Saphir - Ungezügelt in die Freiheit - Bettina Belitz - E-Book

Saphir - Ungezügelt in die Freiheit E-Book

Bettina Belitz

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Beschreibung

Mit Nolans Hilfe findet Roxy für Saphir eine Farm mit Offenstallhaltung – für den traumatisierten Araber die einzige Chance. Doch kaum im neuen Stall angekommen, muss sich Roxy erneut den Dämonen ihrer Vergangenheit stellen. Die Situation eskaliert nochmals, als man Saphir verdächtigt, die alte Leitstute durch einen Tritt gegen die Brust getötet zu haben. Müssen Roxy und Saphir nun endgültig den Hof verlassen? Oder geben die Menschen endlich der Wahrheit eine Chance?

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Seitenzahl: 224

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Bettina Belitz

Saphir Ungezügelt in die Freiheit

KOSMOS

Umschlaggestaltung: Kathrin Steigerwald, Hamburg unter Verwendung von Fotomotiven von Foto-Biene / fotolia und christine kahl/fotolia.

Bisher erschienene Bücher dieser Reihe:

Saphir – Rebellische Herzen

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele

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Aktivitäten findest du unter kosmos.de

© 2019, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-15983-5

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Unüberwindbar

„Tür frei!“

„Ist frei!“

„Nein, ist sie nicht“, widerspreche ich, doch es ist schon zu spät – Saphir hat längst reagiert, und ich kann nur noch dafür sorgen, dass wir die Situation möglichst unbeschadet überstehen. Als hätte jemand eine Nadel in seine Flanken gejagt, schießt Saphir los und beginnt im Galopp, mit dem Kopf zu schlagen, zu buckeln, seitwärts zu springen. Ich muss den passenden Zeitpunkt finden, hinunterzufallen – je eher, desto besser.

„Zügel annehmen, Roxy! Nimm die Zügel an!“, höre ich Nolan rufen, doch genau das will ich nicht. Saphir möchte mich loswerden und darauf kann ich nicht reagieren, indem ich ihm wehtue. Außerdem verstehe ich ihn. Mir würde es an seiner Stelle nicht anders gehen.

Sobald er sich von der Bande entfernt hat und ich ohnehin nur noch in Schieflage auf seinem Rücken hänge, löse ich die Hände von den Zügeln und lasse mich in den weichen Sand fallen. Flink rolle ich mich ab und laufe rückwärts von ihm weg. Obwohl ich bewusst gestürzt bin, tut mir die rechte Hüfte weh. Saphir ist groß und ich bin immer noch ziemlich klein.

„Verdammt …“, zischt Nolan. Es ist nicht zu übersehen, dass ich humple, und mein Oberschenkel fühlt sich taub an. „Alles okay?“

Ohne zu antworten, stelle ich mich zwischen Saphir und Isabella, die sich mit ihrer auf Hochglanz polierten Stute in der Mitte der Halle platziert hat, als würde die Welt sich nur um sie drehen. Nolan hätte ihr die Tür nicht freigeben dürfen – nicht, solange ich auf Saphir sitze und er nicht wirklich entspannt ist. Was er seit gefühlt hundert Jahren nicht mehr gewesen ist. Eigentlich wird es sogar von Tag zu Tag schlimmer. Für ihn und auch für mich.

Ich gebe ein leises, tiefes Summen von mir und vermeide es, Saphir anzusehen, obwohl ich Angst habe, dass er sich bei seinem wilden Tanz noch in den Zügeln verheddert. Doch nach ein paar weiteren panischen Sprüngen bleibt er mit pumpenden Flanken stehen und wendet mir seinen Kopf zu.

Ich spüre, wie Nolan mich beobachtet, während ich langsam zu Saphir gehe, nach den herunterhängenden Zügeln greife, ihm den Hals kraule und den Sattelgurt lockere, damit er wieder besser durchatmen kann. Fast bin ich froh, dass er gebockt hat. Ganz egal, wie oft Nolan beteuert, dass ich ein Naturtalent sei – es fühlt sich verkehrt an, auf Saphir zu reiten. Außerdem wird es immer gefährlicher. Ich habe keine Angst vor ihm, aber den Hals brechen möchte ich mir auch nicht.

„Du musst die Zügel annehmen, wenn er bockt.“ Nolan ist zu uns gekommen und lässt seine dunklen Augen sorgenvoll über meine mit Sand bepuderte Hüfte gleiten. „Lass ihm das nicht durchgehen!“

„Er bockt nicht. Er hat sich erschreckt und das hätte nicht sein müssen. – Darf ich jetzt gehen?“

Nolan wendet sich leise seufzend ab und übernimmt wie ein Lakai die Zügel von Isabellas Stute Sunshine.

Also Ja. Nach nur einer Viertelstunde Unterricht. Kommentarlos führe ich Saphir zum Halleneingang, wo Isabella gerade nach einer passenden Gerte sucht – zumindest tut sie so und das recht überzeugend. Saphirs Augen weiten sich und der Druck gegen den Strick wird stärker, sodass ich am Tor Mühe habe, ihn zu halten, während ich es öffne. Isabella rückt ihm noch weiter auf die Pelle, ohne zu begreifen, dass sie der Auslöser für seine Panik ist. Noch immer hat sie nicht kapiert, wie er tickt, und noch immer macht es mich wütend.

„Lern endlich mal reiten“, sagt sie so leise, dass Nolan es nicht hören kann.

„Vielleicht will ich das ja gar nicht“, gebe ich ebenso leise zurück.

„Tja. Würde ich an deiner Stelle auch behaupten.“

Nein, darauf antworte ich nichts. Solche Gespräche führen zu keinem Ergebnis, und Saphir ist schon gestresst genug. Deshalb presse ich die Lippen zusammen, schlucke alles herunter, was mir an giftigem Contra auf der Zunge liegt, und führe ihn über den Hof zu den Stallungen. Erst als er Jakob erblickt, der über die Boxenabtrennung lugt und uns freundlich entgegenbrummelt, beruhigt er sich ein wenig, während ich innerlich zu kochen beginne. Jetzt passiert also doch genau das, was ich nicht wollte und wovon ich dachte, ich könnte es an mir abprallen lassen, wenn ich nur weiterhin mit Saphir zusammen sein darf. Mein Traum, der langsam, aber sicher zu einem Albtraum mutiert.

Ja, Saphir lebt, und ja, ich darf Zeit mit ihm verbringen. Doch in diesem Gestüt wird alles dafür getan, dass es sich anfühlt wie ein Spießrutenlauf, der niemals ein Ende nehmen wird. Vielleicht hat er sogar gerade erst angefangen. Isabella hat sich warm gemacht, mehr nicht, und die anderen suchen noch nach den passenden Lanzen, mit denen sie mich abstechen können.

Meine Hüfte beginnt schmerzhaft zu pochen, als ich Saphir absattele, ihm sein Müsli richte und ihn in die Box führe. Der dritte Sturz innerhalb einer Woche, und zum zweiten Mal auf die gleiche Stelle.

Bei allen Stürzen bin ich ganz bewusst hinuntergefallen, und die Ursache war immer die gleiche: Saphir hat sich erschreckt. Vor Menschen, die zu laut, zu grob, zu unaufmerksam sind. Es gibt so viele von diesen Menschen in diesem Stall, und heute hat Nolan sich zwischen ihnen eingereiht.

„Ich war so blöd“, flüstere ich entmutigt, nachdem ich die Sattelkammer abgeschlossen habe, und lasse mich auf die Strohquader gegenüber von Jakobs Box fallen. Hier haben Nolan und ich noch vor Kurzem zusammen gegessen und das erste Mal richtig miteinander geredet. Na, eigentlich hat er geredet und ich habe zugehört – und kein einziges Wort vergessen.

Genauso, wie ich keine Minute jener Nacht vergessen habe, in der wir Saphir das Leben gerettet haben. Leider hat mein großer Irrtum genau in dieser Nacht seinen Lauf genommen. Ich dachte, dass sich alles verändern würde, wenn Saphir Nolan gehört und ich mich um ihn kümmern darf. Dass Saphir ruhiger und entspannter würde, wenn ich mit ihm machen darf, was ich will. Nämlich erst einmal nicht reiten, nicht longieren, nicht trainieren. Doch ich habe die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Wir sind auf dem Kastanien-Hof, Saphir und ich. Nolan ist der Star dieses Stalls und Isabella seine Prinzessin – und Nolans Vater der Großgrundbesitzer. Ich kann mich hier keinen Meter frei bewegen, sondern hänge in einem Spinnennetz fest, aus dem es kein Entrinnen gibt, während Saphir verzweifelt versucht, sich daraus zu befreien, indem er sein eigenes webt. Es ist ein unsichtbares Netz, die Fäden gezogen von seinem Kopf, der unentwegt hin- und hergeht, sobald er länger als zehn Minuten in der Box steht. Auch jetzt fängt er wieder damit an, obwohl er gerade frisches Heu bekommen hat und zwei Schaufeln Müsli dazu. Als habe man eine Mechanik in seinen Leib gepflanzt und einen Schalter gedrückt, tritt er abwechselnd mit den Vorderbeinen auf und ab und bewegt rhythmisch seinen Kopf.

Ihm dabei zuzuschauen tut mir so weh, dass ich mich abwenden muss. Ich habe sein Leben gerettet. Mehr aber auch nicht. Und es ist ein Leben, das weder ihm noch mir guttut.

Frustriert lehne ich mich zurück und überlege, ob ich auf Nolan warten oder einfach verschwinden soll. Ich habe keine Ahnung, was er jetzt noch in der Halle macht. Er wollte mir eigentlich nur eine Reitstunde geben, mehr nicht, und die war in dem Moment beendet, als Isabella Sunshine (mal wieder) genau dann in die Halle bringen musste, wenn ich auf Saphir heil zu bleiben versuche.

Ob sie jetzt über mich reden? Ach, bestimmt tun sie das. Denn auch wenn ich es insgeheim gehofft habe – bei Nolan hat sich nichts verändert. Wenige Tage, nachdem wir Saphir gerettet haben, hat Larissa mir beim Frühstück die Zeitung mit einem Bericht über Nolan darin vor die Nase geschoben. Mir ist der Appetit vergangen, als ich das Foto betrachtete, auf dem er und Isabella sich in festlicher Kleidung zuprosteten (mit Champagner vermutlich), weil sie in einem Nobelrestaurant der Altstadt gemeinsam seinen achtzehnten Geburtstag nachfeierten. Nolan ist nämlich genau an dem Tag, an dem Saphir hatte sterben sollen, offiziell erwachsen geworden, und nur deshalb hat er ihn überhaupt kaufen können.

Ich hätte mich über diese Fügung freuen müssen, doch ich konnte es nicht. Isabella zuliebe hat er die geplante Party abgesagt und sie später nachgeholt, und schon da war mir klar, das alles beim Alten geblieben ist. Die Hohensteins und Hilberts feiern öffentlich ihren Erfolg und Reichtum, und ich darf derweil auf Saphir mein Leben riskieren und seinen Mist von der Stallgasse kratzen, damit Isabella ihn eines Tages reiten kann. Das ist der Plan, und sie warten nur darauf, bis ich ihn leid bin und das Handtuch werfe. Denn spätestens jetzt kann auch ich nicht übersehen, dass Saphirs Verhalten nicht normal ist. Niemand kann das dauerhaft übersehen. Noch immer bin ich davon überzeugt, dass die Menschen dafür verantwortlich sind und dass er auf dem Kastanien-Hof niemals das bekommen wird, was er braucht. Doch ich werde diesen Stall nicht verändern können.

Ich will gerade aufstehen und meine Siebensachen aus dem Spind holen, um in den Quellenhof zu fahren, wo ich seit Wochen Steffen auszuweichen versuche, als ich Nolans Stiefelsohlen über die Stallgasse klappern höre. Mit verschränkten Armen bleibe ich sitzen, bis sein Schatten auf mich fällt.

„Wieso hast du ‚Tür frei‘ gesagt?“

„Hast du dich verletzt? Tut dir was weh, Roxy?“

„Darum geht’s nicht.“ Nolan wirkt aufrichtig besorgt, doch das macht es nicht besser. „Isabella hätte in diesem Moment nicht reinkommen dürfen! Du weißt, wie Saphir auf sie reagiert! Wieso hast du das zugelassen?“

Nolan stöhnt leise auf und lehnt sich mir gegenüber an die Boxentür von Jakob, der mit hängender Unterlippe döst und nur ab und zu mit dem Schweif nach einer Fliege schlägt.

„Gewohnheit“, bekennt Nolan schließlich schulterzuckend. „Sorry, Roxy, das hat sich halt so in mir eingebrannt. Wenn Isabella ‚Tür frei?‘ ruft, sage ich ‚Ist frei‘, denn so war es bisher immer, wir hatten noch kein Pferd im Stall, das …“ Ausweichend bricht er ab. Ja, ihr hattet noch kein solches Pferd hier und auch noch keinen solchen Menschen. „Merkst du nicht, dass er immer gefährlicher wird?“

„Ja, weil er sich nicht wohlfühlt – wie oft soll ich dir das noch sagen!“, entgegne ich so aufbrausend, dass Jakob den Kopf hebt. „Guck ihn dir doch mal an – er webt! Ununterbrochen!“

Schweigend mustert Nolan Saphir, während ich schon nach wenigen Sekunden wieder wegschauen muss. Ich kann nicht mehr länger auf eine günstige Gelegenheit warten, um Nolan zu sagen, was seit Tagen auf meiner Seele brennt. Günstige Gelegenheiten gibt es in diesem Stall nicht viele und ich kann mir Saphirs Verzweiflungstanz nicht länger anschauen.

„Es gibt da einen Offenstall, in Werlheim. Die haben noch Plätze frei. Wir könnten fragen, ob sie ihn aufnehmen.“

„Bitte was …?“ Nolan schaut mich so ungläubig an, als hätte ich ihm vorgeschlagen, Saphir morgen mit einer Raumkapsel auf den Mond zu schießen. Mein Atem fühlt sich heiß und meine Brust eng an, als ich seinen Blick erwidere.

„Offenstall.“ Ich deute auf Saphir, dabei ist doch längst klar, dass wir über ihn sprechen – und über mich. Denn auch ich muss hier weg. „Die White Wing Ranch. Dort sind noch Plätze frei. Hab ich im Internet gelesen, eBay Kleinanzeigen.“ Das stimmt nicht ganz. Mit meiner Leseschwäche hätte es Tage gedauert, eine solche Information zu finden. Larissa hat das für mich recherchiert und mir bereitwillig alles vorgelesen, was sie über diesen Stall gefunden hat. Viel war es nicht. Ich weiß nur, dass er privat betrieben wird, es eine Herde gibt und die Pferde im Sommer ausschließlich auf den Weiden sind. Robusthaltung. Ganz so, wie ich es mir für Saphir wünsche.

„Nie gehört“, erwidert Nolan nach einer fassungslosen Pause so hart, dass ich zusammenzucke. „Roxy, wie kommst du auf solche Ideen? Mensch, Saphir ist ein Vollblut von der Rennbahn, hast du dir mal seine Beine angeschaut? Den kannst du doch nicht auf eine Weide stellen, das … das geht nicht!“

„Ich weiß nicht, was ihr über Pferde denkt, aber sie können über Wiesen laufen! Sogar über Steppen und Geröllfelder und Gebirgspfade! Warum soll das bitte nicht gehen?“

„Weil er …“ Nolan schaut gereizt an die Decke. „Der bricht sich dort die Beine, und das Leben in der Herde kennt er doch gar nicht!“

„Dann lernt er es eben kennen! Die passenden Instinkte werden ja wohl noch vorhanden sein.“

„Nein, Roxy, das haut nicht hin, schlag es dir aus dem Kopf! Es gibt tausend gute Gründe, die dagegensprechen! Ich habe meine Pferde außerdem hier stehen, ich kann sie nicht auf mehrere Ställe verteilen, und Isabella wird so einem Schritt niemals zustimmen …“

„Saphir ist dein Pferd. Nicht ihres“, unterbreche ich ihn fauchend.

„Ja, und ich habe ihn unter der Voraussetzung gekauft, dass ich ihn für sie ausbilde, nur deshalb konnte ich das überhaupt tun! Das weißt du doch!“

Nolan fährt sich mit beiden Händen durch seinen hellbraunen Wuschelschopf und tritt ein paar Schritte zurück, als hätte er Angst, ich würde ihn jeden Moment angreifen. „Offenstall, echt … Hast du nur eine blasse Ahnung, was das bedeutet? Und was für Schlammgruben die meisten Offenställe sind? Wie unprofessionell und schlecht organisiert? Und da soll ich ein arabisches Vollblut hinstellen?“

„Vor Kurzem wolltet ihr ihn noch töten. Da hat euch seine Abstammung auch nicht gejuckt.“

„Es hat mich wohl gejuckt, aber … Nein, Roxy, ich denke gar nicht erst darüber nach, das bringt mich in Teufels Küche, ganz abgesehen davon, dass ich gar keine Zeit dafür habe, mich um Pferde in verschiedenen Ställen zu kümmern! Mein Dad wird das außerdem niemals erlauben …“

„Er muss es dir gar nicht erlauben“, falle ich Nolan erneut ins Wort. „Du bist volljährig, du kannst deine Pferde unterbringen, wo du willst.“

„Nein, das kann ich eben nicht!“ So laut habe ich Nolan noch nie erlebt und es gefällt mir ganz und gar nicht. Ich habe mit Gegenwehr gerechnet, ja, doch jetzt schreien wir uns an. Das ist kein Gespräch mehr, das ist Krieg. „Vor allem kann ich ihn Isabella nicht wegnehmen, das …“

„Mann, sie wollte ihn einschläfern lassen! Sie wollte ihn sich selbst wegnehmen!“ Okay, nun brülle ich. Ich hasse es, weil es die Pferde erschreckt, aber meine Nerven liegen blank und es ist mir gleichgültig, ob uns jemand von den anderen hören kann. „Er war ihr lieber tot als so, wie er nun mal ist, und sie hat sich von ihrem Daddy schon längst ein anderes Pferd schenken lassen! Saphir lebt noch, weil ich mich für ihn eingesetzt habe, aber es geht ihm in diesem Stall nicht gut! Er muss hier raus!“

„Aber nicht in irgendeinen Offenstall, der zufällig noch ein paar Plätze frei hat! Roxy, du hast echt keine Ahnung, was das bedeutet. Im Sommer, ja, da ist das vielleicht noch romantisch, die Pferde stehen zusammen auf der Weide, toll, wie schön, aber spätestens im Herbst sind sie allesamt zu fett und bekommen Reheschübe oder Koliken, und wenn die ersten Winterwochen ins Land gezogen sind, versinken sie bis zu den Knien im Matsch … und ihre Besitzer dazu …“ Nolan wirft die Arme in die Luft und lacht lautlos auf – aber ohne jeden Humor. „Die stehen dann bei uns vor der Tür und betteln uns an, ihnen eine Box frei zu machen, nur für den Winter, weil sie mit den Nerven am Ende sind und ihre Pferde dauerkrank. Hab ich alles schon erlebt! Vor zwei Jahren hat eine Frau meinem Dad ihr altes Tafelsilber angeboten, weil sie sich eine Box nicht leisten konnte und dringend einen trockenen Platz für ihr Pferd brauchte … die hat geheult wie ein Schlosshund und war seit Wochen erkältet, weil sie ständig im Regen die Paddocks abäppeln musste!“

„Und, habt ihr ihrem Pferd eine Box gegeben?“, erkundige ich mich kühl.

„Nein.“

„Kein Kommentar.“ Ich erhebe mich unter Schmerzen – meine Hüfte brennt inzwischen wie Feuer –, lasse Nolan in der Stallgasse stehen und marschiere rüber zu den Spinden, um meine Sachen herauszuholen. Und zwar alle. Ich habe hier nichts mehr verloren. Doch er läuft mir hinterher.

„Roxy, du musst das verstehen, es geht nun mal nicht! Einen Haflinger oder Isländer, okay, den kannst du in so einem Stall vielleicht halten, aber ein Pferd wie Saphir – nein! Das ist mein letztes Wort!“

„Dann lässt du ihn also weiter weben, weil er es anders in seiner Box nicht aushält? Und ich muss ihn weiterhin reiten, obwohl weder er noch ich das wollen, aber tun müssen, weil die Halle nun mal eine Reithalle ist und nicht zum Spielen da?“ Genau das hat Lydia gestern vor versammelter Mannschaft zu mir gesagt und mir verboten, mich mit Saphir frei in der Halle zu bewegen – ich würde damit andere Reiter gefährden und das Training blockieren. Das Gestüt sei schließlich kein Kindergarten, sondern ein Leistungszentrum. „Ich muss nach eurer Pfeife tanzen, bis Saphir vollkommen verhaltensgestört ist und ich mir alle Knochen gebrochen habe? Echt, ist es das, was du willst?“

Nolans Augen werden weicher, als er mich anschaut, die Hände wie zur Verteidigung erhoben, doch sein Blick bleibt verschlossen.

„Nein, das will ich nicht. Du bist frei zu gehen, wenn du dieses Gestüt so sehr hasst, aber Saphir muss bleiben.“

„Leck mich am Arsch, Nolan Hilbert.“

Mit dem Rucksack auf meinem Rücken schieße ich an ihm vorbei und dem Ausgang entgegen. Mich von Saphir zu verabschieden, ergibt keinen Sinn mehr. Er ist in seine eigene, verworrene Traumwelt entrückt, die Augen glasig, er nimmt mich gar nicht wahr. Selbst wenn ich ihn ansprechen würde – er würde nicht aufhören, zu weben, und ich möchte ihn nicht zwingen, aus dieser Welt aufzuwachen. So streiche ich Lady im Vorbeigehen nur kurz über ihre samtigen Nüstern, drücke dem lieben, alten Jakob auf Zehenspitzen einen Kuss auf die Nüstern und fahre Torero mit den Fingern über den Hals. Saphir habe ich längst verloren, doch auch der Abschied von Nolans Turnierpferden ist wie ein Stich in meinem Herzen, als ich ohne einen Blick zurück der Bushaltestelle entgegenrenne.

Nolan ruft mir nicht hinterher – wozu auch? Es ist alles gesagt. Von meiner Seite sowieso. Trotzdem wird mir erst im Bus klar, was eben eigentlich geschehen ist.

Ich habe endgültig hingeschmissen. Sie haben es tatsächlich geschafft, ich verlasse das Gestüt, aus eigenem Entschluss und im Streit mit dem einzigen Menschen, der dort immer hinter mir gestanden hat. Doch er hat es nicht überzeugt genug getan.

Saphirs Freikauf war ein Deal, der ihn nur noch stärker an seinen Vater und die Hohensteins gebunden hat, als er es ohnehin schon ist. Und sie wussten das. Sie wussten, dass es so kommen würde und ich bei ihnen dauerhaft keinen Fuß auf den Boden kriege.

Ich lache kalt auf, als ich begreife, dass ich das wörtlich nehmen kann. Sie haben mir verboten, mit Saphir vom Boden aus zusammen zu sein; ich wurde gezwungen, ihn zu reiten – etwas, das ich gar nicht kann, obwohl Nolan ständig beteuert hat, wie talentiert ich darin sei. Ja, ich durfte meine Füße nicht auf ihren Boden setzen.

Ich fühle mich so leer und ohnmächtig, dass selbst meine Sorge um Saphir in den Hintergrund rückt. So schnell ist also Nolans Grenze erreicht? Bei einem Umzug in den Offenstall steigt er aus? Was war unsere Verbindung überhaupt wert, wenn sie nur in seinem Revier existieren kann, einem versnobten Spießer-Club von vorvorgestern, in dem lediglich willkommen ist, wer mit Geld um sich werfen kann und Pferde als Sportgeräte betrachtet?

Während ich im Bus sitze und blind nach draußen starre, in eine aufblühende Sommerwelt, deren Schönheit mich nicht berühren kann, breitet sich eine altvertraute, vernichtende Kälte in mir aus. Lange habe ich sie nicht mehr gespürt, doch nun begrüße ich sie wie einen langjährigen Freund, der sich nur eine Weile vor mir versteckt und auf den richtigen Moment gelauert hat, um zu mir zurückzukehren.

Mit zäh schlagendem Herzen heiße ich ihn willkommen und warte darauf, dass er endlich alles Lebendige, Warme, Fühlende in mir abtötet.

Vater-Tochter-Gespräch

„Nicht so schnell, Roxy … He, hiergeblieben!“ Steffen erwischt den Zipfel meiner Kapuze und hält sie mit zwei Fingern fest, sodass ich gezwungen bin, direkt vor seiner geöffneten Bürotür stehen zu bleiben. Moses liegt lang ausgestreckt unter dem Schreibtisch und klopft freudig mit dem Schwanz auf die alten Holzdielen, als er mich sieht.

„Was ist?“, frage ich unwirsch, ohne Steffen anzuschauen.

„Wir müssen reden. Jetzt.“

Nein, auf keinen Fall jetzt. Das geht nicht. Ausgeschlossen.

„Ich bin müde. Will mich nur noch hinlegen und …“ Sein prüfender Blick lässt mich stocken. Verdammt, ich kann ihn nicht täuschen. Er kennt mich zu gut, um zu übersehen, dass etwas passiert ist, was mich um Jahre zurückwirft.

„Roxy? Was ist los?“

„Ich will nicht drüber sprechen.“ Meine Stimme klingt genauso frostig, wie ich mich fühle.

„Okay, Schluss mit den Spielchen. Komm rein, das ist nichts für den Flur.“ Ja, unser Flur hat Ohren – erst recht, seitdem Larissa weiß, dass ich mit Nolan Hilbert zu tun habe. Ich bin ein hochinteressantes Objekt für sie geworden, und wenn es um ihn geht, vergisst sie sogar ihre ewige Kalorienzählerei. „Also, was ist passiert?“

Ach, er wird es ja doch herausfinden. Es ist schließlich auffällig, wenn ich von nun an wieder jeden Abend in meinem Zimmer sitze und fernsehe.

„Ich hab gekündigt.“

Dieser Satz ist eine sehr beschönigende Umschreibung für mein „Leck mich am Arsch“, aber im Ergebnis ist es das Gleiche. Das wird Nolan sich nicht ein zweites Mal sagen lassen.

„Oh. Okay.“ Steffen atmet lautstark aus und lässt sich in seinen quietschenden Chefsessel fallen. Besonders überrascht wirkt er nicht – vermutlich hat er nur auf diesen Tag gewartet, wie alle um mich herum. „Die haben dich geärgert, oder?“

„Geärgert …“, wiederhole ich dumpf. Nein, dagegen hätte ich mich wehren können. Die haben mich nicht geärgert, die haben mich einfach nur auflaufen lassen. „Ich will da nicht mehr hin.“

„Und was ist mit dem Pferd, das du so gemocht hast? Das Nolan zusammen mit dir gerettet hat, dieses Vollblut?“ Ich kann Steffens Widerwillen deutlich hören, als er Nolans Namen ausspricht. Er war von Beginn an dagegen gewesen, dass ich für Nolan Hilbert arbeite. Auch das habe ich mir erkämpfen müssen – um am Ende doch zu verlieren.

„Er … Saphir muss da raus … und … das wollen die nicht.“

„Aha.“ Steffen kapiert nichts. Er hat keine Ahnung von Pferden. Für ihn sind es einigermaßen schön anzusehende Tiere mit vier langen Beinen, die schnell laufen können. Und ich habe keinen Nerv, ihm zu erklären, dass man sie nicht in Boxen sperren darf. Laut Nolan hab ich ja außerdem ebenfalls keine Ahnung davon. „Oder hat es mit Nolan zu tun?“, hakt er betont beiläufig nach.

„Nein, hat es nicht!“ Widerstrebend setze ich mich auf den Besucherstuhl. Oh, und wie es das hat. Nolan ist der Einzige, der die Situation wenden könnte. Aber er war für Steffen von Anfang an ein rotes Tuch. Weil ihm klar war, dass sie es mir auf dem Gestüt nicht leicht machen und niemals dauerhaft zulassen würden, dass ich mich mit dem erfolgreichsten und wohlhabendsten Reiter des gesamten Stalls anfreunde.

„Magst du ihn?“

Schweigend starre ich an Steffen vorbei. Im Moment hasse ich Nolan. Aber ich hatte damit angefangen, ihn zu mögen. So was in der Art zumindest. Er hat nie auf mich hinabgesehen – bis heute. Heute hat er mich das erste Mal wie ein dummes, unwissendes Kind behandelt. Damit ist er für mich gestorben. Über ihn zu sprechen, ist reine Zeitverschwendung.

„Kann ich jetzt gehen?“, frage ich nach einer langen, unangenehmen Pause, in der Steffen nicht aufgehört hat, mich mit Blicken zu durchforsten, als könnte er irgendwo in meinem Gesicht die Wahrheit finden.

„Nein.“

„Nein? Warum nicht?“

„Roxy, ich weiß, dass es mit Sicherheit nicht der richtige Zeitpunkt für dich ist, aber wir müssen über das Thema zwischen Diana und mir sprechen, das du leider zufällig in der Waschküche mitbekommen hast. Seit Wochen weichst du mir aus, und Diana hat mir eine Frist gesetzt. Sie endet heute!“

„Wow. Die hat dich ja ganz schön im Griff“, entgegne ich spöttisch, obwohl meine Nackenmuskeln vor Anspannung zu schmerzen beginnen. Er hat recht, einen falscheren Zeitpunkt als diesen gibt es für ein solches Gespräch nicht. Andererseits wird es den richtigen wohl nie geben. „Wieso weiß sie überhaupt davon?“

„Na, sie ist ja nicht blöde. Sie hat gemerkt, dass du dich wieder zurückziehst, auch vor mir, und wollte wissen, ob ich den Grund dafür kenne. Also hab ich es ihr gesagt. Anschließend hat sie mir das Messer auf die Brust gesetzt.“

Oh ja, das kann sie sicher gut. Macht immer einen auf sanft und lieb und grenzenlos verständnisvoll. Aber bei Steffen versteht sie keinen Spaß, das habe ich hören können, als ich die beiden beim Wäscheaufhängen belauscht habe.

„Und was passiert, wenn wir nicht reden? Kannst mich ja nicht zwingen, oder?“

„Nein, das kann ich nicht“, entgegnet Steffen gelassen, doch ich sehe, dass seine Hände leicht zittern, als er seine Kaffeetasse zu sich zieht. „Das heißt aber nicht, dass ich es nicht versuche. Das muss ich, Fledermaus. Oder willst du, dass ich versetzt werde? Es gibt viele Dianas da draußen, glaub mir. Willst du noch eine hier haben?“

Um Himmels willen, nein, das will ich nicht. Aber erpressen lassen möchte ich mich auch nicht.

„Ich kann nichts dafür, dass ich euch gehört habe.“ Und erfahren habe, dass Steffen mich gerne adoptieren möchte. Jedenfalls hat er es angedeutet – und ab da sind meine Gedanken Amok gelaufen. Das Thema Familie ist für mich abgehakt, und er weiß das. Warum redet er dann so einen Mist?

„Richtig, das war unser Fehler, aber es ist nun mal geschehen, ich kann es nicht mehr ändern, Herrgott, also lass uns drüber sprechen! Stell mir Fragen, Roxy! Frag mich, was du dazu wissen willst, bitte!“

Verdutzt schaue ich zu ihm auf. Er wirkt blass unter seinem dunklen Dreitagebart und irgendwie hat er sich zu viel Gel in seine stacheligen Haare geklatscht, an deren Schläfen das erste Weiß aufblitzt wie kleine, drahtige Silberfäden. Ich soll ihm Fragen stellen? Es geht also gar nicht darum, dass er mich ausfragt, sondern es ist umgekehrt? Das kenne ich nicht. Sonst bin ich immer diejenige, die gelöchert wird.

„Ja, Roxy. Frag du mich, was dir dazu auf dem Herzen liegt. Ich antworte, so gut ich kann.“

Das ist neu – so neu, dass ich mich beinahe unbehaglich fühle. Ich will Steffen nicht in die Enge treiben, denn das habe ich oft genug selbst erlebt und weiß, wie mies man sich dann fühlt. Aber sollte ich die Chance nicht genau deshalb nutzen und ein Mal in meinem Leben auf die andere Seite treten?

„Kannst du es tun, ohne dass ich … einverstanden bin?“