Saiten-Umbruch: Ein richtig mieses Date - Melanie Dommenz - E-Book

Saiten-Umbruch: Ein richtig mieses Date E-Book

Melanie Dommenz

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Beschreibung

Versuch mal, schwul zu sein, wenn du wie ich in einem kleinen Ort in Bayern lebst. Meine Chancen, Gleichgesinnte in der Umgebung zu finden, waren gleich Null. Was bleibt dann noch? Klar, das Internet. Nur leider lief ein Date völlig aus dem Ruder und dann mein Leben. Aber lest selbst … Mein Name ist Niklas und Saiten-Umbruch erzählt dir meine Geschichte. Band 1 der dreibändigen Reihe

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Seitenzahl: 371

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Melanie Dommenz

Saiten-Umbruch

Ein richtig mieses Date

Buch 1

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2024

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover. Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

Nedal 1979 – shutterstock.com

Auf die Ohren:

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-725-5

Inhalt:

Versuch mal, schwul zu sein, wenn du wie ich in einem kleinen Ort in Bayern lebst. Meine Chancen, Gleichgesinnte in der Umgebung zu finden, waren gleich Null. Was bleibt dann noch? Klar, das Internet. Nur leider lief ein Date völlig aus dem Ruder und dann mein Leben. Aber lest selbst …

Mein Name ist Niklas und Saiten-Umbruch erzählt dir meine Geschichte.

Dieses Buch ist für Dich!

Du bist Stark.

Du bist liebenswert.

1. Akustik (Niklas)

David, zu meiner Linken auf der Couch, lacht schallend. Gut zehn Minuten spielen wir den Song jetzt in Dauerschleife, lediglich mit ein paar Impros dazwischen. Denn alle sind zu beschwipst, um noch produktiv zu sein, aber keiner will aufhören. Tobi sitzt auf dem Cajon gegenüber, eine Bierflasche in der Hand als Mikrofon und spricht den Text nur noch. Unfassbar langsam.

„Knock, knock, knockin on heeaaven’s dohoooaaaaaa!“

Dabei rollt er genervt mit den Augen und zieht eine fürchterliche Grimasse. Mitten im Lied brechen wir ab. Angesteckt von Davids Lachen, dem schon die Tränen runterlaufen.

Wir treffen uns meistens bei Lukas oder bei mir. Wir, das sind mein Bruder Lukas und ich sowie unsere Freunde David und Tobi.

David und Tobi teilen sich eine Wohnung. Das macht eine Bandprobe bei ihnen unmöglich. Die armen Nachbarn leiden schon genug unter dem ausschweifenden Liebesleben von Tobi, die brauchen nicht auch noch uns.

Tobi ist dreiundzwanzig und unser Goldkehlchen. Der Einzige von uns, der wirklich singen kann. Seine Eltern haben ihn in den Kirchenchor gesteckt, als er fünf war. Er könnte sogar eine Kirchenorgel spielen, zumindest hat er das lernen müssen. Aber seit er sechzehn ist, hat ihn kein Gotteshaus mehr von innen gesehen.

Sein Geld verdient er als Sanitäter. Er knallt alles, was nicht bei drei auf einem Baum ist. Dabei stellt sich dieses kleine Schlitzohr so unfassbar gut an, dass nie schlecht über ihn geredet wird. Er ist ein verdammter Charmebolzen – außer man hat seine Masche, so wie wir, schon hundert Mal gehört. Tobi hat diese Arschloch-Aura, auf die Mädels total abfahren, ist eitel wie ein Pfau, hat aber das Herz am rechten Fleck. Mit seinen karamellfarbenen Locken, die ihm bis über die Ohren reichen, den grünen Augen und dem Schmollmund sieht er aber auch gut aus – keine Frage.

David ist zweiundzwanzig, genau wie mein Bruder, gute 1,90 m groß und hat den Körper eines Bodyguards. Vom Hals bis zum Hintern ist sein Oberkörper in Tattoos gehüllt. Sie haben die Farbe seiner Augen, eine Mischung aus Blau und Türkis. Es wirkt faszinierend, denn es ist nicht das klassische Schwarz. Mit dem glatt rasierten Gesicht, den raspelkurzen Haaren und türkisblauen blauen Augen sieht er auf den ersten Blick unnahbar aus. Dabei ist er eine Seele von Mensch. Kein Wunder, dass er Krankenpfleger geworden ist, der Beruf passt zu seiner fürsorglichen Art.

Er ist derjenige, der ein Auge auf uns alle hat – das war schon immer so. Nicht, dass er uns den Spaß verderben würde, nein, ganz im Gegenteil. Der größte Blödsinn fällt meistens ihm ein. Aber er nimmt die kleinsten Veränderungen in der Stimmung der anderen wahr. David ist verständnisvoll, lieb und lustig. Ich frage mich oft, warum er keine Freundin hat, er würde sie auf Händen tragen.

David ist immer gut drauf, strahlt eine enorme innere Ruhe aus und hat eine Stimme, die jeden in den Zustand völliger Entspannung versetzen kann. Nur singen kann er nicht, weil er nicht einen Ton trifft. Noch immer gackert er neben mir und wischt sich die Tränen von den Wangen. Wenn ich ihn mir ansehe, wie er den Bass mit einer seiner großen Pranken hält, sieht das Instrument klein und zerbrechlich aus.

Es sind genau diese Abende, die mir am meisten Spaß machen. Zusammensitzen, ein bisschen rumklimpern, Bier trinken und rumblödeln. Manchmal kommen dabei sogar richtig gute Sachen raus. Letztens haben wir es geschafft, eine gute Akustikversion von „The Dirt Whispered“ von Rise Against zu basteln, bevor Lukas betrunken vom Stuhl gefallen ist. Eines meiner persönlichen Highlights der vergangenen Woche. Mein sonst so kontrollierter Bruder wird sich das noch ein paarmal von mir unter die Nase reiben lassen müssen.

Lukas ist von uns allen der Ruhigste, sehr verantwortungsbewusst und überlegt. Mein großer Bruder hängt ständig in seinen Gedankenwolken oder mit der Nase in irgendwelchen Fantasy-Büchern. Er ist aber kein Stubenhocker, sondern einfach nur still. Er hat so viele Interessen und ist so schlau. Wie er auf die Idee gekommen ist, Altenpfleger zu werden, werde ich jedoch nie verstehen.

Mit seinen schulterlangen dunkelblonden Haaren, die er meistens zu einem kleinen Zopf bindet, dem Dreitagebart und der Brille könnte er als Student durchgehen. Er gehört zu den Glücklichen, denen wirklich alles steht. Selbst die Brille wirkt an ihm cool. Er ist groß, schlank, durchtrainiert, sieht aber auf dem ersten Blick nicht danach aus. Quasi ein Überraschungsei.

Ich steche aus dem Haufen aus drei Gründen heraus: Erstens bin ich mit meinen siebzehn Jahren der Jüngste. Zweitens habe ich mich nicht für einen sozialen Beruf entschieden wie die anderen. Ich bin in meinem letzten Ausbildungsjahr als Schlosser. Und drittens sehe ich neben ihnen aus wie ein Südländer mit meinen dunklen Augen, dem fast schwarzen Haar und der gebräunten Haut, die selbst im Winter nie ganz ihre Tönung verliert. Wer Lukas und mich nicht kennt, würde nie auf die Idee kommen, dass wir Brüder sind. Selbst unsere Mutter macht Späße darüber, dass sie nicht weiß, woher meine Gene kommen.

Die Idee, zusammen Musik zu machen, kam uns Anfang des Jahres. Wir wollten meiner Mutter eine kleine Freude zu ihrem Geburtstag machen. Eigentlich nur mein Bruder und ich, aber da David und Tobi den Einfall super fanden, haben sie sich angeschlossen.

Wir studierten für sie „Out Loud“ von Dispatch und ihr Lieblingslied „No Rain“ von Blind Melon ein. Die positive Resonanz der Leute, die uns an dem Abend gehört haben, überraschte uns. Jeder wollte, dass wir weiter machen. Da wir selbst so viel Spaß an der Vorbereitung hatten, am gemeinsamen Musizieren, behielten wir es einfach bei, uns einmal die Woche zu treffen.

Wir kennen uns seit mehr als sechs Jahren, sind ständig zusammen unterwegs, wissen alles voneinander, sind aber vorher nie auf die Idee gekommen, gemeinsam zu spielen – außer an ein paar Lagerfeuer-Abenden bei uns im Garten, wenn unsere Mutter wieder so lange gebettelt hat, bis Lukas und ich die Gitarren geholt haben. Ihr Argument war immer, dass sie sowohl den Unterricht als auch die Instrumente bezahlt hat und es das Mindeste sei, ihr als Dank den Gefallen zu tun und zu spielen, wenn sie darum bittet. Gut, das Argument ist unschlagbar.

Uns allen war klar, dass nur Tobi als Sänger infrage kam, denn nicht nur David kann keinen Ton halten, auch Lukas ist, was den Gesang betrifft, überhaupt nicht zu gebrauchen. Und ich mit meiner viel zu tiefen Stimme kann auch nur wenig beitragen.

Meine Stärke und die meines großen Bruders ist klar das Gitarre spielen. Ich kann Stunden damit zubringen, aus einem E-Song eine Akustik-Version zu basteln. Ich würde mir eher die Finger an meiner Gitarre brechen, als aufzugeben.

„Ich mag jetzt nicht mehr.“ Davids Stimme holt mich zurück aus meinen Gedanken. Ich sehe ihm zu, wie er anfängt, seinen Bass einzupacken. Mein Bruder schaut ihn verständnislos an. „Jetzt hab ich mir gerade ein neues Bier aufgemacht.“

Bin ich froh, dass ich nur rüber ins andere Haus muss, jetzt noch eine kurvenreiche Autofahrt würde ich definitiv nicht überleben. Wann hat der Alkohol bei mir so zugeschlagen? Eben war mir noch nicht so schwindelig.

Tobi sieht kurz nach, wie es in seiner Flasche aussieht.

„Ganz entspannt, ich hab auch noch was. Gehen wir morgen klettern?“

Mir entlockt das nur ein lautes Stöhnen und die anderen reagieren darauf mit Gelächter.

„Ach ja, morgen ist der große Tag – deine Sportbremse kommt wieder zurück.“ Tobi reizt es wieder aus.

Ich bin zwar gerade stark damit beschäftigt, meine Sachen zusammenzupacken und dabei nicht kopfüber selbst im Gitarrenkoffer zu landen, aber für einen Mittelfinger ist immer Zeit.

Den quittiert er nur mit einem Grinsen.

„Wie lange war sie unterwegs? Ein Jahr?“ Tobi fragt erneut.

„Jupp“, antworte ich kurz.

David wechselt das Thema, kommt nochmal aufs Klettern zu sprechen.

„Ich bin raus, ich hab morgen Bereitschaft“, entschuldigt er sich.

„Ich wär dabei, aber nur Halle, weil ich Nachtschicht hab“, meldet sich mein Bruder.

Ich lass die anderen reden, bin gedanklich schon bei Arie.

Endlich ist dieses beschissen lange Jahr vorbei. Nur noch ein paar Stunden und ich hab sie wieder. Schwankend verlasse ich die Wohnung meines Bruders und torkle über den Hof. Oh man, wie komm ich jetzt heil in mein Bett????

2. Zuhause (Niklas)

Am nächsten Morgen weckt mich mein Magen. Missmutig rolle ich mich auf den Rücken und fasse mir automatisch an den Bauch. Himmel, hab ich einen Hunger! Ich hätte mit allem gerechnet, aber bestimmt nicht damit, dass mich mein Appetit weckt. Vorsichtig bewege ich meinen Kopf, aber die erwarteten Nachwehen von gestern bleiben aus. Nicht das Schlechteste! Keine Kopfschmerzen, kein Schwindel und auch keine Übelkeit, nur Hunger und die vorsichtige Vermutung, dass heute Nacht etwas auf meiner Zunge gestorben ist. Wie ekelhaft!

Die Vorhänge hüllen mein Zimmer in Dunkelheit. Am Saum dringt etwas Licht herein und verrät mir, dass die Nacht vorbei ist. Um nach der Uhrzeit zu sehen, fische ich mein Handy von der anderen Bettseite und stöhne laut auf – aus zwei Gründen. Nummer eins: Es ist erst 8.50 Uhr. Nummer zwei: Die neue App blinkt schon wieder, um mich auf eingetroffene Nachrichten hinzuweisen.

Ich gehöre wirklich zu den Morgenlerchen oder auch Frühaufstehern, aber nach gestern Nacht möchte ich einfach nur schlafen. Mürrisch ziehe ich mir die Bettdecke über den Kopf, ignoriere den knurrenden Magen und kuschle mich zurück in mein Kissen. Aber trotz geschlossener Augen lässt mich das Blinken nicht los.

Vor einer Woche habe ich mich auf einer Dating-Seite angemeldet und bis jetzt komme ich mir damit mehr als blöd vor. Mit siebzehn über das Internet nach einem Typen zu suchen, klingt in meinem Kopf nach Verzweiflung. Dabei sollte es für mich genauso einfach sein wie für alle anderen: auf Partys gehen, Spaß haben und den Dingen seinen Lauf lassen. Aber in meinem Fall ist es das nicht und das weiß ich nur zu gut. Mehr als einmal habe ich die mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten mit meinem Bruder oder Arie diskutiert, das Ergebnis ist immer das Gleiche. Bis ich den Führerschein habe und mobil bin, bleibt mir nur das Internet, um in der näheren Umgebung nach Gleichgesinnten zu suchen.

Denn das kleine Dorf in Bayern, in dem ich lebe, bietet gerade Jugendlichen nicht viele Optionen und die Bus- oder Bahnverbindungen sind der Horror. Dabei ist die Lage gar nicht so schlecht. München ist eine gute Stunde entfernt, Salzburg nur dreißig Minuten, mit dem Auto versteht sich. Mit der Bahn sind es drei Stunden bis zur bayerischen Hauptstadt, weil der Zug an jeder Milchkanne stehen bleibt, unfassbar!

Hier in der Nähe gibt es genau eine Diskothek, aber die meide ich wie die Pest. Sie ist total überfüllt und die Musik ist grottenschlecht. Es gibt noch ein paar kleinere Kneipen, sonst spielt sich alles auf privaten Festen ab.

Tja, versuch mal, schwul zu sein in einem kleinen Nest wie diesen! Leider gibt es hier keine Szene, in der ich mich austoben könnte, oder einen in meiner Altersklasse, der sich geoutet hätte, außer mir. Bestimmt gibt es schwule Jungs bei uns, aber die halten sich bedeckt – und vielleicht tun sie gut daran, sich zu verstecken. Denn einfach war die ganze Sache auch bei mir nicht. Um es mir etwas zu erleichtern, habe ich damit bis nach dem Schulabschluss gewartet – der beste Tipp, den mir meine Mutter je gegeben hat. Zwar hatte ich die volle Unterstützung meiner Familie, ebenso wie die von David, Tobi und Arie, aber ich musste dennoch das blöde Gerede in diesem Hexenkessel aushalten, in dem jeder jeden kennt.

Was sie über mich zu sagen hatten, war mir egal und ist es bis heute. Womit ich überhaupt nicht zurechtkam, war, dass es auch auf meinen Bruder und meine Mutter zurückfiel. Wir haben oft darüber gesprochen, gerade wenn mir wieder ein Gerücht zu Ohren kam. Beide haben mir versichert, dass sie nichts auf den Tratsch geben, aber es dauerte eine Weile, bis ich ihnen glauben konnte. Das Interessante daran war, dass genau die Leute, die selbst den größten Dreck am Stecken haben, den Mund am weitesten aufgerissen hatten. Blöde Beschimpfungen gibt es immer wieder, und hey, hätte ich ‘ne schiefe Nase oder würde schielen, würden sie darauf rumhacken. Kurz gesagt ich komm schon klar damit.

Unruhig rolle ich mich auf die andere Seite. Knautsche das Kissen unter meinem Kopf zusammen, damit es gemütlicher wird, was natürlich nicht meine Gedanken beruhigt. Noch immer bin ich nicht sicher, ob ich wissen will, was in den Mitteilungen der App steht. Die gesamte letzte Woche über habe ich einige Nachrichten bekommen, aber nur eine einzige verschickt. Die Anfragen waren mehr als ekelhaft und definitiv nicht das, wonach ich gesucht habe. Bei manchen hätte ich echt kotzen können, als ich sie geöffnet habe. Ich bin bestimmt nicht romantisch verklärt, aber sie waren nicht nur obszön, sondern auch anbiedernd. Wer zum Henker schreibt so einem Siebzehnjährigen? Ich hab überlegt, ob es vielleicht an mir liegt und ich einfach zu unerfahren bin. Vielleicht ist es auf diesen Seiten aber auch der ganz normale Umgangston? Ich hab keine Ahnung und bin von der App, von mir selbst und dem Umstand, dass ich sie überhaupt brauche, genervt. Ich suche nicht nach einer Beziehung oh Gott, nein! Deshalb mache ich diesen Mist nicht. Aber wie jeder Teenager, der Blut geleckt hat, würde ich gern meine sexuellen Erfahrungen erweitern.

Dank meiner unruhigen Gedanken ist an Schlaf nicht mehr zu denken. Die ganze Dating-Sache beschäftigt mich zu sehr und raubt mir nicht zum ersten Mal die Nachtruhe. Ich setzte mich auf, lehne mich an das Kopfteil des Bettes und öffne widerwillig die App. Mal sehen, welche Abgründe sich heute auftun. Kurz überfliege ich die Absender und stutze, als ich genau den erhofften Namen sehe. Schnell öffne ich die Nachricht.

Hi, ja, hätte da echt Bock drauf, wann und wo? LG Paul

Da ist es wieder, dieses total beschissene Gefühl zwischen Angst und Euphorie, das sich nur schwer beschreiben lässt. Vielleicht bin ich zu pessimistisch, aber es ist ein Fremder, dem ich da schreibe und mit dem ich mich treffen will – zumindest spiele ich mit dem Gedanken. Alles, was ich von ihm weiß, hat er selbst in sein Profil geschrieben. Wie soll ich feststellen, dass er kein alter Sack ist, der sein Foto gefaked hat? Ich habe keine Scheu, neue Leute kennenzulernen, aber normalerweise stehen sie mir dann gegenüber und das ist was ganz anderes.

Scheiße! Was mach ich hier eigentlich? Die Frage stelle ich mir nicht zum ersten Mal. Ich starre immer noch auf mein Handy, allerdings ist der Bildschirm inzwischen wieder schwarz. Erst gestern habe ich dieses Profil entdeckt und spontan und ohne groß zu überlegen, einen kurzen Text geschrieben und nach einem Treffen gefragt. Gestern fand ich die Idee ziemlich gut, heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Dass ich so schnell eine positive Antwort bekomme, hatte ich nicht erwartet, es bringt mich etwas durcheinander.

Das Telefon in meiner Hand erwacht von allein zum Leben, als ein Anruf reinkommt, und erschreckt mich fast zu Tode. Ich war so in Gedanken, dass es mir beinahe aus der Hand rutscht. Ein Blick aufs Display zeigt mir, dass es Arie ist. Sie ist wie immer meine Rettung, auch jetzt, ohne es zu wissen. Ich seufze erleichtert und drücke auf den grünen Punkt, um das Gespräch anzunehmen.

„Jjjjjuuuuuhhhuuuuu!!!!«, quietscht es aus dem Lautsprecher. Ich muss das Telefon vom Ohr nehmen und schaue kopfschüttelnd, aber grinsend drauf.

„Arie, was zur …“ Doch ich werde sofort unterbrochen.

„Ich bin gerade in München gelandet und ich hoffe, deinen faulen Arsch in weniger als zwei Stunden in Klamotten zu sehen!“ Ich kann an ihrer Stimme hören, wie aufgeregt sie ist.

„Guten Morgen, Troll! Vielleicht ist es aber gerade mein nackter Arsch, der dich wiedersehen will, und wir wollen ihm die Freude doch nicht verderben, oder?“ Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Ohhgrrr! Wieso grabe ich mir bei dir immer selbst ein Loch? Bei jedem anderen wäre die Antwort so lahm.“ Arie gackert ins Telefon.

„Hab ich alles von dir gelernt“, antworte ich prompt.

Jetzt lacht sie schallend. „Macht Sinn, wir sehen uns, bis gleich und ich freu mich!“

Sie beendet das Gespräch, ohne auf eine Antwort zu warten. Typisch Arie. Vor zwei Tagen haben wir noch geskypt und alles für den heutigen Tag geplant. Zuerst fährt sie nach Hause, liefert ihre Sachen ab, geht sich duschen, um den restlichen Tag bei mir zu verbringen. Mit ihren Eltern wird sie sich dann morgen treffen, weil die auf einer Messe sind und erst in der Nacht nach Hause kommen werden.

Den gesamten gestrigen Nachmittag habe ich damit zugebracht, hier oben aufzuräumen, alles nur für Arie. Ich finde es merkwürdig, nicht mehr auf Klamotten zu treten, als ich von meinem Bett aufstehe, zum Fenster gehe und die Vorhänge öffne. Eigentlich bin ich nicht unordentlich, aber die letzten zwei Wochen im Betrieb waren wahnsinnig stressig und abends musste ich noch mein Berichtsheft schreiben, dass ich seit zwei Monaten nicht mehr angeschaut habe. Mein Lehrmeister hat schon danach gefragt. Denn ohne das blöde Ding werde ich nicht zur Prüfung zugelassen.

Durch das geöffnete Fenster dringt frische Morgenluft, sie fühlt sich gut auf der nackten Haut an. Die Sonne scheint schon jetzt warm in unseren Garten und so oft ich diesen kleinen Ort in den letzten Jahren auch verteufelt habe, weil er mich so sehr einschränkt, genauso oft verliebe ich mich in seine Schönheit. Aus meinem Fenster schaue ich auf die schroffen Felswände der Berge, die mich faszinieren. Davor die grüne, hügelige Landschaft, mit ihren kleinen Bauernhäusern und den satten Wiesen, die unglaublich weich aussehen vor den riesigen nackten Steinmassen, an die sie sich schmiegen.

Ich weiß ganz genau, das ist mein Zuhause und nichts bringt mich hier weg. In Momenten wie diesen empfinde ich einfach nur unfassbare Dankbarkeit, an diesem Ort zu leben. Kurz taucht in mir das Bild meines Vaters auf, der nichts mehr davon genießen kann. Aber den Gedanken schiebe ich schnell beiseite, er macht mich nur traurig.

Kurz denke ich darüber nach, eine Runde laufen zu gehen. Noch habe ich genug Zeit, bevor Arie kommt. Ich freue mich wie ein kleines Kind an Weihnachten auf sie. Der alte Holzboden knarzt laut, als ich mich umdrehe und das Zimmer verlasse, um ins Bad zu gehen. Ich muss dringend diesen widerlichen Geschmack in meinem Mund loswerden! Auf dem Weg dahin schnappe ich mir ein Handtuch und frische Klamotten aus einem der Wandschränke am Treppenaufgang.

Während meiner morgendlichen Routine denke ich über unsere erste Zeit nach, und welches Glück ich hatte, sie kennenzulernen. Klar klingt es nach Klischee, der Schwule und seine beste Freundin! Aber zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nichts von meiner sexuellen Orientierung.

Nach der vierten Klasse musste ich auf eine andere Schule wechseln, dort traf ich auf Arie. Sie war eine Klasse über mir. An meinem ersten Schultag habe ich es irgendwie geschafft, mich in dem Gebäude zu verlaufen, Arie hat mich gefunden. Ohne ein Wort nahm sie mich an die Hand und brachte mich zu einem Lehrer, der mich in den richtigen Klassenraum führte. Das Ganze war mir unfassbar peinlich. Aber in der nächsten Pause war dieses kleine Mädchen mit den kurzen roten Locken wieder an meiner Seite, diesmal quasselte sie pausenlos und ließ mich jegliche Scheu vergessen. Sie nennt mich selten bei meinem Namen, für Arie bin ich ihr „Knirps“. Für mich dagegen war und ist Arie der lebende Beweis, dass es Trolle gibt. Sie ist klein, laut, quirlig, mit den roten Wuschelhaaren und dem frechen sommersprossigen Gesicht der Troll in Perfektion.

Natürlich waren wir vielen Hänseleien ausgesetzt als das Liebespaar schlechthin, aber es hat uns nie wirklich gestört. Für unsere Klassenkameraden wurde es schnell zur Normalität, dass es den einen nicht ohne den anderen gab, und sie hörten irgendwann auf, dumme Bemerkungen zu machen.

Zusammen machten wir die Schule und den Pausenhof unsicher und wenn irgendwo ein Streich gespielt wurde, waren wir beide sicher involviert. Weder Arie noch ich sind scheu oder zurückhaltend. Wir machten uns als Rabaukengespann schnell einen Namen, auch in den höheren Klassen, was uns den ein oder anderen Freifahrtsschein einbrachte. Diese nutzten wir später zu unseren Gunsten aus, um schon viel zu früh Erfahrungen mit Alkohol, Drogen oder dem anderen Geschlecht zu machen.

Bei dem Gedanken daran runzelt sich meine Stirn fast von selbst. Wir waren einfach zu krass! Manche unserer Aktionen waren absolut nicht harmlos und hätten schnell nach hinten losgehen können. Aber wir waren zu jung und zu naiv, um die Konsequenzen zu bedenken. Zu geblendet, weil wir dachten, schon zu den Großen zu gehören. Damals waren wir stolz wie Oskar, denn die Wahrscheinlichkeit, zu einer der inoffiziellen und heiß begehrten Oberstufen-Partys eingeladen zu werden, wenn man gerade Mal die siebte Klasse besucht, geht gegen null, dafür braucht man keine Stochastik. Wir hatten mehr Glück als Verstand, dass wir nicht von unseren Eltern erwischt wurden. Irgendwie schafften wir es immer rein und auch rechtzeitig wieder nach Hause.

Kurz gesagt, wir waren für jeden Mist zu haben, waren dabei verschwiegen wie ein Grab und das brachte uns mächtig Punkte bei den Älteren. Mit gerade mal dreizehn den ersten Rausch zu erleben oder etwas später den ersten Joint zu rauchen, ist nichts, worauf wir im Nachhinein stolz sind. Wenn wir heute über diese Geschichten sprechen, dann müssen wir selbst den Kopf schütteln über so viel Dummheit.

Seit diesem ersten Tag sind wir unzertrennlich. Oder besser gesagt, waren unzertrennlich, denn zum 18. Geburtstag haben ihre Eltern Arie eine Weltreise geschenkt. Es sollte eigentlich ein Besuch bei Bekannten in Neuseeland werden, aber auf dem Weg dorthin und wieder zurück, hat sie einige Zwischenstopps eingelegt.

Der Zeitpunkt war mehr oder weniger perfekt. Sie hatte gerade ihren Führerschein gemacht und die Lehre stand kurz vor dem Abschluss. Letztere beendete sie im Mai mit der praktischen Prüfung zur Friseurin. Dann verschwand sie für ein Jahr, ohne auf das Ergebnis zu warten.

Der einzige Haken – ich konnte nicht mit. Selbst wenn ich nicht in meinem zweiten Lehrjahr als Schlosser gesteckt hätte, hätte ich das Geld dafür nicht gehabt. Aber das ist ein Punkt, der in Aries Leben noch nie eine Rolle gespielt hat. Ihre Eltern besitzen zwei riesige Wellness-Nobel-Hotels. Aber genau wie Arie sind sie nicht versnobt, ganz im Gegenteil, sie sind ziemlich cool.

Arie ist für mich mehr als nur eine Freundin, sie ist einfach genau zur richtigen Zeit in mein Leben getreten. Denn ein Jahr nachdem ich sie kennengelernt hatte, brach für mich und meine Familie die Welt zusammen. Nachdem mein Vater bei einem Unfall auf der Autobahn ums Leben kam. Ein dummer Auffahrunfall in einem Stau. Der Lkw, der zwei Autos hinter meinem Vater in die stehenden Fahrzeuge krachte und alles zusammenschob, ließ ihm keine Chance.

Und Arie war da, sie war die ganze Zeit da. Sie verließ meine Seite nur im Unterricht. Sie schlief wochenlang bei mir, natürlich in Absprache mit ihren Eltern, bis es mir wieder besser ging.

Plötzlich machte mir alles Angst. Der Tod kam so unerwartet in mein Leben und wurde zu meinem ständigen Begleiter. Nachrichten im Fernsehen und die dazugehörigen Videos versetzten mich in Panik. Überall lauerte der Tod und ich war hilflos. Einfache Bilder einer Überschwemmung konnten den nächsten Regenguss zu einer inneren Zerreißprobe werden lassen. Das Leben erschien mir plötzlich so unfassbar sinnlos. Mich beschäftigten Fragen wie: Warum soll ich essen oder trinken, wenn ich sowieso sterben muss. Wenn das Ende unausweichlich ist, warum das ganze Leben? Dennoch hing ich so sehr daran, dass allein der Gedanke, dass ich irgendwann einfach weg sein würde, mir Herzrasen und Schlaflosigkeit bescherte.

Bei jedem Rückfall, und in den ersten Jahren gab es einige davon, war sie an meiner Seite und versuchte alles, um mir zu helfen. Für mich war sie damals schon ein Wunder und sie ist es bis heute. Wir waren elf und zwölf Jahre alt und welches zwölfjährige Mädchen stellt sich selbst hinten an, um wochenlang ihrem Freund beizustehen? Das ist etwas, das ich ihr nie, wirklich niemals in meinem Leben vergessen werde. Und es ist etwas, das ich ihren Eltern und auch meiner Mutter hoch anrechne, dass sie es erlaubt und zugelassen haben. Ich wüsste nicht, wie ich aus der ganzen Sache ohne Arie rausgekommen wäre.

Verloren in Gedanken an Arie und die Vergangenheit, ziehe ich mich an. T-Shirt, kurze Hose und Turnschuhe und mache mich auf dem Weg in die Küche zu meiner Mutter, ich kann sie schon auf der Treppe singen hören:

„Counting all the assholes in the room, well I’m definitely not alone …!“

Volbeat dröhnt aus dem Lautsprecher und meine Mutter singt lauthals dazu, als ich die Küche betrete.

„Guten Morgen! Nö, jetzt definitiv nicht mehr“, kommentiere ich ihren letzten gesungenen Satz.

Meine Mutter schreckt kurz zusammen, lächelt dann und stellt die Musik leiser. Sie schaut verdutzt auf die Uhr und dann auf mich, es ist erst kurz nach neun.

„Guten Morgen, du bist aber früh unterwegs“, stellt sie erstaunt fest.

„Arie kommt in circa zwei Stunden und ich muss noch ein bisschen raus bei dem schönen Wetter. Mit meinem kleinen Sportmuffel an der Seite passiert sonst das ganze Wochenende nichts“, versuche ich, mich zu erklären, und schenke mir einen Kaffee ein. „Außerdem hab ich einen Bärenhunger!“ Meine Mutter schnappt sich ihre Tasse mit Kaffee und gemeinsam setzen wir uns an den bereits von ihr gedeckten Tisch.

Die Küche meiner Mutter ist etwas ganz Besonderes, da sie immer noch aussieht wie vor hundert Jahren. Auch als meine Eltern dieses alte Herrschaftshaus gekauft haben, haben sie kaum etwas verändert. In der damaligen Zeit diente die Küche nicht als Wohnraum der feinen Leute, sondern war ausschließlich dem Personal vorbehalten. Sie befindet sich sogar auf einer anderen Ebene als der Rest des Erdgeschosses und hat einen separaten Eingang über den Garten. Meine Mutter hatte sich so sehr in die alte Einrichtung verliebt, dass sie versucht hat, das nostalgische Flair dieses Raumes zu erhalten. Er erinnert an alte Puppenhäuser oder Märchenfilme.

So beherbergt unsere Küche neben dem normalen E-Herd einen von diesen alten Öfen, in denen noch das Feuer geschürt wird. Ein protziges Teil mit einem riesigen Ofenrohr an der Wand. Gegenüber steht ein altes Buffet, in dem Gewürze, Töpfe und Pfannen verstaut sind. Meine Mutter hat eine Seite des Buffets so umgebaut, dass sie darin die Mikrowelle verstecken konnte. Die passt für sie nicht ins Bild, ihr ist der Herd schon ein Dorn im Auge.

Eine richtige Arbeitsfläche gibt es nicht, der Tisch, an dem wir gerade frühstücken, dient als solche. Der ist dafür riesig. Er nimmt die gesamte hintere Wand der Küche ein. Viel mehr hätten man dort auch nicht hinstellen können, da sonst die dahinterliegende Fensterfront, durch die der Raum mit Licht durchflutet wird, verdeckt worden wäre. Es ist eigentlich eine barocke Tafel mit zwölf passenden Stühlen, wovon aber acht bei uns auf dem Dachboden verstauben, weil wir sie nicht brauchen. Wir essen normalerweise im Esszimmer, nur Frühstück gibt es in der Küche.

Alles ist in diesem antiken Weiß mit taubenblauen Akzenten gehalten. An den Wänden hängen Backformen und Pfannen aus Kupfer, die nie benutzt werden. Meine Mutter hat einfach was übrig für Trödel. Sie hängt ständig auf irgendwelchen Flohmärkten rum.

Nach der ersten Scheibe Brot und einer weiteren Tasse Kaffee fühle ich mich schon etwas besser, aber noch nicht richtig satt. Doch das muss warten bis nach dem Laufen. Mit vollem Magen macht die ganze Sache noch weniger Spaß als ohnehin. Ich hasse joggen, aber seit dem Beginn meiner Lehre bleibt mir zu wenig Zeit, um regelmäßig zu klettern oder auf einem Berg zu steigen, zumal es stark wetterabhängig ist. Laufen kann ich auch im Regen. Und ich brauche die Bewegung einfach für mein Wohlbefinden.

Ohne meinen, wie meine Mutter sagen würde, täglichen Auslauf würde meine Stimmung von Stunde zu Stunde sinken. Da fällt mir, ein die Jungs wollte heute klettern gehen.

„Ist Lukas schon weg?“, frage ich meine Mutter.

„Ja, die sind schon vor einer halben Stunde in die Halle gefahren, sonst wird die Zeit zu knapp. Ich glaube, er möchte sich nachher nochmal hinlegen, bevor er zur Nachtschicht geht. Ist ja etwas später geworden bei euch.“

„Ähm, ich hab keine Ahnung, wann ich rüber bin.“ Angestrengt versuche ich, mir eine Uhrzeit ins Gedächtnis zu rufen, erfolglos.

„Nachdem deine Gitarre und du die Wände im Treppenaufgang mehrere Male unsanft berührt haben und ich dadurch wach geworden bin, kann ich dir sagen, es war schon nach drei und du warst nicht mehr nüchtern.“ Sie legt ihren Kopf schief und ihre Augen funkeln.

Oh, ha, Shit! Den Blick von ihr kenn ich. Ich kann mich partout nicht erinnern, wie ich in mein Bett gekommen bin. Hat mir die frische Luft auf den wenigen Metern bis ins Haupthaus so zugesetzt? Bei Lukas in der Wohnung ging es mir doch noch gut. Ich zucke entschuldigend mit den Schultern und versuche ein vorsichtiges Lächeln.

Sie nippt an ihrem Kaffee, bevor sie weiterspricht, und ihr Grinsen gefällt mir überhaupt nicht.

„Nur gut, dass ein solches Verhalten bei dir die Ausnahme ist, sonst könntest du dir jetzt was anderes anhören. Du weißt, ich halte nichts von der Sauferei. Aber, und jetzt kommt der beste Teil, ich habe alles mit dem Handy gefilmt.“ Sie lacht schallend, winkt mit ihrem Telefon in meine Richtung und ich vergrabe mein Gesicht stöhnend in meinen Händen.

„Du hast doch nicht erwartet, dass ich mir das entgehen lasse. Allein, dir dabei zuzusehen, wie du versuchst, die Treppe raufzukommen, war die schlaflose Nacht mehr als wert! Du hast nicht mal gemerkt, dass ich das Licht angemacht habe.“ Sie giggelt fröhlich.

„Oh, nö, Mama! Das ist so peinlich, bitte lösch es!“ Verzweifelt versuche ich, an ihr Gerät zu kommen, aber sie nimmt es schnell vom Tisch.

„Ganz bestimmt nicht! Das ist mein neues Druckmittel. Wenn du Mist baust, stell ich es auf Facebook.“

„Mama!“ Ich weiß, das meint sie ernst.

Sie hatte mal Fotos von unseren unordentlichen Zimmern gepostet, nachdem wir uns über Wochen geweigert hatten, aufzuräumen. Himmel, war das peinlich, aber es hat seinen erzieherischen Sinn nicht verfehlt. Danach räumten wir immer nach der ersten Aufforderung auf. Ich brauch einen verdammt guten Plan, um das Video verschwinden zu lassen, aber darum kümmere ich mich später.

Süffisant lächelnd steht sie auf, nimmt ihre Tasse und öffnet die Tür zum Garten. Von draußen strömt der Geruch von frisch gemähten Rasen in die Küche. Bevor sie rausgeht, dreht sie sich noch mal zu mir um.

„Ich hoffe, du hast deinen Saustall oben aufgeräumt, wenn nachher Arie kommt?“

„Ja, hab ich gestern schon gemacht und die Wäsche bring ich nach dem Laufen runter. Muss nur noch mal durchsaugen, dann hab ich es.“

„Geh du laufen und ich mach den Rest für dich fertig, ich hab heute nichts vor. Seid ihr beide am Abend zum Essen da?“, möchte sie wissen.

Schnell springe ich von meinem Stuhl auf und drücke ihr einen Schmatz auf die Wange.

„Danke, du bist wie immer die Beste. Ich denke schon, dass wir hier essen, aber ich sag dir noch mal Bescheid, wenn sie da ist!“ Schnell drücke ich mich an ihr vorbei durch die Tür raus in den Garten und verschwinde schnellstmöglich die Straße runter.

Mit Kopfhörern in den Ohren laufe ich gemütlich durch die Siedlung in Richtung Wald. Froh, dass mir meine Mutter die Putzerei abnimmt. Bis vor einem halben Jahr habe ich mir mit Lukas die oberste Etage und das Aufräumen geteilt, aber unsere Mutter hatte die Idee, dass er in den Anbau ziehen könnte. O-Ton meiner Mutter war: „Ihr seid jetzt beide in einem Alter, in dem ihr mehr Privatsphäre braucht und da wir den Platz haben, sollten wir ihn auch nutzen.“ Sie hätte auch sagen können, sie möchte nicht, dass wir uns gegenseitig beim Poppen zuhören müssen.

Tja, leider ist sie da ein paar Jahre und Mädels zu spät dran. Mein Bruder hatte zwar nie einen großen Verschleiß, was seine Freundinnen anging, aber seine letzte Verflossene, Hanna, war ziemlich laut. Immer und in allem. Sie konnte nicht mal leise atmen. Zumindest habe ich sie so in Erinnerung. Aber glücklicherweise haben wir zwei ein sehr enges Verhältnis zueinander und so hat mich Lukas’ Treiben nie wirklich gestört. Und ihn meins auch nicht.

Ja, auch ich habe Mädels mit nach Hause gebracht, weil ich einfach alles ausprobieren wollte. Aber hey, Brüste sind einfach nicht meins. Ganz zu schweigen von dem Rest.

Ich biege in einen Waldweg ein. Bei den sommerlichen Temperaturen, die wir schon jetzt im April haben, ist es hier schattiger. Ich kenn die Strecke im Schlaf. Sie führt einmal um unseren kleinen Ortsteil herum bis zu unserem Haus. Meine Gedanken schweifen wieder ab.

Vor mehr als zehn Jahren haben meine Eltern das alte Haus gekauft, in dem wir jetzt leben, und es renoviert. Es war ihrer beider Traum. Die Wohnräume im Erdgeschoss führen einmal um das Treppenhaus herum, begehbar wie bei einem Rundgang. Dabei liegen Wohn- und Esszimmer wie zwei große ‚L‘ aneinander. Kommt man durch die Haustüre, findet man sich in einer Garderobe wieder, die Platz für eine Großfamilie bietet. Ein kleines WC wurde in den 60ern nachträglich eingebaut. Die Ausnahme ist eben die Küche. Drei dicke alte Steinstufen führen von dem Eingangsbereich nach unten. Die Treppe in die oberen Stockwerke ist mit einer Tür verschlossen, um die Wärme unten zu halten. Das erste Obergeschoss beherbergt das Reich meiner Mutter. Neben Badezimmer, Schlaf- und Gästezimmer befindet sich dort auch ihr Büro.

Unter dem Dach wohnten Lukas und ich. Jeder von uns hatte sein eigenes Zimmer, wir teilten uns jedoch das Bad und einen Raum, wo wir Hausaufgaben machten. Das Tolle ist die Unterteilung des Stockwerks. Wenn man die Treppe rauf kommt, befindet man sich in einem riesigen, offenen Bereich, von dem aus die einzelnen Zimmer betreten werden. Unter die Dachschrägen auf der linken Seite haben meine Eltern Schränke bauen lassen, sodass in den eigentlichen Zimmern viel Platz ist, da keine Schränke oder Ähnliches mehr nötig waren.

Mit den Jahren hat sich natürlich die Einrichtung verändert. Den Bereich am Treppenaufgang haben mein Bruder und ich in eine Art Wohnzimmer bzw. Lounge umfunktioniert, mit gemütlichen Sitzgelegenheiten. Wenn Freunde zu Besuch kamen, mussten wir uns nicht in einem der Schlafzimmer aufhalten, sondern konnte es uns hier bequem machen.

Genau diese Etage gehört jetzt mir alleine. Lukas Zimmer ist noch leer, aber im Winter wollen wir dort eine kleine Küche einbauen. Meine Mutter überlegt, eine Außentreppe anbringen zu lassen, damit ich einen eigenen Eingang habe. Nach den Ereignissen der letzten Nacht würde ich sagen, sie hat den Zimmerer schon angerufen.

Gedanklich bleibe ich bei meiner Mutter hängen. Lukas und ich verehren sie. Sie war trotz der Trauer um unseren Vater und des Umstandes, dass sie ihre Arbeit als Personalchefin in einer großen Firma nahe München nicht mehr ausführen konnte, nie verbittert. Ganz im Gegenteil, sie ist einer der fröhlichsten Menschen, die ich kenne.

Unser Vater war in der Versicherungsbranche tätig und hatte so dafür gesorgt, dass es uns finanziell gut ging – auch nach seinem Tod. Es war bestimmt ein kleiner Trost für sie, dass sie sich wenigstens um Geld und die damit verbundene Sicherheit ihrer Familie keine Sorgen machen brauchte.

Seit dem Unfall arbeitet sie nur noch von zu Hause aus. Sie konnte zwar ihren alten Posten nicht behalten, blieb jedoch der Firma treu und erstellt jetzt Präsentationen für Vorträge und entwirft Broschüren für Werbezwecke. Von Zeit zu Zeit fährt sie zu Schulungen, aber das ist nicht der Rede wert.

Sie war immer für uns da, immer greifbar. Sorgte Tag und Nacht dafür, uns die nötige Nähe und Sicherheit zu geben, und uns gleichzeitig unseren Freiraum zu lassen. Sie veränderte ihr ganzes Leben, strukturierte ihre Abläufe neu, um auch die Vaterrolle zu erfüllen. Denn jegliche Aktivitäten wie Klettern oder Wandern, die unser Vater mit uns unternommen hatte, wurden von ihr weiterverfolgt, um eine Alltagsnormalität zu schaffen, die wir beide brauchten.

Auch Lukas veränderte sich drastisch durch den Tod unseres Vaters. Er wurde immer ruhiger und ernster. Er kämpft bis heute mit Verlustängsten und einem überhöhten Verantwortungsbewusstsein. Er denkt, als der Ältere von uns beiden darf er sich keine Fehler erlauben. Das ist Quatsch, aber es will einfach nicht in seinen Schädel.

Ich würde nie etwas Schlechtes über meine Kindheit sagen, aber ich denke doch, dass ich etwas schneller erwachsen werden musste, als es mit einem Vater der Fall gewesen wäre. Denn unsere Mutter nahm uns ordentlich in die Pflicht, wenn es um den Haushalt ging.

Sie brachte uns alles bei und ließ sich nicht auf irgendwelche Geschlechterrollen ein. Von Putzen, Waschen und Bügeln bis hin zum Rasenmähen und Heckenschneiden. Wenn ich so darüber nachdenke, was in letzter Zeit immer öfter passiert, dann werde ich das Gefühl nicht los, dass meine Mutter Lukas und mich auf alles vorbereiten wollte. Wir sollten komplett selbstständig sein. Als ob sie davor Angst hatte, uns hilflos zurückzulassen.

Was muss sie die ersten Jahre bloß durchgemacht haben? Wir haben alle getrauert, uns die Zeit dazu genommen, weil es meiner Mutter wichtig war, diese Emotionen auszuleben. Aber ich weiß, sie hat immer versucht, ihre Trauer hintenanzustellen, um zu funktionieren. Um für mich und meinen Bruder da zu sein. Wir drei haben ein sehr vertrauensvolles und offenes Verhältnis und dafür bin ich dankbar. Es gibt bei uns keine Tabu-Themen, gab es nie.

Ich tauche unfreiwillig aus meinen Gedanken auf, weil ich über eine Wurzel stolpere, und sehe mich kurz verdutzt um. Ich war so in Gedanken, dass ich nicht darauf geachtet habe, wo ich lang laufe.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass Arie in einer halben Stunde vor meiner Tür steht. Zum Glück ist es nicht mehr weit, nur noch über die Wiese und die Straße runter und ich bin wieder zu Hause. Auf meinem Gesicht macht sich ein fettes Grinsen breit. Wenn Arie pünktlich ist, dann wird sie wahrscheinlich das Glück haben, meinen faulen Hintern nicht angezogen zu sehen, sondern unter der Dusche. Pech für den kleinen Troll.

3. Arie (Niklas)

Ich hatte recht!

Selbst durch das Wasserprasseln unter der Dusche kann ich das Poltern auf der Treppe hören. Ohne, dass ich etwas dagegen tun kann, schleicht sich ein Schmunzeln auf mein Gesicht. Fix drehe ich das Wasser ab, rubbele mir mit dem Handtuch durch das Haar und wickle es mir anschließend um die Hüften.

„Knirps? Sag mir, dass du mich verarscht und nicht unter der Dusche stehst! Was an angezogen verstehst du nicht? Ich hab keine Lust, dich nackt zu umarmen!“, plärrt Arie noch auf dem Weg die Stufen herauf, aber ich kann hören, dass sie es nicht ernst meint.

Sie reißt die Tür zum Badezimmer auf und bleibt wie angewurzelt stehen. Halbnackt, nur mit einem Handtuch um die Taille und ausgestreckten Armen, warte ich auf meinen Troll. Sie mustert mich von oben bis unten und sieht verwundert aus. Was ist los? Ist mir über Nacht ein zweiter Kopf gewachsen? Ich unterdrücke den Drang, mich umzudrehen und in den Spiegel zu schauen.

„Alter Falter! Was haben sie dir denn zu essen gegeben? Muss ich jetzt Angst haben, dass du mich zermatschst, wenn du mich knuddelst?“ Sie schmunzelt, bevor sie sich in meine Arme wirft. Das ist der Moment, auf den ich ein ganzes langes Jahr gewartet habe. Arie reicht mir gerade mal bis an die Brust. Ich neige meinen Kopf nach unten, um meine Nase in ihrem Wuschelhaar zu vergraben.

„Ich freu mich auch, dich zu sehen, mein kleiner, frecher Troll!“, murmle ich in ihre roten Locken und drücke sie fest an mich. Sie riecht noch genauso wie in meiner Erinnerung. Nach Sommer, nach Sonne, nach Vertrauen und Geborgenheit. Ich atme tief ein und schließe meine Augen.

Ihre Locken sind ein ordentliches Stück gewachsen, reichen ihr jetzt bis zur Brust. Sie hat sie nicht zusammengebunden und ich wühle meine Hand hinein, bis sie an ihrem Hinterkopf ruht. Arie wieder im Arm zu halten, fühlt sich wie der Himmel auf Erden an, und zum zweiten Mal an diesem Tag walzt ein Gefühl von unendlicher Dankbarkeit durch mich hindurch. Ich hab sie so vermisst und grinse wie ein Vollidiot. Überglücklich drücke ich sie noch ein bisschen fester an mich, bevor ich die Umarmung löse.

Um sie besser sehen zu können, schiebe ich sie ein Stück von mir weg, Arie schaut neugierig zurück und legt fragend den Kopf schief. Auf ihrer Nase und den Wangen haben sich viele Sommersprossen breitgemacht, die ihr einen noch frecheren Look verpassen und ihre grünen Augen zum Funkeln bringen. Ihre sonst viel zu blasse Haut hat einen leichten Braunton angenommen, lässt ihren kleinen, runden, roten Mund leuchten. Meinen Händen, die jetzt auf ihren Hüften liegen, bleibt nicht verborgen, dass sie sich dort weicher anfühlt. Ich lasse meinen Blick bewundernd an ihr herabwandern und bemerke, dass sie an den richtigen Stellen runder geworden ist. Sie sieht toll aus, in ihrem grünen, kurzen Sommerkleid und den weißen Sneakers. In dem vergangenen Jahr ist aus ihr eine Frau geworden, eine verdammt hübsche, um genau zu sein. Aber vielleicht war sie das auch schon vorher und ich habe es nicht wahrgenommen, weil sie immer um mich war.

Genau so muss eine Frau meiner Meinung nach aussehen. Nicht wie diese dürren Gespenster, die man überall sieht. Zugegeben, ich bin kein Fan davon, mit weiblichen Brüsten auf Tuchfühlung zu gehen, aber optisch können sie durchaus ein Highlight sein.

„Du siehst umwerfend aus!“, rutscht es mir raus. Ich weiß, es klingt lahm, aber ich meine es ernst.

„Ja, ich weiß, ich bin die Versuchung in Person, ist schon klar“, bringt sie lachend hervor und kuschelt sich zurück an meine Brust. „Eigentlich habe ich keine Lust, dich loszulassen, aber ich sterbe vor Hunger. Du solltest dir was anziehen, dann düsen wir los. Ich lade dich zum Essen ein.“ Sie sieht aus ihren grünen Augen zu mir auf.

Mein Magen knurrt zur Bestätigung und lachend schiebe ich sie vor mir aus dem Bad. Ich bleibe an einem der Wandschränke stehen, während sie weiter geht, wühle darin nach meinen Klamotten und ohne jegliche Scham lasse ich mein Handtuch fallen, um mir Shorts und eine Jeans anzuziehen.

Arie ist nicht im Mindesten beeindruckt von meiner Aktion und wartet ungeduldig an der ersten Stufe auf mich. Es gibt nichts, was sie nicht schon gesehen hätte. Zusammen haben wir so viel durchgemacht und es gab Momente, in denen wir seelisch blankgezogen haben, sodass Nacktheit noch nie ein Problem war.

Ein schwarzes T-Shirt in der Hand eile ich zurück ins Bad, ziehe es auf dem Weg zum Spiegel über den Kopf, um danach meine Haare mit Wachs zu stylen. Nachdem sie wild in alle Richtungen stehen, so wie ich es mag, flitze ich zurück zu Arie und wir machen uns auf den Weg nach draußen zu ihrem Auto.

Wir steigen in ihren schwarzen Suzuki Jimny und ich schaue sie überrascht an. Ich meine, ich liebe diesen Wagen, aber normalerweise ist er eine Müllhalde und riecht schrecklich. „Welche arme Sau hat denn dein Gefährt aufgeräumt und sauber gemacht?“, rutscht es mir raus, während ich mich anschnalle.

Sie zuckt mit den Schultern und startet den Motor. „Keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Es stand so in der Garage. Ich denke, mein Papa hat es weggebracht, um es reinigen zu lassen.“

„Vermutlich hatte er Angst, dass er nach einem halben Jahr einen Kammerjäger braucht, der seine Garage ausräuchert, wenn er es nicht tut.“ Für meine Aussage kassiere ich einen bösen Blick und einen Klaps auf den Oberarm. „Wo fahren wir eigentlich hin?“

„Ich dachte an Biergarten und Schnitzel. Seit über einer Woche freue ich mich auf ein Schnitzel mit Pommes oder auf eine Leberkäsesemmel“, schwärmt sie und streichelt sich dabei ihren Bauch.

„Guter Plan, und weil wir gerade beim Thema sind, meine Mama wollte wissen, ob wir heute Abend zum Essen da sind?“, frage ich und stelle fest, dass ich mein Handy vergessen habe. Mist!

„Unbedingt! Ich hab sie ja noch nicht gesehen. Was ist mit den Jungs, sind die heute Abend auch da?“