erweckt sie vielleicht doch noch mal zum Leben.«

»Ach wirklich?« Laura sah verwirrt aus. »Eigentlich sind mir Grünpflanzen ziemlich egal. Wenn sie welken, werfe ich sie fort und kaufe einfach neue.« Jeremy blickte sie so entsetzt an, dass sie lachen musste. »Vielleicht sollten Sie mir ein wenig Nachhilfeunterricht in Pflanzenpflege geben. Einen grünen Daumen habe ich nämlich weiß Gott nicht.«

Jeremy sah aus, als ob er gleich jetzt und hier mit dem Unterricht anfangen wollte, doch er sagte bloß: »Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen ein Buch leihen.«

»Wirklich nett von Ihnen«, murmelte Laura. »Aber jetzt müssen Sie erst einmal einen Happen essen. Haben Sie diese kleinen Käsedinger schon einmal gekostet?«

Jeremy nahm eines aus der Schale, die sie ihm hinhielt, und biss hinein. Es zerbröselte in tausend Krümel, die sich über ihn und das granatrote Sofa ergossen. Kate klopfte ihre Hose ab, und Laura kam mit einem Ministaubsauger.

»Entschuldigung«, sagte Jeremy und leckte sich die Finger ab.

»Keine Sorge, mein Lieber«, beruhigte Laura ihn. »Ich bringe die Würstchen. Solange Sie sich mit dem Senf vorsehen, sollten sie nicht allzu schwierig zu essen sein.«

Doch Jeremy stand auf und sagte: »Das ist wirklich nett von Ihnen. Leider muss ich morgen sehr früh aufstehen. Ich gehe jetzt lieber nach Hause.«

Laura und Edward wandten ein, die Nacht wäre doch noch jung, doch auf seine dezente Art wirkte Jeremy sehr entschlossen. Kate war aufgefallen, dass er sich trotz seiner zwei von Edward großzügig bemessenen Gläser Wein den ganzen Abend nicht richtig entspannt hatte. Und das, obwohl die Atmosphäre trotz einiger Gesprächsklippen sehr gastfreundlich gewesen war. Hatte sie ihn vielleicht mit einer ihrer Äußerungen verstimmt? Sie war sich keiner Schuld bewusst.

Jeremy lächelte Kate an und blickte ihr unverwandt in die Augen, als er sagte: »Wir sehen uns bestimmt bei Gelegenheit wieder. Wahrscheinlich, wenn wir unsere Abfalleimer ausleeren.«

»Ich werde Ihnen jedenfalls freundlich zunicken«, entgegnete Kate. Sie hatte den Eindruck, dass in seinem Händedruck jetzt ein wenig mehr Wärme lag als beim ersten Kennenlernen. Es konnte also nicht an einer ihrer Äußerungen liegen. Wahrscheinlich war ihm eingefallen, dass am nächsten Morgen irgendein wichtiger Termin ablief. Mit ablaufenden Terminen kannte Kate sich aus: Sie konnten einem mitten in der schönsten Feier die ganze Freude verderben.

Nachdem Jeremy gegangen war, sagte Laura: »Ich glaube, er ist ein bisschen schüchtern. Aber trotzdem sehr nett. Sie sollten versuchen, ihn etwas besser kennen zu lernen, Kate.«

»Ich denke, ich sollte ihm in praktischen Dingen ein wenig zur Hand gehen«, erklärte Edward und öffnete eine weitere Flasche Wein. »Er kann es brauchen. Wie man Kleinigkeiten im Haus repariert und solche Dinge«, fügte er hinzu und machte mit der Flasche eine Bewegung in Kates Richtung.

Kate legte die Hand über ihr noch fast volles Glas. »Ich muss auch gleich gehen«, sagte sie. »Aber der Abend hat mir viel Freude gemacht. Ganz ehrlich.« Die Fosters waren wirklich großzügig gewesen, doch Kate hatte einen langen Tag hinter sich. Zwar hatten die Nachbarn sie aufgeheitert und dafür gesorgt, dass sie nicht allein in ihrem Haus herumsaß und sich dem Selbstmitleid hingab, doch jetzt fühlte sie sich mehr als bereit für ein wenig Einsamkeit.

Laura jedoch fuhr fort: »Wir müssen nur einen neuen Partner für Sie finden. Einen netten jungen Mann, der Sie nicht einfach sitzen lässt.«

»George hat mich nicht sitzen gelassen«, entgegnete Kate wahrheitsgemäß.

»Sie sind wirklich sehr loyal«, gab Laura zurück und legte eine warme Hand auf Kates Finger. »Das nötigt mir Hochachtung ab. Aber ich weiß, wie schlecht manche Männer sich benehmen. Edward und ich werden dafür sorgen, dass Sie alle uns bekannten Junggesellen kennen lernen.«

»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Kate. Natürlich meinten die beiden es gut mit ihr, aber Kate kam durchaus ohne ihr Mitleid zurecht, ganz zu schweigen von der Vorstellung, allen möglichen Junggesellen vorgestellt zu werden. Laura redete, als wäre Kate drauf und dran, von einer tödlichen Krankheit dahingerafft zu werden. »Aber, um ganz ehrlich zu sein, ich fühle mich allein wirklich sehr wohl.« Das entsprach absolut der Wahrheit. Im Augenblick hatte sie keinerlei Bedürfnis nach einem anderen Mann in ihrem Leben.

»Nicht nur loyal, sondern auch noch mutig«, rief Laura. »Kommen Sie, lassen Sie mich noch einmal nachschenken.«

»Danke, mein Glas ist noch fast voll.«

»Es ist wirklich ein guter Tropfen. Auch ursprünglich aus der Flasche«, vertraute Laura ihr an. Kate hob die Augenbrauen. »Normalerweise machen wir ihn nämlich selbst.«

»Das ist ja wirklich toll!« Kate hatte gedacht, dass diese Gepflogenheit schon vor Jahren ausgestorben war.

»Allerdings führen wir unsere Gäste erst nach und nach an unser Eigenfabrikat heran. Einige Leute brauchen eine Weile, bis sie sich daran gewöhnen. Aber ein Freund hat uns aus Frankreich ein paar Kisten Cabernet Sauvignon mitgebracht. Der Wein war unglaublich günstig. Wir können es uns also leisten, ihn mit Ihnen zu teilen«, fügte sie voller Ernst hinzu. »Mögen Sie ihn?«

»Er ist sehr gut«, erklärte Kate. Zwar hatte er für ihren Geschmack zu viel Barrique und war zu tanninbetont, doch sie wollte Laura nicht verletzen. Kurz darauf versteckte sie ihr Glas hinter der sterbenden Azalee, dankte den Fosters überschwänglich für ihre Gastfreundschaft und ging nach Hause.

Ihre Nachbarn gehörten zu jener Art Menschen, deren Leben und deren Beziehungen zu anderen wie eine ständige Selbstdarstellung wirken, dachte Kate auf dem kurzen Heimweg. Es war schwierig festzustellen, was für ein Charakter sich wirklich hinter ihrem fröhlichen Lächeln und ihren optimistischen Worten verbarg. Aber vielleicht wussten sie es ja selbst nicht mehr.

Im Haus Nummer 8 grübelte Jeremy Wells über den Abend nach. Dabei trank er ein Glas Eiswasser, um den Alkohol in seinem Blut zu neutralisieren.

Natürlich lag es ihm fern, die Gefühle der Fosters zu verletzen – sie waren harmlose, wenn auch manchmal nervtötende Leute –, doch er durfte Laura auf keinen Fall gestatten, sich in sein Leben einzumischen. Schon jetzt wusste er genau, dass er sich nach mehreren Abenden in ihrer Gesellschaft – und der sämtlicher Schmarotzer aus der Nachbarschaft – bald unendlich langweilen würde. Am besten wäre es, sich ein zeitraubendes Hobby oder eine aufwendige Arbeit auszudenken, die eine gute Langzeitentschuldigung bieten konnten, um nicht an ihren kleinen Zusammenkünften teilnehmen zu müssen.

Gedankenverloren grub er die Finger in die Blumenerde seiner Beloperone guttata. Er fand sie ein wenig zu trocken und füllte daher eine kleine Gießkanne mit lauwarmem Wasser, von dem er der Pflanze ein gutes Maß zukommen ließ. Er hasste es, wenn Leute Geld für Zimmerpflanzen ausgaben, um sie dann zu vernachlässigen oder gar falsch zu behandeln. Vielleicht sollte er Laura eine schriftliche Anleitung geben, damit sie ihre Pflanzen weniger misshandelte.