Ryanas Weg - Aileen O'Grian - E-Book

Ryanas Weg E-Book

Aileen O'Grian

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Beschreibung

In einer Gewitternacht werden König Magrow, Herrscher des Sternenreichs, Zwillinge geboren. Trotz der Prophezeiung der Seherin, dass seine Tochter Ryana einst mit einem Reiterfürsten ein mächtiges Herrschergeschlecht begründen würde, lehnt Magrow das Mädchen ab. Er sorgt sich, dass sie ihrem schwächeren Bruder, dem ersehnten Thronerben, die Nahrung wegnimmt und ihn zu gefährlichen Unternehmungen anstiftet. So wird Ryana von ihrer Mutter und ihrer Großtante in weiblichen Tätigkeiten unterwiesen, während ihr Bruder Sigun zum Herrscher ausgebildet wird. Doch dann dringen gefährliche Feinde ins Nachbarland ein. Die hellsichtige Königstochter bleibt allein in der Burg zurück, nur von einigen Ältesten umgeben. Sie ahnt das Verhängnis, das in diesem grausamen Krieg auf ihre Familie zukommt. Ein Fantasyroman, der ohne Drachen, Geister und andere Fabelwesen auskommt.

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Seitenzahl: 233

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Buchbeschreibung:

In einer Gewitternacht werden König Magrow, Herrscher des Sternenreichs, Zwillinge geboren. Trotz der Prophezeiung der Seherin, dass seine Tochter Ryana einst mit einem Reiterfürsten ein mächtiges Herrschergeschlecht begründen würde, lehnt Magrow das Mädchen ab. Er sorgt sich, dass sie ihrem schwächeren Bruder, dem ersehnten Thronerben, die Nahrung wegnimmt und ihn zu gefährlichen Unternehmungen anstiftet. So wird Ryana von ihrer Mutter und ihrer Großtante in weiblichen Tätigkeiten unterwiesen, während ihr Bruder Sigun zum Herrscher ausgebildet wird. Doch dann dringen gefährliche Feinde ins Nachbarland ein. Die hellsichtige Königstochter bleibt allein in der Burg zurück, nur von einigen Ältesten umgeben. Sie ahnt das Verhängnis, das in diesem grausamen Krieg auf ihre Familie zukommt.

Ein Fantasyroman, der ohne Drachen, Geister und andere Fabelwesen auskommt.

Aileen O‘Grian

Was wäre wenn? Fantasy als Spiel mit den Möglichkeiten Seit Jahren schreibe ich aus Spaß am Phantasieren Märchen, Fantasy und Science-Fiction und habe diverse Kurzgeschichten in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1. Kapitel

Der Sturm jagte schweflig gelbe Wolken über den Himmel, Blitze zuckten zur Erde herab, Donner grollten. Seit Stunden lag die Königin in den Wehen. Das Kind wollte und wollte nicht kommen. Dabei hatte König Magrow, Herrscher des Sternenreichs, den besten Heiler und die fähigste Hebamme des Landes an den Hof gerufen.

Unruhig lief der König in den Gemächern auf und ab, er konnte einfach nicht ruhig sitzen bleiben. Der kleine Junge an der Tür schaute ihn ängstlich an, selbst sein greiser Berater Surani hatte sich in die Ecke neben dem Kamin verzogen. Magrow wusste, dass er viele Menschen mit seiner muskulösen Gestalt und seiner Tatkraft einschüchterte. Für diese Gaben war er dankbar, für einen König waren sie sehr nützlich. Ab und zu blieb er an einem Fenster stehen, drehte den Königsring an seinem Finger, lugte durch eine kleine Öffnung der Fensterläden hinaus und beobachtete, wie die Blitze vom Himmel herabfuhren. Die gleich darauffolgenden Donner ließen ihn zusammenzucken. So ein heftiges Unwetter hatte er noch nie erlebt.

Regen und Sturm drückten den Rauch des Feuers in den Raum. Surani, der sich am Kamin wärmte, hüstelte. Durch den Wind stoben immer wieder Funken aus den Flammen. Unterhalb der Burg schlug ein gewaltiger Blitz in den uralten Baum am Fluss ein. Fast gleichzeitig erbebten die Gemäuer durch einen lauten Knall. War das ein böses Omen? Dem kleinen Knaben an der Tür fiel vor Schreck der goldene Becher des Königs aus der Hand. Schnell bückte das Kind sich, hob ihn wieder auf und reichte ihn seinem Herrn. Dabei zitterte es vor Angst.

„Noch lassen uns die Unsterblichen in Ruhe, unsere Zeit ist noch nicht gekommen“, sagte Magrow und lächelte den Jungen an. Zu gut erinnerte er sich an seine Zeit als Diener bei seinem Onkel, dem Herrscher im Reich des Sonnenuntergangs.

Endlich war in der Ferne Babygeschrei zu hören. Er lauschte. War das der ersehnte Thronfolger? Warum erschien keine Dienerin, um ihn zu benachrichtigen? Wie ging es der zarten Königin? Er sorgte sich um sein teures Weib, zu rätselhaft waren die Vorhersagen der heiligen Seherin gewesen. Unruhig wie ein gefangenes Tier nahm er die Wanderung durch den Raum wieder auf. Wie sehr fürchtete er doch um seine Gemahlin. Obwohl ihre Väter die Ehe beschlossen hatten, als sie noch Kinder gewesen waren, liebte Magrow seine Frau aufrichtig und bangte um ihre zerbrechliche Gesundheit.

Ihm kam es vor wie eine Ewigkeit, bis sein oberster Heiler Darbun endlich erschien. „Majestät, mit dem heftigen Donnerschlag hat die Königin eine Tochter geboren.“

Enttäuscht schloss er die Augen und atmete tief durch. Nur ein Mädchen! Seine Mutter hatte auch vier Töchter entbunden, ehe er, der Thronfolger, geboren wurde.

Darbun lächelte. „Einen Augenblick vorher erblickte ein strammer Junge die Welt.“

Ungläubig starrte er seinen Heiler an.

„Es sind Zwillinge, Herr, ein Junge und ein Mädchen. Die Königin ist von der langen, anstrengenden Entbindung sehr erschöpft. Die Kinder lagen falsch herum.“ Nach einer kurzen Pause fuhr Darbun fort: „Ein Bote eilt bereits ins Dorf, um die Amme zu holen.“

„Wann kann ich die Kinder sehen?“, fragte er in herrischem Ton.

„Gebt Eurer Gemahlin einen Augenblick, um sich zu erholen. Währenddessen reinigt Chlarin, die Hebamme, die Kinder.“ Ein verständnisvolles Lächeln huschte über Darbuns Gesicht, bevor er in das Frauengemach zurückkehrte.

Ungeduldig wartete Magrow darauf, endlich seine Königin zu sehen und seine Kinder zu begutachten. Dann würde er entscheiden, ob die Neugeborenen es wert waren, aufgezogen zu werden. Surani versuchte, ihn mit der Aussicht auf die Ernte abzulenken. Doch als er ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen anschaute, mühsam seinen Ärger unterdrückend, verstummte sein Berater.

Endlich erschien Chlarin, verbeugte sich und sagte lächelnd: „Herzlichen Glückwunsch zu den gesunden Kindern, Majestät. Eure Gemahlin erwartet Euch.“

Aufgeregt eilte er ins Gemach seiner Gattin. Darbun hielt ein Baby im Arm. Chlarin nahm Königin Myana gerade den zweiten Säugling ab und präsentierte ihn dem Vater. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass Prinzessin Mahila, seine Tante, in einer dunklen Ecke des Raums stand und das Geschehen beobachtete. Sie war unauffällig wie ein Schatten.

Ungeduldig wandte er sich an Darbun. „Welches ist der Knabe?“

„Hier, Majestät!“ Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck hob der Heiler das Kind hoch und reichte es dem Herrscher.

Aufmerksam begutachtete Magrow den Jungen und murmelte: „Er wirkt sehr klein.“ Würde das Kind überleben und zu einem klugen, starken Mann heranwachsen? War dieser Sohn es wert, aufgezogen zu werden? Von dieser Entscheidung hing die Zukunft seines Reiches ab.

„Das ist normal. Zwillinge sind immer etwas kleiner. Aber bald werden sie genau so groß wie ihre Altersgenossen sein“, versicherte Darbun, sichtlich besorgt, dass der König den Knaben ablehnen könnte. „Herr, die Königin muss sich erholen. So schnell wird sie keine weitere Schwangerschaft unbeschadet überstehen“, fügte er hinzu. „Ist er gesund? Sind alle Körperteile vorhanden?“, drängte Magrow und schaute finster drein.

„Ja, Herr, beide Kinder sind völlig gesund und für ihre Größe erstaunlich kräftig. Habt Ihr denn nicht ihr Geschrei gehört?“

Zögernd griff er nach dem Knaben, nahm die Händchen in seine Hand und zählte die Finger, dann betrachtete er Augen und Ohren. Danach wies er Darbun an, das Kind aus den Tüchern zu wickeln. Erst als er alles gründlich angeschaut und nachgezählt hatte, nickte er und nahm den Jungen auf den Arm. Dann wandte er sich der Königin zu. Blass und ermattet lag sie in ihren Kissen. Ihre sonst so schönen blonden Haare sahen jetzt stumpf aus. Sein Magen verkrampfte sich, sein geliebtes Weib wirkte krank und durchscheinend.

„Ich danke Euch für diesen Knaben, Herrin“, sagte er mit belegter Stimme.

Erleichtert lächelte sie ihn an. Auch Darbun und Chlarin atmeten auf.

„Gebt ihm zu trinken!“, befahl er.

Myanas Gesicht verfärbte sich rot und sie senkte den Blick. „Mein Gemahl, ich habe ihm schon die Brust gegeben. Verzeiht mir.“

Verärgert zog er die buschigen Augenbrauen zusammen. Dieses Recht stand ihr erst zu, nachdem er die Entscheidung über das Leben seines Kindes getroffen hatte. „Der Knabe schrie so verzweifelt, da habe ich es nicht mehr ausgehalten und ihn angelegt. Ich weiß, es war nicht recht.“ Tränen traten in ihre Augen.

„Hat er gut getrunken?“, fragte er und räusperte sich. Er fühlte sich schuldig, weil er ihr Angst eingejagt hatte.

Sie lächelte wieder. „Oh ja! Dabei wirkt er doch so klein und zart, aber er hatte großen Hunger.“

Liebevoll betrachtete er seine Frau und strich ihr über die Haare. „Ich werde gleich zur Seherin gehen und ihren Segen erbitten“, versprach er.

„Majestät, was ist mit dem zweiten Kind?“, fragte Myana zögerlich. Wieder wirkte ihr Blick besorgt.

Seufzend drehte er sich zur Hebamme. „Zeigt das Mädchen her!“, befahl er unwirsch. Dieses Kind interessierte ihn nicht.

Gründlich musterte er die Kleine. Sie schien völlig gesund zu sein. Auch war sie größer und kräftiger als ihr Bruder. Allerdings gefiel ihr die grobe Behandlung des Vaters nicht und so schrie sie in höchsten Tönen.

Unwillig zog er die Brauen zusammen. „Hoffentlich wird sie später liebenswürdiger.“ Sollten sie das Mädchen wirklich großziehen?, fragte er sich im Stillen. Es würde seinem Bruder die Nahrung wegnehmen. Der Junge war sowieso viel zu klein und brauchte eine gute Betreuung.

Als er sich Myana zuwandte, schaute er in ihre ängstlichen blauen Augen. „Bitte, Herr, die Kinder gehören zusammen. So haben es die Sterne bestimmt.“

Sein Blick wurde wieder sanfter. Er liebte seine Frau und wollte ihr keinen Kummer bereiten. Deshalb beschloss er, sie für den Sohn zu belohnen. „So sei es“, erwiderte er, überreichte Chlarin das Kind und verließ das Gemach.

Als er aus der Kammer trat, warteten Surani und der mächtige Heerführer Osun bereits auf ihn. Beide hatten schon bei seinem Vater im Dienst gestanden.

„Majestät, der Bote ist unterwegs zum Bauern, damit er den auserwählten Widder und ein zusätzliches weibliches Schaf zur Seherin treibt“, sagte Surani. Vorausschauend hatte Magrow schon vor Tagen einen prächtigen, kräftigen Widder ausgesucht. Die Sterne sollten zufrieden sein und ihren Segen erteilen. Surani reichte ihm einen dicken, wollenen Umhang und eine lederne Kappe. Dann folgten Surani und Osun ihm zu den Ställen, wo drei gesattelte Pferde warteten. Im prasselnden Regen ritten sie durch das Burgtor, den Burgberg hinab und hinüber zum Heiligtum.

Ohne Schutz stand die Seherin Sapha hoch aufgerichtet inmitten des Steinkreises. Ihr helles Gewand war vom Regen völlig durchnässt, ihre langen grauen Haare hingen schwer herab. Die Männer hielten die Pferde an. Nur Magrow stieg ab und betrat den inneren Bezirk des heiligen Steinkreises. „Die Sterne haben Euch zwei Kinder geschenkt“, erklärte Sapha feierlich. „Ja, sie sind gesund. Deshalb habe ich entschieden, sie aufzuziehen, obwohl sie sehr zart sind.“

Sie nickte. „Es sind heilige Kinder. Nur wenigen Menschen ist die Geburt von Zwillingen vergönnt.“

„Sind sie gesegnet? Was sagen die Sterne?“, fragte er. Seine Nackenmuskeln verkrampften sich vor Anspannung. Voller Sorge beobachtete er die Seherin.

Auf seinen Wink trieben Surani und Osun die Schafe heran, mit denen der Bauer vor den äußeren Steinen gewartet hatte. Es waren starke, gut genährte Tiere. Sapha trat an die höchste Stele heran, vor der sich eine Mulde im Boden befand, und nickte dem König zu. Daraufhin griff er sich den Widder und zog ihn zu der Mulde. Kritisch musterte Sapha das Tier, dann nickte sie zustimmend. Er zückte sein Messer und schnitt dem Widder die Kehle durch.

Zwei Mägde der Seherin traten hinter den Stelen hervor und brachten Fackeln herbei, während er das Tier aufbrach und die Gedärme herauszog. Sapha beugte sich über die Innereien. Dabei murmelte sie Gebete. Schließlich richtete sie sich auf und sang mit lauter Stimme ein Lied. Gespannt erwartete er ihre Worte.

„Dein Sohn wird einen klugen Verstand und ein großes Herz besitzen“, erklärte sie mit unbewegtem Gesicht. „Wird er ein mächtiger Herrscher sein? Wird er Kinder haben? Ist die Herrscherlinie gesichert?“, wollte er wissen.

Doch sie schwieg. Mit einer Handbewegung befahl sie, das zweite Schaf heranzuführen. Nun zog Osun das widerstrebende Schaf herbei. Fragend schaute er die Seherin an. Nach einer kurzen Musterung wies sie auf den Platz neben dem getöteten Widder. Dann nickte sie dem König zu und er schnitt auch diesem Tier die Kehle durch, brach es auf und zog die Innereien heraus.

Diesmal nahm Sapha selbst eine Fackel in die Hand und betrachtete alles genau von verschiedenen Seiten.

„Was ist? Hast du keine guten Nachrichten?“ Fast bereute er schon, das Mädchen am Leben gelassen zu haben.

Sapha schloss die Augen und summte ein Lied, dann sprach sie laut: „Behütet das Mädchen gut. Sie ist wichtig. Ich sehe viel Leid. Ihre Aufgabe führt sie an die Seite eines barbarischen Reiterfürsten. Sie ist zu Großem bestimmt!“ Dann murmelte sie noch etwas, was er nicht beachtete, weil er mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war. Unzufrieden mit der Vorhersage für den Thronerben zog er seine Brauen zusammen und wollte weitere Weissagungen fordern. Doch da senkte Osun den Kopf und führte seine Hand zum Herzen, während Surani ihn eindringlich ansah. Magrow fühlte sich aufgefordert, dem Beispiel zu folgen und schloss sich mit Surani dieser Dankesgeste an. Anschließend drehte Sapha sich um und schritt zwischen den hohen Stelen aus dem Heiligtum hinaus. Die geopferten Tiere blieben liegen. Später würden zwei Knechte das Fleisch und die Felle an arme Familien verteilen.

Noch immer verärgert verließ Magrow das Heiligtum. Er hatte sich viel deutlichere und hoffnungsvollere Vorhersagen für seinen Sohn gewünscht.

2. Kapitel

Drei Tage später klarte das Wetter auf. Der König ordnete an, zur Feier der Geburt seines Thronfolgers ein großes Volksfest auszurichten, obwohl Surani ihn gebeten hatte, damit noch etwas zu warten. „Unser Volk hofft seit Jahren mit mir auf einen Thronerben. Jetzt sollen alle an meiner Freude teilhaben und für den künftigen König beten.“

Er sandte Boten aus, die durch das Reich ritten und den Untertanen befahlen, an diesem Freudentag die Arbeit niederzulegen. Alle sollten beten und feiern. Dafür spendete der König jedem größeren Dorf ein Schwein, das am Spieß gebraten wurde. Spielleute zogen am Festtag durchs Land, priesen den gütigen König und die edle Königin und baten um den Segen der Sterne für den Thronfolger.

Am Abend warteten die versammelten Adligen im großen Festsaal der Königsburg voller Spannung auf die Königin und ihren Sohn. Als es länger dauerte, wurden die Gäste unruhig. Doch schließlich erschien Myana auf der Treppe, die nach oben zu ihren Gemächern führte. In den Armen hielt sie einen Säugling. Ihr folgte Prinzessin Mahila, die das zweite Kind trug.

Ein Raunen ging durch die Reihen, denn der König hatte nicht verkünden lassen, dass die Sterne ihm Zwillinge geschenkt hatten. Zu unwichtig erschien ihm die Geburt einer Tochter.

Myana und Mahila stellten sich nebeneinander auf das Podest vor dem Kamin, sodass jeder sie gut sehen konnte. Das Kind in den Armen der Königin hatte einen brünetten Haarflaum; es wirkte klein, zart und zerbrechlich. Mit großen blauen Augen schaute es in die Menschenmenge. Das Kind in Mahilas Armen hingegen war zwar ebenfalls klein, aber kräftiger. Es hatte hellblonde Löckchen und seine blauen Augen leuchteten. Unwillig strampelte es. Mahila wiegte es und summte leise ein Lied, um es beruhigen.

Magrow strahlte vor Stolz, als er neben seine Frau trat und eine Hand auf ihre Schulter legte. „Mein Sohn und Thronfolger Prinz Sigun! Noch ist er klein, aber dereinst wird er ein kräftiger Mann und ein mächtiger Herrscher sein.“

Die Gäste ließen ihn, die Königin und das Kind hochleben. Dann trat Magrow zwischen die Frauen und zeigte auf den zweiten Säugling. „Die Sterne meinten es gut mit unserem Haus“, rief er. „Meine geliebte Gemahlin hat mir zwei Kinder geschenkt, den Knaben Sigun und das Mädchen Ryana. Wenn die Prinzessin herangewachsen ist, werden sich viele Prinzen um sie bemühen, weil sie die Schönheit ihrer Mutter geerbt hat.“

Wieder ließen die Anwesenden die Eltern und die kleine Prinzessin hochleben. Dann erschien Annin, die Amme, und eine Magd. Sie nahmen die Kinder und brachten sie ins Frauengemach.

Anschließend ließ sich Magrow mit seiner Gemahlin an der Stirnseite der Tafel nieder. Mit einem Händeklatschen gab er den Knechten den Befehl, die Speisen aufzutragen. Viele Stunden wurde gegessen, getrunken und gelacht, während Musiker die Gäste unterhielten. Nach dem Mahl traten Tänzer auf. Sie boten traditionelle Schwert- und Kampftänze dar. Spät am Abend ließ sich ein Märchenerzähler zu Füßen des Königspaares nieder und erzählte alte Geschichten von den tapferen Vorfahren, die das Reich gegründet hatten.

„Mein lieber Neffe, Myana sieht blass und müde aus“, flüsterte Mahila ihm zu später Stunde zu. „Noch hat sie sich nicht vollständig von der Entbindung erholt.“ Magrow musterte seine Frau, sofort erwachte sein schlechtes Gewissen. An ihre angegriffene Gesundheit hatte er überhaupt nicht gedacht. „Liebe Gemahlin, nehmt bitte keine Rücksicht auf mich und die Gäste. Zieht Euch zurück und erholt Euch.“ Liebevoll lächelte er sie an. Ihre Wangen färbten sich leicht. „Danke für Eure Fürsorge“, murmelte sie und erhobt sich. Gemeinsam mit Mahila stieg sie die Treppe, die sich an der Saalseite befand, hinauf. Nachdem die Damen das Fest verlassen hatten, suchte der König mit einigen Getreuen den Dorfplatz auf, sprach leutselig mit seinen Untertanen und sah ihnen beim Tanzen zu.

Ein Lächeln erschien auf Myanas Antlitz, als sie einige Tage später in das Körbchen mit den Kindern schaute. Es sah so niedlich aus, wie sie sich aneinanderschmiegten. Ihr Gemahl schüttelte nur den Kopf und meinte: „Warum müssen sie zusammen schlafen? Wir können uns auch ein zweites Körbchen leisten. Der Junge gedeiht sicher besser, wenn er mehr Ruhe hat. Die Kleine drückt ihn doch zur Seite.“

„Nein, er ist viel ruhiger, wenn sie nebeneinanderliegen“, erwiderte Myana. „Das haben wir schon ausprobiert. Chlarin meint, dass er gut gedeiht. Annin hat reichlich Milch und legt ihn immer zuerst an.“ Voller Liebe strich sie über das Köpfchen mit dem braunen Flaum. Der Kleine gähnte und schaute sie mit seinen blauen Augen direkt an. „Er ist zufrieden“, flüsterte sie.

„Ihr Frauen wisst immer alles besser“, knurrte er. Doch dann schwieg er. Myana seufzte. Sicher wollte er sie nicht verärgern, denn sie gab sich so große Mühe, es ihm recht zu machen. Immer wieder sagte er, wie sehr er sich sorge, weil sie sich zu viel zumute. Sie sei einfach zu zart und empfindlich. Als er sie in den Arm nahm und an sich drückte, lehnte sie sich dankbar an ihn. „Ich sorge mich nur um dich und Sigun. Das Mädchen ist stark genug, das kommt durch“, murmelte er in ihr Haar.

„Ryana, das Mädchen heißt Ryana!“, hauchte Myana. Sie war traurig und enttäuscht, weil der König immer nur den Jungen bedachte. Aber sie wusste nicht, wie sie ihm ihre Tochter ans Herz legen konnte.

Kaum hatte der König den Raum verlassen, trat Mahila zu ihr an das Babykörbchen. „Die beiden entwickeln sich prächtig, sorgt Euch nicht.“

„Meint Ihr wirklich?“ Unsicher schaute Myana zu der Tante ihres Mannes. „Natürlich“, erwiderte Mahila, „sie sind doch schon viel größer. Erinnert Ihr Euch, wie verloren sie in den ersten Tagen im Bettchen aussahen?“

Myana lächelte. „Ich hatte Angst, sie zu zerdrücken, wenn ich sie hochhob.“

Da lachte Mahila. „Ich glaube, König Magrow geht es noch immer so.“

„Meint Ihr, dass er deshalb die Kinder nicht anfasst?“, fragte sie.

„Vermutlich geht es vielen Männern so. Sie sind gewohnt, Pferde zu bändigen und Schwerter zu schwingen. Natürlich wollen sie die Säuglinge nicht verletzen. Aber Ihr solltet Euch jetzt hinlegen und ausruhen.“ Mahila legte einen Arm auf ihre Schulter. „Ich geleite Euch zu der Liege im Nebenraum.“

Doch sie blieb stehen und blickte zu den Säuglingen. „Ich will nicht, dass Annin sie allein versorgt. Es sind meine Kinder und sie sollen mich lieben.“ Schon spürte sie, wie ihr Tränen in die Augen traten.

Mahila nahm sie in die Arme und strich ihr über den Rücken. „Ihr versorgt sie hervorragend, Annin unterstützt Euch doch nur.“

„Sie sehen so niedlich und schutzbedürftig aus, wenn sie an meiner Brust trinken.“ Jetzt liefen ihr die Tränen über die Wangen.

„Leider war mir diese Erfahrung nicht vergönnt“, entgegnete Mahila. Sie wirkte traurig. „Ihr solltet häufiger darauf verzichten, die Kleinen anzulegen und Euch stattdessen ausruhen. Dann werdet Ihr kräftiger und könnt Euch besser um die Kinder kümmern, wenn sie anfangen zu krabbeln und zu laufen.“

Nachdenklich blickte sie Mahila an. „Die Amme lässt mich sowieso nicht sehr lange stillen, sie nimmt mir die Kinder immer schnell weg.“

„Wir haben alle Angst um Eure Gesundheit, Schwangerschaft und Entbindung haben Euch sehr geschwächt.“

In diesem Augenblick betrat Chlarin den Raum. „Majestät, ich habe eine Kräutermischung zubereitet. Die wirkt kräftigend und appetitanregend. Trinkt bitte am Morgen und am Abend vor den Mahlzeiten einen Becher davon. Die Köchin weiß, wie der Aufguss zubereitet werden muss.“ Mit diesen Worten reichte ihr die Hebamme einen Becher mit einer warmen Flüssigkeit.

„Schmeckt das so schrecklich wie das letzte Mittel?“, fragte Myana und seufzte.

Chlarin zuckte mit den Schultern. „Medizin muss bitter schmecken, sonst hilft sie nicht.“

Vorsichtig nahm sie einen Schluck und verzog das Gesicht. „Bitter, wie wahr!“ Trotzdem trank sie tapfer den Becher aus, weil Chlarin sonst keine Ruhe gegeben hätte.

Schon bald darauf versuchten Darbun und Chlarin, die Königin vom Stillen abzubringen.

„Majestät, alle Königinnen und Fürstinnen überlassen ihre Kinder den Ammen. Vertraut die Zwillinge Annin an. Sie ist eine gute Amme und hat genug Milch. Ihre sechs Kinder sind alle gesund und kräftig. Noch nie hat sie einen Säugling verloren“, drängte der Heiler.

Aber Myana liebte ihre Kinder und wollte für sie da sein. Schließlich konnte Prinzessin Mahila sie überreden, bei jeder Mahlzeit nur noch ein Kind anzulegen. „Dann behaltet Ihr die Nähe zu den Säuglingen und genießt die Freude, zu stillen, aber es kostet Euch nicht mehr so viel Kraft.“ Nach langem Zögern stimmte Myana zu, weil sie sich wirklich schwach und müde fühlte.

Sobald die Kinder krabbelten, sorgte sie sich, dass ihnen etwas zustoßen könnte. Ängstlich sprang sie jedes Mal auf, wenn die Kleinen sich irgendwo hochzogen. Wieder war es Mahila, die sie tröstete. „Mütter sind dazu da, sich zu sorgen und auf ihre Kinder aufzupassen. Aber Eure Amme und die Mägde sind erfahren und umsichtig. Ihr könnt ihnen vertrauen. Außerdem sind Kinder recht robust.“

In den nächsten Jahren entwickelten sich die Königskinder gut. Sie waren aufgeweckt und neugierig. Ryana fragte ihrer Mutter und Mahila Löcher in den Bauch, während Sigun etwas zurückhaltender war. Es fiel auf, wie sehr sie aneinanderhingen. Am wohlsten fühlten sie sich, wenn sie zusammen waren.

3. Kapitel

Im Alter von vier Jahren waren sie noch immer etwas zarter als ihre Altersgenossen, wobei Ryana lebhafter und in der Entwicklung weiter war. Immer wieder fielen ihr neue Spiele ein.

„Komm, Sigun, lass uns die Katzen besuchen“, drängte sie ihren Bruder. „Aber wir dürfen nicht in den Stall.“

„Wir gehen doch nicht zu den Pferden, sondern nur zu den Kätzchen. Die tun uns nichts“, erklärte Ryana.

„Trotzdem, Brodun wird böse sein“, widersprach Sigun ängstlich.

Ohne auf ihn zu hören, lief Ryana in die Burgküche, schnappte sich ein Stückchen Käse und eilte in den Burghof. Sie nahm keine Rücksicht auf Sigun, der nicht so flink war und deshalb zurückblieb. Bestimmt würde er ihr folgen. Schnell schlüpfte sie in den Pferdestall. In einer Ecke hatte sich die Katze ihre Kinderstube eingerichtet. Erst vor wenigen Tagen hatte Brodun, der Stallknecht, ihnen die Katzenfamilie gezeigt. Seitdem übten die Tiere eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Ryana aus. Allerdings hatte Brodun gesagt: „Ihr dürft nicht allein in den Stall. Wenn ihr die Kätzchen sehen wollt, sagt mir Bescheid. Dann gehen wir zusammen.“ Aber er hatte immer so viel zu tun und selten Zeit.

Endlich kam Sigun völlig außer Atem herein. Ryana kniete schon auf dem Boden und hielt ein Kätzchen im Arm. Voller Begeisterung fütterten sie die kleinen Katzenkinder und spielten mit ihnen. Die waren inzwischen schon viel selbständiger. Ryana wedelte mit dem Band, das ihr Gewand zusammenhielt, vor den Kätzchen, sodass sie mit den Pfoten danach schlugen. Laut lachten die beiden Kinder.

„Ryana, was machst du schon wieder! Du weißt, dass ihr nicht allein in den Stall dürft.“ Erschrocken zuckte sie zusammen und drehte sich um. Groß und drohend stand ihr Vater vor ihr.

„Aber wir waren doch gar nicht bei den Pferden, sondern spielen nur mit den Katzen“, verteidigte sie sich, fasste all ihren Mut zusammen und schaute ihm in die Augen.

„Ich lasse nicht zu, dass du Sigun in Gefahr bringst. Du gehst jetzt in das Frauengemach und benutzt die Spinnwirtel!“, tobte der König. Dann drehte er sich um und rief: „Brodun, begleite die Prinzessin sofort zu ihrer Mutter. Sie soll spinnen und weben und was-weiß-ich lernen.“

Da eilte der Stallknecht herbei und nickte mit gesenkten Augen. Ryana spürte seine Angst. Sicher würde Brodun bestraft werden, wenn der Vater erfuhr, dass er ihnen die Katzenbabys gezeigt hatte. Schnell nahm Brodun ihre Hand und zerrte sie hinter sich her.

„Warum darf Sigun bleiben und ich nicht?“, weinte sie.

„Das soll dir deine Mutter erklären“, sagte er. Dann schwieg er.

Mit klopfendem Herzen und gesenktem Haupt hörte sich Myana die Vorwürfe ihres Gemahls an. Gleich nachdem er das Frauengemach betreten hatte, war die Magd geflohen. Myana wäre ihr gern gefolgt.

„Deine Tochter darf nicht mehr in die Ställe und den Burghof. Sie stiftet Sigun nur zu gefährlichen Dummheiten an“, schloss Magrow seine Wutrede.

Ergeben nickte sie und versprach: „Ich werde mich darum kümmern.“ Dann blickte sie nachdenklich zu Ryana, die verängstigt vor dem Fenster stand. Sie war aufgeweckt und lebhaft. Leider waren das keine erwünschten weiblichen Tugenden. Immer wieder beklagte sich ihr Gatte über das stürmische Temperament des Kindes. „Weib, bring ihr endlich Manieren bei! Wie soll sie jemals einen Mann bekommen? Hätte ich sie damals bloß aussetzen lassen.“

Wie immer bei solchen Wutanfällen lächelte Myana süß und sagte: „Sie ist noch klein. In dem Alter sind viele Kinder wild und trotzig. Das legt sich, wenn sie größer wird.“ Dann bedachte sie ihn mit einem Augenaufschlag, der sie noch bezaubernder wirken ließ, und meinte: „Wäre sie hässlich und säße nur tranig in der Ecke, würde es Euch auch nicht gefallen.“ Mittlerweile wusste sie, wie sie ihren Gatten nehmen musste, auch wenn er ihr manchmal Angst einflößte.

„Trotzdem müsst Ihr noch viel Arbeit leisten, um aus ihr eine vorzeigbare Prinzessin zu machen“, erwiderte er schmunzelnd. Wie jedes Mal versprach Myana es. Nachdem die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, atmete sie tief ein. Dann strich sie Ryana über den Kopf. Ihr Herz schmerzte vor Mitleid mit ihrer Tochter. Aus Angst, dass der König ihrem fröhlichen Kind doch noch etwas antun würde, ließ sie Ryana kaum aus den Augen. Auch Mahila kümmerte sich liebevoll um die Kleine.

Zusammen mit Ryanas Großtante sorgte sie ab diesem Zeitpunkt dafür, dass ihre Tochter viel lernen musste und kaum Zeit für andere Dinge hatte. Schon bald konnte das Kind spinnen, Netze und Kränze flechten, singen und eine kleine Lyra spielen. Zudem unterhielt sich Myana bald nur noch in der Sprache des Inselreichs mit ihr. Sie selbst stammte nämlich aus dem dortigen Königshaus.

Mit fast fünf Jahren setzte der König seinen Sohn, der sich vielversprechend entwickelte, zum ersten Mal auf ein Pferd. Vorsichtig führte Magrow das Tier am Zügel, mit der anderen Hand hielt er den Knaben fest. Sigun erwies sich als gelehrig und gewandt; schon bald konnte er allein auf einem ruhigen Tier im Burghof seine Kreise drehen.

Abends lauschte Ryana Siguns Erzählungen. „Warum darf ich nicht auch reiten lernen?“, klagte sie. Um besser zusehen zu können, rückte sie einen Schemel ans Fenster und schaute beim Reitunterricht zu.

Irgendwann war ihr Wunsch, auf einem Pferd zu sitzen so groß, dass sie trotz der Angst vor dem Vater auf den Hof lief und ihn anbettelte: „Ich auch! Bitte, Majestät, ich auch!“ Dabei zeigte sie auf das Pony.

„Du bekommst später Unterricht. Für dich genügt es, wenn du nicht vom Pferd fällst. Aber Sigun muss als Mann gleichzeitig reiten und kämpfen können“, erklärte der König.

Doch Ryana blieb hartnäckig und bettelte so lange, bis ihr Vater sie ebenfalls auf das Pony hob und eine Runde drehen ließ. Von da an erschien sie regelmäßig zu den Stunden ihres Bruders, schaute zu und durfte nach der Reitstunde des Prinzen kurz auf den Pferderücken.

4. Kapitel

„Ich schaue im Osten nach dem Rechten. Hoffentlich sind die Schäden des Sturms nicht so schlimm“, erklärte Magrow seiner Frau. Myana freute sich über die Mitteilung, denn sie wusste, wie peinlich es ihm war, ihr ständig Bescheid zu geben. Trotzdem nahm er aus Liebe Rücksicht auf ihre Ängstlichkeit. „Ich nehme Sigun mit“, setzte er nach. „Der Weg ist nicht weit. Das schafft mein Sohn.“

Da blickte sie von ihrer Näharbeit auf, runzelte ihre hübsche Stirn, sagte aber nichts. Ihr Gemahl würde sich nicht davon abbringen lassen. Sie würde ihre Kräfte lieber für wirklich wichtige Auseinandersetzungen aufsparen. Doch sie hatte nicht mit der sechsjährigen Ryana gerechnet. „Nein, Majestät, bitte nehmt Sigun nicht mit“, rief ihre Tochter und sah ganz verzweifelt aus. Dann bettelte das Kind wie schon seit langem nicht mehr. Nein, fiel Myana sofort ein, eigentlich hatte Ryana noch nie so energisch gebettelt.