Sam Phillips. Der Mann, der den Rock´n´Roll erfand - Peter Guralnick - E-Book

Sam Phillips. Der Mann, der den Rock´n´Roll erfand E-Book

Peter Guralnick

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Beschreibung

"Ich war schon immer der Meinung, dass Sun Records und Sam Phillips die entscheidensten, erhebensten und stärksten Platten aller Zeiten produziert hatten. Bei Sun Records sangen die Künstler um ihr Leben und hörten sich an, als kämen sie aus der rätselhaftesten Ecke des Planeten. Wenn man sie hinter sich ließ und den Blick zurück warf, konnte man zur Salzsäule erstarren." Bab Dylan, ChroniclesDie Biografie über das visionäre Genie, das den revolutionären Weg von Sun Records im Alleingang lenkte. Vom Autor der von der Kritik gefeierten Elvis-Presley-Biografie "Last Train to Memphis" und "Careless Love" endlich in deutscher Sprache: Sam Phillips. Der Mann, der den Rock´n´Roll erfand. Die Musik, die er in seinem winzigen Memphis-Studio mit so unterschiedlichen Künstlern wie Elvis Presley, Ike Turner, Howlin' Wolf, Jerry Lee Lewis und Johnny Cash prägte, brachte einen Sound hervor, der noch nie zuvor gehört worden war. Er schuf eine einzigartige Mischung aus schwarzen und weißen Stimmen, die voller Leidenschaft die Vitalität der amerikanischen Volkstradition verkündete und gleichzeitig ein für alle Mal einen neuen, integrativen Musikstil proklamierte. Mit umfangreichen Interviews und persönlichen Beobachtungen aus erster Hand, die sich über einen Zeitraum von 25 Jahren erstreckten, sowie umfangreichen Interviews mit nahezu allen legendären Sun Records-Künstlern, liefert uns Guralnick ein leidenschaftliches, ungeschöntes Porträt eines amerikanischen Originals. Der Autor Peter Guralnick begleitete Sam Phillips und seine Weggefährten über viele Jahre hinweg, um einen umfassenden Einblick in Sun Records und dessen gesamtes Umfeld zu erlangen. Er beschreibt Sam Phillips' schweren Start, aber natürlich auch seinen unglaublichen Aufstieg. Besonders spannend ist dabei, auch bisher eher unbekannte Seiten von Sam Phillips kennen zu lernen. Seine große Liebe zum Radio, seine Motivation, im Tonstudio immer ausgefeiltere Aufnahmetechniken zu entwickeln oder sein Drang zu waghalsigen Expansionsmanövern weit über die Grenzen seiner Wahlheimatstadt Memphis hinaus. Gleichzeitig zeigt Peter Guralnick aber auch die Schattenseiten von Sam Phillips auf, die es im Wirken außergewöhnlicher Persönlichkeiten vielleicht immer gibt. Wir lernen in diesem Buch einen Geschäftsmann mit einem unvorstellbaren Antrieb und einem unbändigen Durchhaltevermögen kennen, aber natürlich auch einen ganz persönlichen Sam Phillips. Doch dieses Buch ist mehr als nur eine Biografie über Sam Phillips. Es ist eine Biografie über die Entstehung der amerikanischen Popkultur. Es ist die Biografie einer Musikszene, die unsere heutige Kultur so entscheidend geprägt hat wie keine zuvor und keine danach. Es ist die Biografie über ein Amerika, in dem der Blues und der Rock'n'Roll in kleinen Schritten, aber ganz entscheidend für die Gleichberechtigung von Menschen aller Hautfarben gekämpft hat.

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SAM PHILLIPS

Cosoc Grand PalacePublishing

EBENSO VON PETER GURALNICK

Dream Boogie: The Triumph of Sam Cooke

Careless Love: Elvis Presley — Sein Niedergang

Last Train to Memphis: Elvis Presley — Sein Aufstieg

Searching for Robert Johnson

Nighthawk Blues

Sweet Soul Music: Rhythm and Blues and the Southern Dream of Freedom

Lost Highway: Journeys and Arrivals of American Musicians

Feel Like Going Home: Portraits in Blues and Rock ’n’ Roll

SAM PHILLIPS - Der Mann, der den Rock’n’Roll erfand

Copyright © 2019, Cosoc Grand Palace Publishing

Originalausgabe: Little, Brown and Company, Hachette Book Group

Übersetzung des englischen Originals: Michael Widemann

Satz: Yasmin Karim

Alle Texte und Bilder sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung ohne Zustimmung des Verlags ist unzulässig. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Ausgenommen hiervon sind auszugsweise Zitate mit Quellenangabe. Alle Rechte vorbehalten.

SEITE I: Acetat von Rocket 88. Mit freundlicher Genehmigung von Jerry Gibson und Jim Cole

TITELSEITE VI: Elvis, Bill Black und Scotty Moore, Februar 1955, durch das Fenster des Regieraums.

Mit freundlicher Genehmigung der Familie Sam Phillips.

SEITE VIII: Sam und Becky mit Knox und Jerry, Mai 1949.

Mit freundlicher Genehmigung der Familie Sam Phillips.

SEITE 1: Bandschachtel von Mystery Train mit Mastering-Anweisungen.

Mit freundlicher Genehmigung von Ernst Jorgensen.

SEITE 604: Mit freundlicher Genehmigung der Familie Sam Phillips.

Text von I Walk the Line, geschrieben von John R. Cash.

© 1956, erneuert, BMG Bumblebee/House of Cash, Inc. Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck mit Genehmigung.

Das Urheberrecht aller Fotos liegt bei den genannten Fotografen bzw. Eigentümern.

Alle Rechte vorbehalten.

CGP 1002

ISBN 978-3-98210-160-6

eISBN 978-3-98210-162-0

Printed in the EU

Für Knox PhillipsUnd für Ava, Anastasia und Frances

Inhalt

Anmerkungen des Autors

1 | „I dare you!“1923 — 1942

2 | Radio-Romanze1942 — 1950

3 | Der Preis der FreiheitJanuar 1950 — Juni 1951

4 | „Where the Soul of Man Never Dies“Juni 1951 — Oktober 1952

5 | Perfekte UnvollkommenheitJuni 1952 — Juli 1953

6 | Prisoner’s DreamJuli 1953 — Februar 1955

7 | Spirituelles ErwachenJanuar 1955 — Dezember 1956

8 | „I’ll Sail My Ship Alone“1957 — 1961

9 | „Sie zerren dich zur Klippe und schubsen dich runter“1979 — 1961 — 1979

10 | „How Lucky Can One Man Get“1980 — 2003

Anmerkungen

Bibliografie

Diskografische Anmerkungen

Danksagung

Index

Auszug aus einem szenischen Schauspiel, in dem Sam Phillips sich an den Autor wendet

Dies ist eine großartige Geschichte, und sie wird in die Annalen eingehen. Ich habe keine Ahnung, wie großartig das Buch sein wird — aber es ist eine großartige Geschichte. Pass auf, Peter, ich sag dir jetzt, was ich allen meinen Kindern gesagt habe, was ich jedem Musiker gesagt habe, der durch meine Tür gekommen war: Hab keine Angst. Ganz egal, was ich dir sage, hab keine Angst. Aber scheiß dir vor Angst in die Hose, wenn du nicht bei allem nach deinem besten Urteilsvermögen vorgehst. Lass die Geschichte nicht im Stich. Scheiß auf Sam Phillips. Scheiß auf alles. Das ist eine wichtige Ära — du hast ihr gegenüber so viel mehr Verantwortung als gegenüber irgendeiner einzelnen Person, inklusive meiner traurigen Gestalt.

Der Autor bestätigt, dass dem so sei. Der Autor legt den Schluss nahe, dass er, sollte er nicht ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, in Sams Augen versagt haben wird.

Wenn das nicht passiert, dann bist du nur ein weiterer dieser Hurensöhne, die diese Sache zum Nachteil der wundervollen Veränderungen ausnutzen, die sie herbeigeführt hat. Und das wäre nicht richtig. Wenn du das zulässt, dann bist du kein sehr gewissenhafter, hingebungsvoller, passionierter Mensch. Es ist nicht deine Aufgabe, mich in einem guten Licht erscheinen zu lassen. Räum mir einfach den Platz ein, der mir zusteht. Mann, es ist mir scheißegal, ob du auch nur ein gutes Wort über mich verlierst. Deine Aufgabe ist es, alles ins rechte Licht zu rücken und den ganzen Schwachsinn aufzudecken. Davon hat es schon genug gegeben. Ich sag’s dir, Peter, um Himmels willen, geh dem auf den Grund. Und pass auf, sag deinem verdammten Verleger: „Hey, und wenn es eine Ewigkeit dauert, das Ding zu schreiben, dann wird es das Authentischste sein, das je aus dieser Ära hervorgegangen ist. Mit all den gegenteiligen Widersprüchlichkeiten.“ Hast du mich verstanden?

AUTOR: Habe ich. (Und das hat er.)

„Daraus zog er eine Lehre: Schätze das Originelle, Zerbrechliche und Ungeschliffene. Das ist die Kunst.“ —HOLLAND COTTERüber die Kunst von Henri Matisse

„Uns, ihren minder erprobten Nachfolgern, erscheinen sie groß … [als die, die] einer inneren Stimme, einem Trieb ihres Blutes, einem Zukunftstraum gehorchend, in unbekannte Fernen vordrangen. Sie waren wunderbar, und man muss zugeben, sie waren bereit für das Wunderbare.“— JOSEPH CONRAD, Lord Jim

Bei der Arbeit an diesem Buch wurde versucht, den Stil des Autors so weit wie möglich wie im Original zu belassen. Das betrifft seinen Stil, aber auch seine Verwendung verschiedener Zeiten, seine Vorstellung von direkter und indirekter Rede sowie die Wiederholung gleicher Verben.

Anmerkungen des Autors

Es war eine große Verantwortung, was, wie ich denke, aus der dramatischen Rekonstruktion auf der vorangegangenen Seite klar geworden sein sollte —, doch keine, vor der ich jemals das Gefühl hatte, dass sie mich erdrücken könnte.

Ich lernte Sam während einer Überschwemmung kennen (siehe Kapitel 9), und wie ich damals schrieb, hatten seine Worte von diesem ersten Treffen an das ganze Gewicht prophetischer Wahrheit. Er erschien mir wie ein alttestamentarischer Prophet, sowohl was sein Aussehen als auch sein Auftreten anging. Oder, wie Songwriter John Prine sagte, als er seine eigene erste Begegnung mit Sam beschrieb: Seine Augen wurden immer größer, „wie Feuer und Schwefel. Es sah aus, als stünden seine Augenbrauen und auch seine Augen in Flammen — sie waren einfach nur wild —, du hättest schwören können, dass sich seine Haare jederzeit kringeln würden, und seine Hände bewegten sich wie die eines Predigers.“

Ich meine, das war schon etwas!

Aber das war es nicht — nicht wirklich. Zumindest nicht alles. Ich schätze, ich sollte gleich zu Beginn gestehen, was dem Leser sicherlich umgehend klar werden wird: Dies ist ein Buch, das aus Bewunderung und Liebe geschrieben wurde. Ebenso wird es kaum weniger offensichtlich sein, dass dieses Buch sich von den anderen beiden Biografien unterscheidet, die ich geschrieben habe: über Elvis Presley und Sam Cooke. Nicht, dass in diesen Büchern weniger Bewunderung oder Liebe stecken würde. Doch ich kannte Sam Phillips, ich kannte ihn seit beinahe 25 Jahren, ich ging mit ihm durch gute und durch schlechte Zeiten, und während ich es mir vielleicht nicht unbedingt ausgesucht hätte, mir von meinem Protagonisten meine Verantwortlichkeiten vorschreiben zu lassen, so sind es doch dieselben Verantwortlichkeiten, die jeder andere Biograf auch empfindet (geh der Wahrheit auf den Grund, hab keine Angst, und letztendlich „Scheiß auf alles“) — es sind die selbstauferlegten Verantwortlichkeiten, die jeder Autor auf sich nimmt, Schriftsteller oder Sachautor, was auch immer sich daraus ergeben wird.

In diesem Sinne sollte ich vielleicht auch hinzufügen, dass Sam den Untertitel dieses Buchs abgelehnt hätte — nun, um ganz ehrlich zu sein, hätte er ihn sowohl abgelehnt als auch beansprucht, so wie er es häufig tat, in den meisten Fällen sogar in ein und demselben ausufernden Satz. „Ich habe mich nicht aufgemacht, die Welt zu revolutionieren“, sagte er einmal. Stattdessen wollte er die These auf die Probe stellen, dass es in den Leben einfacher Menschen, ob schwarz oder weiß, unabhängig von sozialer Stellung, etwas „sehr Tiefgründiges“ gab. „Mir war die räumliche Trennung der Rassen bewusst —, doch mir war auch die Verschmelzung ihrer Seelen bewusst.“ Und genau das wollte er einfangen, als er im Januar 1950 sein Studio eröffnete, „als schwarze Künstler im Süden, die eine Platte machen wollten“, wie er bereits anfangs verkündete, „einfach keinen Ort hatten, zu dem sie gehen konnten.“ Dies widersprach allen praktischen Erwägungen, dies widersprach jedem gut gemeinten Ratschlag. Er selbst sah sich nicht als Kreuzritter („Ich kann Kreuzritter schlichtweg nicht leiden“), sondern vielmehr als Forscher. Aus Sams Sicht: „Rock’n’Roll war kein Zufall. Ganz und gar kein Zufall.“ „Du kannst sagen“, wies er mich an, „er knipste das Licht an und der Schein fiel auf das Opossum. Genau dort.“

Nun, ich schätze, das ist eine Art es auszudrücken. Sagen wir einfach, dass Sam der Mann war, der den Rock’n’Roll entdeckte. Wichtiger noch, er betrachtete es als seine Mission im Leben, „im Künstler selbst einen Raum der Freiheit zu öffnen“ — egal ob dieser Künstler nun Elvis Presley, Howlin’Wolf, B.B. King oder Johnny Cash war —, „diese einzigartige Eigenschaft eines jeden Individuums zu erkennen und dann den Schlüssel zu finden, mit dem man sie befreien konnte.“ Und genau das versuchte er mit jedem Künstler zu tun, der sein Studio betrat, ganz egal, ob sie jemals irdische Erfolge erzielten, ganz egal, ob das überhaupt jemals wahrscheinlich wäre.

Einem Außenstehenden mag es manchmal so vorgekommen sein, als ob die Musiker einfach nur so herum fummelten, und dass der Produzent (ein Begriff, der damals überhaupt noch nicht existierte, und den Sam zu einem gewissen Grad immer verabscheute: Ich glaube, ihm hätte es besser gefallen, als praktizierender Psychologe bezeichnet zu werden) das Ganze einfach den Bach hinuntergehen ließ. Doch das tat er nicht. Er versuchte ganz einfach nur alles auf seine aussagekräftigste Essenz zu reduzieren. Michelangelo sagte: „In jedem Marmorblock sehe ich eine Statue so wahrhaftig, als stünde sie bereits vor mir, perfekt in Haltung und Bewegung geformt. Ich habe nur die rauen Stellen zu entfernen, die die schöne Erscheinung einsperren, um sie den Augen anderer zu zeigen, wie ich sie sehe.“ Das war es, was Sam Phillips nicht im Marmor, sondern in unerprobten und unerfahrenen Menschen sah, für die niemand das Wort ergriff: Eine Eloquenz und eine Gabe, von der sie oft nicht einmal selbst wussten, dass sie sie besaßen. Wie andere gefeierte amerikanische Künstler — wie Walt Whitman, der danach strebte, die gesamte Bandbreite der amerikanischen Erfahrung in seiner Poesie zu erfassen; wie William Faulkner, der hinter die Vorurteile auf individuelle Differenzierungen sehen konnte; wie Mark Twain, der die Freiheit des Flusses zelebrierte und die Weigerung, zivilisiert zu werden — war Sam getrieben von einer kreativen Vision, die ihm gar keine andere Wahl ließ, als mit hartnäckiger Entschlossenheit denen eine Stimme zu geben, die keine Stimme hatten. „Mit dem Glauben, den ich an diese Musik hatte, an diese Menschen“, sagte er, „wäre ich der größte verdammte Feigling auf Gottes grüner Erde gewesen, hätte ich das nicht getan.“

Ab dem Tag, an dem ich ihn 1979 kennengelernt hatte, begann Sam Phillips, mir die Geschichte seines Lebens zu erzählen. Natürlich nicht explizit. Andererseits, in Anbetracht seines abschweifenden Wesens, war es dann doch sehr ausführlich. Für Sam war sein Leben abwechselnd episch, mythisch, vertraulich und lehrreich, und der Tonfall, mit dem er es für gewöhnlich beschrieb, war zwanglos, kolloquial, schwärmerisch, donnernd und auf eloquente Weise abgekartet. Was alles zusammengenommen jeglicher Hoffnung auf Geradlinigkeit so ziemlich einen Strich durch die Rechnung machte. Worauf man es in Sams Worten abgesehen hatte, war „nur ein weiterer beschwingter Tag auf dem Jahrmarkt.“

Er sah sich selbst als Lehrer und als Prediger. Das war die Motivation, die ihn dazu bewegte, seine Botschaft in die Welt hinauszutragen, noch lange nachdem er damit aufgehört hatte, Platten zu machen. Doch in einem sehr konkreten Sinn erwies sich die Persona, die er später im Leben erschuf, um diese Botschaft zu vermitteln, als Bärendienst für die aufmerksame, reaktive Rolle, die er eingenommen hatte, als seine ganze Aufmerksamkeit nur darauf ausgerichtet war, „aus einem Menschen das herauszuholen, was in ihm steckte …, ihm dabei zu helfen, das auszudrücken, was er glaubte, was seine Botschaft war.“ Für Sam musste jede Session wie „der Dreh von Vom Winde verweht sein“, mit all seiner epischen Erhabenheit —, doch gleichzeitig musste jede Session auch Spaß machen. Wenn es keinen Spaß machte, dann machte es auch keinen Sinn, sagte er, und — natürlich —, wenn man nicht etwas Neues, Andersartiges machte, dann könnte man gut und gerne auch gar nichts machen. Und was das Thema Scheitern betraf, so konnte es dergleichen in seinem Studio nicht geben, denn letzten Endes, beharrte Sam, ging es immer um die unkonventionelle Selbstentfaltung, nicht mehr und nicht weniger.

„Perfekte Unvollkommenheit“ lautete die Parole — sowohl im Leben als auch in der Kunst —, mit anderen Worten, nimm das Blatt an, das dir zugeteilt wurde, und mach dann das Beste daraus. Als der Verstärker von Ike Turners Gitarristen auf dem Weg nach Memphis für die Aufnahme von Rocket 88 vom Auto fiel, stopf einfach Papier an die Stelle, wo die Lautsprechermembran gerissen war und DANN HATTEST DU EINEN ORIGINELLEN SOUND! Wenn mitten während einer Session plötzlich das Telefon klingelte, kein Problem, lass das Klingeln einfach drin — sorge nur dafür, dass es DAS BESTKLINGENDE VERDAMMTE TELEFON AUF DER GANZEN WELT ist.

Man kann verstehen, wie dies einen Menschen beeinflussen könnte — und mit „Menschen“ meine ich in diesem Fall mich. Sam kennengelernt zu haben war für mich ein lebensveränderndes Ereignis —, doch trotz all der Eindrücklichkeit seiner Botschaft, und trotz der Tatsache, dass ich im Nachhinein glaube sagen zu können, dass er bei jenem ersten Treffen praktisch jeden einzelnen Punkt in seiner Schilderung getroffen hatte, so bemerkte ich schon bald, dass dies eine Botschaft war, die man nur allzu leicht missverstehen konnte. Als Sam zum Beispiel von seinem Nervenzusammenbruch und den Elektroschockbehandlungen nicht lange, nachdem er das Studio eröffnet hatte, erzählte (er rief sogar seine Frau Becky an, um das Datum seines Krankenhausaufenthalts zu verifizieren), dachte ich, dass dies ein für alle Mal einen Sieg über die Dunkelheit verkörpern würde. Doch das war nicht ganz das, was Sam meinte, obwohl ich das zu jener Zeit nicht hatte wissen können. (Er meinte auch nicht das Gegenteil.) So viele Schlussfolgerungen, zu denen ich kam, nach jener ersten Vertiefung in das Buch Sam, die Schlussfolgerungen, auf die Sam hindeutete, und in gewisser Weise immer wieder hindeutete, waren so viel nuancierter als die äußerst selbstbewusste Sprache, in der sie verpackt waren. Ich meine, es war nicht so, dass sie im Verlauf der Jahre nicht standhielten. Das taten sie. Wenn überhaupt, dann wurden sie eher nur noch verstärkt. Doch sie wurden durch das Leben, das er lebte, modifiziert, so wie alle unsere Wahrheiten modifiziert werden. Sie waren wie die Familienanekdoten, die wir uns alle gegenseitig erzählen, eine hübsche Zusammenfassung einer weitaus tieferen und komplexeren Realität.

Seit jener Zeit stehe ich mit Sam in einem regen, anhaltenden Dialog, was sicherlich keinem Leser dieses Buchs entgehen wird. Diese Unterhaltung ist zu keiner Zeit weniger als lebhaft — sie regt zum Nachdenken an, ist fesselnd und oftmals genauso schwierig wie sie es auch im wahren Leben war. Der Unterschied ist ganz einfach, dass es im wahren Leben kein Abschaltventil gab. Jetzt, mehr als zehn Jahre nach seinem Tod, kann ich mich einfach nach drei, vier, vielleicht fünf Stunden von Sam verabschieden und anderen Dingen nachgehen. Es ist, schätze ich, gesitteter —, doch wenn Sam die Wahl gehabt hätte, dann bin ich mir nicht sicher, ob ein höflicher Diskurs jemals seine bevorzugte Methode gewesen wäre.

Wie viele Mal habe ich ihn nach Fakten oder einfach seiner Meinung fragen wollen? Ich analysiere die Aufzeichnungen unserer Unterhaltungen, ich brüte über den Interviews, versuche zwischen den Zeilen zu lesen und wage abzuschätzen, wie sein Tonfall und sein Gesichtsausdruck gewesen sein musste — ich zermartere mir den Kopf bei dem Versuch, Sams ciceronianische Syntax zu interpretieren oder, die regelmäßigen Schlussfolgerungen zu erraten, zu denen er nie ganz gelangte.

Manchmal — nun ja, mehr als nur manchmal — male ich mir Sams Reaktion aus. Mehr als nur ein Mal habe ich vorübergehend gezögert, einige der Dinge zu enthüllen, die er dem Anschein nach geheim hielt. Oder von denen ich zumindest nichts wusste. Was selbstverständlich zwei verschiedene Paar Schuhe sind, auch wenn man oft versucht ist, die beiden als ein und dasselbe zu betrachten. Doch letzten Endes hoffe ich, Sams Weisung zu vollkommener Ehrlichkeit treu geblieben zu sein („Ich will keine Lobeshymne. Ich will nur die Wahrheit. Und Peter, so wahr mir Gott helfe, …, wenn du Scheiße baust, dann bist du in meinen Augen ein gottverdammter Betrüger, und das werde ich dir ins Gesicht sagen!“), gepaart mit derselben Rücksichtnahme auf Menschen, die Sam so oft an den Tag legte, auf seine Art und Weise, insbesondere bei seinen kreativen Unternehmungen. Ich habe auch versucht, mir ein Beispiel an seinem unerschütterlichen Glauben an die Menschheit zu nehmen. Nicht an dem sentimentalen unerschütterlichen Glauben. Wovon ich hier spreche, ist das breit angelegte Bezugssystem, das ein für alle Mal den Aufschrei „Das ist widerlich!“ in Bezug auf ein Verhalten, mit dem wir nicht vertraut sind oder das wir nicht gutheißen, streicht und durch die Erkenntnis „Das ist menschlich“ ersetzt. Mit anderen Worten: In Sams Kosmogonie gab es nichts, was uns weniger menschlich machen konnte, selbst wenn es nicht mit der etwas bequemeren Geschichte konform ging, die wir so gerne über uns erzählen.

Sam machte stets unmissverständlich klar — nicht nur mir gegenüber, sondern jedem, mit dem er zu tun hatte —, dass er die harte, ungeschminkte Wahrheit wollte, und ich zweifelte nicht auch nur eine Sekunde, dass er das so meinte. Wie Jerry Phillips einmal sagte, als er mit sich rang, ob er eine besonders unbehagliche Geschichte über seinen Vater erzählen sollte: „Sam hätte nur gesagt, ‚Sag die gottverdammte Wahrheit‘“ — und das ist es, zu was er und jedes andere Mitglied von Sams Familie sich auch verpflichtet fühlte. Nicht so sehr im Sinne von ‚Lass die Dinge einfach laufen und scheiß drauf, was passiert‘ (seine Frau Becky war dafür zu nett, Knox zu treu, und seine langjährige Gefährtin Sally Wilbourn trotz ihrer unerschütterlichen beschützenden Schale letzten Endes vielleicht zu zerbrechlich), doch da war niemand, und schon gar nicht Sam, der das Gefühl hatte, er müsste seine Menschlichkeit hinter einem säuberlich geformten Konstrukt verstecken, zu irgendeinem Zeitpunkt die Wahrheit einer einladenden, schillernden Legende opfern.

Da waren so viele verrückte Begebenheiten, so viele knüppelharte Saufgelage (ich spreche hier von Sam) — Knox und ich diskutierten andauernd über unsere gut durchdachten und dann doch verkorksten Pläne und Erwartungen. („Das war ein sonderbares Interview mit Sam“, sagte Knox dann vielleicht. „Ich meine, sonderbar gut“). Doch ohne auch nur annähernd meinen eigenen Status als Außenseiter mit Knox’ unauflösbarer Verbundenheit mit seinem Vater gleichstellen zu wollen — ich meine, nahestehend beschreibt nicht mal ansatzweise ihr Verhältnis —, da war kein einziges Mal, und da sind wir uns schnell einig, es gab keinen einzigen Moment, für den wir beide nicht alles geben würden, ihn zurück zu haben. Wie Sam ganz sicher sagen würde, sie waren alle großartig, sie mussten alle geschätzt werden — denn jeder einzelne von ihnen war zweifelsohne echt. E-C-H-T.

Wie ihr sehen könnt, hat nahezu jeder, der Sam liebte, zu diesem Buch beigetragen. Nicht alle von ihnen verstanden Sam. Tatsächlich taten dies außerhalb des engsten Familienkreises die meisten wahrscheinlich nicht — mit der nennenswerten Ausnahme solch selbsternannter „Spinner“ wie Jack Clement und Sputnik Monroe, die auch noch stolz darauf waren, oder etwas zurückhaltendere kühlere Köpfe wie Roland Janes. Einige hielten ihn gerne für eine Art von nach Höherem strebenden „Rodeo-Clown“ — und waren ganz einfach amüsiert über seine etwas haarsträubenderen Behauptungen und Taten (siehe seinen Auftritt bei der David Letterman-Show). Doch es gab niemanden, den ich kennenlernte, den Sam nicht berührt oder auf irgendeine Art und Weise inspiriert hätte. Es gab niemanden, der seine einzigartige — nun ja, wenn auch nicht jeder es als „Genialität“ bezeichnen wollte — nicht anerkannt hätte, und jeder einzelne räumte bereitwillig ein, dass er nie jemanden getroffen hatte, der auch nur annähernd so war wie Sam.

Was mich zurück zu meiner Rolle in diesem Buch bringt. Da mir natürlich, so wie jedem anderen in Sams Leben auch, eine Rolle zugeteilt war, ganz egal wie klein sie auch sein mochte, wurde von mir und jedem anderen auch erwartet, dass ich sie zu erfüllen habe, was bereits aus unserem nur bruchstückhaften Dialog deutlich geworden sein sollte. Beim Schreiben dieses Buchs hatte ich das Gefühl, dass ich diese Rolle zu meinem Vorteil nutzen musste, nicht etwa um mich selbst größer zu machen, sondern vielmehr um Einblicke aus erster Hand zu liefern, die ich aus persönlicher Erfahrung ganz einfach nicht gewähren konnte. Es ist nicht so, dass die Ereignisse, deren Zeuge ich geworden war, durch meine Anwesenheit in irgendeiner Weise verstärkt wurden, doch sie wurden dadurch auch in keinster Weise weniger farbenfroh oder signifikant, und natürlich war es eine seltene Gelegenheit, direkt von der Front zu berichten.

Vereinzelt (sehr vereinzelt) wurde ich Zeuge, wie Geschichte geschrieben wurde, häufiger Zeuge eines entfesselten Ausdrucks von Persönlichkeit, doch am allerwichtigsten — mir wurde ein flüchtiger Blick, ob gewollt oder ungewollt, wie Sam vielleicht gesagt hätte, auf das komödiantische Drama des wahren Lebens gewährt. Wie ich zusammen mit Sam bei einer Veranstaltung der National Academy of Recording Arts and Science in Memphis gesessen war, direkt vor (und direkt nach) seiner Lobeshymne auf Johnny Cash, Jesus und das Peabody Hotel, die die Hälfte des Publikums geschockt und beleidigt hatte, während sie gleichzeitig Sams Ansehen als wahrer „Shockabilly“ in den Augen der anderen Hälfte noch weiter gesteigert hatte. Private Momente der Trostlosigkeit und Verzweiflung (vielleicht ist Verzweiflung ein zu großes Wort für seine Gefühle — Zweifel möglicherweise?), als er sich seinen Frust von der Seele redete und sich dann selbst dafür tadelte, solch negative Gedanken zugelassen zu haben, ganz entgegen all seiner festen Überzeugungen. Jene Zeiten, als er sich eine längst vergessene Vergangenheit in Erinnerung rief und unbesungene („unbesungen“ selbst im Rahmen dieses Buchs) Helden heraufbeschwor, wie Alex „Puddin’“ Beck, einen afroamerikanischen Klempnergehilfen, der in Sams Worten nicht minder talentiert war als jeder studierte Abwasseringenieur und selbst nach dem dreckigsten und stinkendsten Auftrag stets wie aus dem Ei gepellt aussah. „Hey“, sagte Sam ohne auch nur einen Anflug von Ironie, „willst du mir vielleicht sagen, dass solche Leute nicht talentiert wären?“ Und dann gab es noch jene seltenen ungeschminkten Momente, als alle Masken abgelegt waren und Sam aufrecht wie König Lear in der Heide stand und gegen unsichtbare Katarakte und Wolkenbrüche wütete.

Was für mich bei vielen Biografien problematisch sein kann — eigentlich bei so vielen Geschichten schlechthin —, ist die Tatsache, dass sie sich voraussichtlich in die Länge ziehen werden. Bei Elvis Presley und Sam Cooke hat sich dieses Problem nie wirklich gestellt. Sie sind beide so jung gestorben. Doch Sam Phillips wurde 80 Jahre alt, und im Grunde hatte er sich zu jenem Zeitpunkt bereits vor mehr als 40 Jahren aus jedem aktiven Engagement im Musikgeschäft zurückgezogen. Sam war niemals langweilig — zumindest nicht für mich —, eine Aufzählung all seiner Auszeichnungen und Ehrungen jedoch wäre das schon. Ich habe mein Bestes getan, diese Aufzählung zu vermeiden. Stattdessen habe ich versucht, ein Buch zu schreiben, das Sams Definition entspricht, wie eine Aufnahme-Session auszusehen hat: So episch wie — na ja, entscheidet selbst — und doch so intim wie ein Geschlechtsakt. Ein Buch, das eine Geschichte erzählt, die wie die allermeisten Geschichten auf ihre eigene sterbliche Art und Weise gleichzeitig heroisch wie auch tragisch sein kann.

Manchmal erscheint er mitten in der Nacht als ungebetener Gast. Er gibt mir sogar Rätsel zum Lösen. In einem Traum sagte er zu meiner Verwirrung (sowohl damals als auch heute): „Ich bin ein überzeugter Idealist … Ich bin alles andere als ein Idealist … Der Junge kann das nicht völlig verstehen.“ Ich träume von Sam. Ich träume von meinem Großvater. Ich träume von Solomon Burke und dem Songwriter Doc Pomus. Alle gestorben. Sie erscheinen mittlerweile immer seltener. Doch wenn Sam kommt, sehr oft inmitten eines Strudels widersprüchlicher Bedenken, und am Fenster rüttelt, höre ich stets aufmerksam zu.

SAM PHILLIPS

Sam im Alter von acht Jahren. Mit freundlicher Genehmigung der Familie Sam Phillips.

EINS | „I dare you!“

Meinen Ohren entging nichts. Eine Spottdrossel oder eine Schwarzkehl-Nachtschwalbe — draußen auf dem Land an einem ruhigen Nachmittag. Die Stille der Baumwollfelder, diese wunderschöne, rhythmische Stille; eine Hacke, die ab und an auf einen Stein trifft, und genau in dem Moment, als sie sich durch den Dreck gräbt, konnte man sie hören. Das war einfach eine unglaubliche Musik: Diesen Vogel vielleicht 300 Meter entfernt zu hören, obwohl der Wind nicht einmal in deine Richtung wehte oder überhaupt kein Wind ging. Aber es trug, und es drang an meine Ohren. Ich hörte, wie irgendjemand barsch zu einem Esel sprach; ich hörte das. Ich meine, ich hörte alles. Schon bald begann ich [auch] Menschen zu beobachten, vor allem anhand von Geräuschen — ich konnte sicherlich nicht mit allem, was ich hörte, etwas anfangen, aber ich wusste, dass ich etwas besaß, das ich zu meinem Vorteil nutzen konnte. Ich musste nur noch herausfinden, was ich damit anfangen konnte.

In späteren Jahren sprach Sam Phillips von dem Moment seiner Ankunft auf dieser Erde immer mit einem distanzierten Staunen, das nicht gänzlich frei war von sarkastischer Belustigung. „Nimm meinen Arsch, der im Sterben lag, als ich geboren wurde, und nimm dazu noch einen besoffenen Arzt — Mann, er hat es nicht mal rechtzeitig zu meiner Geburt geschafft — und meine Mama war so fürsorglich, dass sie aus dem Bett aufstand und ihn hinlegte, bis er wieder nüchtern war, und dann kam noch die Hebamme und Mama tat Dr. Cornelius so leid, dass sie mich nach ihm benannte!“

Niemand fand je mehr Gefallen an seiner eigenen Geschichte als Sam Phillips. Seiner Erzählung nach war sie eine ebenso poetische wie realistische Vision, eine mythische Reise aus narrativer Handlung, revolutionärer Rhetorik, delphischen Prophezeiungen und der Genugtuung eines jeden alttestamentarischen Gottes, auf das Resultat zurückschauen zu können und es für „gut“ zu befinden. Im Laufe der Jahre sollte er immer wieder zu denselben Leitmotiven zurückkehren, mit unterschiedlichen Details und unterschiedlicher Gewichtung, doch stets mit derselben zugrunde liegenden Botschaft: Der angeborenen Erhabenheit nicht so sehr des Menschen, sondern vielmehr der Freiheit, und der Verantwortung — nein, der Verpflichtung — eines jeden einzelnen von uns, so andersartig zu sein wie es uns unser unverwechselbarer und einzigartiger Charakter erlaubte. Mit Sams Worten: Aufs Äußerste andersartig zu sein.

Die Phillips-Familie, 1916 (bevor J.W. und Sam geboren wurden). Von links nach rechts: Charles, Irene, Horace, Madgie und Tom. Stehend im Hintergrund: Mary und Turner. Mit freundlicher Genehmigung der Familie Sam Phillips.

Doch es begann immer mit einem schmächtigen, kränklich aussehenden flachsblonden kleinen Jungen, der von der 130 Hektar großen Farm an der Biegung des Flusses, ungefähr 15 Kilometer außerhalb von Florence, Alabama, auf die Welt hinaus blickte.1 Seinem Daddy gehörte die Farm nicht, er hatte sie nur gepachtet, und als Sam acht Jahre alt war, hatten seine beiden ältesten Brüder und seine ältere Schwester bereits geheiratet und ihn zu Hause zurückgelassen, zusammen mit seiner 17 Jahre alten Schwester Irene, seinem 15 Jahre alten Bruder Tom und dem nächst jüngeren, zehn Jahre alten J.W. (John William, später bekannt unter dem Namen Jud), der genau wie Sam für seine Eltern, die bereits 44 und beinahe 40 Jahre alt waren, als ihr jüngstes Kind zur Welt kam, so etwas wie ein nachträglicher Einfall gewesen war.

Er und seine Familie bearbeiteten die Felder mit Maultieren, zusammen mit einigen Dutzend anderer schwarzer und weißer Pächter, arme Leute — sein Daddy war ein fairer Mann, er behandelte sie alle gleich. Daddy sagte nicht viel; das einzige, was ihn wirklich wütend machte, war, wenn ihn jemand anlog — es war vollkommen egal, wer es war; er baute sich vor ihm auf und sagte es ihm ins Gesicht. Daddy hatte ein Gespür für das Land, er baute Mais an, Heu und Zuckerhirse, und die Baumwollreihen erstreckten sich über einen Kilometer. Seine Mama war zu jedem nett, glaubte von ganzem Herzen an all ihre Kinder, und machte sich ständig Sorgen — es gab nichts, was sie nicht für jeden einzelnen von ihnen tun würde, und nichts, was sie nicht genauso gut wie ein Mann tun konnte. Manchmal gönnte sie sich nachts ein wenig Schnupftabak und spielte auf der Gitarre alte Folk-Songs wie Barbara Allen und Aura Lee; die Gitarre klang dann beinahe wie eine menschliche Stimme, doch sie selbst sang nie; es war beinahe, als würde sie die Musik wie einen Quilt zusammensetzen.

Genau wie Daddy brachte sie ihnen bei, wie man arbeitete, indem sie mit gutem Beispiel voranging. Sie brachte ihnen Verantwortung bei durch die Hilfsbereitschaft, die sie und Daddy anderen, weniger Begünstigten entgegenbrachte, darunter auch Verwandte, durchreisende Fremde und durch ihre Mitbewohnerin, ihrer Schwester Emma, die aufgrund von Rocky-Mountain-Fleckfieber im Alter von drei Jahren auf einem Auge blind und taubstumm war. Sam beobachtete Tante Emma genau. Um mit ihr kommunizieren zu können (sie war eine gebildete Frau mit einem Abschluss vom international renommierten Alabama Institute for Deaf and Blind in Talladega), lernte er Gebärdensprache fast noch bevor er lesen konnte. Mit Ausnahme von Mama und seiner Schwester Irene, die Krankenschwester werden wollte, war er der einzige in der Familie, der vollkommen mit ihr kommunizieren konnte. Selbst während er arbeitete (und es gab nur wenige Zeiten, in denen er das nicht tat), war er wachsam, hörte zu und beobachtete: Den Umgang der Menschen miteinander, das Vorbeiziehen der Wolken am Himmel, die Unterhaltungen der Zirpen und Frösche (er war fest davon überzeugt, mit ihnen sprechen zu können — und das nicht nur als kleiner Junge), das Fließen des wundervollen Tennessee. Er konnte nicht verstehen, warum all die kleinen schwarzen Jungen und Mädchen, mit denen er arbeitete und spielte, nicht in dieselbe kleine Dorfschule wie er gehen durften; er registrierte die Ungerechtigkeit, mit der Menschen willkürlich allein aufgrund ihrer Hautfarbe getrennt wurden und dachte: Was wäre, wenn ich als Schwarzer zur Welt gekommen wäre?2 Und er bewunderte ihre Art und Weise, mit widrigen Umständen umzugehen — er beneidete sie um ihre Kraft der Widerstandsfähigkeit, um ihre Fähigkeit, in Situationen ihren Glauben zu bewahren, in denen er zweifelte, dass er dies selbst hätte tun können. Doch größtenteils, wohl wissend, wie andersartig seine Gefühle waren als selbst die seiner engsten Vertrauten, als selbst die seiner eigenen Familie, und da er wusste, wie viel andersartiger er noch vorhatte zu werden, behielt er seine Gedanken für sich selbst und hörte dem A-cappella-Gesang zu, der von den Feldern herüber drang, in seinen Augen Beweis für die unbesiegbare menschliche Seele und Spiritualität, ob nun geistlich oder weltlich.

Sie fanden einen Weg der Anbetung. Man konnte es hören. Man konnte es fühlen. Man musste sich nicht in einem Gebäude befinden, man konnte auf einem Baumwollfeld teilnehmen und dabei vier Reihen gleichzeitig pflücken, bei 43 Grad! Ich meine, ich sah die Ungerechtigkeit. Doch selbst im Alter von fünf oder sechs Jahren befand ich mich gefangen in einer Art emotionaler Reaktion, anstatt deprimiert zu sein — ich meine, das waren einige der cleversten Menschen, die ich je gekannt hatte, und sie wurden in [den meisten] Fällen nahezu vollkommen ignoriert, außer als Lasttier —, doch selbst in jenem Alter erkannte ich: Hey! Das Rückgrat dieser Menschen ist nicht gebrochen, sie [können] in ihrer Seele einen Weg finden, ein Leben zu leben, das einem den Spaß am Leben nicht nehmen wird.

Samuel Cornelius Phillips (denkt an Dr. Cornelius) wurde am 5. Januar 1923 geboren, in dem einzigen Zuhause, das sein Vater je besitzen sollte, in einem winzigen Nest zehn oder zwölf Kilometer nördlich von Florence namens Lovelace Community, benannt nach der Familie seiner Mutter und bevölkert von musikalisch talentierten Lovelaces und pragmatischen, hart arbeitenden Phillipses. Als er gerade einmal neun Monate alt war, brannte ihr Haus ab und die Familie zog in die Stadt, dann wieder aufs Land, dann in das alte Martin-Haus am Chisholm Highway und schließlich noch weiter raus aufs Land in das alte Pickens-Haus in Oakland, das in den Augen eines 8-Jährigen (und später 78-Jährigen) eine 130 Hektar große Vision des Garten Enden war. Sein überwältigender Eindruck, seine überwältigende Erfahrung, war von harter Arbeit geprägt. Seine Mama und sein Daddy hörten nie auf zu arbeiten, und sein um 14 Jahre älterer Bruder Horace, war ein „Genie mit Maschinen“ und sollte später Karriere in der Schwermaschinenindustrie machen. Die Empfindsamkeit der beiden Jüngsten jedoch, Sam und sein nassforscher, selbstbewusster Bruder J.W., war in ihrer Art, wenn nicht gar in ihrem ganzen Wesen, unterschiedlich. J.W. besaß diese Art robuster Persönlichkeit, zu der sich jeder, Erwachsene genauso wie Kinder, unweigerlich hingezogen fühlte. Er war selbstsicher, artikuliert, kontaktfreudig, ein geborener Anführer, selbst wenn Sam manchmal misstrauisch war, wohin genau seine Führungsqualitäten sie führen würden. Er war warmherzig und vertrauenswürdig, so wie ihr Daddy, doch anders als Daddy hielt er mit seiner Meinung nicht hinterm Berg: Er verkündete seine Ansichten eloquent und überzeugend, obwohl sich sein jüngerer Bruder gelegentlich fragte, ob J.W. tatsächlich wusste, wovon er sprach.

Sam und J.W. (Jud). Mit freundlicher Genehmigung der Familie Sam Phillips.

Sam sah sich selbst als vollkommen anders und würde sich dafür auch nicht entschuldigen. Er schätzte Unabhängigkeit und Kunst, selbst wenn er noch zu jung war, die richtigen Worte dafür zu finden. Er sah Daddy als einen Künstler des Ackerbodens, er sah Musik als Ausdruck einer angeborenen Spiritualität. Er war ein zierliches Kind, „ein Kümmerling, der es wirklich schwer hatte, zu überleben“, wie er häufig sagte, doch trotz all dem war er entschlossen, seinen eigenen Weg zu gehen. „Ich wurde ungeduldig mit Kindern, die dasselbe wie andere Kinder machten. Ich hatte die Fähigkeit, andere Menschen zu lieben, doch ich hatte auch die Fähigkeit, ihnen zu sagen, was ich dachte, selbst in jungen Jahren. Ich war nicht verwöhnt, doch aus irgendeinem Grund war ich ein vollkommen unabhängiger Typ, und um das zu sein, so kränklich wie ich war, muss schon etwas geheißen haben.“ Sam war fest davon überzeugt, dass er seine eigenen Augen und Ohren hatte, mit denen er die Dinge beurteilen konnte, und sie würden ihn zu dem größeren Ziel führen, das er im Sinn hatte, auch wenn er nicht ganz genau sagen konnte, was das war. Es entging ihm jedoch nicht, was er an Popularität opferte. Es war unmöglich, J.W. nicht zu mögen, was seinem jüngeren Bruder sehr wohl bewusst war, und für J.W. war die Anerkennung anderer die größte Bestätigung. Was ihn betraf, so vermisste er trotz seiner großen Klappe genau jene ungezwungene Kameraderie. Er war, das gestand er etwas unwirsch, „die grünste Kaki am Baum. Wer einen Biss von mir nahm, dem schmeckte ich nicht allzu sehr.“

Er wuchs umgeben von Musik auf — Squaredances, Tanzabende, einmal im Monat, bei einem Nachbarn, bei Verwandten, manchmal auch zu Hause. Bei solchen Veranstaltungen schob man das gesamte Mobiliar aus dem Zimmer und alle sangen und spielten: Fiddle, Banjo, Ukulele, Gitarre — manchmal gab sein eher zurückhaltender Daddy sogar den Ansager. Seine Schwester Irene sorgte zuverlässig dafür, dass er und J.W., damals kaum älter als vier oder fünf Jahre, immer mit dabei waren, und Sam saß dann in einer Ecke und sah seinen erwachsenen Brüdern und Schwestern und all den anderen, hart arbeitenden Farmern mit ihren Frauen dabei zu, wie sie tanzten und Spaß hatten. Als er sechs Jahre alt war, kurz vor dem Börsencrash im Oktober, kauften sie sich im Kilgore Furniture Store einen Graphophone-Plattenspieler; sie stellten ihn auf den Boden, zogen ihn auf und spielten immer wieder die eine Platte, die sie sich zusammen mit ihrer ursprünglichen Anschaffung hatten leisten können — Jimmie Rodgers’ Waiting for a Train.3 Obwohl Rodgers gemeinhin als „Vater der Country-Musik“ gilt, so war der Song ein Blues, ein tiefgründiges Portrait von Verlust und Entfremdung, das auf unheimliche Weise die Weltwirtschaftskrise erahnen ließ, die direkt hinter dem Horizont lauerte. „‚All around the water tank‘“, zitierte Sam noch 60, 70 Jahre später auf Kommando, „‚Waiting for a train/A thousand miles away from home/Sleeping in the rain.‘… Und dann ging er zum Bremser ‚to give him a line of talk‘ — du weißt schon, er versuchte in diesen Güterwagen zu klettern — und dieser Bremser sagte: ‚Well, you got any money, I’ll see that you don’t walk.‘ Doch Jimmie hatte kein Geld, und ‚he slammed the boxcar door.‘ Wenn du dir das bildlich vorstellen kannst — Wirtschaftskrise, harte Zeiten, kein Zug mehr für eine sehr lange Zeit. Ich sag dir eins: Jimmie Rodgers verschwendete keine Worte.“

Die Weltwirtschaftskrise traf die Phillips-Familie nicht so schwer wie manch andere, doch sie traf sie schwer genug, um den Verlauf und Ausgang ihres Lebens unwiederbringlich zu verändern. Charlie Phillips konnte sich die ersten paar Jahre noch über Wasser halten, doch 1933, als der Preis für Baumwolle auf fünf Cent pro Pfund gefallen war, wurde ihm klar, dass er nicht länger von der Landwirtschaft würde leben können und die Familie zog in die Stadt. Es war, als wären sie aus dem Paradies vertrieben worden.

Sams Daddys erster Job außerhalb der Landwirtschaft bestand darin, den Verkehr auf der alten L&N-Eisenbahnbrücke zu regeln. Für 30 Dollar arbeitete er von 18 Uhr abends bis 6 Uhr morgens, sieben Tage die Woche. Im Verlauf der nächsten paar Jahre zog er mit seiner Familie immer wieder zurück aufs Land und wieder zurück in die Stadt, wobei er seinen Job beibehielt, da sein Lohn auf 35 und schließlich 40 Dollar die Woche stieg, er aber weiterhin in der Landwirtschaft arbeitete, ganz einfach, weil er das Land so sehr liebte. Er arbeitete im Straßenbau, legte mit Maultieren die Terrassen im Amphitheater des Florence State Teachers College an und bepflanzte sie mit Bermudagras („Er war der großartigste Gestalter von Ackerboden, den ich je gekannt habe“, sagte Sam), er legte einen experimentellen Gemüsegarten für Dr. Willingham, den Präsidenten des College, an. Er reichte anderen eine helfende Hand, obwohl er selbst die Miete kaum aufbringen konnte — und sein jüngster Sohn sog dies alles auf. Wie er mit Menschen umging, wie er mit Tieren umging, seine Hilfsbereitschaft anderen gegenüber. Auf der anderen Seite waren die Erwartungen, die er an sich selbst hatte. „Mein Daddy tat nichts, was ich nicht gesehen hätte. Er wusste nicht, dass ich ihn beobachtete, ich starrte ihn nicht an — doch mein Daddy erstaunte mich immer wieder. Er verstand die Landwirtschaft. Er verstand Maultiere. Ich meine, er verstand Maultiere! Mein Daddy benutzte niemals einen Stecken oder eine Peitsche oder so was. Maultiere arbeiteten einfach so für ihn, Menschen arbeiteten einfach so für ihn — und sie wuchsen über sich hinaus.“ Sein Daddy war in der Stadt nie jemals glücklich, das spürte der kleine Junge. Selbst als kleines Kind sah er, wie sein Vater von einer landwirtschaftlichen Vision angetrieben war — obwohl er dies zu jener Zeit sicherlich nicht hatte ausdrücken können. Da war ein Idealismus, so glaubte er, der seinen Vater über seinen Glauben und harte Arbeit hinaus nährte. Sein Daddy hätte sich nie dafür entschieden, von der Landwirtschaft zu leben, wenn er dies nicht gemusst hätte. „Der Ackerboden hatte etwas Reines, das Pflügen mit einem Maultier hatte etwas Reines — er konnte einfach den Boden in seine Hände nehmen und zusehen, wie er für ihn arbeitete.“ Es war die Reinheit eines Traums.

Er war ein zartes aber entschlossenes Kind. Obwohl sein Bruder doppelt so groß war wie er, und körperlich auch weitaus eindrucksvoller, stritten er und J.W. wie Hund und Katz — doch hinterher vertrugen sie sich immer wieder. Man musste J.W. einfach lieben, doch es war seine Tante Emma, die ihn aufrichtig faszinierte; wegen ihrer Weigerung, sich intellektuell ausbremsen zu lassen, nur weil sie weder hören noch sprechen konnte. Er kannte sehr gut das Beispiel von Helen Keller von der anderen Seite des Flusses in Tuscumbia, und er hatte lange, lebhafte Diskussionen per Zeichensprache mit seiner Tante, die jeden Tag die Zeitung von vorne bis hinten durchlas und einige Mitglieder der Familie mit ihren kontroversen Ansichten und ihrem Verhalten verstörte, welches genauso gut als stur wie auch als willensstark bezeichnet werden könnte. Lediglich Sam und seine Mutter konnten Tante Emma beruhigen, und von allen Neffen und Nichten war er definitiv ihr Liebling.

Sam und Tante Emma, Ende 1955 oder Anfang 1956. Mit freundlicher Genehmigung der Familie Sam Phillips.

Als er in der sechsten Klasse war, zog seine Familie in die Royal Avenue in North Florence, direkt hinter die Baumwollentkörnungsmaschine, zu der sie einst ihre Baumwolle gebracht hatten. Wenn der Zirkus in die Stadt kam, zog er direkt an ihrem Haus vorbei, die Elefanten an der Spitze der Parade, bevor sie ihr Zelt neben den Gleisen in East Florence errichteten. Der Rummel baute seine Buden direkt hinter dem Laden auf der anderen Seite ihrer Gasse auf. Und alle Kinder in der Nachbarschaft konnten die Fahrgeschäfte umsonst benutzen.

Es war auch in der sechsten Klasse, als er vom städtischen Musikdirektor D.F. Stuber seinen ersten Trommelunterricht bekam, auf der Art von Snare-Drum, die man um den Hals trug. Sam hatte seine Mama und seinen Daddy um Musikunterricht angebettelt und so lange auf Töpfen und Pfannen herumgeschlagen, bis er seine Mama beinahe in den Wahnsinn getrieben hätte, und er musste Laub rechen und Mr. Stubers Rasen mähen, während sein Daddy Mr. Stuber einen Garten anlegte, um die Unterrichtsstunden mitzufinanzieren. Er wusste, dass er nicht der beste Trommler der Welt war, doch er war fleißig und mit vollem Engagement bei der Sache, und mit etwas Übung, so versicherte ihm Mr. Stuber, könnte er im darauffolgenden Jahr, wenn er in die Junior High School kam, der Marschkapelle beitreten.

Um jene Zeit herum schloss sich Onkel Silas dem Phillips-Haushalt an. Laut offiziellem Buch des Phillips-Familientreffens „wiesen [Charlie und Madgie Phillips] niemals jemanden ab, der Essen, Kleidung, Unterkunft, Trost, Liebe und Zuneigung brauchte.“ Neben ihren eigenen zogen sie drei weitere Kinder groß, und zusätzlich zu Tante Emma lebten in ihrem Haus viele weitere Personen, sodass häufig bis zu „neunzehn oder zwanzig … beim Abendbrot am Tisch der Phillips’ saßen.“ Und in diesem Fall war das Silas Payne, ein armer schwarzer Farmpächter, ursprünglich aus Louisiana, der auf dem alten Pickens-Anwesen gearbeitet hatte und, wie Sam sagte, „ein Genie im Umgang mit Hühnern“ war, selbst nachdem er aufgrund von Syphilis erblindet war. Eine andere Familie hatte ihn aufgenommen, nachdem die Familie Phillips in die Stadt gezogen war, doch als es sich die Miles-Familie nicht länger leisten konnte, ihn mitzuversorgen, lieh sich Charlie Phillips den 1929er Chevrolet von Mr. Wiggins, dem Geschäftsführer der Baumwollentkörnungsmaschine, und holte Onkel Silas zu sich nach Hause.

Die Geschichte von Onkel Silas steht im Mittelpunkt von allem, was Sam Phillips jemals sowohl über sich selbst als auch den „kleinen Mann“ glaubte, in jener äußerst ungewöhnlichen Geschichte, die der Leitstern seines Lebens werden sollte. Es war nicht Mitgefühl mit der Notlage dieses alten Mannes, das ihn zu Silas Payne zog — weit davon entfernt, insistierte Sam Phillips immer. Vielmehr war es Bewunderung für jene Eigenschaften der Vorstellungskraft, Kreativität und unbezwingbaren Entschlossenheit, die er zum ersten Mal in den schwarzen Feldarbeitern auf der Farm seines Vaters bemerkt hatte — dies, und die Art emotionaler Freiheit, bedingungsloser Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft, die er selbst so gerne erreichen wollte.

Er erkannte, dass selbst sein Vater, wie nahezu jeder andere aus der Nachbarschaft auch, vielleicht keine unverhohlenen Vorurteile hegen mochte, ein Weißer letztendlich aber immer noch ein Weißer war, und ein ‚Nigger‘ immer noch ein ‚Nigger‘ — trotz all der Unvoreingenommenheit seines Daddys (wer hätte sonst einen Farbigen bei sich zu Hause aufgenommen?) war das schlicht und ergreifend die Art, wie er erzogen worden war. Für den kleinen Jungen jedoch hatte Onkel Silas beinahe etwas Magisches: Die Hunderten Hühner, die er im Hinterhof hielt und von denen er jedes einzelne beim Namen nennen konnte, und die Bibelgeschichten, die er zusammenreimte, die Songs, die er sang, die Geschichten, die er über ein Afrika erzählte, das er nie gekannt hatte, mit seinen Kuchenbäumen und einem Sirupfluss, der einen 12 Jahre alten Jungen in eine Welt entführte, in der er befreit war von allen emotionalen und körperlichen Fesseln, von denen er sich in seinem täglichen Leben so eingeschränkt fühlte.

Nicht lange, nachdem Onkel Silas bei ihnen eingezogen war — kurz nachdem er im Juni 1936 die sechste Klasse beendet hatte — wurde Sam krank; sogar so krank, dass der alte Doktor Duckett kurz davor stand, ihn aufzugeben. Er hatte zwei doppelseitige Lungenentzündungen, und seine Lunge war durch eine Pleuritis so geschwächt, dass selbst das Atmen beinahe zu sehr schmerzte. Der Doktor, ein bärbeißiger alter Kauz mit wehenden Haaren und einem langen weißen Bart, kannte die beschränkten finanziellen Möglichkeiten der Familie und brachte seinem Patienten Orangen mit, um ihn wieder aufzupäppeln, doch eines Tages nach dem Besuch des Arztes hörte Sam seine Mutter und Mrs. Reynolds, die Dame, die direkt hinter ihnen auf der North Royal wohnte, wie sie über ihn sprachen, und plötzlich hatte er das Gefühl, dass er vielleicht sterben würde. Er erzählte seiner Mutter nicht, dass er ihr Gespräch mitgehört hatte, doch ihn überkam ein plötzliches und beinahe überwältigendes Gefühl von Panik bei dem Gedanken, dass sich die Welt ohne ihn weiter drehen würde, bei dem Gedanken an all die Dinge, die er nicht würde tun können, all die offenen Geschichten, seine eigenen und die von anderen, deren Ausgang er nie erfahren würde. Die Panik kehrte von Zeit zu Zeit zurück, doch sie wurde ebenso sehr durch die Beschwichtigungen und Fürsorge seiner Mutter wie auch durch Onkel Silas’ anhaltende Beteuerungen besänftigt, dass er nicht nur gesund werden würde, sondern dass er auch die Dinge erreichen würde, die er im Moment mit Worten kaum ausdrücken oder gar davon träumen konnte.

Beale Street. Mit freundlicher Genehmigung der Preservation and Special Collections, University Libraries, University of Memphis.

„Er saß gerne in der Küche und setzte mich auf seine Knie, packte mich bei meiner knochigen Schulter und sagte: ‚Samuel, du wirst groß werden und eines Tages ein bedeutender Mann sein.‘ Ich meine, ich war nur ein kränkliches Kind — körperlich, ich weiß nicht, vielleicht auch geistig —, aber irgendwie, so sehr ich ihm nicht glaubte, so sehr glaubte ich ihm doch. Weil er so überzeugt klang. Und er war ein guter Geschichtenerzähler —, doch [was ich aus seinen Geschichten lernte ist] erstens, dass du an Dinge glauben musst, die du nicht kennst, dass was du siehst und hörst nicht wirklich allzu wichtig ist, außer für den Moment. Ich meine, Afrika war nur ein Weg von ihm, Dinge aufzuzeigen, die überall zu finden waren und uns auf die eine oder andere Art zur Verfügung standen. Afrika war eine Geisteshaltung, von der er hoffte, dass jeder sie sehen und Teil davon sein konnte.“ Hauptsächlich, anstatt zu moralisieren, versuchte er ganz einfach, dem kleinen kränkelnden Jungen durch sein eigenes Beispiel beizubringen, „wie man lebte und glücklich war, ganz egal, was auch passierte, [dass] selbst wenn man sich schlecht fühlte, man sich eigentlich gut fühlte.“

Diese aufgezwungene Isolation unterstrich nur noch die Entbehrungen, die Silas und Sams Tante Emma hatten lernen müssen zu ertragen und durchzustehen, und schärften sein eigenes Beobachtungsvermögen nur noch weiter. Er saß draußen auf der Hollywoodschaukel und beobachtete, wie die Welt an ihm vorbeizog, er horchte bei Gesprächen auf die unterschiedlichen Tonfälle, ohne dabei auf die Wörter zu achten, er studierte Bewegungen und Verhalten, und er lernte zu glauben, trotz all seiner Ängste und Unsicherheiten, dass Gott ihm eine Gabe geschenkt hatte, die Fähigkeit, Menschen zu lesen, so wie andere Menschen Bücher lesen.

Als er schließlich wieder in der Verfassung war, zur Schule zurückzukehren, hatte sich die Einsicht, die er erlangt hatte, irgendwie vermischt mit einer Verbitterung über die Erfahrung, die er verpasst hatte — es war fast so, als ob er die Dinge nun in einem zu scharfen Fokus sah und nicht wusste, was er mit seiner neuen Scharfsinnigkeit anfangen sollte. In der siebten und achten Klasse war er seiner eigenen ungerührten Beschreibung nach ein „mieser kleiner Bastard“ („Ich war einfach nur sehr, sehr von den Dingen überzeugt“), bis ihm seine Klassenlehrerin Mrs. Mary Alice Lanier seine Hand mit einem Lineal grün und blau schlug. Es war das erste und letzte Mal, dass er in der Schule körperlich gemaßregelt wurde, doch offensichtlich schockte ihn das so sehr, dass er wieder zu Sinnen kam. Seiner eigenen Ansicht nach war er nach diesem Vorfall zwar kein bisschen „liebenswerter“ — das blieb J.W. vorbehalten —, doch langsam begann er, die Dinge in die rechte Perspektive zu rücken, und als er im Alter von 16 die achte Klasse abschloss und fünf Nachmittage die Woche plus samstags in J. Will Youngs Lebensmittelladen arbeitete, um die Familie zu unterstützen, fasste er den Entschluss, die Führungsrolle einzunehmen, von der er glaubte, dass sie sowohl seine Gabe als auch sein Schicksal war.

Ich kam zum ersten Mal 1939 durch Memphis, auf dem Weg nach Dallas, um Dr. George W. Truett, den berühmten Pastor der First Baptist Church, predigen zu hören. Wir waren fünf Jungs, darunter mein Bruder J.W. und ich selbst, alles Mitglieder der Highland Baptist Church, und wir verließen Florence zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens, fuhren auf einer Schotterstraße über Savannah, Tennessee, nach Memphis. Nun, ich hatte mein ganzes Leben lang von der Beale Street gehört, habe mir vorgestellt, wie sie wohl wäre — ich konnte es kaum erwarten! Wir kamen gegen vier oder fünf Uhr morgens bei strömendem Regen an, aber ich sag dir, der Broadway kann nicht belebter gewesen sein. Es war wie im Bienenstock, ein Mikrokosmos der Menschheit — es gab da viele nüchterne Menschen, viele Menschen, die eine gute Zeit hatten. Es gab alte schwarze Männer aus dem Delta und junge coole Typen, die sich todschick zurechtgemacht hatten. Was mich aber am meisten an der Beale Street beeindruckte, war die Tatsache, dass sich niemand in die Quere kam — weil verdammt noch mal jeder einzelne genau dort sein wollte. Selbst in jenem Alter verkörperte die Beale Street für mich etwas, was ich mir für alle Menschen erhoffte. Dieses Gefühl absoluter Freiheit, dieses Gefühl von Richtungslosigkeit, doch gleichzeitig die großartigste Richtung der Welt, fühlen zu können, dass ich irgendwie ein Teil davon bin. Ich bin hier vielleicht nur für ein oder zwei Tage, doch wenn ich wieder nach Hause komme, kann ich jedem erzählen, was für eine wundervolle Zeit ich gehabt habe.

Der Ausflug nach Memphis war vermutlich das bedeutendste Ereignis in Sams Leben, nicht nur seines Lebens bis zum damaligen Zeitpunkt, sondern sehr wahrscheinlich seines ganzen Lebens. Es vereinte alle Elemente, von denen er zu der Überzeugung gekommen war, dass sie sein einzigartiges Wesen als Mensch verkörperten und auch seine zukünftige Richtung vorgaben. Doch dies kam nicht vollkommen zufällig als das Ergebnis einer anderen Art von Sinnsuche zustande, auf die sich J.W., mit 18 Jahren mittlerweile ein erwachsener Mann, im Verlauf der letzten paar Jahre mit zunehmender Entschlossenheit aufgemacht hatte.

Während Sam den bösen Jungen gab („Ich glaube, dass wenn man einen kleinen Teufel in sich trägt, dann definiert man den Teufel — und, du weißt schon, er kann ein großartiger Lehrer sein!“), hatte J.W. die Religion für sich entdeckt. Religion hatte nur eine kleine Rolle in der Phillips-Familie gespielt; sie waren traditionelle Methodisten, die pflichtbewusst die North Wood Avenue Methodist-Kirche besuchten, nur zwei Blocks von ihrem Haus entfernt. Sie waren gottesfürchtige Menschen, die ihren Glauben lebten, doch für J.W. und Sam, mittlerweile die einzigen beiden Kinder, die noch zu Hause lebten, war es keine besonders erbauliche Art von Gottesanbetung. Doch als die Highland Baptist Church 1936 ihr neues, ausladendes Gebäude einweihte und sich anschließend unter der Führung von Pastor F.L. Hacker für ein dynamisches Jugendprogramm engagierte, war J.W. sofort mit Feuereifer dabei und verkündete, dass er seine Berufung gefunden habe. Er würde jetzt Prediger werden, und er überredete seinen dürren jüngeren Bruder, dass dies eine Gelegenheit wäre, wie die beiden Phillips-Brüder sich einen Namen machen könnten.

Mit seiner motivierenden, ansteckend optimistischen Persönlichkeit, seiner charismatischen Präsenz und der scheinbaren Mühelosigkeit seiner zunehmenden Redekünste, war J.W. zum Prediger geboren. Schon bald hielten er und Sam in der Garage hinter dem Haus auf der North Royal Gottesdienste ab und stopften das bescheidene Gebäude mit jungen Menschen voll, die sich unter dem Banner ihres eigenen DeMolay-Ordens zusammenfanden, einer überkonfessionellen christlichen Jugendgruppe, die 1919 in Kansas City gegründet worden war und mittlerweile Hunderte von Ortsgruppen im ganzen Land hatte. J.W. hielt die kleine Gemeinde in Bann, während sich Sam zum BYPU-Lehrgang (Baptist Young People’s Union) der Kirche anmeldete und ein Gospel-Quartett gründete, in dem er Bass sang, um J.W.’s Predigten zu begleiten.

Niemand konnte seinem Bruder das Wasser reichen, spürte Sam voller Stolz, er konnte eine „Feuer und Schwefel“-Predigt abliefern, wenn es der Anlass erforderte, auch wenn er selbst nicht besonders in diese Richtung tendierte, und er studierte die Bibel voller Eifer. Doch Sam hatte seine eigenen Vorstellungen von der Bibel, seine Version war immer ein wenig anders, und die beiden hatten eine tolle Zeit, wenn sie abstruse biblische Punkte diskutierten, über die jeder von ihnen genauso gut informiert war und ebenso überzeugt, dass er recht hatte. Sam unterrichte in der Sonntagsschule der Highland Baptist — ein oder zwei Jahre später sollte er der jüngste Vorsteher einer Sonntagsschule werden, der jemals in den Countys Lauderdale und Colbert gewählt worden war — und J.W. versuchte ihn zu überreden, dass vielleicht auch er Prediger werden sollte. Doch Sam erkannte, dass er sich genauso stark zum Drama wie zum Rituellen hingezogen fühlte, dass er sich nie von den Anforderungen einer bestimmten Glaubensrichtung würde einschränken lassen können, etwas zu verfechten, das er nicht von ganzem Herzen glaubte — und abgesehen davon war er absolut überzeugt, dass das Leben mehr zu bieten hatte.

Manchmal rief es nach ihm in einer Weise, auf die er nicht ganz vorbereitet war, sie einzuschätzen. Wenn zum Beispiel der Gottesdienst an der Highland Baptist pünktlich am Mittag endete und alle zum großen sonntäglichen Mittagstisch nach Hause eilten, wurde Sam unweigerlich von den Geräuschen der schwarzen Kirche nur einen halben Block entfernt angelockt. Die Armstead Methodist Chapel stand in stolzer und unvereinbarer Isolation mitten in einer weißen Nachbarschaft, zu der die meisten der Gemeindemitglieder durch die ganze Stadt laufen mussten. Für den 16-jährigen Sam Phillips, frisch aus der leidenschaftlichen Predigt seines Bruders und seiner eigenen enthusiastischen Teilnahme als ein 50 Kilo leichter Basssänger im Chor der Highland Baptist, ganz zu schweigen von den begeisternden Vorträgen aus dem Stamps-Baxter-Gesangsbuch, die sein kleines Quartett dargeboten hatte, war Armstead Methodist ganz einfach etwas, an dem er nicht vorbeigehen konnte. In den meisten Fällen alleine, manchmal zusammen mit einem Mädchen, wenn er sie denn überreden konnte, mit ihm nach dem Highland-Gottesdienst zurückzubleiben, stand er auf dem Bürgersteig und sog die Geräusche freudiger Glaubensbekenntnisse auf, so ähnlich in ihrer Sprache, doch so anders in ihrer Wirkung als sein eigener Gottesdienst. Insbesondere im Sommer, wenn die Fenster aufgeklappt waren und die Hitze sowohl den Pastor als auch die Gemeinde zu immer größerer Inbrunst inspirierte, schien es fast so, als ob die Lebenskraft in seine Seele vorgedrungen wäre. Es war die Reinheit menschlicher Anstrengungen, die rohe Schönheit der menschlichen Stimme, die die Worte des Predigers kundtat, im Zeugnis der versammelten Gemeinde widerhallte und die Musik zelebrierte — es war das einzigartige Wesen spirituellen, musikalischen und kreativen Ausdrucks, so wie er es zum ersten Mal als 8-Jähriger auf der Farm in Oakland an der Biegung des Flusses erlebt hatte.

Es war J.W., der zuerst auf die Idee gekommen war, nach Dallas zu fahren, um Dr. Truett predigen zu hören. Sie alle hatten von George W. Truett gehört; er war einer der berühmtesten Redner der damaligen Zeit, ehemals Präsident der Southern Baptist Convention, gegenwärtig Oberhaupt der Baptist World Alliance, vormalig Präsident Wilsons Gesandter für Weltfrieden und die letzten 42 Jahre Pastor der First Baptist Church in Dallas, die unter seiner Führung zur größten Kirche der Welt geworden war. Durch seine Arbeit mit der Southern Baptist Convention hatte Dr. Truett dabei geholfen, dem Wachstum des Southwestern Baptist Theological Seminary in Fort Worth Vorschub zu leisten, und es war die Glaubensgemeinschaft der Southwestern Baptist, der J.W., nachdem er mit seinem Gemeindepfarrer Pastor Hacker über seinen Wunsch gesprochen hatte, zum Priester geweiht zu werden, sein Herz verschrieben hatte. Der Ausflug nach Dallas, um Dr. Truett predigen zu hören, sollte der erste Schritte zu jenem Ziel sein. Für Sam jedoch war es die Route, die sie nahmen, die mindestens ebenso bedeutsam war.

Die Fünf machten sich gegen Mitternacht in Joe LaBaughs beengtem 1937er Dodge-Coupé von Florence aus auf den Weg, und Sam, der jüngste von ihnen, nahm aufgeregt auf dem Notsitz Platz. Joe war der alte Herr der Gruppe — er war beinahe 25, während alle anderen, selbst J.W., immer noch im Teenageralter waren — und mit der Hilfe ihrer Mütter hatten sie das Auto mit genügend Konserven und Wiener Würstchen für ein zehn oder elftägiges Abenteuer beladen. Alle Jungs waren gläubige Gemeindemitglieder, alle, so Sam, „von einwandfreiem moralischem Charakter“, doch gleichzeitig waren sie alle fasziniert von der Idee, die sagenumwobenen Sehenswürdigkeiten der Beale Street zu sehen.

Und dennoch, wie Sam schnell klar wurde: „Ich glaube meine Vorstellung war ein klein wenig anders als ihre.“ Für sie war die Beale Street „ein Ort, wo sich Samstagnacht alle Nigger versammelten, um sich zu betrinken. In ihren Köpfen war da überhaupt kein Vorurteil oder irgendeine Voreingenommenheit [in diesem Sinne], sie schauten sich einfach ‚die Nigger‘ an ihrem Ort an.“

Für Sam andererseits, angezogen nicht nur von den Geschichten, die er von Onkel Silas gehört hatte, sondern von den wahren Tatsachen und dem Leben von W.C. Handy, dem „Vater des Blues“ und ebenfalls aus Florence, der ungefähr 25 Jahre zuvor nach Memphis gekommen war, um sich als professioneller Musiker seinen Lebensunterhalt zu verdingen („Was für ein Mut, den dieser Mann zeigte, als er nach Memphis kam, ein schwarzer Mann, der versuchte, sich einen Namen in einer weißen Welt zu machen“), verkörperte die Beale Street die Summe aller Dinge, nach denen er sich immer gesehnt oder die er sich vorgestellt hatte.4 Für einen Jungen, der zuvor noch nicht einmal bis Birmingham gekommen war, waren die Beale Street und der Mississippi nichts weniger als die Inkarnation seiner Träume und Bestimmung.

Doch mit Ausnahme seines Bruder J.W., der alle seine Ansichten kannte und diese auch zu einem gewissen Maß teilte, würde er seine Gefühle niemandem sonst in dem kleinen, brechend vollen Auto offenbaren, genauso wenig, wie er die Anschauungen von nahezu jedem anderen, den er jemals in der Welt, in der er aufgewachsen war, gekannt hatte, direkt in Frage stellen würde. Als sie die regennasse Straße auf und ab fuhren, ungefähr fünf Blocks, die für Sam „die berühmteste Straße in Amerika“ bildeten, gaffend und lachend wie Touristen auf der Suche nach ein wenig sündigem Vergnügen, sog er die Sehenswürdigkeiten in stiller Verwunderung auf. Er sah einen Mann, der auf einer Gitarre herum klimperte, einen anderen, der mit einem Besenstiel auf einen Schmalzkanister eindrosch, er sah stürzende Betrunkene und Männer, die stocknüchtern ihren Zielen nachgingen. Er sah so viel Schmerz und so viel Vergnügen und so viel Leben, und plötzlich hatte er eine Vision, „fast diametral entgegengesetzt zu allem, was ich in der Highland Baptist Church gelernt hatte, von einer Welt, in der Sünde nicht existierte“, in der Sünde nicht existieren konnte, „denn die Beale Street war in vielerlei Hinsicht der Himmel. Und ich wusste, dass ich eines Tages in Memphis leben würde.“

Sie überquerten den Fluss, „dieses wundervolle, nicht zähmbare, unkontrollierbare Wasser — ich meine, sie können mit meinem wundervollen Tennessee River machen, was sie wollen, und das ist in Ordnung, aber es gibt einfach ein paar Dinge, die sich nicht zähmen lassen“ —, und schlugen ihr Camp auf der anderen Seite auf. Der Boden war vollkommen durchnässt, doch sie fanden ein wenig vermodertes Holz, das sich anzünden ließ, und kochten ihre Eier und Kaffee, und niemals zuvor in ihrem Leben hatten sie etwas gegessen, das besser schmeckte. Danach nahmen sie eine Mütze voll Schlaf und machten sich auf den Weg nach Dallas, eine Strecke von ungefähr 650 Kilometern. Sie mussten Dallas noch in jener Nacht erreichen, damit sie ein Hotelzimmer finden und sich frisch machen konnten, das einzige Mal während der gesamten Reise, dass sie nicht im Freien schliefen.

Sie hatten gerade einmal den Stadtrand erreicht, als sie ein Polizist wegen Geschwindigkeitsüberschreitung anhielt. Sie waren vollkommen sprachlos — Joe LaBaugh war die Art von Fahrer, der normalerweise nicht einfach zu schnell fuhr, wenn auch bloß aus Angst um seinen Reifenverschleiß —, doch als sie dem Polizisten erklärten, warum sie nach Dallas gekommen waren, wie