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Beschreibung

Robert, der Teufel und Blaubart, Hexen und Zwerge, der Satan höchstpersönlich und Geister der verschiedensten Art und Herkunft geben sich ein Stelldichein in diesem Band farbenprächtiger Sagen aus dem französischen Mittelalter bis zur Neuzeit. Es gibt märchenhafte, schwankhafte und legendenhafte Sagen, vor allem dämonologische Sagen, auch Ursprungs- und Ortssagen. Könige und Ritter, Bauern und Handwerker, Draufgänger und Waisenkinder und vor allem die zahllosen Gestalten aus einer anderen Welt, die hier wie selbstverständlich ihr Unwesen treiben, bevölkern diese Geschichten, die, neben aller Unterhaltung, bei genauerer Betrachtung viel über ihre Ursprünge aussagen, über die Menschen ihrer Zeit. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 177

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Sagen aus Frankreich

Herausgegeben von Berndt Schulz

FISCHER Digital

Inhalt

VorwortDas Gespenstermahl (Thiévres/Somme)Der Arzt von Fougeray (Haute-Bretagne)Der Geistertanz (Bosquel/Somme)Iwonek (Bretagne)Guingamor (Bretagne)Tydorel (Nantes)Die Rosen von Pougues (Nebers)Louise aus Bieure (Bourbonnais)Die Nachtwäscherinnen (Bretagne)Der Hexentanz (Morimont)Das schwarze Tier (Oberelsaß)Die verbannte Frau (Belfort)Der weiße See (Elsaß)Auf dem Speicher (Barr)Der feurige Mann (Elsaß)Die verlorenen Kinder (Unterelsaß)Fahrt durch die Zeiten (Mulhouse)Gerichtsnacht auf Girbaden (Lothringen)Robert der Teufel (Normandie)Die Kutsche (Vogesen)Das geheime Gewölbe (Straßburg)Die Kleinen in der Wolfshöhle (Oberelsaß)Das Gold von Toulouse (Toulouse)Der BlaubartDas Tier (Tours)Die Hand aus dem Grab (Macon)Alice (Baud)Lanval (Normandie)Die beiden Liebenden (Normandie)PantagruelDer Esel von Montastruc (Montastruc)Der Wilddieb (Picardie)Werwolf (Normandie)QuellenSekundärliteraturNachbemerkungen zu den einzelnen Sagen

Vorwort

Jede Kultur erinnert sich gern ihrer Jugend, die wie ein verlorenes Paradies an Frische des Geistes, Naivität der Analyse und Erklärbarkeit der Welt erscheint.

Der französischen Literatur gilt das ausgehende 12. Jahrhundert als ein solches Paradies. Einfach und schön schien diese Zeit: mit ein paar geschickten Schwertschlägen wurden Probleme zu Ende gebracht, deren Lösungen sich heute im mannigfaltigen Interessenwirrwar verlieren. Das Heldenlied vom strahlenden Kampf und ruhmreichen Tod, von Werbung und erfüllter Liebe, singt im Zentrum eines von abgeklärtem Tatendrang erleuchteten Lebens. Die Ferne lockt, wo die Barbaren gesetzlos leben, unvorstellbare Schätze warten auf den Tüchtigen.

In meiner Auswahl stehen aus dieser Zeit literarische Sagen wie »Iwonek«, »Guingamor«, »Tydorel«, »Lanval«, »Werwolf« und »Die beiden Liebenden«. Mit Ausnahme von »Tydorel« stammen diese Sagen von Marie de France, der Lais-Dichterin des 12. Jahrhunderts. Lais, deren ursprüngliche Wortbedeutung wohl »Vogelgesang« war, wurden als Lieder gedichtet, die dann Spielleute zur Harfe sangen. Die Bedeutung der Lais von Marie de France besteht darin, daß sie im von Stoffen griechischer und römischer Antike, keltischer Geister- und Elfenwelt und Heldensagen fränkischer Eroberer geprägten literarischen Mittelalter Frankreichs die ersten französischen Novellen darstellen, obwohl sie noch in den keltischen Rahmen der bretonischen Sage um König Artus gehören.

In der ursprünglichen Reimform wird hier nur die Sage »Die jungen Liebenden« wiedergegeben, für die anderen entschloß ich mich zu einer Nacherzählung in Prosa, weil mich nicht die fachspezifischen Fragen nach Originalität und Entwicklung von Strophe, Assonanz- und Reimlaisse interessierten, sondern ein Einblick in Motive, Fabeln und Themen des französischen Mittelalters.

Erste Liebe, seelisches und leibliches Glück, die Feier sowohl himmlischer als auch weltlicher Minne in einem: das war die Zeit edler, stolzer Frauen, die am Hof durchaus den Ton angaben, und ritterlicher Männer. Liebe wird bei Marie de France zum Glückserlebnis, jenseits der höfischen Dogmen von Tugend und Vernunft (»Lanval«, »Guingamor«), oder sie gerät in einen Strudel schicksalhafter Leidenschaft, die tragisch erfahren wird. In jedem Fall schlägt die Erzählerin Töne an, die in ihrer sinnlich-materialistischen Färbung in der deutschen Volksüberlieferung ohne einen Beigeschmack von Sündhaftigkeit kaum auskämen.

Die Identität der Marie de France ist bis heute umstritten. Möglicherweise war sie eine Halbschwester Heinrich II. von England, dessen Gelehrtheit und Weisheit in Fragen der Rechtsprechung vielleicht der breit ausgemalten Gerichtsszene in »Lanval« den Anlaß gab. Ihr Ruhm ist dagegen unbestreitbar. Seit der ersten Ausgabe ihrer Werke (1820 in Paris durch J.B.-B. de Roquefort), ist ihr Name bei Forschung und Leserschaft gleichermaßen zum Begriff geworden. 1974 kam sie mit einer ihrer Erzählungen in John Fowles »The Ebony Tower« (deutsch: »Der Ebenholz-Turm«, Frankfurt/Berlin/Wien, 1974) sogar auf die Bestenliste der »New York Times«.

Den Gegensatz zur episch ausgeformten Sage bilden die mündlichen Erlebnisberichte (Memorate, Fabulate), für die als Beispiel in diesem Band »Der Arzt von Fougeray«, noch reiner jedoch die elsässischen Sagen stehen. Vor allem die von den Brüdern Stöber, Freunde und Zeitgenossen Georg Büchners, die in spätromantischer Sammlerleidenschaft erst aus poetischem, später aus wissenschaftlichem Interesse aufgeschriebenen Volksüberlieferungen folgen, in der Tradition der deutschen Grimms, deren Forderung, dem »natürlichen Schmuck« der sagenhaften Überlieferung nicht durch noch so geringfügige Bearbeitung den Glanz zu nehmen. Als Zeugnisse geistiger Entwicklungsgeschichte haben diese mündlichen Erzählungen mindestens soviel Wert, wie die Denkmäler aus Bronze und Beton.

Die Inhalte wandeln sich nur langsam. Heute, im Zeitalter der UFO’s – sind sie vielleicht nichtidentifizierte fliegende Seelen aus früheren Sagenschichten? – haben zwar traditionelle Sagensubjekte ihre Überzeugungskraft eingebüßt. Riesen und Zwerge z.B. gelten dem Volksglauben nur noch wenig. Hexen und Teufel dagegen, zurückkehrende Tote und Unterirdische sind nach wie vor plausible Nachbarn. Gleichwie: das Einbrechen subnatürlicher Strömungen in das Normale (und dies ist, parallel zur »wahrheitsgemäßen« Überlieferung wirklicher, mythisch interpretierter Geschehnisse, stets Thema von Sagen) fordert heute nicht weniger zur Stellungnahme heraus als in Jahrhunderten, die anscheinend schneller zu nicht rationalen Erklärungen griffen.

Auch im Zeitalter wissenschaftlicher Erfassung von psychischen Projektionen kann das Zusammentreffen z.B. von natürlichen Nebelbildungen mit unsichtbaren nächtlichen Geräuschen und Angstbereitschaft, als Resultat undurchschauter Realität, das Unergründlich-Magische hervorlocken, die Bedrohung durch die Zwischenwelten. Angst verkörpert sich zum Dämon, der am Kreuzweg lauert; das übrige bringen die Träume und Sehnsüchte hervor, endlos unbefriedigte Utopien; sie projizieren den »noch immer ungehobenen Schatz« (Lutz Röhrich) und die erfüllte Liebe mit der Frau aus der versunkenen Stadt auf dem Meeresgrund. Die Form wird von der Tradition geliefert, und schon entsteht ein Gebilde, das als sagenhafte Literatur seinen Platz so selbstverständlich beansprucht wie zu früheren Zeiten. Dafür hier als Beispiele: »Das Tier« und »Die Hand aus dem Grab«.

Sagen vermögen es, die Merkmale und Eigenarten eines Volkes, einer Gruppe, eines ethnischen Stammes usw. deutlich zu machen. Jede Sage ist ein singuläres Produkt, mit einem lokalisierbaren Entstehungsort und einer nicht zufälligen Entstehungszeit. Dennoch treten Sagen, zumindest in Grundmotiven, Wanderungen an und kommen an ganz anderen Orten, durch viele Eigenarten verändert, wieder ans Tageslicht. Für dieses Phänomen kann die Forschung Häufigkeitskoordinaten bestimmen, absolute Erklärungen findet sie jedoch nicht dafür.

Nimmt man die Nord-Süd-Trennung Frankreichs etwa an der Loire vor – andere verwenden dafür die Grenze der Olivenkultur, oder Dialekträume –, so überwiegen in unserer Auswahl jene Nord- und Mittelprovinzen, deren kulturelle Vergangenheit stark von keltischen und fränkischen Einflüssen geprägt ist. Besonders die fränkisch-französischen Gemeinsamkeiten sollten damit, im Sinne gegenseitiger Beeinflussung, betont werden. Die jeweilige Priorität und Dominanz der Sagenstoffe blieb dabei von zweitrangigem Interesse. Die von der südfranzösischen Sprache, der »Langue occitane«, und damit vom Italienischen, Spanischen, Baskischen usw., geprägten Sagen fanden dagegen nur dann Aufnahme, wenn sie in Motiv und Erzählweise keinen Bruch zum einmal gefundenen Auswahlmodus darstellten (»Louise aus Bieure«, »Das Gold von Toulouse«, »Rosen von Pougues« usw.).

Der Wahrheitsanspruch und die zeitlich/örtliche Gebundenheit als Hauptmerkmale der Sage finden sich in der französischen Überlieferung, im Gegensatz zu deutschen Stoffen, oft auch in Märchen oder Schwänken. Darin teilt sich eine Erzählerphantasie mit, die ihre Impulse nicht mit der Fluchttendenz reiner Einbildung, sondern aus dem wirklichen Leben mit seinen für die französische Nation typischen geographischen, kulturellen und traditionsgebundenen Eigenschaften entwickelt.

In diesem Umstand liegt die Erklärung dafür, daß sich in der französischen Sage Grauzonen zum Märchen hin ausmachen lassen (»Blaubart«), die dann besonders in der mündlichepischen Erzählung auffallen. Ebenso sind die Grenzen zum Schwank (»Der Esel von Montastruc«, »Der Wilddieb«) oder zwischen den glaubensmäßig stark getönten Sagen (»Robert der Teufel«) und reinen Volkslegenden fließend. Solche »unreinen« Sagentypen, deren Zuordnung in der Forschung ungesichert ist, habe ich aufgenommen, wenn sie Motive erkennen lassen, die meine Auswahlkriterien reicher machen.

Schließlich überwiegen die dämonologischen Sagen, die es mit übernatürlichen Erscheinungen zu tun haben, vor den Ursprungs- und Ortssagen (»Das geheime Gewölbe«) oder Sagen mit geschichtlichem Hintergrund, an denen ohnehin nicht so sehr das historische Faktum, sondern die Auffassung von menschlichem Handeln überhaupt interessiert (»Gold von Toulouse«).

Wenn es dieser Auswahl gelingt, die ursprüngliche Absicht der Sage zu erfüllen, nämlich zu erklären und zu belehren, unterhaltsam zu sein und unmittelbares Wissen weiterzugeben, so hat sie ihren Zweck weit erfüllt. So vermessen, das Sagenschaffen der französischen Literatur, nach welchem Prinzip auch immer, in einem objektiven und vollständigen Querschnitt wiederzugeben, war ich nicht.

Berndt Schulz

Das Gespenstermahl

Es ist schon sehr, sehr lange her, als sich eines Tages etwa zwanzig alte Frauen eines Dorfes in der Picardie in einem Keller zum Spinnen trafen, um Öl und Holz zu sparen. Ein junger Mann kam auf die Idee, den Spinnerinnen einen Streich zu spielen, indem er ihnen einen argen Schrecken einjagte.

Er nahm also ein großes weißes Tuch und eine Kerze und ging auf den Kirchhof, um einen Totenkopf zu holen. Einige Tage vorher hatte man gerade eine große Menge Gebeine aufgehäuft, die später in einer gemeinsamen Stube bestattet werden sollten. Der Bauer brauchte also nur zu wählen. Er ergriff den ersten Totenkopf, den er fand, eilte damit zum Fluß, um ihn zu waschen und vom Ton, der ihn bedeckte, zu säubern.

Dann steckte er eine angezündete Kerze hinein und machte sich wieder auf den Weg ins Dorf. Dort angekommen, umhüllte er sich mit dem weißen Leinentuch und machte sich auf zu den Spinnerinnen.

Stellt euch den Schrecken der armen Frauen vor, als mitten unter ihnen dieses Gespenst erschien, das seinen Totenkopf schüttelte und mit dumpfer Stimme sprach: »Auf die Knie, auf die Knie! Betet für die Ruhe meiner Seele!«

Von Schrecken ergriffen, warfen sich die Spinnerinnen auf die Knie und machten große Kreuzzeichen, um die Erscheinung zu bannen.

»Geschwind, sagt fünf Vaterunser und fünf Ave für meine ewige Ruhe!« fuhr der Spuk fort und begann sogleich langsam vorzusprechen: »Pater noster, qui es in coelis …« Die Spinnerinnen sprachen die fünf geforderten Vaterunser und die fünf Ave, und der junge Mann verließ sie, merkwürdige Worte murmelnd, die weder die guten Frauen noch er selber verstanden, und das aus gutem Grund.

So war es Mitternacht geworden, und der Bauer kehrte ermüdet auf den Kirchhof zurück, um den Totenkopf zurückzustellen. Aber ehe der junge Mann ihn zu den übrigen Gebeinen legte, sagte er, ein wenig aufgekratzt von dem lustigen Abend, ihm ins Ohr: »Du hast mir heute abend viel Spaß gemacht; es ist recht und billig, daß ich mich dafür dankbar zeige. Du mußt dich sehr langweilen, wenn du immer hier unter all diesen törichten Toten steckst, komm also in fünfzehn Tagen um dieselbe Zeit zu mir zum Abendessen. Ich bin sehr neugierig darauf, mit einem Toten zu essen. Ich werde dich gegen neun Uhr abends erwarten; vergiß das nicht. Heute in fünfzehn Tagen also, einverstanden?«

»Ja«, erwiderte der Totenkopf.

Der junge Mann legte den Kopf wieder zwischen die Gebeine, blies die Kerze aus, faltete sein Tuch zusammen und kehrte heim.

Am Morgen und in den nächsten Tagen hatte er viel zu lachen, als er die Spinnerinnen von der schrecklichen Erscheinung des Spinnabends berichten hörte. Einige Tage verstrichen, und der Bauer dachte nicht mehr an den Totenkopf und an das Abendessen, zu dem er ihn eingeladen hatte.

Am Abend des fünfzehnten Tages zur festgesetzten Stunde setzte er sich gerade, ohne an den Toten zu denken, zum Abendessen an den Tisch, als er im Hof ein eigenartiges Rasseln vernahm.

»Es ist Hagel, der beim Niederfallen prasselt«, dachte der junge Mann. Mit zwei trockenen Schlägen wurde an die Tür geklopft. »Wer ist da?«

»Öffne, ich bin es.«

»Wer ich?«

»Ich!«

Der Bauer öffnete die Tür, und eine Spukgestalt, ein Skelett vielmehr, bekleidet mit einem langen schmutziggrauen und ganz zerfetzten Leichentuch, trat ins Haus. Der junge Mann erinnerte sich schlagartig der auf dem Kirchhof gegebenen Zusage und begriff, daß der Tote kam, um mit ihm zu Abend zu essen. Ohne daß er sein Erschrecken ganz verbergen konnte, bot er ihm einen Stuhl an, und das Gespenst nahm Platz, wobei es durch das Aneinanderschlagen der Knochen den Lärm wie von prasselndem Hagel verursachte, den der Bauer einige Augenblicke zuvor gehört hatte.

Das Abendessen bestand aus einer ausgezeichneten Sauerampfersuppe, von der der Tote einen guten Teller aß, einem Hammelfrikassee, Salat und frischer Butter, was alles sehr dem Geschmack des eigenartigen Gastes zu entsprechen schien, der dem jungen Mann gegenübersaß. Sie tranken dazu einige Flaschen schäumenden Apfelwein, und der Kopf des jungen Mannes begann sich schon zu drehen. Er sang alle Lieder, die ihm einfielen, und von Zeit zu Zeit machte der Tote, der ebenso angeheitert schien wie der Sänger, den Chor.

»Wie wär’s, wenn wir tanzen?« fragte schließlich der junge Mann.

»Tanzen wir!«

Und der Tote begann, mit dem Bauern einen verrückten Tanz aufzuführen, während seine Knochen mit einem Höllenlärm zusammenschlugen.

Mitternacht kam, und der junge Mann war müde und hatte das Bedürfnis, sich zum Schlafen zu legen. Er sagte es dem Gespenst, das nun aufhörte, in der Stube herumzuspringen, und seinen Platz am Tisch wieder einnahm wie einer, der sich nicht zurückziehen will.

Vom Kirchturm schlug es eins, und der Bauer, der sich nicht mehr aufrechthalten konnte, ging schlafen und ließ seinen Gefährten auf dem Stuhl sitzen. Kaum hatte sich der junge Mann niedergelegt, als sich ein neues Knochengeklapper vernehmen ließ; das Skelett kam, um sich neben dem Lebendigen hinzulegen. Dieses Mal hatte er Angst; er zitterte an allen Gliedern: er hätte gern geschrien und um Hilfe gerufen, aber er konnte kein einziges Wort herausbringen. In seinem Schrecken mußte er sich darauf beschränken, sich in eine Ecke des Bettes zu drücken, um die eisige Berührung mit den Gebeinen des Toten zu vermeiden. Er konnte die ganze Nacht nicht schlafen.

Gegen vier oder fünf Uhr morgens begann der Hahn, sein fröhliches Kikeriki zu krähen, um die Nähe des Tages anzukündigen. Das Skelett erwachte, erhob sich mit einem Satz und verschwand mit diesen Worten: »Ich will nicht gegen dich im Rückstand bleiben. Du hast mich heute abend in deinem Haus sehr gut aufgenommen; in fünfzehn Tagen erwarte ich dich auf dem Kirchhof zum Abendessen. Ich rechne auf dich. Leb wohl!« Der Bauer nahm sich vor, der Einladung des Toten keine Folge zu leisten.

Fünfzehn Tage später kehrte der junge Mann aus der benachbarten Stadt zurück und ging, ohne weiter an die Einladung zu denken, am Kirchhof vorüber, als der Tote plötzlich vor ihm stand, ihn bei der Hand nahm und mit sich zerrte. Dabei sagte er: »Sehr gut, du bist ein Mann von Wort. Das Abendessen ist fertig, und ich erwartete dich schon. Um dich zu ehren, habe ich alle meine Freunde eingeladen. Sie erwarten uns an der Kirchhof stür.«

Halb tot vor Angst trat der junge Bauer in den Friedhof, wo er von den Freudenrufen der versammelten Gespenster empfangen wurde. Sein Gastfreund führte ihn in eine altertümliche Kapelle, hob den Stein von der Gruft und ließ ihn in das Gewölbe herabsteigen, wo ein großes Souper aufgetragen war. Alle Toten kamen und setzten sich an die Tafel, worauf das Mahl unter allgemeiner Fröhlichkeit begann, zum Schrecken des jungen Mannes, dessen Zähne heftig klapperten.

Als er schließlich sah, daß ihm nichts Unangenehmes zustieß, versuchte er, wie die anderen Gäste zu essen, und um sich zu betäuben, trank er auf einmal mehrere Gläser des hervorragenden Weins der Toten. Dann begann der Tanz, und der junge Bauer mußte mit dem Skelett eines jungen Mädchens tanzen, das ihn heftig drückte und jeden Augenblick umhalste.

»Der Rundtanz! Der Rundtanz!« riefen die Toten. Und alle stiegen aus der Gruft, um die Runde auf dem Kirchhof zu tanzen. Sie nahmen einander bei der Hand und sprangen und wirbelten über Kreuze, Gräber und Kapellen. Dies dauerte bis zum Morgen.

Dann hörte man in der Ferne das Krähen eines Hahnes; der Tanz brach ab, die Gräber öffneten sich, und die Toten verschwanden. Ganz betäubt blieb der Bauer bis zum Sonnenaufgang liegen.

Dann kehrte er ins Dorf zurück und wurde Priester.

Der Arzt von Fougeray

Vater Langevin, Schneider und Sittenwächter in Grand-Fougeray, war ein lustiger kleiner Mann: bettelarm, furchterregend häßlich, einäugig, ein Schwätzer und Spötter – und, zu seiner Zeit, Chansonnier. Wegen eines seiner Chansons landete er einen Monat im Gefängnis, was ihn nicht hinderte, neue zu dichten. Bei einem guten Glas Cognac erzählte er die folgende Geschichte:

Die Einwohner von Fougeray sind nicht gerade gastfreundlich, und sie mögen die Beamten der Regierung nicht, noch weniger aber die Zugereisten, die Landfremden, die sich dort ansiedeln. Das ist schon immer so gewesen.

Einst ließ sich ein junger Mann, den absolut niemand kannte, in Fougeray als Arzt nieder. Er war groß und blond, hatte einen ausländischen Akzent, lebte sehr zurückgezogen und wollte mit keinem Menschen Bekanntschaft schließen.

Er hatte im Ort ein Häuschen gemietet, das aus zwei Zimmern im Erdgeschoß und zwei Kammern im ersten Stock bestand. Im Winter sah man ihn fast nie, aber die ganze Nacht brannte Licht in seiner Kammer. Im Sommer saß er vor seiner Tür auf einer Holzbank, rauchte eine große deutsche Pfeife und schaute den Schwalben zu, die um den Kirchturm kreisten. Nie verließen seine Augen die Vögel, die in ihm Erinnerungen an seine Heimat wachzurufen schienen.

Wenn ihn jemand zufällig anredete, so antwortete er kaum und ließ sich nie in ein Gespräch ein. Wie sollte man sich erklären, daß er einen versteckten Flecken am Ende der Welt statt eines Durchgangsortes gewählt hatte? Man wußte es nicht, und niemand hätte es gewagt, ihn darum zu fragen.

Er hatte keinen Empfehlungsbrief mitgebracht und war keinem Menschen vorgestellt worden. Ein Diener, ebenso eisig wie sein Herr, besorgte den Haushalt, die Küche und das Pferd, das der Arzt geglaubt hatte kaufen zu müssen, um seine Besuche zu machen. Ach! er brauchte kaum Gänge zu machen, denn nur selten wurde er zu Kranken gerufen. Und trotzdem hielt man ihn für geschickt und gelehrt.

Es gab zu der Zeit in Fougeray auch einen alten Kurpfuscher, der zwar nur den Titel eins Wundarztes hatte, aber nichtsdestoweniger das Gewerbe eines Arztes ausübte. Es stimmte allerdings, er machte nur Aderlässe und verschrieb nichts als Abführmittel. Dies genügte, um eine Menge Kranker wieder auf die Beine zu bringen, die, von einem Studierten behandelt, umgekommen wären.

Der Alte behauptete, die Tiere seien weniger dumm als wir. »Schaut den Hund an«, sagte er, »wenn er sich krank fühlt, so hört er zu fressen auf und legt sich hin. Wenn der Mensch es ihm nachmachen würde, so könnte er den Arzt entbehren.«

Der junge Doktor kam um vor Langeweile und begann schon, den Mut zu verlieren, als er eines Abends sehr spät von der Visite bei einem Arbeiter zurückkam, der sich beim Einsturz eines Steinbruchs das Bein verletzt hatte, und die ungeheure Heide von Morelles durchquerte, die heute urbar gemacht ist. Auf dieser Heide, die zur Gemeinde Saint-Anne-sur-Villaine gehörte, bemerkte er Tausende von kleinen brennenden Lampen, die voneinander getrennte Gruppen bildeten. Er hielt sein Pferd an, um dieses seltsame Schauspiel genauer zu betrachten.

Ohne daß er das geringste Geräusch hörte, war plötzlich ein Reiter an seiner Seite und sagte zu ihm: »Junger Mann, das erstaunt dich wohl? Und wenn ich dir erkläre, was das bedeutet, wird deine Überraschung noch größer sein.«

»Wer seid Ihr?«

»Das geht dich nichts an. All diese Lichter sind Seelen der Bewohner dieses Landes, nur meinen Augen sichtbar und den deinen. Sie sind auf der Heide wie die Marktflecken und Dörfer der Gemeinden, die uns umgeben, verteilt. Der Name der Personen ist auf der Lampe eingeschrieben, und der Grad der Lichtstärke deutet die Lebenskraft eines jeden von ihnen an. Außerdem lassen sich genaue Angaben über die Zahl der Jahre, Monate, Tage und Stunden erkennen, die ihnen noch zum Leben bleibt.«

»Nochmals«, erwiderte der Doktor, »wer seid Ihr?«

»Ich könnte dir die Antwort verweigern, denn ich frage dich auch nicht, aus welchem Grund du deine Heimat verlassen hast.« Und er heftete einen durchdringenden Blick auf den jungen Mann, der diesen zittern ließ. »Schließlich aber, da du es so sehr wünschst, mich kennenzulernen, – ich bin Satan, aber Satan als guter Teufel, der deine Verzweiflung sieht, mit dir Mitleid hat und dir seine Dienste anbietet. Da du dank meiner Lampen die Lebensdauer aller Einwohner der Gegend kennen wirst, so wirst du umgehend dein Glück machen. Denke nur, den Kranken am Rand ihres Grabes versichern zu können, daß du für ihr Leben verantwortlich bist, und deinem Konkurrenten die armen Seelen zu überlassen, deren Tage gezählt sind. Du wirst Tag und Nacht keine Ruhe haben.

Da! Schau dort unten, weit unten das flackernde Licht, das ist der Schankwirt von Bréharais, der gerade sein Leben aushaucht.«

Plötzlich verschwand das Licht in der Ferne, die Seele des Greises hatte die Erde verlassen. Eine Schar von Nachtvögeln erhob sich mitten aus der Ebene und stieß grauenvolle Schreie aus.

Es gab Lampen, die in prächtigem Glanz leuchteten. Das waren die Seelen der Jugend, stark und kräftig, die noch lange Jahre zu leben hatten.

Der junge Doktor sagte zu Satan: »Ich suche vergeblich meine eigene Lampe neben denen meiner Nachbarn, ich bemerke sie nicht.«

»Du kannst sie nicht sehen. Es steht nicht in meiner Macht, dich die Dauer deines Lebens erkennen zu lassen. Ich kann dir die der anderen zeigen, aber nicht deine eigene. Diese Lampen werden dir jede Nacht auf der Heide sichtbar sein, und du kannst herkommen, um sie zu befragen.«

»Und was verlangt Ihr dafür?« fragte der Doktor.

»Nichts, oder so gut wie nichts. Du brauchst nur, um mich zufriedenzustellen – aber sehr genau – die Schwächen und Sünden der Leute aufzuschreiben, zu deren Behandlung du gerufen wirst.«

»Das ist ein trauriges Amt, das Ihr mir da aufbürdet«, erwiderte der junge Mann.

»Es steht dir frei, abzulehnen.«

»Nein, ich nehme es an, denn ich muß bald mein Glück machen.«

»Sehr gut. Aber erfülle gewissenhaft diese Verpflichtungen, andernfalls geschieht dir ein Unglück!«

»Ich werde meine Pflicht tun.«