Sämtliche Dramen - Albert Camus - E-Book

Sämtliche Dramen E-Book

Albert Camus

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Beschreibung

Sieben Theaterstücke schrieb Albert Camus neben seiner Prosa, bis heute wird er auf deutschen Bühnen gespielt. Der Band enthält die Dramen «Caligula», «Das Missverständnis», «Der Belagerungszustand», «Die Gerechten» und «Die Besessenen» in Neuübersetzung. Zum ersten Mal auf Deutsch publiziert wird die Calderón-Bearbeitung «Die Liebe zum Kreuz», eine Familientragödie um Vater, Bruder und Schwester. Die größte Entdeckung ist das Kammerstück «Impromptu der Philosophen», unter Pseudonym veröffentlicht, in Frankreich erst 2006 erschienen. Camus nimmt darin Jean-Paul Sartre auf die Schippe: Ein Irrer erklärt einem ehrbaren Bürger die Absurdität des Lebens. Erstmals alle Dramen des großen französischen Autors in neuer Übersetzung vereint, mit einem Vorwort von Hinrich Schmidt-Henkel – ein wunderbares Geschenk für Leser und Theaterfreunde!

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Albert Camus

Sämtliche Dramen

 

 

Aus dem Französischen von Uli Aumüller und Hinrich Schmidt-Henkel

 

Über dieses Buch

Sieben Theaterstücke schrieb Albert Camus neben seiner Prosa, bis heute wird er auf deutschen Bühnen gespielt.

Der Band enthält die Dramen «Caligula», «Das Missverständnis», «Der Belagerungszustand», «Die Gerechten» und «Die Besessenen» in Neuübersetzung.

Zum ersten Mal auf Deutsch publiziert wird die Calderón-Bearbeitung «Die Liebe zum Kreuz», eine Familientragödie um Vater, Bruder und Schwester. Die größte Entdeckung ist das Kammerstück «Impromptu der Philosophen», unter Pseudonym veröffentlicht, in Frankreich erst 2006 erschienen. Camus nimmt darin Jean-Paul Sartre auf die Schippe: Ein Irrer erklärt einem ehrbaren Bürger die Absurdität des Lebens.

Erstmals alle Dramen des großen französischen Autors in neuer Übersetzung vereint, mit einem Vorwort von Hinrich Schmidt-Henkel – ein wunderbares Geschenk für Leser und Theaterfreunde!

Vita

Albert Camus wurde am 7. November 1913 in ärmlichen Verhältnissen als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in Mondovi, Algerien, geboren. Von 1933 bis 1936 studierte er an der Universität Algier Philosophie. 1934 trat er der Kommunistischen Partei Algeriens bei und gründete im Jahr darauf das «Theater der Arbeit».

1937 brach er mit der KP. 1938 entstand sein erstes Drama «Caligula», das 1945 uraufgeführt wurde.

Camus zog 1940 nach Paris. Der Roman «Der Fremde» und der Essay «Der Mythos von Sisyphos» begründeten sein literarisches Ansehen. 1957 erhielt Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. Am 4. Januar 1960 starb er bei einem Autounfall.

Das Gesamtwerk von Albert Camus liegt im Rowohlt Verlag vor.

Caligula

Schauspiel in vier Akten

Personen

Caligula

Caesonia

Helicon

Scipio

Cherea

Senectus, der alte Patrizier

Metellus, Patrizier

Lepidus, Patrizier

Octavius, Patrizier

Patricius, der Oberhofmeister

Mereia

Wachen

Diener

Mucius’ Frau

Dichter

 

Schauplätze sind der Palast Caligulas und Chereas Haus. Zwischen dem ersten Akt und den folgenden Akten liegt ein Abstand von drei Jahren.

 

Caligula wurde am 25. September 1945 am Théâtre Hébertot, Paris, uraufgeführt. Regie: Paul Oettly

Erster Akt

1. Szene

(Einige Patrizier, darunter ein sehr alter, stehen in einem Saal des Palastes zusammen. Sie wirken nervös.)

ERSTER PATRIZIER

Immer noch nichts.

DER ALTE PATRIZIER

Morgens nichts, abends nichts.

ZWEITER PATRIZIER

Seit drei Tagen nichts.

DER ALTE PATRIZIER

Die Boten reiten davon, die Boten kehren zurück. Sie schütteln den Kopf und sagen: «Nichts.»

ZWEITER PATRIZIER

Die ganze Umgebung wurde abgesucht, alles umsonst.

ERSTER PATRIZIER

Warum sorgen wir uns im Voraus? Warten wir ab. Vielleicht kommt er, wie er gegangen ist.

DER ALTE PATRIZIER

Ich habe ihn aus dem Palast gehen sehen. Er hatte einen seltsamen Blick.

ERSTER PATRIZIER

Ich war auch da und habe ihn gefragt, was mit ihm sei.

ZWEITER PATRIZIER

Hat er geantwortet?

ERSTER PATRIZIER

Ein einziges Wort: «Nichts.»

(Pause. HELICON tritt ein, Zwiebeln essend.)

ZWEITER PATRIZIER (noch immer nervös)

Es ist beunruhigend.

ERSTER PATRIZIER

Ach was, alle jungen Leute sind so.

DER ALTE PATRIZIER

Natürlich, mit dem Älterwerden gibt sich alles.

ZWEITER PATRIZIER

Glaubt ihr?

ERSTER PATRIZIER

Hoffen wir, dass er vergisst.

DER ALTE PATRIZIER

Sicher! Eine verloren, zehn neue gewonnen.

HELICON

Woraus schließt ihr, dass es um Liebe geht?

ERSTER PATRIZIER

Worum denn sonst?

HELICON

Um die Leber vielleicht. Oder einfach um den Ekel, euch jeden Tag zu sehen. Man könnte seine Zeitgenossen so viel besser ertragen, wenn sie imstande wären, ab und zu die Visage zu wechseln. Aber nein, das Menü ändert sich nicht. Immer dasselbe Frikassee.

DER ALTE PATRIZIER

Ich ziehe es vor zu denken, es sei Liebe. Das ist rührender.

HELICON

Und beruhigend vor allem, so viel beruhigender. Von dieser Art Krankheit bleiben weder die Intelligenten noch die Dummen verschont.

ERSTER PATRIZIER

Jedenfalls hält der Kummer zum Glück nicht ewig an. Seid ihr imstande, länger als ein Jahr zu leiden?

ZWEITER PATRIZIER

Ich nicht.

ERSTER PATRIZIER

Niemand vermag das.

DER ALTE PATRIZIER

Das Leben wäre unmöglich.

ERSTER PATRIZIER

Seht ihr. Ich zum Beispiel habe voriges Jahr meine Frau verloren. Ich habe viel geweint, und dann habe ich vergessen. Hin und wieder bin ich betrübt. Aber alles in allem ist es nicht schlimm.

DER ALTE PATRIZIER

Die Natur richtet alles aufs beste.

HELICON

Wenn ich euch ansehe, habe ich allerdings den Eindruck, dass sie manchmal danebenhaut.

(CHEREA tritt ein.)

ERSTER PATRIZIER

Nun?

CHEREA

Noch immer nichts.

HELICON

Ruhe, meine Herren, Ruhe. Wahren wir den Schein. Das Römische Reich sind wir. Wenn wir das Gesicht verlieren, verliert das Reich den Kopf. Jetzt ist nicht der richtige Augenblick, o nein! Und zunächst einmal wollen wir essen, danach wird es dem Reich bessergehen.

DER ALTE PATRIZIER

Richtig, der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach.

CHEREA

Mir gefällt das nicht. Aber es ging alles zu gut. Dieser Kaiser war vollkommen.

ZWEITER PATRIZIER

Ja, er war genau richtig: gewissenhaft und unerfahren.

ERSTER PATRIZIER

Was habt ihr denn nur, und warum dieses Gejammer? Nichts hindert ihn, so weiterzumachen. Gut, er liebte Drusilla. Aber schließlich war sie seine Schwester. Mit ihr zu schlafen war schon allerhand. Aber Rom in Aufruhr zu versetzen, weil sie gestorben ist, das geht zu weit.

CHEREA

Trotzdem. Mir gefällt das nicht, und diese Flucht sagt mir nichts Gutes.

DER ALTE PATRIZIER

Ja, kein Rauch ohne Feuer.

ERSTER PATRIZIER

Auf jeden Fall kann die Staatsraison keinen Inzest dulden, der das Ausmaß einer Tragödie annimmt. Inzest, gut und schön, aber diskret.

HELICON

Ihr wisst ja, ein Inzest fällt zwangsläufig auf. Das Bett quietscht, wenn ich mich so ausdrücken darf. Wer sagt euch übrigens, dass es um Drusilla geht?

ZWEITER PATRIZIER

Um was denn sonst?

HELICON

Ratet einmal. Wohlgemerkt ist es mit dem Unglück wie mit dem Heiraten. Man glaubt, man wähle, und dann wird man gewählt. So ist das eben, ob man will oder nicht. Unser Caligula ist unglücklich, aber vielleicht weiß er nicht einmal, warum! Er fühlte sich wohl in die Enge getrieben, da ist er einfach geflohen. Wir hätten es alle genauso gemacht. Zum Beispiel wenn ich, so, wie ich vor euch stehe, meinen Vater hätte aussuchen können, wäre ich nicht geboren.

(SCIPIO tritt ein.)

2. Szene

CHEREA

Nun?

SCIPIO

Immer noch nichts. Bauern haben ihn angeblich gestern Nacht hier in der Nähe im Gewitter herumlaufen sehen.

(CHEREA geht wieder zu den Senatoren hinüber. SCIPIO folgt ihm.)

CHEREA

Ist das nicht schon drei Tage her, Scipio?

SCIPIO

Ja. Ich war dabei, da ich ihn wie gewöhnlich begleitete. Er ist an Drusillas Leiche getreten. Er hat sie mit zwei Fingern berührt. Dann schien er nachzudenken, machte kehrt und ging gemessenen Schritts hinaus. Seitdem laufen wir hinter ihm her.

CHEREA (kopfschüttelnd)

Dieser Junge liebte die Literatur zu sehr.

ZWEITER PATRIZIER

Das entspricht seinem Alter.

CHEREA

Aber nicht seiner Stellung. Ein Künstler als Kaiser, nicht auszudenken! Einen oder zwei von der Sorte hatten wir ja schon. Schwarze Schafe gibt es überall. Aber die anderen hatten den guten Geschmack, Beamte zu bleiben.

ERSTER PATRIZIER

Das war geruhsamer.

DER ALTE PATRIZIER

Schuster, bleib bei deinen Leisten.

SCIPIO

Was können wir tun, Cherea?

CHEREA

Nichts.

ZWEITER PATRIZIER

Warten wir ab. Wenn er nicht zurückkommt, muss er ersetzt werden. Unter uns, an Kaisern fehlt es nicht.

ERSTER PATRIZIER

Nein, uns fehlt es nur an Leuten mit Charakter.

CHEREA

Und wenn er schlecht aufgelegt zurückkommt?

ERSTER PATRIZIER

Du meine Güte, er ist noch ein Kind, wir werden ihn schon zur Vernunft bringen.

CHEREA

Und wenn er für gutes Zureden taub ist?

ERSTER PATRIZIER (lacht)

Nun, habe ich nicht früher einmal eine Abhandlung über den Staatsstreich geschrieben?

CHEREA

Gewiss, wenn es sein müsste! Aber mir wäre es lieber, ich könnte bei meinen Büchern bleiben.

SCIPIO

Entschuldigt mich bitte.

(Er geht hinaus.)

CHEREA

Er ist entrüstet.

DER ALTE PATRIZIER

Er ist ein Kind. Die jungen Leute halten zusammen.

HELICON

Ob sie zusammenhalten oder nicht, älter werden sie in jedem Fall.

EINE WACHE (erscheint)

Jemand hat Caligula im Palastgarten gesehen.

(Alle gehen hinaus.)

3. Szene

(Die Bühne bleibt einige Sekunden leer. Verstohlen tritt CALIGULA von links ein. Er wirkt verstört, er ist schmutzig, sein Haar trieft, und seine Beine sind verschmutzt. Er führt mehrmals die Hand an den Mund. Er geht auf den Spiegel zu und bleibt stehen, sobald er sein eigenes Bild erblickt. Er murmelt undeutliche Worte, dann geht er nach rechts und setzt sich mit zwischen den gespreizten Knien hängenden Armen. HELICON kommt links herein. Als er CALIGULA erblickt, bleibt er am Bühnenrand stehen und beobachtet ihn schweigend. CALIGULA dreht sich um und sieht ihn. Pause.)

4. Szene

HELICON (von einem Ende der Bühne zum anderen)

Guten Tag, Gajus.

CALIGULA (ungezwungen)

Guten Tag, Helicon.

HELICON

Du siehst müde aus.

CALIGULA

Ich bin viel gelaufen.

HELICON

Ja, du warst lange fort.

(Pause.)

CALIGULA

Es war schwer zu finden.

HELICON

Was denn?

CALIGULA

Das, was ich wollte.

HELICON

Und was wolltest du?

CALIGULA (noch immer ungezwungen)

Den Mond.

HELICON

Was?

CALIGULA

Ja, ich wollte den Mond.

HELICON

Aha!

(Schweigen. HELICON kommt näher.)

Wozu?

CALIGULA

Nun … Das ist etwas, was ich nicht habe.

HELICON

Natürlich. Und jetzt ist alles in Ordnung?

CALIGULA

Nein, ich habe ihn nicht bekommen.

HELICON

Das ist ärgerlich.

CALIGULA

Ja, deshalb bin ich müde.

(Pause.)

Helicon!

HELICON

Ja, Gajus.

CALIGULA

Du denkst, ich sei verrückt.

HELICON

Du weißt doch, dass ich nie denke. Dazu bin ich viel zu intelligent.

CALIGULA

Ja. Nun gut! Aber ich bin nicht verrückt, ich war sogar noch nie so vernünftig. Nur habe ich plötzlich ein Bedürfnis nach Unmöglichem verspürt. (Pause.) Die Dinge scheinen mir so, wie sie sind, nicht befriedigend.

HELICON

Das ist eine ziemlich weit verbreitete Ansicht.

CALIGULA

Es ist wahr. Aber vorher wusste ich es nicht. Jetzt weiß ich es. (Immer noch ungezwungen) Diese Welt ist so, wie sie gemacht ist, nicht zu ertragen. Darum brauche ich den Mond oder das Glück oder die Unsterblichkeit, etwas, was unsinnig sein mag, was aber nicht von dieser Welt ist.

HELICON

Das ist eine Überlegung, die Hand und Fuß hat. Aber im Allgemeinen kann man sie nicht zu Ende führen.

CALIGULA (steht auf, aber mit derselben Natürlichkeit)

Du hast keine Ahnung. Eben weil man sie nie zu Ende führt, wird nichts erreicht. Aber vielleicht genügt es, bis zum Ende konsequent zu bleiben.

(Er schaut HELICON an.)

Ich weiß auch, was du denkst: Wie viel Aufhebens um den Tod einer Frau! Nein, das ist es nicht. Ich glaube mich zwar zu erinnern, dass vor einigen Tagen eine Frau gestorben ist, die ich liebte. Aber was ist die Liebe? Eine Bagatelle. Jener Tod bedeutet nichts, das schwöre ich dir. Er ist nur ein Hinweis auf eine Wahrheit, die mir den Mond unerlässlich macht. Das ist eine ganz einfache, ganz klare Wahrheit, ein bisschen dumm, aber schwierig herauszufinden und schwer zu ertragen.

HELICON

Und was ist das für eine Wahrheit, Gajus?

CALIGULA (abgewandt, in sachlichem Ton)

Die Menschen sterben, und sie sind nicht glücklich.

HELICON (nach einer Pause)

Ach, komm, Gajus, das ist eine Wahrheit, mit der man sich sehr gut abfinden kann. Schau dich um. Das hält sie nicht vom Essen ab.

CALIGULA (plötzlich laut werdend)

Weil alles um mich herum Lüge ist und ich will, dass man in der Wahrheit lebt! Und gerade ich habe die Möglichkeit, sie dazu zu bringen, in der Wahrheit zu leben. Ich weiß nämlich, was ihnen fehlt, Helicon. Ihnen mangelt es an Erkenntnis, und sie brauchen einen Lehrer, der weiß, wovon er spricht.

HELICON

Nimm mir nicht übel, was ich dir sagen werde, Gajus. Aber du solltest dich erst einmal ausruhen.

CALIGULA (setzt sich, in sanftem Ton)

Das ist nicht möglich, Helicon, das wird nie wieder möglich sein.

HELICON

Und warum nicht?

CALIGULA

Wenn ich schlafe, wer gibt mir dann den Mond?

HELICON (nach kurzem Schweigen)

Das stimmt.

(CALIGULA steht mit sichtlicher Mühe auf.)

CALIGULA

Horch, Helicon. Ich höre Schritte und Stimmen. Sei verschwiegen und vergiss, dass du mich gesehen hast.

HELICON

Ich habe verstanden.

(CALIGULA geht zum Ausgang. Er dreht sich um.)

CALIGULA

Und, bitte, hilf mir von nun an.

HELICON

Ich habe keinen Grund, es nicht zu tun, Gajus. Aber ich weiß vieles, und weniges interessiert mich. Wobei kann ich dir denn helfen?

CALIGULA

Bei dem Unmöglichen.

HELICON

Ich werde mein Bestes tun.

(CALIGULA geht hinaus. SCIPIO und CAESONIA kommen eilig herein.)

5. Szene

SCIPIO

Hier ist niemand. Hast du ihn nicht gesehen, Helicon?

HELICON

Nein.

CAESONIA

Helicon, hat er wirklich nichts gesagt, bevor er davongelaufen ist?

HELICON

Ich bin nicht sein Vertrauter, ich bin sein Zuschauer. Das ist klüger.

CAESONIA

Ich bitte dich.

HELICON

Liebe Caesonia, Gajus ist ein Idealist, das weiß doch jeder. Das heißt, er hat noch nicht verstanden. Ich schon, deshalb kümmere ich mich um nichts. Wenn Gajus aber zu verstehen beginnt, ist er mit seinem guten Herzchen imstande, sich um alles zu kümmern. Und Gott weiß, was uns das einbringen wird. Aber ihr erlaubt, das Essen wartet!

(Er geht hinaus.)

6. Szene

(CAESONIA setzt sich erschöpft.)

CAESONIA

Eine Wache hat ihn vorbeigehen sehen. Aber ganz Rom sieht Caligula überall. Und Caligula sieht in der Tat nur, was er sich vorstellt.

SCIPIO

Was stellt er sich vor?

CAESONIA

Woher soll ich das wissen, Scipio?

SCIPIO

Drusilla?

CAESONIA

Wer kann es sagen? Aber es ist wahr, dass er sie liebte. Es ist wahr, dass es hart ist, heute sterben zu sehen, was man gestern noch in den Armen hielt.

SCIPIO (schüchtern)

Und du?

CAESONIA

Ich? Ach, er begehrt mich, aber er müsste mich lieben.

SCIPIO

Caesonia, wir müssen ihn retten.

CAESONIA

Du liebst ihn wohl?

SCIPIO

Ich liebe ihn. Du kannst nicht wissen, wie gut er zu mir war, wie er mir geholfen hat, wie er meiner Familie geholfen hat. Er hat mich ermutigt, und ich habe einige seiner Worte beherzigt. Er sagte mir, das Leben sei nicht leicht, aber es gebe ja die Religion, die Kunst und die Liebe, die man uns entgegenbringt. Er wiederholte oft, Leid zu verursachen sei die einzige Art, sich zu betrügen. Er wollte ein Gerechter sein.

CAESONIA (steht auf)

Das war er, ein Kind.

(Sie geht zum Spiegel und betrachtet sich darin.)

Ich habe nie einen anderen Gott gehabt als meinen Körper, und zu diesem Gott möchte ich heute beten, damit ich Gajus wiederbekomme.

(CALIGULA tritt ein. Als er CAESONIA und SCIPIO erblickt, zögert er und weicht zurück. Im selben Augenblick treten auf der gegenüberliegenden Seite die Patrizier und der Oberhofmeister auf. Sie bleiben verblüfft stehen. CAESONIA dreht sich um. Sie und SCIPIO laufen auf CALIGULA zu. Er gebietet ihnen mit einer Geste Halt.)

7. Szene

OBERHOFMEISTER (mit unsicherer Stimme)

Wir … wir haben dich gesucht, Cäsar.

CALIGULA (mit veränderter, schroffer Stimme)

So.

OBERHOFMEISTER

Wir … das heißt …

CALIGULA (brutal)

Was wollt ihr?

OBERHOFMEISTER

Wir waren beunruhigt, Cäsar.

CALIGULA (auf ihn zugehend)

Mit welchem Recht?

OBERHOFMEISTER

Äh! Mmh … (In einer plötzlichen Eingebung, sehr schnell) Nun, du weißt doch, dass du einige Probleme regeln musst, die den Staatsschatz betreffen.

CALIGULA (von einem nicht enden wollenden Lachen gepackt)

Den Staatsschatz? Stimmt ja, der Staatsschatz, das ist lebenswichtig.

OBERHOFMEISTER

Gewiss, Cäsar.

CALIGULA (immer noch lachend zu CAESONIA)

Nicht wahr, meine Liebe, der Staatsschatz ist überaus wichtig?

CAESONIA

Nein, Caligula, er ist Nebensache.

CALIGULA

Du verstehst eben nichts davon. Der Staatsschatz ist von gewaltiger Bedeutung. Alles ist wichtig: die Finanzen, die öffentliche Moral, die Außenpolitik, die Versorgung der Armee und die Agrargesetze! Alles ist lebenswichtig, sage ich dir. Alles ist gleichrangig: Roms Größe und deine Gichtanfälle. Ah, ich werde mich um all das kümmern. Hör mir einmal zu, Patricius.

OBERHOFMEISTER

Wir hören dir zu.

(Die Patrizier treten näher.)

CALIGULA

Du bist mir treu ergeben, nicht wahr?

OBERHOFMEISTER (vorwurfsvoll)

Cäsar!

CALIGULA

Nun, ich habe dir einen Plan vorzulegen. Wir werden die Volkswirtschaft in zwei Phasen von Grund auf umkrempeln. Ich erkläre es dir, Patricius … wenn die Patrizier gegangen sind.

(Die Patrizier gehen hinaus.)

8. Szene

(CALIGULA setzt sich neben CAESONIA.)

CALIGULA

Hör gut zu. Erste Phase: alle Patrizier, alle Bürger des Reichs, die irgendwelches Vermögen besitzen – ob klein oder groß, ist ganz einerlei –, müssen zwingend ihre Kinder enterben und auf der Stelle ein Testament zugunsten des Staates machen.

OBERHOFMEISTER

Aber Cäsar …

CALIGULA

Ich habe dir noch nicht das Wort erteilt. Je nach unseren Bedürfnissen werden wir diese Personen in der Reihenfolge einer willkürlichen Liste töten. Gelegentlich können wir diese Reihenfolge ebenso willkürlich ändern. Und wir werden erben.

CAESONIA (rückt von ihm ab)

Was ist in dich gefahren?

CALIGULA (unbeirrt)

Die Reihenfolge der Hinrichtungen ist eigentlich völlig unwichtig. Vielmehr sind diese Hinrichtungen gleich wichtig, was zur Folge hat, dass sie überhaupt nicht wichtig sind. Im Übrigen sind die einen so schuldig wie die anderen. Außerdem ist es nicht unmoralischer, die Bürger direkt zu bestehlen, als die für sie unentbehrlichen Lebensmittel heimlich mit indirekten Steuern zu belegen. Regieren heißt stehlen, das weiß doch jeder. Aber es kommt darauf an, wie. Ich werde ehrlich stehlen. Das wird für euch eine Abwechslung von den Kleinverdienern sein. (Barsch zu dem OBERHOFMEISTER) Du wirst diese Befehle unverzüglich ausführen. Alle Einwohner von Rom unterschreiben ihr Testament noch heute Abend, alle Provinzbewohner spätestens in einem Monat. Schick reitende Boten aus.

OBERHOFMEISTER

Cäsar, du machst dir nicht klar …

CALIGULA

Hör mir gut zu, du Schwachkopf. Wenn der Staatsschatz lebenswichtig ist, dann ist das Menschenleben es nicht. Das ist klar. Alle, die so denken wie du, müssen diese Schlussfolgerung anerkennen und ihr Leben für nichts achten, da ihnen das Geld alles bedeutet. Ich habe beschlossen, logisch zu sein, und da ich die Macht habe, werdet ihr sehen, wie teuer die Logik euch zu stehen kommt. Ich werde die Widersprechenden und die Widersprüche ausrotten. Wenn es sein muss, fange ich mit dir an.

OBERHOFMEISTER

Cäsar, mein guter Wille steht außer Zweifel, das schwöre ich dir.

CALIGULA

Meiner auch, das kannst du mir glauben. Dass ich einwillige, deinen Standpunkt zu übernehmen und den Staatsschatz für einen Gegenstand des Nachdenkens zu halten, ist der Beweis. Kurz und gut, bedank dich bei mir, dass ich dein Spiel mitmache und mit deinen Karten spiele. (Pause und dann ruhig) Mein Plan ist durch seine Einfachheit genial, womit die Debatte abgeschlossen ist. Du hast drei Sekunden, um zu verschwinden. Ich zähle, eins …

(Der OBERHOFMEISTER verschwindet.)

9. Szene

CAESONIA

Ich erkenne dich gar nicht wieder! Das ist ein Scherz, nicht wahr?

CALIGULA

Eigentlich nicht, Caesonia. Das ist Pädagogie.

SCIPIO

Das ist doch nicht möglich, Gajus!

CALIGULA

Genau!

SCIPIO

Ich verstehe dich nicht.

CALIGULA

Genau! Es geht um das, was nicht möglich ist, oder vielmehr darum, möglich zu machen, was nicht möglich ist.

SCIPIO

Aber das ist ein Spiel, das keine Grenzen hat. Es ist der Zeitvertreib eines Verrückten.

CALIGULA

Nein, Scipio, es ist die Stärke eines Kaisers.

(Er lehnt sich mit einem Ausdruck von Müdigkeit zurück.)

Ich habe endlich das Nützliche der Macht erkannt. Sie gibt dem Unmöglichen eine Chance. Heute und für alle Zeiten hat meine Freiheit keine Grenzen mehr.

CAESONIA (traurig)

Ich weiß nicht, ob das ein Grund zur Freude ist, Gajus.

CALIGULA

Ich weiß es auch nicht. Aber ich vermute, dass es ein Grund zum Leben ist.

(CHEREA tritt ein.)

10. Szene

CHEREA

Wir haben von deiner Rückkehr erfahren. Wir wünschen deiner Gesundheit gutes Ergehen.

CALIGULA

Meine Gesundheit dankt euch. (Pause, dann plötzlich) Geh, Cherea, ich will dich nicht sehen.

CHEREA

Ich bin überrascht, Gajus.

CALIGULA

Sei nicht überrascht. Ich mag die Literaten nicht und kann ihre Lügen nicht ertragen. Sie reden, um sich nicht zuhören zu müssen. Wenn sie sich zuhörten, wüssten sie, dass sie nichts sind, und könnten nicht mehr reden. Los, wegtreten, mir graut vor falschen Zeugen.

CHEREA

Wenn wir lügen, geschieht es oft, ohne dass wir es wissen. Ich plädiere für nicht schuldig.

CALIGULA

Eine Lüge ist nie unschuldig. Und eure misst den Menschen und den Dingen Bedeutung bei. Eben das kann ich euch nicht verzeihen.

CHEREA

Und doch müssen wir für diese Welt plädieren, wenn wir darin leben wollen.

CALIGULA

Plädiere nicht, die Sache ist entschieden. Diese Welt ist ohne Bedeutung, und wer das erkennt, erringt seine Freiheit.

(Er ist aufgestanden.)

Und ich hasse euch, gerade weil ihr nicht frei seid. Im ganzen Römischen Reich bin ich der Einzige, der frei ist. Freut euch, ihr habt endlich einen Kaiser bekommen, der euch die Freiheit lehrt. Geh, Cherea, und du auch, Scipio, Freundschaft bringt mich zum Lachen. Geht und verkündet Rom, dass ihm seine Freiheit endlich wiedergegeben ist und dass damit eine große Prüfung beginnt.

(Sie gehen hinaus. CALIGULA hat sich abgewandt.)

11. Szene

CAESONIA

Du weinst?

CALIGULA

Ja, Caesonia.

CAESONIA

Aber was hat sich denn geändert? Wenn du auch Drusilla geliebt hast, so hast du sie doch zugleich mit mir und vielen anderen geliebt. Das allein kann nicht der Grund sein, dass ihr Tod dich drei Tage und drei Nächte aufs Land hinaustreibt und du mit diesem feindlichen Gesicht zurückkehrst.

CALIGULA (hat sich umgedreht)

Wer redet denn von Drusilla, du Törin? Kannst du dir nicht vorstellen, dass ein Mann wegen etwas anderem als der Liebe weint?

CAESONIA

Entschuldige, Gajus. Aber ich versuche zu verstehen.

CALIGULA

Männer weinen, weil die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten.

(Sie geht zu ihm.)

Fass mich nicht an. Ich will nicht, dass man mich anfasst.

(Sie weicht zurück.)

Aber setz dich neben mich.

CAESONIA

Ich tue, was du willst.

(Sie setzt sich.)

In meinem Alter weiß man, dass das Leben nicht gut ist. Aber wenn das Böse auf der Erde ist, warum sollte man es noch schlimmer machen wollen?

CALIGULA

Das kannst du nicht verstehen. Was soll’s? Ich werde da vielleicht herauskommen. Aber ich fühle namenlose Wesen in mir aufsteigen. Was soll ich gegen sie tun?

(Er wendet sich ihr zu.)

Oh, Caesonia, ich wusste, dass man verzweifelt sein kann, aber ich wusste nicht, was dieses Wort bedeutet. Ich glaubte, wie alle, es sei eine Krankheit der Seele. Aber nein, was leidet, ist der Körper. Meine Haut tut mir weh, meine Brust, meine Glieder. Mein Kopf ist leer, und mir ist übel. Und das Schrecklichste ist dieser Geschmack im Mund. Weder nach Blut noch nach Tod noch nach Fieber, sondern all das auf einmal. Ich brauche nur die Zunge zu bewegen, und alles wird wieder schwarz, und die Menschen widern mich an. Wie hart, wie bitter es ist, ein Mann zu werden!

CAESONIA

Das geht vorüber, mein Kleiner. Du musst schlafen, lange schlafen, dich gehenlassen und nicht mehr nachdenken. Ich werde über deinen Schlaf wachen. Beim Erwachen wirst du den Geschmack dieser Welt wiederfinden. Dann nutze deine Macht dazu, was noch liebenswert ist, mehr zu lieben. Auch das Mögliche verdient, eine Chance zu bekommen.

CALIGULA

Aber dazu ist Schlaf nötig, ist Gelöstheit nötig. Das geht nicht.

CAESONIA

Das meint man, wenn man völlig erschöpft ist. Irgendwann hat man dann wieder eine feste Hand.

CALIGULA

Aber man muss wissen, wo man sie anlegt. Und was soll ich mit einer festen Hand, wozu dient mir diese so erstaunliche Macht, wenn ich die Zustände nicht ändern kann, wenn ich nicht erreichen kann, dass die Sonne im Osten untergeht, dass das Leid abnimmt und die Menschen nicht mehr sterben? Nein, Caesonia, es ist gleichgültig, ob ich schlafe oder wach bleibe, wenn ich nicht auf die Ordnung dieser Welt einwirken kann.

CAESONIA

Aber das heißt, den Göttern gleichen zu wollen. Ich kenne keinen schlimmeren Wahnsinn.

CALIGULA

Du auch! Auch du hältst mich für wahnsinnig. Und dabei, was ist ein Gott, dass ich wünschte, ihm gleich zu sein? Was ich heute mit aller Kraft wünsche, geht über die Götter hinaus. Ich übernehme die Verantwortung für ein Reich, in dem das Unmögliche Herrscher ist.

CAESONIA

Du wirst nicht erreichen können, dass der Himmel nicht der Himmel ist, dass ein schönes Gesicht hässlich und ein Menschenherz empfindungslos wird.

CALIGULA (mit wachsender Erregung)

Ich will den Himmel ins Meer stürzen, Hässlichkeit und Schönheit vermischen, aus Leid Gelächter hervorbrechen lassen.

CAESONIA (vor ihm aufgerichtet, flehend)

Es gibt Gut und Böse, das Erhabene und das Niedrige, das Gerechte und das Ungerechte. Und ich schwöre dir, dass sich das nicht ändern wird.

CALIGULA (wie zuvor)

Es ist mein Wille, es zu ändern. Ich werde diesem Jahrhundert die Gleichheit schenken. Und wenn alles gleich gemacht ist – das Unmögliche endlich auf Erden, der Mond in meiner Hand –, dann werde vielleicht ich selbst verwandelt sein und die Welt mit mir, dann endlich werden Menschen nicht mehr sterben und glücklich sein.

CAESONIA (mit einem Schrei)

Du wirst die Liebe nicht leugnen können.

CALIGULA (aus der Haut fahrend, wutschnaubend)

Die Liebe, Caesonia!

(Er hat sie bei den Schultern gefasst und schüttelt sie.)

Ich habe erfahren, dass sie nichts ist. Der andere da hat recht: der Staatsschatz! Du hast ihn doch gehört, nicht wahr? Damit fängt alles an. Ah, jetzt werde ich endlich leben! Leben, Caesonia, leben ist das Gegenteil von lieben. I c h sage es dir, und i c h lade dich ein zu einem ungeheuren Fest, zu einer Haupt- und Staatsaktion, zum schönsten aller Schauspiele. Und ich brauche Leute, Zuschauer, Opfer und Schuldige.

(Er springt zum Gong und schlägt ihn unentwegt, lauter und lauter.)

(Weiter den Gong schlagend) Bringt die Schuldigen herein. Ich brauche Schuldige. Und schuldig sind sie alle. (Schlägt weiter den Gong) Die zum Tode Verurteilten sollen hereinkommen. Publikum, ich will mein Publikum! Richter, Zeugen, Angeklagte, alle im Voraus verurteilt! Ah, Caesonia, ich werde ihnen zeigen, was sie noch nie gesehen haben, den einzigen freien Menschen in diesem Reich!

(Mit den Gongschlägen dringen nach und nach anschwellende, näher kommende dumpfe Geräusche in den Palast. Stimmen, Waffenlärm, Schritte und Getrampel. CALIGULA lacht und schlägt weiter den Gong. Wachen treten ein, gehen wieder hinaus.)

CALIGULA (weiter den Gong schlagend)

Und du, Caesonia, wirst mir gehorchen. Du wirst mir immer beistehen. Das wird herrlich. Schwöre, dass du mir beistehst, Caesonia.

CAESONIA (verstört, zwischen zwei Gongschlägen)

Ich brauche nicht zu schwören. Ich liebe dich.

CALIGULA (wie zuvor)

Du wirst alles tun, was ich dir sage.

CAESONIA (wie zuvor)

Alles, Caligula, aber hör jetzt auf.

CALIGULA (immer noch den Gong schlagend)

Du wirst grausam sein.

CAESONIA (weinend)

Grausam.

CALIGULA (wie zuvor)

Kalt und unerbittlich.

CAESONIA

Unerbittlich.

CALIGULA (wie zuvor)

Du wirst auch leiden.

CAESONIA

Ja, Caligula, aber ich werde verrückt dabei.

(Voller Bestürzung sind Patrizier und mit ihnen die Palastdiener hereingekommen. CALIGULA gibt dem Gong einen letzten Schlag, hebt den Schlägel, wendet sich ihnen zu und ruft sie.)

CALIGULA (von Sinnen)

Kommt alle her. Kommt näher. Ich befehle euch, näher zu treten.

(Er stampft mit dem Fuß auf.)

Hier steht ein Kaiser, der verlangt, dass ihr näher tretet.

(Alle treten voller Schrecken näher.)

Kommt schnell. Und jetzt komm hierher, Caesonia.

(Er nimmt sie bei der Hand, führt sie vor den Spiegel und wischt hektisch mit dem Schlägel ein Bild auf der glatten Fläche aus.)

(Lacht) Nichts mehr, siehst du. Keine Erinnerungen mehr, alle Gesichter weg! Nichts, gar nichts mehr. Und weißt du, was bleibt? Tritt näher. Schau. Tretet näher. Schaut.

(Er baut sich in der Haltung eines Wahnsinnigen vor dem Spiegel auf.)

CAESONIA (blickt in den Spiegel, voller Entsetzen)

Caligula!

(CALIGULA wechselt den Ton, legt einen Finger auf den Spiegel, sein Blick wird plötzlich starr.)

CALIGULA (triumphierend)

Caligula.

Vorhang

Zweiter Akt

1. Szene

(Die Patrizier sind in CHEREAs Haus zusammengekommen.)

ERSTER PATRIZIER

Er beleidigt unsere Würde.

MUCIUS

Seit drei Jahren!

DER ALTE PATRIZIER

Er nennt mich Liebchen. Er macht mich lächerlich! Bringt ihn um!

MUCIUS

Seit drei Jahren!

ERSTER PATRIZIER

Wir müssen jeden Abend hinter seiner Sänfte herlaufen, wenn er sich im Grünen spazieren tragen lässt!

ZWEITER PATRIZIER

Und er sagt uns, Laufen sei gut für die Gesundheit.

MUCIUS

Seit drei Jahren!

DER ALTE PATRIZIER

Dafür gibt es keine Entschuldigung.

DRITTER PATRIZIER

Nein, das ist unverzeihlich.

ERSTER PATRIZIER

Patricius, er hat dein Hab und Gut eingezogen; Scipio, er hat deinen Vater getötet; Octavius, er hat deine Frau entführt und zwingt sie jetzt, in seinem Bordell zu arbeiten; Lepidus, er hat deinen Sohn getötet. Wollt ihr das hinnehmen? Ich für mein Teil habe meine Wahl getroffen. Zwischen der Gefahr, der ich mich aussetze, und diesem unerträglichen Leben in Angst und Ohnmacht gibt es für mich kein Zaudern.

SCIPIO

Als er meinen Vater tötete, hat er die Wahl für mich getroffen.

ERSTER PATRIZIER

Zögert ihr immer noch?

DRITTER PATRIZIER

Wir sind auf deiner Seite. Er hat dem Volk unsere Plätze im Zirkus geschenkt und uns dazu gezwungen, mit der Plebs darum zu kämpfen, um uns anschließend desto strenger zu bestrafen.

DER ALTE PATRIZIER

Er ist ein Feigling.

ZWEITER PATRIZIER

Ein Zyniker.

DRITTER PATRIZIER

Ein Komödiant.

DER ALTE PATRIZIER

Er ist impotent.

VIERTER PATRIZIER

Seit drei Jahren!

(Wildes Durcheinander. Waffen werden gezückt. Eine Fackel fällt zu Boden. Ein Tisch wird umgestoßen. Alles stürzt zum Ausgang. Aber der eintretende CHEREA hält sie ungerührt in ihrem Hinausstürmen auf.)

2. Szene

CHEREA

Wohin wollt ihr so eilig?

DRITTER PATRIZIER

Zum Palast.

CHEREA

Das habe ich schon verstanden. Aber glaubt ihr, man lässt euch hinein?

ERSTER PATRIZIER

Wir haben nicht vor, um Erlaubnis zu fragen.

CHEREA

Wie energisch ihr auf einmal seid! Ist es mir wenigstens gestattet, mich in meinem eigenen Haus hinzusetzen?

(Die Tür wird geschlossen. CHEREA geht zu dem umgestürzten Tisch und setzt sich auf eine Ecke, während alle sich ihm zuwenden.)

Es ist nicht so einfach, wie ihr glaubt, Freunde. Die Angst, die ihr empfindet, kann Mut und Kaltblütigkeit nicht ersetzen. Das alles ist verfrüht.

DRITTER PATRIZIER

Wenn du nicht mitmachen willst, geh, aber halte den Mund.

CHEREA

Ich glaube doch, dass ich mitmache. Aber nicht aus denselben Gründen.

DRITTER PATRIZIER

Genug geschwatzt!

CHEREA (richtet sich auf)

Ja, genug geschwatzt. Ich möchte eins klarstellen. Ich mache zwar bei euch mit, aber ich bin nicht mit euch einig. Darum erscheint mir eure Methode nicht richtig. Ihr habt euren wahren Feind nicht erkannt, ihr unterstellt ihm kleinliche Motive. Er hat aber nur große, und ihr lauft in euer Verderben. Zuerst einmal müsst ihr ihn so sehen, wie er ist, dann könnt ihr ihn besser bekämpfen.

DRITTER PATRIZIER

Wir sehen ihn, wie er ist: der wahnsinnigste aller Tyrannen!

CHEREA

Das ist nicht sicher. Mit verrückten Kaisern kennen wir uns aus. Aber dieser ist nicht verrückt genug. Und am meisten hasse ich an ihm, dass er weiß, was er will.

ERSTER PATRIZIER

Er will unser aller Tod.

CHEREA

Nein, denn das ist zweitrangig. Vielmehr stellt er seine Macht in den Dienst einer höheren und tödlicheren Leidenschaft, er bedroht uns in unserm tiefsten Sein. Bestimmt ist es nicht das erste Mal, dass ein Mensch bei uns über unumschränkte Macht verfügt, aber zum ersten Mal bedient er sich ihrer unumschränkt und geht so weit, den Menschen und die Welt zu leugnen. Das erschreckt mich an ihm, und das will ich bekämpfen. Das Leben zu verlieren ist keine große Sache, und wenn es nötig ist, werde ich den Mut dazu haben. Aber zu sehen, wie der Sinn des Lebens sich auflöst, wie unser Seinsgrund verschwindet, das ist unerträglich. Man kann nicht ohne Grund leben.

ERSTER PATRIZIER

Rache ist ein Grund.

CHEREA

Ja, und den werden wir gemeinsam haben. Wohlgemerkt aber nicht, um mich wegen eurer kleinen Demütigungen einzusetzen, sondern um gegen eine große Idee zu kämpfen, deren Sieg das Ende der Welt bedeuten würde. Ich kann zulassen, dass ihr verhöhnt werdet; nicht akzeptieren kann ich, dass Caligula all das tut, wovon er träumt. Er verwandelt seine Philosophie in Leichen, und zu unserem Unglück ist es eine Philosophie, die keine Einwände kennt. Wenn man nicht widerlegen kann, muss man eben zuschlagen.

DRITTER PATRIZIER

Also muss gehandelt werden.

CHEREA

Es muss gehandelt werden. Aber ihr werdet diese ungerechte Macht nicht mit einem frontalen Angriff vernichten können, während sie in voller Blüte steht. Die Tyrannei kann man bekämpfen, die zweckfreie Bosheit muss man überlisten. Man muss sie immer weiter in ihre Richtung hineintreiben und warten, bis diese Logik in Wahnsinn umschlägt. Aber ich wiederhole, und ich habe überhaupt nur aus Rechtschaffenheit gesprochen, ihr müsst begreifen, dass ich nur eine Zeitlang bei euch mitmache. Danach werde ich keinem eurer Interessen dienen, weil ich nur den Wunsch habe, wieder in Frieden in einer aufs Neue stimmigen Welt zu leben. Nicht Ehrgeiz treibt mich zum Handeln, sondern eine begründete Angst, die Angst vor dieser unmenschlichen Schwärmerei, im Vergleich zu der mein Leben nichts bedeutet.

ERSTER PATRIZIER (vortretend)

Ich glaube, ich habe verstanden, oder doch annähernd. Aber das Wesentliche ist, dass du, wie wir, die Grundlagen unserer Gesellschaft für erschüttert hältst. Für uns, nicht wahr, liebe Freunde, ist es vor allem eine moralische Frage. Die Familie gerät ins Wanken, die Achtung vor der Arbeit geht verloren, das ganze Vaterland wird geschmäht. Die Tugend ruft uns zu Hilfe, sollen wir uns weigern, sie zu hören? Verschwörer, wollt ihr am Ende hinnehmen, dass die Patrizier jeden Abend gezwungen werden, Cäsars Sänfte hinterherzulaufen?

DER ALTE PATRIZIER

Wollt ihr zulassen, dass man sie «Liebchen» nennt?

DRITTER PATRIZIER

Dass man ihre Frauen entführt?

ZWEITER PATRIZIER

Und ihre Kinder?

MUCIUS

Und ihnen ihr Geld wegnimmt?

VIERTER PATRIZIER

Nein!

ERSTER PATRIZIER

Cherea, du hast gut gesprochen. Du hast auch gut daran getan, uns zu Mäßigung aufzurufen. Es ist zu früh zum Handeln: Heute wäre das Volk noch gegen uns. Willst du mit uns den richtigen Moment zum Zuschlagen abpassen?

CHEREA

Ja, lassen wir Caligula weitermachen. Tragen wir ihn im Gegenteil auf seinem Weg voran. Fördern wir seinen Wahnsinn. Der Tag wird kommen, an dem er allein einem Reich von Toten und Eltern von Toten gegenübersteht.

(Wirrer Lärm. Draußen Trompetenstöße. Stille. Dann, von Mund zu Mund ein Name:) Caligula.

3. Szene

(CALIGULA und CAESONIA treten ein, gefolgt von HELICON und Soldaten. Stumme Szene. CALIGULA bleibt stehen und sieht die Verschwörer an. Er geht schweigend von einem zum andern, zupft einem eine Locke zurecht, tritt etwas zurück, um einen andern zu mustern, sieht sie nochmals an, fährt sich mit der Hand über die Augen und geht wortlos hinaus.)

4. Szene

CAESONIA (deutet auf das Durcheinander; ironisch)

Habt ihr euch geschlagen?

CHEREA

Wir haben uns geschlagen.

CAESONIA (wie zuvor)

Und warum habt ihr euch geschlagen?

CHEREA

Für nichts und wieder nichts.

CAESONIA

Dann ist es nicht wahr.

CHEREA

Was ist nicht wahr?

CAESONIA

Ihr habt euch nicht geschlagen.

CHEREA

Dann haben wir uns eben nicht geschlagen.

CAESONIA (lächelnd)

Vielleicht wäre es besser, das Zimmer aufzuräumen. Caligula kann Unordnung nicht ausstehen.

HELICON (zu demALTEN PATRIZIER)

Ihr bringt den Mann noch ganz aus dem Häuschen!

DER ALTE PATRIZIER

Was haben wir ihm denn getan?

HELICON

Eben nichts. Es ist unerhört, derart belanglos zu sein. Das wird irgendwann unerträglich. Versetzt euch an Caligulas Stelle. (Pause.) Natürlich habt ihr ein bisschen konspiriert, nicht wahr?

DER ALTE PATRIZIER

Das ist überhaupt nicht wahr. Was glaubt er denn?

HELICON

Er glaubt nicht, er weiß es. Aber ich vermute, dass er es im Grunde ein wenig wünscht. Kommt, wir wollen aufräumen.

(Sie machen sich zu schaffen. CALIGULA tritt ein und beobachtet sie.)

5. Szene

CALIGULA (zu dem ALTEN PATRIZIER

Guten Tag, Liebling. (Zu den anderen) Cherea, ich habe beschlossen, mich in deinem Haus etwas zu stärken. Mucius, ich habe mir erlaubt, deine Frau einzuladen.

(Der OBERHOFMEISTER klatscht in die Hände. Ein Sklave tritt ein, aber CALIGULA hält ihn auf.)

Einen Moment! Meine Herren, ihr wisst, dass die Staatsfinanzen nur stabil waren, weil sie sich daran gewöhnt hatten. Seit gestern reicht dazu nicht einmal mehr die Gewohnheit aus. Ich bin daher betrüblicherweise gezwungen, einen Personalabbau vorzunehmen. Mit einer Opferfreudigkeit, die ihr bestimmt zu schätzen wisst, habe ich beschlossen, meinen Hofstaat zu verkleinern, einige Sklaven freizulassen und euch zu meinem Dienst heranzuziehen. Würdet ihr bitte den Tisch decken und auftragen.

(Die Senatoren blicken sich an und zögern.)

HELICON

Na los, meine Herren, ein bisschen guten Willen! Ihr werdet übrigens merken, dass es leichter ist, die soziale Stufenleiter hinabzusteigen als hinauf.

(Die Senatoren setzen sich zögernd in Bewegung.)

CALIGULA (zu CAESONIA

Welche Züchtigung ist für arbeitsscheue Sklaven vorgesehen?

CAESONIA

Die Peitsche, glaube ich.

(Die Senatoren machen sich überstürzt und ungeschickt daran, den Tisch zu decken.)

CALIGULA

Nun zeigt mal ein bisschen Eifer! Und Methode vor allem, Methode! (Zu HELICON) Mir scheint, sie sind aus der Übung?

HELICON

Ehrlich gesagt hatten sie nie in etwas Übung, außer im Schlagen und Befehlen. Da wird man sich gedulden müssen, sonst nichts. Es dauert einen Tag, bis jemand Senator wird, und zehn Jahre, bis jemand Arbeiter wird.

CALIGULA

Ich fürchte aber sehr, dass es zwanzig Jahre dauert, bis aus einem Senator ein Arbeiter wird.

HELICON

Trotzdem kriegen sie es hin. Meiner Ansicht nach sind sie sogar dazu berufen! Die Knechtschaft wird ihnen gefallen.

(Ein Senator wischt sich den Schweiß ab.)

Sieh an, sie kommen sogar ins Schwitzen. Das ist ein erster Schritt.

CALIGULA

Gut. Wir wollen nicht zu viel verlangen. Das ist gar nicht so übel. Und außerdem, es ist immer gut, sich einen Augenblick der Gerechtigkeit herauszunehmen. Übrigens, Gerechtigkeit, wir müssen uns beeilen: Eine Hinrichtung wartet auf mich. Ha! Rufius hat Glück, dass ich so schnell Hunger bekomme. (Vertraulich) Rufius ist der Ritter, der sterben muss. (Pause.) Fragt ihr mich nicht, warum er sterben muss?

(Allgemeines Schweigen. Unterdessen haben Sklaven das Essen aufgetragen.)

(Gut gelaunt) Nun, ich sehe, dass ihr klug werdet.

(Er knabbert an einer Olive.)

Ihr habt endlich begriffen, dass man nicht unbedingt etwas getan haben muss, um zu sterben. Soldaten, ich bin zufrieden mit euch. Nicht wahr, Helicon?

(Er hört auf zu knabbern und sieht die anderen Gäste schalkhaft an.)

HELICON

Allerdings! Was für eine Armee! Aber wenn du meine Meinung hören willst, sie sind jetzt zu klug und werden sich nicht mehr schlagen wollen. Wenn sie noch mehr Fortschritte machen, bricht das Reich zusammen!

CALIGULA

Ausgezeichnet. Wir wollen uns ausruhen. Also dann, nehmen wir zwanglos Platz. Kein Protokoll. Dieser Rufius hat wirklich Glück. Und ich bin sicher, dass er diesen kleinen Aufschub gar nicht zu schätzen weiß. Dabei sind ein paar dem Tod abgewonnene Stunden doch unschätzbar.

(Er isst, die anderen ebenfalls. Es wird deutlich, dass CALIGULA schlechte Tischmanieren hat. Nichts zwingt ihn, seine Olivenkerne auf den Teller der neben ihm Sitzenden zu werfen, seine Fleischabfälle in die Schüssel zu spucken, mit den Fingernägeln in den Zähnen zu stochern und sich wie rasend am Kopf zu kratzen. All das tut er jedoch während der Mahlzeit in aller Ungezwungenheit. Aber dann hört er abrupt auf zu essen und starrt einen der Gäste, LEPIDUS, bohrend an.)

CALIGULA (grob)

Du scheinst schlechte Laune zu haben. Etwa, weil ich deinen Sohn umgebracht habe?

LEPIDUS (mit zugeschnürter Kehle)

Aber nein, Gajus, im Gegenteil.

CALIGULA (freudestrahlend)

Im Gegenteil! Ach, wie ich es liebe, wenn das Gesicht den Kummer des Herzens Lügen straft. Dein Gesicht ist traurig. Aber dein Herz? Im Gegenteil, nicht wahr, Lepidus?

LEPIDUS (mit fester Stimme)

Im Gegenteil, Cäsar.

CALIGULA (immer glücklicher)

Ach, Lepidus, niemand ist mir lieber als du. Lass uns zusammen lachen, ja? Und erzähl mir irgendeine gute Geschichte.

LEPIDUS (der seine Kräfte überschätzt hat)

Gajus!

CALIGULA

Gut, gut. Dann erzähle ich. Aber du lachst, nicht wahr, Lepidus? (Mit einem bösen Blick) Und wäre es nur deinem zweiten Sohn zuliebe. (Wieder fröhlich) Übrigens hast du gar keine schlechte Laune.

(Er trinkt, dann spricht er vor.)

Im … im … Los, Lepidus.

LEPIDUS (resigniert)

Im Gegenteil, Gajus.

CALIGULA

Bravo. (Trinkt) Jetzt hör zu. (Versonnen) Es war einmal ein armer Kaiser, den niemand liebte. Er, der Lepidus liebte, ließ dessen jüngsten Sohn töten, um sich diese Liebe aus dem Herzen zu reißen.

(Er wechselt den Ton.)

Natürlich ist das nicht wahr. Komisch, nicht wahr? Du lachst ja gar nicht. Niemand lacht? Dann hört einmal zu. (Mit rasender Wut) Ich will, dass alle lachen. Du, Lepidus, und alle anderen. Steht auf und lacht.

(Er schlägt auf den Tisch.)

CALIGULA

Ich will, hört ihr, ich will euch lachen sehen.

(Alle stehen auf. Während dieser ganzen Szene können die Schauspieler, mit Ausnahme von CALIGULA und CAESONIA, wie Marionetten spielen.)

CALIGULA (wirft sich, von unwiderstehlichem Lachen gepackt, ausgelassen auf seinem Lager zurück)

Jetzt schau sie dir bloß an, Caesonia. Nichts gilt mehr. Anstand, Achtbarkeit, das Gerede der Leute, Sinnsprüche – das alles spielt keine Rolle mehr. Vor der Angst verschwindet alles. Die Angst, nicht, Caesonia, dieses schöne Gefühl, unvermischt, rein und zweckfrei, eines der wenigen, dessen Würde aus dem Bauch kommt.

(Er fährt sich mit der Hand über die Stirn und trinkt.)

(In freundschaftlichem Ton) Sprechen wir jetzt über etwas anderes. Nun, Cherea, du bist ja so schweigsam.

CHEREA

Ich bin bereit zu sprechen, Gajus. Sobald du es gestattest.

CALIGULA

Ausgezeichnet. Dann sei still. Ich möchte gern unseren Freund Mucius hören.

MUCIUS (widerwillig)

Zu Befehl, Gajus.

CALIGULA

Schön, erzähl uns von deiner Frau. Und als Erstes schick sie an meine linke Seite.

(MUCIUS’ FRAU geht zu CALIGULA.)

MUCIUS (etwas hilflos)

Meine Frau, nun, ich liebe sie.

(Allgemeines Gelächter.)

CALIGULA

Natürlich, lieber Freund, natürlich. Aber das ist doch so üblich!

(Er leckt der neben ihm sitzenden Frau zerstreut die linke Schulter.)

(Immer ungezwungener) Als ich hereinkam, habt ihr doch konspiriert, nicht wahr? Man hat sein kleines Komplott geschmiedet, stimmt’s?

DER ALTE PATRIZIER

Gajus, wie kannst du nur …?

CALIGULA

Völlig belanglos, meine Süße. Das Alter muss sich austoben. Völlig belanglos, wirklich. Ihr seid zu einer beherzten Tat unfähig. Mir fällt gerade ein, dass ich ein paar Staatsgeschäfte zu erledigen habe. Aber vorher müssen wir ein kleines Bedürfnis erledigen.

(Er steht auf und zieht MUCIUS’ FRAU mit sich in ein Nebenzimmer.)

6. Szene

(MUCIUS will aufstehen.)

CAESONIA (liebenswürdig)

Ach, Mucius, ich hätte gern noch etwas von diesem köstlichen Wein.

(Geschlagen schenkt MUCIUS ihr schweigend nach. Ein Moment der Verlegenheit. Die Sitze knacken. Der folgende Dialog ist etwas gezwungen.)

Also, Cherea, wie wär’s, wenn du mir sagen würdest, warum ihr euch vorhin geschlagen habt?

CHEREA (kühl)

Alles kam daher, liebe Caesonia, dass wir darüber diskutierten, ob die Poesie tödlich sein soll oder nicht.

CAESONIA

Hochinteressant. Allerdings übersteigt das meinen Frauenverstand. Aber ich bewundere, dass eure Leidenschaft für die Kunst euch zu Handgreiflichkeiten verleitet.

CHEREA (wie zuvor)

Ja. Aber Caligula hat mir gesagt, es gebe keine tiefe Leidenschaft ohne ein wenig Grausamkeit.

HELICON

Und keine Liebe ohne ein kleines bisschen Vergewaltigung.

CAESONIA (kauend)

Da ist etwas Wahres daran. Was meint ihr anderen dazu?

DER ALTE PATRIZIER

Caligula ist ein feiner Psychologe.

ERSTER PATRIZIER

Er hat uns sehr beredt vom Mut gesprochen.

ZWEITER PATRIZIER

Er sollte alle seine Gedanken sammeln. Das wäre unschätzbar.

CHEREA

Ganz abgesehen davon, dass es ihn beschäftigen würde. Er braucht offensichtlich Zerstreuung.

CAESONIA (immer noch kauend)

Ihr werdet entzückt sein zu erfahren, dass er selbst darauf gekommen ist und zurzeit eine große Abhandlung schreibt.

7. Szene

(CALIGULA und MUCIUS’ FRAU kommen herein.)

CALIGULA

Mucius, ich gebe dir deine Frau zurück. Sie wird sich wieder neben dich setzen. Aber entschuldigt mich, ich habe ein paar Anweisungen zu geben.

(Er geht eilig hinaus. MUCIUS ist blass geworden und aufgestanden.)

8. Szene

CAESONIA (zu MUCIUS, der stehen geblieben ist)

Diese große Abhandlung wird den berühmtesten ebenbürtig sein, Mucius, daran besteht kein Zweifel.

MUCIUS (schaut immer noch auf die Tür, durch die CALIGULA verschwunden ist)

Und worum geht es, Caesonia?

CAESONIA (gleichgültig)

Oh, da komme ich nicht mit.

CHEREA

Man muss wohl annehmen, dass die tödliche Macht der Poesie abgehandelt wird.

CAESONIA

Das stimmt, glaube ich.

DER ALTE PATRIZIER (munter)

Nun, das wird ihn beschäftigen, wie Cherea sagte.

CAESONIA

Ja, meine Hübsche. Was euch aber wahrscheinlich stören wird, ist der Titel des Werkes.

CHEREA

Wie heißt es?

CAESONIA

«Das Schwert».

9. Szene

(CALIGULA kommt eilig herein.)

CALIGULA

Verzeiht mir, aber auch die Staatsgeschäfte sind dringend. Patricius, du wirst die staatlichen Kornkammern schließen lassen. Ich habe gerade das Dekret unterzeichnet. Du findest es nebenan.

OBERHOFMEISTER

Aber …

CALIGULA

Morgen wird Hungersnot herrschen.

OBERHOFMEISTER

Da wird das Volk aber murren.

CALIGULA (lautstark und deutlich)

Ich sage, dass es morgen eine Hungersnot gibt. Jeder weiß, was Hungersnot ist: eine Geißel. Morgen gibt es eine Geißel … und ich werde der Geißel ein Ende machen, wann es mir beliebt. (Erklärend zu den anderen) Schließlich habe ich nicht so viele Möglichkeiten, zu beweisen, dass ich frei bin. Man ist immer auf Kosten eines anderen frei. Das ist absurd, aber normal. (Mit einem Blick zu MUCIUS) Wendet diesen Gedanken auf die Eifersucht an, dann seht ihr es. (Versonnen) Trotzdem, wie abscheulich ist es doch, eifersüchtig zu sein! Aus Eitelkeit und in der Phantasie zu leiden! Zu sehen, wie die eigene Frau.

(MUCIUS ballt die Fäuste und macht den Mund auf.)

(Sehr schnell) Essen wir, meine Herren. Wisst ihr, dass wir mit Helicon tüchtig arbeiten? Wir stellen eine kleine Abhandlung über die Hinrichtung fertig, zu der ihr mir bestimmt gratulieren werdet.

HELICON

Vorausgesetzt, ihr werdet nach eurer Meinung gefragt.

CALIGULA

Wir wollen großzügig sein, Helicon, und ihnen unsere kleinen Geheimnisse verraten. Also dann, Abschnitt III, Absatz 1.

HELICON (steht auf und trägt leiernd vor)

«Die Hinrichtung erleichtert und erlöst. Sie ist universell, stärkend und gerecht in ihren Anwendungen wie in ihren Absichten. Man stirbt, weil man schuldig ist. Man ist schuldig, weil man ein Untertan Caligulas ist. Nun ist ja jeder Caligulas Untertan. Folglich ist jeder schuldig. Woraus sich ergibt, dass jeder stirbt. Es ist eine Frage der Zeit und der Geduld.»

CALIGULA (lachend)

Was haltet ihr davon? Geduld – das ist ein Volltreffer, was? Soll ich es euch sagen: die bewundere ich am meisten an euch. Jetzt, meine Herren, könnt ihr über euch verfügen. Cherea braucht euch nicht mehr. Caesonia soll aber bleiben! Und Lepidus und Octavius! Mereia ebenfalls. Ich möchte mit euch über die Organisation meines Bordells sprechen. Es macht mir große Sorgen.

(Die anderen gehen langsam hinaus. CALIGULA blickt MUCIUS nach.)

10. Szene

CHEREA

Zu deinen Diensten, Gajus. Was klappt denn nicht? Ist das Personal schlecht?

CALIGULA

Nein, aber die Einnahmen.

MEREIA

Dann müssen die Preise erhöht werden.

CALIGULA

Mereia, du hast gerade eine Gelegenheit verpasst zu schweigen. In Anbetracht deines Alters betreffen dich diese Probleme nicht, und ich frage dich nicht nach deiner Meinung.

MEREIA

Warum wolltest du dann, dass ich hierbleibe?

CALIGULA

Weil ich gleich eine leidenschaftslose Meinung brauche.

(MEREIA zieht sich in den Hintergrund zurück.)

CHEREA

Wenn ich voll Leidenschaft darüber sprechen darf, Gajus, würde ich sagen, dass man die Preise nicht antasten soll.

CALIGULA

Natürlich nicht. Wir müssen uns am Umsatz schadlos halten. Ich habe Caesonia meinen Plan schon erläutert; sie wird ihn euch darlegen. Ich habe zu viel Wein getrunken und werde allmählich müde.

(Er legt sich hin und schließt die Augen.)

CAESONIA

Es ist ganz einfach. Caligula stiftet einen neuen Orden.

CHEREA

Ich sehe da keinen Zusammenhang.

CAESONIA

Er ist aber da. Diese Auszeichnung wird den Rang eines Helden der Bürgerschaft ins Leben rufen. Mit ihr werden die Bürger belohnt, die Caligulas Bordell am häufigsten besucht haben.

CHEREA

Das ist genial.

CAESONIA

Allerdings. Ich vergaß zu sagen, dass die Auszeichnung jeden Monat nach Zählen der Eintrittskarten verliehen wird. Der Bürger, der nach Ablauf von zwölf Monaten noch keinen Orden bekommen hat, wird verbannt oder hingerichtet.

DRITTER PATRIZIER

Wieso «oder hingerichtet»?

CAESONIA

Weil Caligula sagt, das wäre völlig belanglos. Hauptsache, der Bürger kann wählen.

CHEREA

Bravo. Der Staatsschatz ist heute wieder flott.

HELICON

Und zwar auf hochmoralische Art, wohlgemerkt. Schließlich ist es besser, das Laster zu besteuern, als die Tugend auszubeuten, wie es in den republikanischen Gesellschaften gemacht wird.

(CALIGULA schlägt die Augen halb auf und beobachtet den alten MEREIA, der abseits steht, ein Fläschchen hervorzieht und einen Schluck daraus trinkt.)

CALIGULA (immer noch liegend)

Was trinkst du, Mereia?

MEREIA

Etwas gegen mein Asthma, Gajus.

CALIGULA (geht, die anderen beiseiteschiebend, zu ihm und schnuppert an seinem Mund)

Nein, das ist ein Gegengift.

MEREIA

Oh, nein, Gajus. Das ist doch nicht dein Ernst. Ich ersticke nachts und nehme schon seit langem etwas dagegen.

CALIGULA

Du hast also Angst, vergiftet zu werden?

MEREIA

Mein Asthma …

CALIGULA

Nein. Nennen wir die Dinge beim Namen: Du befürchtest, ich würde dich vergiften. Du traust mir nicht. Du bespitzelst mich.

MEREIA

Nein, nein, bei allen Göttern!

CALIGULA

Du verdächtigst mich. Du misstraust mir sozusagen.

MEREIA

Gajus!

CALIGULA (grob)

Antworte! (Zwingend logisch) Wenn du ein Gegengift nimmst, unterstellst du mir demnach die Absicht, dich zu vergiften.

MEREIA

Ja … ich meine … nein.

CALIGULA

Und sobald du glaubst, dass ich beschlossen habe, dich zu vergiften, unternimmst du das Nötige, um dich meinem Willen zu widersetzen.

(Schweigen. Gleich zu Beginn der Szene sind CAESONIA und CHEREA in den Hintergrund getreten. Nur LEPIDUS verfolgt angstvoll den Dialog.)

CALIGULA (immer präziser)

Das sind zwei Verbrechen und eine Alternative, aus der es keinen Ausweg für dich gibt: Entweder wollte ich dich nicht umbringen, und du verdächtigst mich ungerechterweise, mich, deinen Kaiser. Oder ich wollte es, und du Insekt widersetzt dich meinen Plänen.

(Pause. CALIGULA sieht den Greis voll Genugtuung an.)

Na, Mereia, was sagst du zu dieser Logik?

MEREIA

Sie ist … sie ist unwiderlegbar, Gajus. Aber man kann sie nicht auf diesen Fall anwenden.

CALIGULA

Und, drittes Verbrechen, du hältst mich für einen Schwachkopf. Hör gut zu. Von diesen drei Verbrechen ehrt dich nur ein einziges: das zweite, weil der Umstand, dass du mir eine Entscheidung unterstellst und sie hintertreibst, eine Revolte in dir voraussetzt. Du bist ein Volksführer, ein Revolutionär. Das ist gut. (Traurig) Ich habe dich sehr gern, Mereia. Deshalb wirst du wegen deines zweiten Verbrechens und nicht wegen der anderen verurteilt. Du wirst mannhaft sterben, weil du revoltiert hast.

(Während dieser Rede sinkt MEREIA immer tiefer in seinem Sitz zusammen.)

Bedank dich nicht bei mir. Das ist ganz selbstverständlich. Da!

(Er reicht ihm eine Phiole.)

(Liebenswürdig) Trink dieses Gift.

(MEREIA schüttelt haltlos schluchzend den Kopf.)

(Ungeduldig) Los, los!

(MEREIA versucht zu fliehen. Aber CALIGULA holt ihn mit einem unbändigen Satz in der Mitte der Bühne ein, wirft ihn auf einen niedrigen Sitz, zwängt ihm nach einem kurzen Kampf die Phiole zwischen die Zähne und zerbricht sie mit Faustschlägen. Das Gesicht von Wasser und Blut überströmt, stirbt MEREIA nach einigen Zuckungen. CALIGULA richtet sich auf und wischt sich mechanisch die Hände ab.)

CALIGULA (reicht CAESONIA eine Scherbe von MEREIAs Fläschchen)

Was ist das? Ein Gegengift?

CAESONIA (ruhig)

Nein, Caligula. Ein Mittel gegen Asthma.

CALIGULA (sieht MEREIA an; nach einer Pause)

Macht nichts. Es läuft auf dasselbe hinaus. Ein bisschen früher, ein bisschen später …

(Er geht plötzlich geschäftig tuend hinaus, wobei er sich immer noch die Hände abwischt.)

11. Szene

LEPIDUS (am Boden zerstört)

Was sollen wir tun?

CAESONIA (nüchtern)

Zuerst einmal die Leiche wegschaffen, denke ich. Sie ist zu hässlich!

(CHEREA und LEPIDUS ziehen die Leiche hinter die Kulissen.)

LEPIDUS (zu CHEREA

Wir müssen schnell handeln.

CHEREA

Wir müssen zweihundert sein.

(SCIPIO kommt herein. Als er CAESONIA erblickt, macht er Anstalten, wieder zu gehen.)

12. Szene

CAESONIA

Komm her.

SCIPIO

Was willst du?

CAESONIA

Komm näher.

(Sie hebt sein Kinn hoch und schaut ihm in die Augen. Pause.)

(Kühl) Hat er deinen Vater getötet?

SCIPIO

Ja.

CAESONIA

Hasst du ihn?

SCIPIO

Ja.

CAESONIA

Willst du ihn töten?

SCIPIO

Ja.

CAESONIA (lässt ihn los)

Warum sagst du es mir dann?

SCIPIO

Weil ich niemanden fürchte. Ihn töten oder getötet werden, das sind zwei Arten, Schluss zu machen. Im Übrigen wirst du mich nicht verraten.

CAESONIA

Du hast recht, ich werde dich nicht verraten. Aber ich will dir etwas sagen – oder vielmehr, ich möchte das Beste in dir ansprechen.

SCIPIO

Das Beste in mir ist mein Hass.

CAESONIA

Hör mich erst einmal an. Was ich dir sagen will, ist schwierig und einleuchtend zugleich. Wenn es aber wirklich gehört würde, vollbrächte es die einzige endgültige Revolution dieser Welt.

SCIPIO

Dann sag es.

CAESONIA

Noch nicht. Denk zuerst an das entstellte Gesicht deines Vaters, dem die Zunge herausgerissen wurde. Denk an jenen Mund voller Blut und an jenen Schrei eines gequälten Tieres.

SCIPIO

Ja.

CAESONIA

Jetzt denk an Caligula.

SCIPIO (mit hasserfüllter Stimme)

Ja.

CAESONIA

Jetzt höre: Versuch, ihn zu verstehen.

(Sie geht hinaus und überlässt SCIPIO seiner Ratlosigkeit. HELICON tritt ein.)

13. Szene

HELICON

Caligula kommt zurück: Wie wär’s, wenn du zum Essen gingest, Dichter?

SCIPIO

Helicon! Hilf mir.

HELICON

Das ist gefährlich, mein Täubchen. Und von Dichtung verstehe ich nichts.

SCIPIO

Du könntest mir helfen. Du weißt vieles.

HELICON

Ich weiß, dass die Tage vergehen und dass man schleunigst essen muss. Ich weiß auch, dass du Caligula töten könntest … und dass er es nicht ungern sehen würde.

(CALIGULA tritt ein. HELICON geht hinaus.)

14. Szene

CALIGULA

Ach, du bist’s.

(Er bleibt stehen, ein wenig, als suchte er Fassung zu gewinnen.)

Ich habe dich lange nicht gesehen. (Geht langsam auf ihn zu) Was machst du? Schreibst du noch? Kannst du mir deine letzten Werke zeigen?

SCIPIO (ebenfalls befangen, zwischen seinem Hass und einem ihm unerklärlichen Gefühl hin und her gerissen)

Ich habe Gedichte geschrieben, Cäsar.

CALIGULA

Worüber?

SCIPIO

Ich weiß nicht, Cäsar. Über die Natur, glaube ich.

CALIGULA (unbefangener)

Ein schönes Thema. Und ein weites. Wie hat sie auf dich gewirkt, die Natur?

SCIPIO (wieder Herr seiner selbst, ironisch und boshaft)

Sie tröstet mich darüber hinweg, dass ich nicht Cäsar bin.

CALIGULA

Ach! Und glaubst du, sie könnte mich darüber hinwegtrösten, dass ich es bin?

SCIPIO (wie zuvor)

Bestimmt, sie hat schlimmere Wunden geheilt.

CALIGULA (seltsam ungezwungen)

Wunden? Du sagst das voller Bosheit. Etwa weil ich deinen Vater getötet habe? Wenn du wüsstest, wie treffend das Wort ist. Wunden! (In einem anderen Ton) Nur der Hass macht die Leute klug.

SCIPIO (steif)

Ich habe deine Frage zur Natur beantwortet.

(CALIGULA setzt sich, sieht SCIPIO an, fasst ihn plötzlich bei den Händen und zieht ihn mit Gewalt zu seinen Füßen an sich. Er legt die Hände um sein Gesicht.)

CALIGULA

Trag mir dein Gedicht vor.

SCIPIO

Nein, Cäsar, bitte nicht.

CALIGULA

Warum nicht?

SCIPIO

Ich habe es nicht bei mir.

CALIGULA

Hast du es nicht im Kopf?

SCIPIO

Nein.

CALIGULA

Sag mir wenigstens, was darin steht.

SCIPIO (immer noch steif und gleichsam widerwillig)

Ich sprach darin …

CALIGULA

Nun?

SCIPIO

Nein, ich weiß nicht …

CALIGULA

Versuch es …

SCIPIO

Ich sprach darin von einem gewissen Einklang zwischen der Erde …

CALIGULA (unterbricht ihn selbstvergessen)

… der Erde und dem Fuß.

SCIPIO (überrascht, zögert und fährt fort)

Ja, so ungefähr …

CALIGULA

Sprich weiter.

SCIPIO

… und von der Linie der römischen Hügel und jenem flüchtigen, aufrüttelnden Frieden, den der Abend darüber senkt …

CALIGULA

… vom Ruf der Mauersegler am grünen Himmel.

SCIPIO (geht etwas mehr aus sich heraus)

Ja, davon auch.

CALIGULA

Und?

SCIPIO

Und von jenem flüchtigen Moment, in dem der noch goldüberzogene Himmel jäh umschlägt und im nächsten Augenblick sein anderes, von funkelnden Sternen übersätes Gesicht zeigt.

CALIGULA

Von jenem Geruch nach Rauch, Bäumen und Wasser, der dann von der Erde in die Nacht emporsteigt.

SCIPIO (ganz hingegeben)

… das Zirpen der Zikaden und die nachlassende Hitze, die Hunde, das Rumpeln der heimkehrenden Wagen, die Stimmen der Bauern …

CALIGULA

… und die in Dunkel getauchten Wege zwischen den Mastix- und Ölbäumen …

SCIPIO

Ja, ja. Das alles steht darin! Wie bist du nur darauf gekommen?

CALIGULA (drückt SCIPIO an sich)

Ich weiß nicht. Vielleicht weil wir dieselben Wahrheiten lieben.

SCIPIO (schmiegt bebend seinen Kopf an CALIGULAs Brust)

Oh, es ist einerlei, da in mir ja alles das Antlitz der Liebe annimmt.

CALIGULA (immer noch einschmeichelnd)

Das ist die Tugend der Großherzigen, Scipio. Wenn ich wenigstens deine Lauterkeit erleben könnte! Aber ich kenne meine Leidenschaft zum Leben zu gut, sie wird sich nicht mit der Natur begnügen. Du kannst das nicht verstehen. Du bist aus einer anderen Welt. Du bist rein im Guten, wie ich rein bin im Bösen.

SCIPIO

Ich kann es verstehen.

CALIGULA

Nein. Dieses Etwas in mir, dieser See von Schweigen, diese verfaulten Gräser. (Plötzlich den Ton wechselnd) Dein Gedicht ist bestimmt schön. Aber wenn du meine Meinung hören willst …

SCIPIO (wie zuvor)

Ja.

CALIGULA

Alldem fehlt Blut.

(SCIPIO rückt heftig von CALIGULA ab und blickt ihn voller Grauen an. Immer weiter zurückweichend, schaut er CALIGULA bohrend an und redet mit dumpfer Stimme auf ihn ein.)

SCIPIO

Dieses Ungeheuer, dieses verdorbene Ungeheuer! Du hast dich wieder verstellt. Du hast dich verstellt, nicht? Und bist du mit dir zufrieden?

CALIGULA (mit einem Anflug von Traurigkeit)

Es ist etwas Wahres an dem, was du sagst. Ich habe gespielt.

SCIPIO (wie zuvor)

Was für ein niederträchtiges, blutbeflecktes Herz musst du haben. Oh, wie müssen so viel Böses und so viel Hass dich foltern!

CALIGULA (sanft)

Sei jetzt still.

SCIPIO

Wie ich dich bedaure, und wie ich dich hasse!

CALIGULA (voller Zorn)

Sei still!

SCIPIO

Und wie widerlich muss deine Einsamkeit sein!

CALIGULA (verliert die Beherrschung, stürzt sich auf ihn und packt ihn am Kragen; schüttelt ihn)

Einsamkeit! Kennst du das überhaupt, Einsamkeit? Die der Dichter und der Machtlosen. Einsamkeit? Welche denn? Ach, du weißt gar nicht, dass man nie allein ist! Dass uns überallhin dieselbe Last an Zukunft und an Vergangenheit begleitet! Die Menschen, die wir getötet haben, sind bei uns. Doch sie sind noch nicht das Schlimmste. Sondern die Menschen, die wir geliebt haben, die, die wir nicht geliebt haben und die uns geliebt haben: Reue, Begehren, Verbitterung und Süße, die Huren und die Götterclique.

(Er lässt ihn los und zieht sich auf seinen Platz zurück.)

Allein! Ach, wenn ich wenigstens statt meiner von Anwesenheiten vergifteten Einsamkeit die wahre Einsamkeit genießen könnte, die Stille und das Rauschen eines Baumes!

(Er setzt sich; mit plötzlicher Müdigkeit) Einsamkeit! O nein, Scipio. Sie ist von Zähneknirschen erfüllt und hallt wider von versunkenem Lärm und Geschrei. Und neben den Frauen, die ich liebkose, wenn die Nacht uns umfängt und wenn ich, von meinem endlich befreiten Körper losgelöst, zwischen Leben und Tod etwas von mir erfasse, füllt sich meine ganze Einsamkeit mit dem sauren Geruch der Lust aus den Achselhöhlen der Frau, die noch an meiner Seite schlummert.

(Er wirkt erschöpft. Langes Schweigen. SCIPIO tritt hinter CALIGULA und nähert sich ihm zögernd. Er streckt eine Hand aus und legt sie ihm auf die Schulter. Ohne sich umzudrehen, legt CALIGULA seine Hand darüber.)

SCIPIO

Alle Menschen habe eine Freude im Leben. Das hilft ihnen weiterzumachen. Auf sie greifen sie zurück, wenn sie sich zu abgekämpft fühlen.

CALIGULA

Das ist wahr, Scipio.

SCIPIO

Gibt es denn in deinem Leben nichts Derartiges, das Aufsteigen von Tränen, eine stille Zuflucht?

CALIGULA

Doch, ja.

SCIPIO

Was denn?

CALIGULA (langsam)

Die Verachtung.

Vorhang

Dritter Akt

1. Szene

(Ehe der Vorhang aufgeht, erklingen Zimbeln und Trommeln. Der Vorhang öffnet sich über einer Art Jahrmarktsschau. In der Mitte ein Vorhang, vor dem HELICON und CAESONIA auf einem Podium stehen. Rechts und links von ihnen die Beckenschläger. Einige Patrizier und SCIPIO sitzen mit dem Rücken zum Publikum.)

HELICON (im Ton eines Marktschreiers)

Hereinspaziert! Hereinspaziert! (Beckenschläge.) Wieder einmal sind die Götter auf die Erde herabgestiegen. Gajus, Cäsar und Gott, genannt Caligula, hat ihnen seine ganz menschliche Gestalt geliehen. Tretet näher, gemeine Sterbliche, das heilige Wunder vollzieht sich vor euren Augen. Dank einer besonderen Gunst der gesegneten Herrschaft Caligulas werden die göttlichen Geheimnisse allen Augen dargeboten.

(Beckenschläge.)

CAESONIA

Tretet näher, meine Herren! Betet an und entrichtet euren Obolus. Das himmlische Mysterium wird heute für alle Geldbörsen erschwinglich gemacht.

(Beckenschläge.)

HELICON

Der Olymp und seine Kulissen, seine Intrigen, seine schmutzige Wäsche und seine Tränen. Tretet näher! Tretet näher! Die ganze Wahrheit über eure Götter!

(Beckenschläge.)

CAESONIA

Betet an und entrichtet euren Obolus. Tretet näher, meine Herren. Die Vorstellung beginnt.

(Beckenschläge. Kommen und Gehen von Sklaven, die verschiedene Gegenstände auf das Podium bringen.)

HELICON

Eine in ihrer Echtheit eindrucksvolle Rekonstruktion, eine noch nie dagewesene Inszenierung. Der auf Erden wiedererstandene majestätische Schauplatz der göttlichen Macht, eine sensationelle, überwältigende Attraktion, Blitz (die Sklaven zünden griechische Feuer an), Donner (ein mit Kieseln gefülltes Fass wird hin und her gerollt), das Schicksal selbst auf seinem Triumphzug. Tretet näher und schaut euch das an!

(Er zieht den Vorhang auf, und sichtbar wird CALIGULA auf einem Sockel, als groteske Venus verkleidet.)

CALIGULA (liebenswürdig)

Heute bin ich Venus.

CAESONIA

Die Anbetung beginnt. Werft euch nieder (alle, außer SCIPIO, werfen sich nieder) und sprecht mir das heilige Gebet an Caligula Venus nach: «Göttin der Schmerzen und des Tanzes …»

DIE PATRIZIER

«Göttin der Schmerzen und des Tanzes …»

CAESONIA

«Schaumgeborene, ganz klebrig und bitter von Salz und Gischt …»

DIE PATRIZIER

«Schaumgeborene, ganz klebrig und bitter von Salz und Gischt …»

CAESONIA

«Die du bist wie ein Lachen und eine Klage …»

DIE PATRIZIER

«Die du bist wie ein Lachen und eine Klage …»

CAESONIA

«… ein Groll und ein Überschwang …»

DIE PATRIZIER

«… ein Groll und ein Überschwang …»

CAESONIA

«Lehre uns die Gleichgültigkeit, die die Liebe wiedererweckt …»

DIE PATRIZIER

«Lehre uns die Gleichgültigkeit, die die Liebe wiedererweckt …»

CAESONIA

«Erschließe uns die Wahrheit dieser Welt, die lautet, dass sie keine hat …»

DIE PATRIZIER

«Erschließe uns die Wahrheit dieser Welt, die lautet, dass sie keine hat …»

CAESONIA

«Und schenke uns die Kraft, gemäß dieser Wahrheit ohnegleichen zu leben …»

DIE PATRIZIER

«Und schenke uns die Kraft, gemäß dieser Wahrheit ohnegleichen zu leben …»

CAESONIA

Pause!

DIE PATRIZIER

Pause!

CAESONIA (wie zuvor)