Sag mal, Onkel Willi - Anselm Grün - E-Book

Sag mal, Onkel Willi E-Book

Anselm Grün

4,9

Beschreibung

Andrea J. Larson schreibt Briefe an ihren Onkel Willi - einen der bekanntesten Autoren unserer Zeit. Die Rede ist von Pater Anselm Grün. Auf der einen Seite die junge Mutter von drei Kindern, die in Amerika lebt und in einem Leben voller Freiheiten auch viele Begrenzungen sieht - auf der anderen Seite der alte Mönch, der sich als junger Mann für das Leben im Kloster entschieden und in der Begrenzung riesige Freiheiten entdeckt hat. In ihrem sehr persönlichen Dialog geht es um Liebe, Beziehung, Gemeinschaft, Einsamkeit, um Verantwortung für sich selbst und die Welt, um Entdeckungen und Enttäuschungen, um Glauben und Zweifel - kurz: um das Leben mit all seinen Facetten. Auch Krankheit und Tod werden nicht ausgeklammert. So entsteht ein faszinierendes Bild der Möglichkeiten für ein gelingendes Leben.

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Inhalt

ERFAHRUNGEN AUS DEM ALLTAG

EINSAMKEIT AUSHALTEN

LEBEN IN FÜLLE

STIMMIG LEBEN

ERFOLG, EHRGEIZ UND ZUFRIEDENHEIT

GELD, BESITZ UND ARBEIT

SELBSTLOSIGKEIT UND SELBSTFINDUNG

MIT DER EIGENEN GESCHICHTE LEBEN

LIEBE UND LEBENDIGKEIT

BILDER VON GOTT

KIRCHE UND GLAUBE HEUTE

DANKBARKEIT UND DIE SUCHE NACH DEM SINN

DIE FRAGEN DER PHILOSOPHIE UND DIE ANTWORTEN DER BIBEL

AUF DER SUCHE NACH EINEM „WEIBLICHEN“ GOTT

VOM UMGANG MIT KRITIK UND KRISEN

LEBENSWEGE UND „LETZTE DINGE“

NACHWORT

ÜBER DIE AUTOREN

Lieber Onkel Willi,

ich erinnere mich noch gut an einen deiner Besuche bei uns zu Hause. Ich war damals an die dreizehn Jahre alt und hatte gerade meine poetische Ader entdeckt. Du saßest entspannt auf unserer wild geblümten Sofagarnitur beim Kaffeetrinken, als meine Mutter Dir erzählte, dass ich jetzt Gedichte schreiben würde und schon ein ganzes Heft voll hätte. Entweder hattest Du damals tatsächlich Langeweile oder Du konntest deiner Nichte den Wunsch einfach nicht ausschlagen – jedenfalls wolltest Du Dir meine ersten Gedichte tatsächlich durchlesen. Jenes besagte Heft habe ich immer noch, und ich staune im Nachhinein schon, wie Du als guter Onkel diese – auch noch unerklärlicherweise melancholischen – Poesieversuche so eindringlich loben konntest. Wer hätte damals gedacht, dass wir heute, zwei Jahrzehnte später, ein gemeinsames Buch schreiben würden.

Ich freue mich richtig darauf, Dir persönliche Fragen zu stellen und Dich als Mensch noch einmal von einer neuen Seite kennenzulernen. Außerdem erhoffe ich mir von Dir die eine oder andere Weisheit, auf die Du vielleicht in der Stille des Klosters gestoßen bist. Eine Stille, die mir als Mutter von drei Kindern in meinem Alltag fast vollständig abhanden gekommen ist. Ich bin gespannt, wie sich unsere Erfahrungen und Lebenseinstellungen überlappen, wie sie sich vielleicht ergänzen oder sogar im Konflikt miteinander stehen. Ich habe aber das Gefühl, dass wir uns im Kern nicht unähnlich sind, trotz der deutlichen und zahlreichen Unterschiede: Du bist der Bruder meiner Mutter, also eine Generation älter als ich. Als Mann und Frau sind wir ohnehin grundverschieden. Du lebst im Kloster und hast Spiritualität und Religion zu deinem Lebensmittelpunkt gemacht, ich bin nach Amerika ausgewandert, um meiner Liebe zu folgen, und habe meine Familie zu meiner Hauptaufgabe gemacht. An einem Punkt sind wir uns überraschenderweise einig: Du hast neben Theologie noch Wirtschaft studiert, so wie ich. An vielen Stellen ist mir deine Lebensweise aber auch fremd. Und ich bin mir sicher, es gibt den einen oder anderen Reibungspunkt, an dem wir keinen gemeinsamen Nenner finden werden. Auf jeden Fall verspricht es interessant zu werden – und wenn ich deinen Humor richtig einschätze, auch amüsant.

Eigentlich müssen wir zu allererst einmal klarstellen, wie es zu dem Buchtitel kam und dass es in unserer Familie eine Spaltung gibt: der eine Teil nennt Dich nämlich seit Deiner Profess bei Deinem Ordensnamen Anselm, der andere Teil bleibt weiterhin bei Deinem Taufnamen Wilhelm, so wie ich auch.

Wie bringst Du den spirituellen Anselm und den Willi von früher unter einen Hut – passen sie gut zusammen oder gibt es da auch häufig Konflikte? Versuchst Du Dir den Willi noch zu erhalten, oder gehört der nur in Deine Kindheit? Wie fühlt es sich an, wenn man seinen Vornamen, den man seit Kindesbeinen trägt, plötzlich ablegt? Ich kann Dir gleich sagen, dass mir das Ablegen meines Nachnamens gar nichts ausgemacht hat, den konnte nämlich in den USA keiner aussprechen. Außerdem durfte ich ihn zu meinem zweiten Vornamen umfunktionieren und kenne daher die Erfahrung, den eigenen Namen aufzugeben, nicht wirklich. Wird man mit einem neuen Namen also auch zu einem neuen Menschen? Und wieso hast Du Dir eigentlich den Namen Anselm ausgesucht?

Liebe Andrea!

Du fragst mich nach meinem Namen. Da muss ich unterscheiden zwischen meiner emotionalen Haltung zu den beiden Namen und der eher spirituellen Haltung. Willi haben mich meine Eltern genannt und meine Geschwister. Und die ersten 19 Jahre wurde ich nur so genannt. Das war meine Identität. Als ich ins Kloster eingetreten bin, sollten wir uns ja einen Ordensnamen wählen. Ich habe lange überlegt. Dann bin ich auf Anselm gekommen, denn Anselm von Canterbury hat mich fasziniert. Damals wusste ich von ihm noch nicht so viel. Ich wusste nur, dass er der größte Theologe im Benediktinerorden war. Damals nach dem Abitur war ich sehr ehrgeizig. Ich wollte auch ein großer Theologe werden. Erst später habe ich mich mit Anselm mehr beschäftigt. Da sind mir zwei Aspekte seiner Person aufgefallen. Er war ein klarer Denker, aber zugleich ein betender Theologe. Sein Programm war: Fides quaerens intellectum, das heißt: „Der Glaube sucht nach Einsicht“.

Der Glaubende gibt sich nicht damit zufrieden, etwas zu glauben, was ihm von außen vorgesetzt wird. Er möchte eindringen in das, was er glaubt. Und er möchte es mit seinem Verstand in Einklang bringen. Das ist sicher auch ein wichtiges Programm meiner Theologie. Ich möchte immer fragen: Was bedeutet das für mich? Welche Erfahrung steckt hinter dieser Aussage? Und zu welcher Erfahrung möchte mich dieser Glaubenssatz führen? Der zweite Aspekt: In seiner Lebensbeschreibung heißt es, dass Anselm der liebenswürdigste Mensch seiner Zeit war. Das kann ich natürlich nicht kopieren. Aber eine Herausforderung ist es für mich schon, dass ich ganz und gar Mensch bleibe und nicht abhebe in meiner Theologie.

Da ich jetzt schon 49 Jahre mit dem Namen Anselm lebe, fühle ich mich mit diesem Namen innerlich verbunden. Und ich erlebe meine Identität in diesem Namen. Aber wenn mich meine Geschwister und Neffen und Nichten „Willi“ nennen, kommt da auch etwas Vertrautes in mir hoch. Ich bin auch als Mönch einer aus der Familie Grün. Ich stehe nicht über den andern. Ich fühle mich dann als Bruder meiner Schwestern und Brüder. Und es ist für mich gut, dass ich im Kreis der Familie auf der gleichen Ebene stehe wie alle anderen, dass die Erlebnisse, die uns in der Kindheit geprägt haben, zu mir gehören. Im Namen Willi höre ich also meine Wurzeln mit. Und die gehören auch zu meiner Identität.

In den letzten Jahren habe ich mich mehr mit der Etymologie der Namen beschäftigt. Wilhelm heißt: der willige Schützer. Mein Vater hat ja Wilhelm geheißen. Und von ihm habe ich den Namen übernommen, obwohl ich ja nicht der älteste Sohn bin, sondern erst der dritte. Mein Vater war der Schützer für unsere Familie. Er hat auch uns Kindern den Rücken gestärkt. So begegnet mir in diesem Namen etwas sehr Vertrautes. In meinem ganzen Wesen wollte ich auch immer andere schützen. Ich konnte es nie vertragen, wenn jemand vor anderen lächerlich gemacht wurde. Das weckte immer meinen Beschützerinstinkt. Anselm heißt: der von den Göttern Geschützte. Das hat mich sehr erstaunt, als ich diese Parallele in den beiden Namen sah. Im Namen Anselm erkenne ich, dass ich von Gott geschützt bin. Und weil ich von Gott geschützt bin, traue ich mir manches zu. Die Erfahrung von Gottes Schutz nimmt mir die Angst davor, etwas Neues zu probieren. Und diese Angstfreiheit verbindet mich auch mit meinem Vater. Er war ein mutiger Mann. Er ist ja ohne Geld aus dem Ruhrgebiet ins katholische Bayern gezogen und hat da aus nichts ein Geschäft aufgebaut.

So sagen mir beide Namen etwas. Und ich spüre in mir selbst keinen Zwiespalt. Beide Namen sagen für mich etwas Wesentliches über meine Identität aus. Der neue Namen hat sicher etwas in mir in Bewegung gebracht. Aber er hat mich nicht von meinem ursprünglichen Namen entfremdet.

Du sprichst von der Verbindung zu Deinem Vater durch Euren gemeinsamen Vornamen – aber auch durch die Ähnlichkeit in Eurem Wesen. Leider ist er gestorben, bevor ich geboren wurde. Ich weiß, dass er auch mit dem Gedanken gespielt hatte, selbst ins Kloster zu gehen, dann jedoch siebenfacher Familienvater geworden ist. Sicherlich kam im Alltag mit den vielen Kindern seine geistige und spirituelle Seite nicht so zum Zuge, wie er es sich vielleicht gewünscht hätte. Carl Gustav Jung sagte einmal: „Nichts hat einen stärkeren Einfluss auf das Leben der Kinder als das ungelebte Leben der Eltern.“ Es ist ja häufig so, dass wir unbewusst Sehnsüchte unserer Eltern aufnehmen und dann selbst ausleben. Daran finde ich generell auch nichts Schlechtes, denn oft sind wir uns ja auch im Wesen ähnlich – und unseren Eltern war es vielleicht einfach nicht möglich, diesen Träumen nachzugehen.

Siehst Du Dich jetzt, im Rückblick auf deine eigene Entscheidung, schon als junger Mann Mönch zu werden, als eine Art „Traum-Träger“ für Deinen Vater?

In der Spiritualität war ich sicher meinem Vater ähnlich. Ich konnte mich genauso wie er begeistern für die Schönheit der Natur und für die Schönheit der Liturgie und für das Geheimnis Gottes. Dass ich das ungelebte Leben meines Vaters im Kloster lebe, daran habe ich noch nie gedacht. Aber als ich den Satz, den Du von C. G. Jung zitierst, daraufhin nochmals meditiert habe, bin ich doch nachdenklich geworden. Es kann durchaus sein, dass ich mit meinem Wunsch, ins Kloster zu gehen, etwas von seinen ungelebten Träumen ausgelebt habe. Mein Vater war ja Kaufmann. Seine drei Geschwister waren alle Benediktiner: der Bruder war P. Sturmius, Mönch in Münsterschwarzach, seine älteste Schwester war Benediktinerin in Herstelle: Sr. Synkletika, und seine jüngste Schwester Sr. Giselinde war Missionsbenediktinerin in Tutzing und von dort aus kam sie nach Manila. Mein Vater erzählte mir, dass er als Junggeselle mal nach St. Ottilien kam und dort um Aufnahme ins Kloster bat. Er wurde dem Novizenmeister vorgestellt. Das war P. Erhard Drinkwelder. Der fragte ihn nur kurz: Was sind Sie von Beruf? Als er antwortete, er sei Kaufmann, meinte P. Erhard, Kaufleute könnten sie im Kloster nicht gebrauchen. Daraufhin hat sich mein Vater dann anders orientiert und nach einer Frau Ausschau gehalten. Und ich denke, er hat mit seiner Familie dann doch großen Segen gestiftet.

Ich fühle mich auf jeden Fall in meinem Mönchsein nicht fremdbestimmt. Auch wenn ich vielleicht eine Art „Traum-Träger“ für meinen Vater bin, habe ich das Gefühl, dass dieses Leben für mich stimmt. Mein Vater war natürlich stolz, dass ich Benediktiner geworden bin. Aber leider ist er kurz vor meiner Priesterweihe gestorben. Er hatte schon die Rede schriftlich vorbereitet, die er an meiner Primiz halten wollte. Da ist sicher sein eigener Traum in Erfüllung gegangen. Ich empfinde es heute so, dass ich von meinem Vater die spirituelle Sehnsucht mitbekommen habe. Aber es ist heute meine persönliche Sehnsucht, die ich als Mönch zu leben suche.

Ähnlich empfinde ich meinen Weg auch: Meine Mutter hatte mich vor längerer Zeit einmal gefragt, ob ich denn das Gefühl hätte, unbewusst ihre Liebe für das Ausland und die Neugier auf andere Kulturen auszuleben, weil sie als junge Frau nicht die Freiheit hatte, einfach zu gehen. Ich war damals ganz überrascht, denn ich meinte bis dahin, stolz meinen ganz eigenen, anderen Weg gegangen zu sein. Und doch sehe ich unsere Gemeinsamkeiten, dass wir zumindest in Bezug auf unsere Lebensneugier einfach aus demselben Garn gestrickt sind, so wie Du es auch mit Blick auf die Spiritualität Deines Vater erlebt hast. Als Mutter erlebe ich jetzt selbst, dass man unbewusst sicherlich auch Sehnsüchte und nicht nur ähnliche Fähigkeiten weitergibt.

Natürlich gehen wir unsere Wege zu allererst einmal für uns selbst, weil sie uns innerlich ansprechen, irgendwas in uns berühren. Ich wollte mit meiner Auswanderung etwas ganz Neues erleben, andere Menschen und ihre Kultur von Grund auf verstehen lernen, mich herausfordern und mich noch einmal neu erfahren – oder vielleicht sogar neu erfinden.

Aber vielleicht gehen wir unsere Wege auch, um Menschen mit denselben Sehnsüchten in ihrem Wesen besser zu verstehen. Vielleicht empfinden wir es unbewusst so, als ob wir ihnen dadurch besonders nahe sein könnten.

Ja, ob Du willst oder nicht, Du vermittelst Deinen Kindern nicht nur das, was Du gerne möchtest, sondern auch das, was in Dir lebt, und das, was Du manchmal nicht so leben kannst, wie Du es vielleicht gerne möchtest. Ich finde das ganz normal. Unsere Aufgabe ist nur, dass wir uns dessen bewusst werden. Keiner von uns beginnt am Nullpunkt. Wir haben immer etwas mitbekommen von unseren Eltern. Irgendwann müssen wir uns dann entscheiden, ob wir das, was wir von den Eltern unbewusst angenommen haben, bewusst so weiterleben möchten oder ob wir uns in Freiheit für unseren persönlichen Weg entscheiden, der gar nicht so viel anders sein muss als der Weg der Eltern. Aber es ist dann unser eigener Weg.

Du sprichst von der geistigen Verbundenheit zu Deinem Vater. Welche Ähnlichkeiten siehst Du aber zwischen Dir und Deiner Mutter, meiner Oma, die mit ihrer praktischen, kommunikativen Art sicherlich in vieler Hinsicht im starken Kontrast zu Deinem Vater stand?

Ich habe sicher viel von meinem Vater übernommen. Aber auch meiner Mutter verdanke ich einiges. Da ist einmal ihre praktische und optimistische Art, einfach zuzupacken, wenn es nötig war. Es war ihre Leichtigkeit und ihr Humor, mit dem sie schwierige Situationen gemeistert hat. Und es war ihre Kunst, mit ihrem Älterwerden und mit ihren Krankheiten so umzugehen, dass sie immer fröhlich blieb. Von meiner Mutter habe ich sicher auch das Interesse am Menschen geerbt. Als Jugendliche lästerten wir öfter über die Neugier der Mutter, weil sie alles von den Leuten wissen wollte. Aber es war nicht bloß Neugier. Es war ehrliches Interesse am Menschen und an seiner einmaligen Geschichte. Von der Mutter habe ich den Sinn für das Praktische mitbekommen. Aber auch den einfachen Glauben, dass wir in Gottes Hand sind, dass Gott für uns sorgt.

Schon als Zehnjähriger hast Du Dich für ein Klosterinternat entschieden – in einem Alter, in dem meine Kinder mich noch regelmäßig bitten, ob ich mich abends zum Kuscheln zu ihnen ans Bett setzen will. Wie kam es zu dieser Entscheidung, die ja einen Abschied aus Deiner großen Familie mit sechs Geschwistern bedeutete? Hattest Du schon in so jungen Jahren die Erkenntnis, dass Mönchtum Deine Berufung sei? Was hat Dich an dem Gedanken, ins Internat zu den Mönchen zu gehen, besonders angesprochen?

Mit zehn Jahren konnte ich noch keine Lebensentscheidung treffen. Trotzdem war ich von dem Numinosen, das vom Priesteramt ausgeht, fasziniert. Mein Vater hat mir dann Broschüren über St. Ludwig – wo das Internat der Abtei Münsterschwarzach war – und die Abtei Münsterschwarzach besorgt. Ich habe darin gelesen und war davon berührt. Ich konnte mich damals schnell begeistern. Und so bin ich in dieser Begeisterung mit zehn Jahren ins Internat gegangen. Am Anfang hatte ich schon ziemlich großes Heimweh, denn die Welt im Internat war wesentlich rauer als in unserer Familie. Und manche Essgewohnheiten machten mir zu schaffen. Aber es hielt mich immer der Gedanke, dass ich später einmal Mönch und Missionar werde. Was damit alles verbunden ist, war mir natürlich damals nicht so recht klar. Aber es war in mir der Drang, die Welt zu verändern, zu verbessern, die christliche Botschaft überallhin zu tragen. Es waren da sicher auch viele kindliche Wünsche nach Bedeutsamkeit mit im Spiel. Und ich hatte großen Ehrgeiz, in dieser Welt etwas Besonderes zu sein und etwas Besonderes zu leisten. Aber offensichtlich braucht man am Anfang diese Begeisterung, um sich auf den Weg zu machen. Auf dem Weg kommen dann schon genügend Ernüchterungen. Und dann ist die Frage: Was will ich wirklich? Diese Frage habe ich mir natürlich gerade in der Pubertät immer wieder gestellt. Aber bei allen Zweifeln, die mir kamen, hat mich immer der Gedanke getragen, als Mönch und Missionar diese Welt zu verändern und zu verbessern.

ERFAHRUNGEN AUS DEM ALLTAG

Heutzutage wird jungen Menschen häufig nahegelegt, langfristige oder sogar für das ganze Leben bedeutsame Entscheidungen nicht zu früh zu treffen. Es wird – zu Recht – befürchtet, dass wir uns und unsere Umwelt in jungen Jahren noch nicht gut genug kennen und deshalb die Konsequenzen solcher wichtigen Entscheidungen noch nicht realistisch einschätzen können. Besonders in meiner Generation haben Flexibilität, Wahlmöglichkeiten und Ausprobieren verschiedenster Lebens- und Berufsformen für viele Menschen höchste Priorität. Diejenigen, die sich frühzeitig an eine Lebensform binden, bereuen es oft später. Paare, die schon in jungen Jahren geheiratet haben, haben beispielsweise ein eindeutig höheres Scheidungsrisiko als solche, die sich erst später trauen lassen. Ob dies nun tatsächlich auf ihrer „schlechten“, vielleicht verfrühten Entscheidung beruht oder sich durch die permanenten Verlockungen anderer Möglichkeiten ereignet, sei hier dahingestellt.

Als Du Dich als junger Erwachsener für das Mönchtum entschieden hast, warst Du gerade einmal in einem Alter, in dem andere nicht einmal die lebenslange Bindung an eine Frau wagen würden – aus Angst, auf die Versuchung anderer Frauen verzichten zu müssen. Wie kamst Du zu der Überzeugung, dass dieser Weg für Dich der richtige ist, trotz der Einschränkungen, die diese Lebensform mit sich bringt? In einem Interview, das ich vor längerer Zeit gelesen habe, sagtest Du, dass Du damals Angst hattest, „zu verbürgerlichen“, wenn Du nicht ins Kloster gehen, sondern einen normalen Familienalltag leben würdest. Was genau wolltest Du damit ausdrücken? Was hättest Du in einem bürgerlichen Leben nicht finden können, was wäre zu kurz gekommen? Und umgekehrt: Was hätte Dir ein solches Leben vielleicht auch ermöglicht, auf was hast Du verzichtet?

Als ich mich mit 19 Jahren für das Mönchtum entschied, habe ich natürlich nicht alle Konsequenzen bedacht. Natürlich hatte ich mit 19 Jahren auch manchmal die Sehnsucht, mit einer Frau zusammen zu sein. Aber die Faszination der Berufung, Missionar zu sein, war größer. Ich war damals mehr vom Willen geprägt. Später im Kloster kam ich dann erstmals mit meinen tiefsten Gefühlen in Berührung. Und da war es nochmals neu eine Frage für mich, ob es nicht besser wäre, zu heiraten. Denn ich habe erst im Kloster wirklich gespürt, worauf ich verzichtet habe. Aber wenn ich mir dann vorgestellt habe, dass ich heirate, wenn ich es mir in allen Einzelheiten ausgemalt habe, dann kam tief in mir das Gefühl hoch: Nein, dieser Weg im Kloster stimmt für mich. Und es kam auch wieder die Befürchtung in mir hoch: Wenn ich heirate, „verbürgerliche“ ich. Es war damals, 1968, die Zeit der Studentenrevolution. Damals verband man mit dem Wort „Verbürgerlichen“ eher etwas Negatives. Für mich bedeutete es, dass ich in den Alltagssorgen aufgehe und zu wenig Raum habe, über die wesentlichen Fragen des Menschseins nachzudenken.

Natürlich weiß ich, dass man in der Ehe genauso gut über das nachdenken kann, was uns eigentlich bewegt. Aber ich hatte das Gefühl, dass mich der Weg des Mönches innerlich lebendig hält.

Ich kannte also durchaus Zweifel. Aber ich habe diese Gedanken immer zu Ende gedacht. Ich habe es mir erlaubt, mir die Alternative zum Mönchsein in allen Einzelheiten auszumalen. Und dann kam mir immer wieder neu die Erkenntnis: Ich setze auf diese Karte. Ja, das stimmt für mich.

Sicherlich gehen wir Eltern in den täglichen Alltagssorgen auf: Miete und Essen müssen bezahlt werden, kranke Kinder aufgepäppelt und traurige getröstet werden, und die Partnerbeziehung soll bei all dem Trubel auch nicht untergehen. Idealerweise wünschen wir uns auch in unserer Partnerschaft immer wieder ein Feuerwerk der Begeisterung. Ja, Elternschaft heutzutage ist nur etwas für „Multi-Tasker“, da bleibt wirklich nicht viel Zeit, über die wesentlichen Fragen des Menschseins nachzudenken.

Trotzdem bietet das „bürgerliche“ Leben meiner Meinung nach eine ideale Plattform, um die wesentlichen Fragen des Lebens in der Praxis auszutesten. Ich behaupte sogar, dass ich die christlichen Werte noch nie so intensiv gelebt habe wie momentan in meiner Rolle als Mutter und Ehefrau: Ich versuche meine Kinder durch das Leben zu führen, ich sehe in ihnen allen einen Teil von mir, meine Stärken und meine Schwächen. Ich versuche Authentizität und Integrität, Verlässlichkeit und Vertrauen vorzuleben und weiterzugeben. Ich versuche Liebe zu schenken, obwohl ich manchmal ziemlich müde bin. Ich muss jeden Tag aufs Neue vergeben und verzeihen lernen – den Kindern und auch mir selbst. In der Partnerschaft muss ich immer wieder erkennen, dass mein Mann und ich mehr sind als nur ein Paar – dass wir ein Zuhause für unsere Kinder schaffen und dass deshalb unsere persönlichen Wünsche nicht immer im Vordergrund stehen können. In meiner Beziehung muss ich Toleranz gegenüber der Andersartigkeit meines Mannes lernen und er mir gegenüber, wenn wir dauerhaft unter einem Dach zusammen leben wollen.

Meine eigenen Schwächen wurden mir in meiner Partnerschaft erst richtig bewusst – mein Mann hat sich über die Jahre als wirksamer Spiegel für mich entpuppt. Ich musste außerdem lernen, eine gesunde Balance zwischen Selbstlosigkeit und Wertschätzung der eigenen Bedürfnisse zu entwickeln. Wir wünschen uns, mit unseren Schwächen vom Partner geliebt und angenommen zu werden, so wie wir es uns eigentlich auch von Gott wünschen.

Deshalb geht es meines Erachtens gar nicht so sehr darum, welcher Lebensstil sich besser eignet, um über die wesentlichen Fragen des Lebens nachzudenken. Vielleicht handelt es sich schlichtweg um eine Lebensstil-Präferenz, ob ich nun als Mönch oder als Familienmensch die Grundzüge des Lebens begreifen muss.

Vielleicht merken wir erst im Laufe des Lebens, dass wir ohne Gehirngymnastik keine dauerhafte Einsicht, und ohne dauerhafte Einsicht keine Zufriedenheit erlangen.

Ich kann mir allerdings vorstellen, dass man auch als Mönch nicht ausschließlich über die wesentlichen Lebensfragen theoretisieren kann. Es braucht die Erfahrung.

Welche Erlebnisse im Mönchs-Alltag haben Dich herausgefordert, die christlichen Werte wie Liebe, Vergebung, Selbstlosigkeit, oder Toleranz (um nur ein paar wenige zu nennen) auch in die Praxis umzusetzen?

Du hast recht: Man kann die christlichen Werte in der Familie, in der Partnerschaft und im Beruf genauso leben wie im Kloster. Die eine Lebensweise ist nicht besser als die andere. Sie ist nur anders. Alle Lebensweisen bergen Gefahren in sich. Die klösterliche Lebensweise kann dazu führen, dass man es sich bequem macht, dass man nur um sich selbst kreist, das alles allerdings unter einem spirituellen Deckmantel. Und die weltliche Lebensweise kann zur Verbürgerlichung führen. Aber beide Lebensweisen gelingen nur dort, wo wir uns der eigenen Wahrheit stellen, wenn wir uns für andere einsetzen und hingeben und wenn wir die Werte wie Liebe, Vergebung, Selbstlosigkeit und Toleranz leben. Im Kloster hat mich vor allem die Gemeinschaft immer wieder herausgefordert. Ich lebe ja mit 90 Männern zusammen unter einem Dach. Und da gibt es natürlich auch verschiedenste Charaktere. Sie sind für mich ein Spiegel, um meine eigene Wahrheit zu erkennen. Gerade als Cellerar werde ich mit den Bedürfnissen und Ansprüchen der einzelnen Mitbrüder konfrontiert. Da braucht es immer wieder Weite und Toleranz. Und in meiner Arbeit in der Verwaltung übe ich Selbstlosigkeit und Liebe ein. Beim Zusammenleben geht es nicht ohne Vergebung, denn es gibt immer wieder Verletzungen und Enttäuschungen. Wenn ich nicht vergeben würde, würde ich mit der Zeit bitter werden. So ist für mich gerade die Führungsaufgabe als Cellerar eine ständige spirituelle Herausforderung. Bevor ich in die Verwaltung gehe, versuche ich in der Meditation meine Emotionen zu reinigen, damit von mir Frieden und Zuversicht ausgeht und nicht Bitterkeit oder Unzufriedenheit oder Härte.

Da wir schon beim Thema Lebenspraxis sind: Ich hatte als Jugendliche und junge Frau total überhöhte Vorstellungen davon, wie gesund sich später meine Kinder ernähren müssten, wie entspannt und liebevoll ich als Mutter sein würde, und dass sich meine Kinder natürlich niemals schlecht benehmen würden – sie hätten ja bei einer zukünftigen Super-Mutter auch gar keinen Grund dazu! Ich dachte damals, die Ehe wäre ein Kinderspiel, und meine Aufgaben zu Hause sowieso. Aber rückblickend muss ich Goethe zustimmen, der bereits vor über 250 Jahren klug erkannte: „Erfahrung ist fast immer eine Parodie auf unsere Idee“.

Aber ich habe dazugelernt: Ich bin davon überzeugt, dass ich heute mehr weiß als gestern und morgen mehr wissen werde als heute. Es fällt mir deshalb schwer, anderen Menschen Ratschläge in Lebensfragen zu geben, wenn ich solche Situationen selbst noch nicht erlebt habe. Mittlerweile bin ich der Meinung, dass nur die Erfahrung uns wirklich zeigt, was wir lernen müssen, dass jeder Mensch seine Realität anders interpretiert und schlichtweg anders ist. Was für uns selbst richtig ist, muss nicht für andere richtig sein.

Ein Psychologe sagte mir einmal, dass seelische Abstürze manchmal auch eine Art Fortschritt sein können – denn damit kommen wir unserem absolut tiefsten Punkt im Leben näher. Einem Moment, in dem wir endlich dazu bewegt werden, aufzustehen. Die Realität ist also reine Interpretationssache.

Natürlich bedeutet dies nicht, dass wir generell keine Ratschläge annehmen können und jede Erfahrung selbst durchlebt werden muss, um daraus eine Erkenntnis zu ziehen. Aber die Lehren, die uns Menschen mit ähnlichem Erfahrungsschatz erteilen, sind meistens am hilfreichsten.

Gott sei Dank können wir ja nachfragen, und genau das machst Du als geistlicher Begleiter in vielen persönlichen Gesprächen, die Du regelmäßig führst. Von daher hast Du sicherlich einen Vorteil, wenn es darum geht, als Mönch „Normalbürgern“ Ratschläge zu geben, selbst wenn Du deren Erfahrungen selbst nicht unbedingt teilst. Dass Du so viele Leser mit deinen Worten berührst, ist ja Beweis genug, dass Du ihre innersten Sehnsüchte ansprichst.

Trotzdem bin ich immer wieder verwundert, wenn ich von Geistlichen Ratschläge zu Themenbereichen höre, die sie selbst nicht hautnah erfahren haben. Zum Beispiel zu Fragen der Partnerschaft, der Sexualität, zu Erfolgsdruck, Frauen- und Familienangelegenheiten. Denn dies alles sind doch Themenbereiche, denen sich Mönche und katholische Priester mit ihrer Lebensweise bewusst entziehen. Gibt es deiner Meinung nach Themen-Grenzen, die Geistliche aus Respekt vor der Authentizität der Erfahrung des Ratsuchenden nicht überschreiten sollten? Oder kann man jedes Problem sozusagen auf einen urmenschlichen Nenner bringen, sodass wir anderen mit ganz anderen Erlebnissen doch Hilfe bieten können?

Du sprichst ein wichtiges Thema an. Ich kann dem andern keine Ratschläge von außen geben. Und die Realität ist immer anders als unsere Ideale. Wer nur von Idealen her denkt, der wird schnell enttäuscht, oder aber er lebt auf zwei Ebenen. Im Kopf hat er seine Ideale, aber die Wirklichkeit ist ganz anders. Er möchte sie aber nicht wahrhaben.

Ich verstehe mich als Mönch absolut nicht als Ratgeber. Deshalb mag ich auch die vielen Ratgeberbücher nicht. Ich versuche in Gesprächen auf das zu hören, was die Menschen mir erzählen. Ich versuche, mich in sie hineinzudenken. Ich frage nach, was ihnen helfen könnte. Ich versuche, den Gesprächspartner mit der Weisheit seiner eigenen Seele in Berührung zu bringen. Ich maße mir nicht an, dem andern Vorschriften zu machen oder Ratschläge zu erteilen. Ich kann ihm nur spiegeln, was das Erzählte bei mir auslöst. Und manchmal sage ich dann auch, wie ich selbst damit umgehen würde.

Früher haben die Priester sicher viel zu viel in die Ehen hineingeredet. Katholische Priester haben sich zu sehr darum gekümmert, wie Eheleute mit ihrer Sexualität umgehen sollen. Da bin ich vorsichtig. Ich sage sowieso nur zu dem etwas, was andere mir erzählen und wonach sie mich fragen. Von mir aus frage ich andere nie nach ihrem Umgang mit der Sexualität. Oft erzählen mir die Eheleute trotzdem, wie es ihnen damit geht und welche Probleme sie haben. Aber auch dann rate ich ihnen nichts. Ich frage sie vielmehr, wie sie selbst damit umgehen möchten, was für sie hilfreich wäre.

Ich maße mir auch nicht an, Eltern Ratschläge zu geben, wie sie ihre Kinder erziehen sollen. Aber die Eltern erzählen mir, wie es ihnen mit den Kindern geht. Dann höre ich zu, versuche mich hineinzufühlen. Ich gebe keine Ratschläge. Aber ich sage dann, was mir in ihrer Situation vielleicht helfen würde. Das bezieht sich zunächst immer auf den richtigen Umgang mit mir selbst. So rate ich oft, dass sie versuchen sollen, sich selbst zu spüren und in ihrer Mitte zu sein. Denn dann lässt man sich nicht so leicht durch das Verhalten der Kinder zum Zornausbruch hinreißen. Und ich frage die Eltern: Was regt Sie an dem Kind so auf? Woran erinnert Sie das? Inwieweit ist das Kind vielleicht ein Spiegel für Sie selbst? Und ich frage nach: In welchen Situationen reagieren Sie gereizt?

Ich kann als Begleiter anderen immer nur einen Spiegel hinhalten, dazu anregen, bewusster die Situationen wahrzunehmen und mehr bei sich selbst zu sein. Und natürlich geht es sowohl in der Kindererziehung als auch zum Beispiel bei Führungsaufgaben in der Firma immer darum, an den guten Kern im Menschen – im Kind und im Mitarbeiter – zu glauben und darauf zu hoffen, dass sich das Gute im andern mehr entfaltet als die Schwächen, die jeder auch hat.

Ich gehe nie in ein Gespräch mit der Haltung: Ich weiß, wie es geht. Ich weiß gar nichts. Ich kann nur hinhören, nachfühlen, es mit meiner eigenen Erfahrung vergleichen. Im Gespräch mit dem andern kann ich versuchen, auf das zu hören, was dem andern oder was mir an Inspiration einfällt. Ein Gespräch gelingt nur, wenn beide miteinander sprechen, und nicht, wenn einer als der Wissende auftritt.

Ich verspüre oft eine große Dankbarkeit, dass mir Menschen so viel von sich erzählen, dass sie ein so großes Vertrauen haben, mir auch Dinge zu erzählen, die für sie selbst peinlich sind. Für mich ist es wichtig, dass ich nie bewerte, was der andere erzählt, sondern einfach wahrnehme, was ist, und mit ihm gemeinsam nach Wegen suche, mit den Problemen umzugehen. Und ich bin dankbar, wenn der andere anschließend aufrechter von mir weggeht, wenn er das Gefühl hat: Jetzt fühle ich mich gestärkt. Jetzt weiß ich, was ich tun muss.