Satisfactio -  - E-Book

Satisfactio E-Book

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Beschreibung

Mit dem Sammelband "Satisfactio" bildet das DFG-Netzwerk "Schuld ErTragen. Die Kirche und ihre Schuld" den Stand eines dreijährigen Diskussionsprozesses ab. Nach den Publikationen "Contritio" (BÖR 114) und "Confessio" (BÖR 118) beleuchtet "Satisfactio" die Frage nach einer Transformation von Beziehungen, die durch Schuld gebrochen sind. Mehr noch als bei Reue (Confessio) und Schuldbekenntnis (Contritio), steht hierbei der Gedanke des aktiven Tuns im Mittelpunkt des Bußelements der Wiedergutmachung (Satisfactio). Satisfactio impliziert es, sich der Herausforderung zu stellen, Verantwortlichkeiten auszumachen und einzufordern. Am Ende finden sich zehn Thesen, die als "Kondensat" der Netzwerkarbeit verstanden werden können. Mit Beiträgen von Carina Branković, Julia Enxing, Ottmar Fuchs, Dominik Gautier, Gerard den Hertog, Sören Koselitz, Jutta Koslowski, Anne Kratzert, Ulrike Link-Wieczorek, Adrian Loretan, Barbara Meyer, Katharina Peetz, Dorothea Sattler, Dorothea Wojtczak und Knut Wormstädt. [Satisfactio. (Im-)Possiblities of Redemption] With this anthology titled "Satisfactio" the DFG-network "Bearing Guilt. The Church and its Guilt" summarizes a three-year discussion process. After both the publications "Contritio" (BÖR 114) and "Confessio" (BÖR 118), it sheds light on the question of how relations that are broken by guilt can be transformed. Even more than it is the case with regret (confessio) and confession of guilt (contritio), the idea of human activity is central to "Satisfactio". It aims at identifying responsibilities as well as demanding to accept these responsibilities. The publication closes with ten theses that can be understood as a "condensate" of the network's discussion.

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Beihefte zur Ökumenischen Rundschau Nr. 122

Julia Enxing | Dominik Gautier (Hrsg.) unter Mitarbeit von Dorothea Wojtczak

Satisfactio

Über (Un-)Möglichkeiten von Wiedergutmachung

Die Veröffentlichung ist von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Wissenschaftlichen Netzwerkes »Schuld ErTragen. Die Kirche und ihre Schuld« (GZ: EN 1150/1–1) gefördert.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig und Bonifatius GmbH Druck – Buch – Verlag Paderborn

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Coverbild: © rawpixel, www.unsplash.com

Satz: Steffi Glauche, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

ISBN 978-3-374-05830-3

www.eva-leipzig.de

www.bonifatius.de

Vorwort

Julia Enxing und Dominik Gautier

Gedanken zur Schwierigkeit von Wiedergutmachung

»Deine Abwesenheit erfüllt mein Leben ganz und zerstört es«, schreibt Julieta im gleichnamigen Film von Pedro Almodóvar zwölf Jahre nach dem Verschwinden ihrer Tochter Antia in ihr Tagebuch. Vielleicht ist es so, dass die Beziehungen, die man nicht mehr lebt, das Leben in gleichem Maße bestimmen wie die aktiv gelebten Beziehungen. Zumindest ist dies eine Frage, die das Netzwerk »Schuld ErTragen. Die Kirche und ihre Schuld« (DFG) am Ende seiner dreijährigen Zusammenarbeit bewegt hat.

Geht es bei Satisfactio um die tätige Wiederherstellung von Beziehungen, die durch Schuld gebrochen sind – mit der Perspektive, eine neue und gelingende Zukunft zu gestalten? Satisfactio bedeutet für uns nicht, Vergangenheit rückgängig zu machen. Vielmehr sind wir in unserem Diskussionsprozess an den Punkt gelangt, Wiedergutmachung als prozesshaften, ergebnisoffenen Begriff zu fassen, dem es an einer Bearbeitung der Vergangenheit liegt – mit der Idee, Unrecht zu thematisieren, zu differenzieren und sich der Perspektive des jeweils anderen auszusetzen. Bei Satisfactio geht es um eine Wahrheitsfindung. Dies setzt voraus, dass die Wahrheitsfindung von allen Beteiligten ausgehalten werden kann und weiterhin eine Wiederherstellung der Beziehung von allen Beteiligten für ein gelingendes Leben anerkannt wird. Hiervon kann nicht selbstverständlich ausgegangen werden. Unseres Erachtens handelt es sich um ein in der christlichen Tradition verbreitetes Missverständnis, zu meinen, es ginge bei Satisfactio immer um ein Wiederherstellen einer als ursprünglich imaginierten Harmonie. Selbst wenn wir eine Rede von einer prinzipiellen Verbundenheit aller Menschen miteinander als produktive Ausgangslage zur Initiation von Schuldbearbeitungsprozessen in bestimmten Situationen ansehen, kann dies nicht als christliche Pflicht und damit auch nicht als angemessen angesehen werden. Könnte Wiederherstellung der eigenen Lebensmöglichkeiten womöglich auch bedeuten, eine Beziehung abbrechen zu lassen oder zu beenden? Wäre es denkbar, dass Julietas Satz lautete: »Deine Abwesenheit gehört zu meinem Leben, macht es so aber erst möglich?« Letztlich kann dies nur subjekt- und situationsangemessen geschehen. Jede Schuldbearbeitung muss sich in dieser Hinsicht fortwährend selbst überprüfen.

Deutlich wird, dass Satisfactio ein mehrdimensionaler Prozess ist. Mehr noch als bei Reue (Confessio) und Schuldbekenntnis (Contritio), steht der Gedanke des aktiven Tuns im Mittelpunkt des Bußelements der Wiedergutmachung (Satisfactio). Versöhnung als Ziel der Bußbemühungen kann dabei nicht hergestellt werden. Versöhnung kann sich nur ereignen. An dieser Stelle möchten wir betonen, dass hier das Aktiv-Werden im Sinne der Satisfactio Voraussetzung dafür ist, dass sich Räume für Versöhnung eröffnen können. Satisfactio impliziert, sich der Herausforderung zu stellen, Verantwortlichkeiten auszumachen und einzufordern. So denken wir, dass beispielsweise Reparationen für die Sklaverei in den USA nicht bedeuten, dass eine Harmonie entsteht, sehr wohl aber, dass sich somit ein neues Zusammenleben entwickeln könnte, das weniger von historisch gewachsener Ungleichheit geprägt ist. Es geht nicht um eine Tilgung der Schuld, auch nicht um Reinwaschung, sondern um Anerkennung und eine leise Hoffnung darauf, dass sich das Miteinander transformieren könnte: Mit dem Risiko, dass dies immer auch scheitern kann.

Insbesondere die Thesen am Schluss des vorliegenden Sammelbandes bilden den aktuellen Stand der Diskussion unseres Netzwerkes ab und verstehen sich selbst als prozesshaft und offen für den Widerspruch. Ein »Kondensat« unseres gemeinsamen Ringens um das Verständnis des Schuld ErTragens ist es, dass wir die drei Elemente der Buße – Contritio, Confessio, Satisfactio – als wichtige Momente eines anfanghaften und nicht-abschließbaren Versöhnungsprozesses sehen. Anders als meist dargestellt, gehen wir nicht davon aus, dass es sich bei Contritio, Confessio und Satisfactio um ein lineares Projekt handelt. Vielmehr durchwirken sich die unterschiedlichen Momente gegenseitig und bewirken ein jeweils anderes. Sie bilden die unendliche Komplexität des Lebens ab. So können Scham und Reue (Contritio) möglicherweise erst aus dem Versuch entstehen, Wiedergutmachung (Satisfactio) zu leisten. Unter Umständen kann dann hieraus ein Bedürfnis, Schuld zu bekennen (Confessio), erwachsen.

Auf diese Weise könnte die Idee der Buße eine Weisheit vermitteln, die dazu verhilft – so schwer dies auch ist – Wege der Lebensgestaltung in aller Ambivalenz zu suchen.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

I SCHULD – BUßE –WIEDERGUTMACHUNG

Sexuelle Gewalt von Amtsträgern gegen Kinder

Ein menschenrechtliches Plädoyer

Adrian Loretan

Eschatologische Rettung als Raum unerschöpflicher »Satisfaktion«

Ottmar Fuchs

Reconciliation by Symbolic Compensation

A Re-Interpretation of the Satisfaction Theory of Anselm of Canterbury

Ulrike Link-Wieczorek

Buße und Satisfaktion aus evangelischer Perspektive

Anne Helene Kratzert

From collective sin to collective reconciliation

Some aspects of the church’s involvement and role in the development of historical and social sin and the process of reconciliation

Sándor Fazakas

»… obschon es kein Wiedergutmachen gibt […], gibt es doch Gerechtigkeit.«

Was wir von Dietrich Bonhoeffers und Hans Joachim Iwands Umgang mit geschichtlicher Schuld lernen können

Gerard den Hertog

II SCHULD – WIEDERGUTMACHUNG – VERSÖHNUNG(SPRAXIS)

Genug?

Gesühnte und offene Schuld in Christologien nach der Shoah

Barbara U. Meyer

BeyondHochhuth

Gedanken zu Rolf Hochhuths Drama »Der Stellvertreter« – als Katalysator für kirchliche Selbstreflexion und die Auseinandersetzung mit Schuld

Carina Branković und Sören Koselitz

Sinnvolles Leiden

Viktor Frankls Leben und Arbeit als ein Plädoyer für das Verzeihen, für das Leben – für den Menschen?!

Dorothea Wojtczak

Stellvertretende Versöhnung?

Eine kritische Analyse der Initiative »Marsch des Lebens«

Jutta Koslowski

Practices of Symbolic Reparation in Post-Genocide Rwanda.

Katharina Peetz

Identity in Question

A Theological Reflection

Dominik Gautier

Confessio Augustana revisited

Zur ökumenischen Bedeutung der Confessio Augustana im Lichte der mennonitisch-lutherischen Versöhnungsprozesse

Knut V. M. Wormstädt

III CONTRITIO – CONFESSIO – SATISFACTIO

The Purification of Memory

Guilt as Ferment, Leaven, Compost

Katharina von Kellenbach

»… und erlöse uns von dem Bösen«

Hoffnung auf Erlösung und ihre gesellschaftliche Relevanz

Julia Enxing

Schuld ErTragen

Eine Diskussionsintervention in zehn Thesen

Katharina Peetz und Knut V. M. Wormstädt

Autorinnen- und Autoreninformationen

Weitere Bücher

Endnoten

I Schuld – Buße – Wiedergutmachung

Sexuelle Gewalt von Amtsträgern gegen Kinder

Ein menschenrechtliches Plädoyer

Adrian Loretan

»Strukturen, die Missbrauch begünstigt hätten, seien allerdings teilweise nach wie vor nicht überwunden«,1 so der Koordinator des Forschungskonsortiums, der forensische Psychiater Harald Dreßing, bei der Vorstellung der Studie der deutschen Bischöfe. Ein großer Bewunderer des christlichen Beitrages zur Entwicklung und ersten Umsetzung der Menschenrechtsidee, Samuel Moyn,2 formuliert es so: »Part of the failure that Christianity has long faced on his front is institutional. […] The message was right, but the medium failed.«3

Das Vertuschen, Verschweigen und Verdrängen der sexuellen Gewalt von kirchlichen Amtsträgern an Kindern auf allen Kontinenten bringt eine strukturelle Schuld und Sünde der Kirche als Rechtsinstitution ans Tageslicht, die uns alle berührt und deren »Thematisierung gleichzeitig eine enorme persönliche sowie institutionelle Herausforderung darstellt«.4 Es wird an dem Phänomen klerikaler Gewalt gegen Kinder deutlich, »dass Privilegierte [Kleriker] die Herausforderung durch Marginalisierte [Laien] benötigen, um einerseits in ihrer sündhaften Zurückhaltung wachgerüttelt zu werden und andererseits eine konstruktive Vision einer Beloved community aufgezeigt zu bekommen«.5 Der Verweis auf die Sündhaftigkeit aller Menschen kann in Rechtsinstitutionen (Kirche, Staat) nicht die Anklage gegen Täter und Täterinnen und priesterliche Vertuscher verdrängen.

In diesem Artikel kommt »die Würde der menschlichen Person« (DH 1)6 der von kirchlichen Amtsträgern Gequälten zur Sprache. Die Menschenwürde und die daraus folgenden Menschenrechte werden seit dem 10. Dezember 1948 in Rechtsinstitutionen als ein Mittel gegen den Machtmissbrauch von Amtsträgern eingesetzt. Deshalb haben die verantwortlichen Bischöfe auch für die Kirche gefordert, »dass die Rechte der Personen in geeigneter Weise umschrieben und sichergestellt werden. Dies bringt mit sich, dass die Ausübung der [Amts-] Gewalt deutlicher als Dienst erscheint, ihre Anwendung besser gesichert und ihr Missbrauch ausgeschlossen wird.«7 Die Forderung der Bischöfe wurde von Papst Paul VI. im Grundgesetz der Kirche (Lex Ecclesiae Fundamentalis) aufgenommen. Dieses Grundgesetz ist bis heute aber nicht promulgiert worden, sondern bisher nur in Teilen in die geltenden Kodizes (CIC 1983 und CCEO 1990) eingeflossen.8

1. Aufdecken des Systems der Vertuschungen

Religiöse Institutionen haben zu den angesehensten Institutionen der australischen Gesellschaft gehört. Die priesterlichen Täter des sexuellen Kindesmissbrauchs in religiösen Einrichtungen waren in vielen Fällen Menschen, denen Kinder und Eltern am meisten vertrauten.9 Eine weltweite Öffentlichkeit klagt die Verbrechen von Priestern, Bischöfen, Ordensleuten und Kirchenmitarbeitenden gegen Kinder an. Dazu kommt die Vertuschung und Deckung der priesterlichen10 Sexualstraftäter durch ein System des Schweigens, das von Bischöfen, Generalvikaren, Bischofsvikaren und Ordensoberen weltweit gepflegt wurde und das die Sexualverbrechen perpetuierte. »We must accept that institutional child sexual abuse has been occurring for generations.«11

Strukturelle Machtbegrenzung der Amtsträger ist in allen Institutionen nötig, auch in der Kirche, weil sexuelle Gewalt in praktisch allen Institutionen (Sport, Kultur, Erziehung, Freizeit, Kirche) vorkam, die sich mit Kindern beschäftigten: »It is not a case of a few ›rotten apples‹. Society’s major institutions have seriously failed.«12 Die katholische Kirche ist aber mit großem statistischem Abstand unter den religiösen Institutionen in besonderem Maße davon betroffen, da hier die Hierarchie die Sexualstraftäter, sofern sie Priester waren, meistens versetzte, statt der Polizei anzuzeigen:

»Many children have been sexually abused in religious institutions in Australia. Based on the information before us, the greatest number of alleged perpetrators and abused children were in Catholic institutions. […] Alleged perpetrators often continued to have access to children even when religious leaders knew they posed a danger. We heard that alleged perpetrators were often transferred to other locations but they were rarely reported to police.«13

Nur dank konsequentem, investigativem Journalismus konnte das weltweite System der Versetzung der Priester-Straftäter durchbrochen werden. Die Geschichte der Aufdeckung der Verbrechen der klerikalen Sexualstraftäter und deren Vertuschung durch die kirchlichen Oberen erzählt der US-amerikanische Film Spotlight. Er hat den Oscar für den besten Film 2016 erhalten. Der Film basiert auf einer Untersuchung, die schon den Pulitzer-Preis14 gewonnen hat.

Der Film Spotlight zeigt Kirchenrechtsgeschichte als Krimi der Aufdeckung dieses systemischen Verbrechens, bei dem Generalvikare, Bischofsvikare, Weihbischöfe und (Erz-)Bischöfe, Kardinäle und Ordensobere die mutmaßlichen Sexualverbrecher, wenn sie Priester waren, versetzten, so dass sie am neuen Ort mit den Sexualverbrechen gegen Kinder im Schutz der Kirche weiterfahren konnten und teilweise auch heute noch können. Dabei war die Rolle des Chefredakteurs des Boston Globe, Marty Baron, entscheidend, der nicht selbst recherchierte, aber ohne den nichts ins Rollen gekommen wäre. Marty Baron verlangt von seinem Team von investigativen Journalistinnen und Journalisten mit dem Namen »Spotlight«, sich nicht zu früh mit Erkenntnissen über ein paar Skandalpriester zufrieden zu geben, sondern das System zu hinterfragen.

Journalistinnen und Journalisten des Boston Globe entdecken, was sie zuerst nicht für wahr halten können, dass allein in der Erzdiözese Boston an die neunzig Priester Missbrauch an Kindern begangen haben, und dass das Erzbistum Boston »mit Kardinal Law an der Spitze die Fälle kannte und lediglich mit Versetzungen der Täter darauf reagiert hatte. Am 6. Januar 2002 veröffentlichte die Zeitung den Artikel und löste damit einen der größten Skandale der US-Kirchengeschichte und Folgen weltweit aus.«15 Am Ende des Films im Abspann werden weltweit 206 größere Missbrauchsskandale aufgezählt, mit den gleichen Mustern der Vertuschung und Versetzung der priesterlichen Sexualstraftäter durch ihre Vorgesetzten (Ordensobere oder Generalvikare, Bischöfe), die die sexuelle Gewalt an Kindern damit verlängerten.

Wie ist es rechtlich (Staat, Kirche) dazu gekommen, dass Verbrechen dieses Ausmaßes in einer Religionsgemeinschaft weltweit so lange kaum geahndet wurden? Warum hatten die Kinder weder in der Kirche noch im Staat Anwälte und Anwältinnen, die gegen die »Gottesmänner«, die sexuelle Handlungen mit Kindern hatten, und ihre Sympathisanten in der Hierarchie Anklage erhoben? »Es genügt auch nicht, dass ein Kardinal zurücktritt. Nein, es muss genauer gefragt werden: Wer ist beteiligt gewesen an welchen konkreten Entscheidungen? Und warum hat er/sie sich so entschieden?«16

2. Konfrontation mit der sexuellen Gewalt durch Priester

Benedikt XVI. hatte »vor 2010 Signale der Bereitschaft zur Aufklärung von sexuellem Missbrauch in der Kirche gesetzt«.17 Anders als Johannes Paul II., der auf die Vorwürfe gegen den Gründer der Legionäre Christi, Marcial Maciel, ungehalten reagierte, ließ Benedikt XVI. sofort nach dem Tod seines Vorgängers »das Doppelleben Maciels aufdecken – inzwischen nicht die einzige Gemeinschaft, deren Gründer oder Gründerkreis als Missbrauchstäter enttarnt wurde«.18

Dies aber reicht nicht, es muss geklärt werden: Wieso hat die kirchliche Rechtsgemeinschaft durch ihre priesterlichen Amtsträger Sexualverbrechen von Priestern weltweit gedeckt und die Täter versetzt? Warum war es strukturell möglich, dass die Opferperspektive der Kinder und ihrer Familien ausgeblendet werden konnte? Welche Machtkonstellationen und welches religiöse Verständnis ermöglichten solche sexuelle Erniedrigung?

»People in religious ministry were often considered to be representatives of God. Many parents were unable to believe they could be capable of sexually abusing a child. In this environment, perpetrators who were people in religious ministry often had unfettered access to children.«19

Priester nützten ihre Position, die mit heiliger Gewalt (sacra potestas)20 ausgestattet ist, aus, um die sexuelle Gewalt an Kindern zu legitimieren.

»After each time I was sexually abused, I had to go to confession to him and confess ›my‹ sin of impurity. He would say, ›Are you sorry for your sin, my child?‹ and I would reply, ›Yes, Father‹. He then said ›Ask Almighty God and his blessed mother to help you sin no more. For your penance say three Hail Marys. Now make a perfect act of contrition. Go and sin no more‹.«21

3. Kirche – eine Zweiklassengesellschaft

Um zu verstehen, wie es zu diesem weltweiten, systemischen Verbrechen kommen konnte, soll die (Rechts-)Tradition befragt werden. Die Kirche kann theologisch und rechtlich heute nicht mehr in zwei Stände eingeteilt werden wie bei Gratian (1140):

»Es gibt zwei Arten von Christen. Die eine Art, die sich dem Gottesdienst hingibt und Betrachtung und Gebet widmet, muss von allem weltlichen Lärm frei sein, wie die Kleriker und die Gottgeweihten. […] Es gibt noch eine andere Art von Christen, die Laien. […] Ihnen ist es erlaubt, zeitliche Dinge zu besitzen […]. Sie haben die Konzessionen, Frauen zu nehmen [sic!].«22

Dennoch ist dieses über Jahrhunderte geltende, die religiöse Autorität23 betonende Verständnis heute noch für viele Gläubige bestimmend, denen trotz Bildungsoffensive das Vaticanum II fremd geblieben ist.

Das Zweite Vatikanische Konzil dagegen lehrt die gleiche Würde der Rechtsperson, unabhängig vom Geschlecht oder Stand (DH 1; GS 29; NA 5), und die gleiche Würde der Getauften (LG 32; cc. 204; 208). Aber die menschenrechtliche Umsetzung dieser Lehre in positives Kirchenrecht, das auch gerichtlich eingefordert werden kann, fehlt bis heute. Der Theologe Karl Rahner hat schon 1965 festgestellt: »Freilich wird es lange dauern, bis die Kirche, der ein Zweites Vatikanisches Konzil von Gott geschenkt wurde, [rechtlich] die Kirche des Zweiten Vatikanischen Konzils sein wird.«24 Der Kirchenrechtler James Provost sieht ebenfalls viel Zeit vergehen, bis diese neue Sicht des Konzils eine rechtliche Umsetzung erfahren wird. »The major discrimination in the Code is between clergy and laity, rather than between men and women. […] There remains, however, the exclusion of women from the ordained ministry (c. 1024), and therefore from the offices, functions, and ministries that are restricted to clerics.«25 Diese im Konzil grundsätzlich überwundene Zweiklassengesellschaft lebt aber weiterhin fort in den Zulassungsbedingungen zu der Priesterweihe und damit zu den höheren Ämtern.

Die fundamentale menschenrechtliche Gleichstellung der Personen hat verfassungsrechtlich in allen Rechtsstaaten auch Auswirkungen auf die Zulassungsbedingungen zu den höheren Leitungsämtern. Dieses rechtliche Argument wird bis heute nur von wenigen Hierarchievertretern verstanden. Es gilt der Vorrang des jungfräulichen bzw. zölibatären Standes der Priester. Für Papst Gregor den Großen verläuft die Scheidelinie zwischen Gut und Böse zwischen den sexuell Enthaltsamen (gut) und den Eheleuten (schlecht).26 Obwohl das Konzil diese die Ehe und die Frauen diskriminierende Sicht theologisch überwunden hat (GS 47–52; GS 32), schlägt sie sich in den Zulassungsbedingungen für die Priesterweihe nach wie vor nieder. Es werden keine Frauen und keine Verheirateten zugelassen (cc. 1024; 1037 CIC 1983). Wenn neu eine Diskussion über verheiratete Priester auf Wunsch von Papst Franziskus beginnen soll, dann nur als Ausnahme wegen des Priestermangels. Es wird keine menschenrechtliche Konsequenz daraus gezogen, dass alle getauften Personen bei entsprechenden Voraussetzungen ein Recht haben, höhere Weihen in der Kirche zu empfangen, obwohl jede Diskriminierung in den Grundrechten der Person gemäß dem obersten Lehramt der katholischen Kirche »dem Plan Gottes widerspricht« (GS 29).

Mit diesen Zulassungsbedingungen zum Priestertum verbleiben die höheren Ämter mit Leitungsvollmacht (c. 274 §1 CIC 1983) in der Hand der Männer, die »vollkommene und immerwährende Enthaltsamkeit […]« (c. 277 CIC 1983) versprochen haben. Personen ohne dieses Versprechen in Bezug auf die Sexualität, Laien genannt, sind als Fachpersonen zwar de iure zu Ämtern (c. 228) mit höherer Leitungsfunktion (c. 129) zugelassen. Es gibt aber bis heute de facto kaum Vorsteher der kirchlichen Gerichte oder der römischen Dikasterien, was Reinhard Kardinal Marx für möglich hält.27 Damit könnten Gläubige ohne Priesterweihe zu den genannten höchsten Leitungsämtern gemäß geltendem Kirchenrecht aufsteigen. Es könnte zu einer Diversifikation der Amtspersonen in Leitungsfunktionen kommen und der Kreis der zölibatären Priester könnte nach Jahrhunderten aufgebrochen werden.

Die Durchbrechung der zölibatären Männerwelt bei der Besetzung der höheren Ämter in der Kirche ist ein Gebot der Stunde, das selbst die Glaubenskongregation in den Normen von 2010 berücksichtigt. Bisher sind ausschließlich Priester in kirchlichen Gerichten oder im kirchlichen Verwaltungsverfahren beteiligt, wenn über die Anklage gegen Priester als Sexualstraftäter geurteilt wird.28 Seit dem 21. Mai 2010 kann »selbst in einem kirchlichen Strafprozess gegen Kleriker […] nun aber davon dispensiert werden, dass die kirchlichen Amtsträger selbst Priester sein müssen (Art. 15 Normae)«.29 Bei den Richtern (Art. 10), dem Kirchenanwalt (Art. 11), dem Notar und dem Kanzler (Art. 12) sowie dem Anwalt und dem Procurator (Art. 13) des Prozesses werden im Normalfall vorausgesetzt, dass sie Kleriker sind und, außer im Fall des Notars und des Kanzlers, ein kirchenrechtliches Doktorat erworben haben. Art. 15 stellt jedoch der Kongregation für die Glaubenslehre, unbeschadet von c. 1421, die Möglichkeit frei, sowohl von der Voraussetzung der Priesterweihe als auch des Doktorats zu dispensieren.30 »Das Template-Dokument legt nahe, in das Untersuchungsverfahren erfahrene und kompetente Laien einzubeziehen, um Unabhängigkeit sicherzustellen. Erst recht gilt das für die Erhebungen der diözesanen Kommission, die grundsätzlich nicht mit der kanonischen Voruntersuchung identisch sind.«31 Die Beteiligung von fachlich qualifizierten Richterinnen und Richtern, die keine sexuelle Enthaltsamkeit versprochen haben (sprich Laien), sind in Strafprozessen oder Verwaltungsprozessen gegen Priester als Sexualstraftäter, die dauerhafte sexuelle Enthaltsamkeit versprochen haben, möglich. Dem entspricht die Päpstliche Lateinamerika-Kommission, die in ihrem Abschlussdokument zu einer Tagung im Vatikan Anfang März 2018 betont, dass die »Abwesenheit von Frauen in Entscheidungsgremien« einen »Mangel« und eine »ekklesiologische Lücke« darstelle.32 Die Vatikanzeitung L’Osservatore Romano veröffentlichte Teile der Erklärung.33

Ansonsten sind die Sexualstraftaten der Priester auch an staatlichen Gerichten einzuklagen, was Papst Benedikt XVI. als Möglichkeit eröffnete.

Ihm kommt das große Verdienst zu, dass er erstmals offiziell eine kirchliche Zusammenarbeit mit staatlichen Gerichten zulässt bei der Aufarbeitung der Sexualverbrechen von Priestern gegen Kinder in der katholischen Kirche.34

Kann man sich in der gegenwärtigen zölibatären Kirchenkultur, in der höhere Ämter nur mit zölibatären Priestern besetzt werden, vorstellen, dass eine kirchenrechtlich ausgewiesene Gerichtspräsidentin über die Anklage gegen Priester wegen eines Sexualverbrechens in einer Diözese zusammen mit einer weiteren Frau zu urteilen hat? Papst Franziskus kann sich in Mitis Iudex erst zwei Richterinnen vorstellen in den Ehenichtigkeitsverfahren, bei denen ebenfalls der Vorsitzende ein Kleriker sein soll.35 Bisher urteilten also nur Kleriker, meistens ausschließlich zölibatäre Priester oder Bischöfe, über Priester als Sexualstraftäter in Gerichtsverfahren. Über Ausnahmen bezüglich rechtlich nicht entsprechend qualifizierten Priestern, denen rechtswissenschaftlich qualifizierten Laien vorgezogen werden können, bestimmt die Glaubenskongregation.36 Der Kreis der zölibatären Priester wird de facto kaum durchbrochen, wenn es um die Anklage gegen Priester als Sexualverbrecher geht. Die österreichische Diözesane Kommission, die nur ein Beratungsgremium ist, wird von Fachpersonen zusammengesetzt, »wobei auf ein ausgewogenes Verhältnis von Männern und Frauen zu achten ist (§18)«.37

Diese notwendige Durchbrechung des Klerikalismus, der sich in den Ämterbesetzungen am deutlichsten zeigt, hat ihren Grund. Gemäß den Forschungen von Richard Sipe haben in den USA fast 50% des zölibatären Klerus größte Schwierigkeiten, die versprochene Lebensform der »vollkommenen und immerwährenden [sexuellen] Enthaltsamkeit« (c. 277 §1 CIC 1983) zu leben. Das heißt, die Priester leben eine sexuelle Freundschaft mit einer Frau oder einem Mann. Würden sie offen zu ihrer sexuellen Beziehung stehen, müssten sie ihren Beruf aufgeben, was viele nicht können oder nicht wollen. Richard Sipe ist gemäß dem Film Spotlight der Meinung, dass diese verborgenen Beziehungen zu einer großen Geheimhaltungskultur unter den Priestern führen.38 In dieser Geheimhaltungskultur sind auch die pädophil sich gebenden Priester, gemäß seinen Statistiken 6%, sehr gut geschützt. Diese Geheimhaltungskultur unter Priestern (Generalvikaren und Bischofsvikaren) war in den USA vernetzt mit entsprechenden Anwälten, die die Strafrechtsfälle der pädophilen Priester an der staatlichen Justiz vorbei rein privat zwischen Opfer und Täterorganisation (Kirche) verhandelt und vertuscht haben. Das Wichtigste dabei war, dass das Image der guten Hirten (Priester) nicht beschädigt wird. Alle, die diesem Ziel nicht folgten, galten und gelten teilweise heute noch als Nestbeschmutzer der Kirche.

Ohne kirchliche Gerichtspräsidentinnen und rechtlich qualifizierte Frauen als Richterinnen über Priester, die angeklagt sind wegen Sexualstraftaten,39 wird es keine Transparenz der Sexualverbrechen durch Priester und keine Aufklärung der Sexualverbrechen in der Kirche geben. Deshalb fordert auch die australische Royal Commission into Institutional Responses to Child Sexual Abuse »transparency, accountability, consultation and the participation of lay men and women«.40 Es fehlt bei vielen höheren Amtsträgern, denen es nur darum ging, das Priester-Image und das Image der Kirche zu schützen, eine Empathie für die Kinder als Opfer priesterlicher Gewalt und ein Schuldbewusstsein gegenüber den Kindern. Dies zeigt sich z. B. in der anstehenden Diskussion um die Verlängerung der staatlichen Verjährungsfristen der Opfer in den USA.

Der langjährige Dekan der Kanonistischen Fakultät der Universität Löwen, Rik Torfs, meint dazu: »In Sachen Kindesmissbrauch war das Kirchenrecht, ohne Anstoß von außen und als separate Disziplin, nicht in der Lage, zufriedenstellende Antworten auf das Problem zu geben. Es brauchte dazu dringend die indirekte Hilfe des staatlichen Rechts und der öffentlichen Meinung«,41 die inzwischen in vielen Filmen und Medienberichten zu den sexuellen Übergriffen von Priestern und deren Vertuschung durch die Hierarchie zum Ausdruck kommt.

4. Verlängerung der staatlichen Verjährungsfristen

Im Film Spotlight wird ein Kirchenrechtler der Apostolischen Nuntiatur in den USA genannt, Thomas P. Doyle. Er hatte im Jahr 1985 in einem Bericht davor gewarnt, dass die Haltung der Verdrängung und Vertuschung der priesterlichen Sexualverbrechen zu Klagen in Milliardenhöhe gegen die einzelnen Diözesen führen würde. Die negativen Erwartungen erfüllten sich und im Zuge einer Klagewelle wurden bisher in den USA drei Milliarden Dollar für die Entschädigung der Opfer von Sexualverbrechen durch Priester bezahlt. Damit stehen fünfzehn US-amerikanische Diözesen vor dem Konkurs. Wird die Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch an Kindern verlängert, könnte nochmals eine viel größere Welle von Opferklagen auf die Kirche zukommen.42 Gegen diese Verlängerung der Verjährungsfrist setzen die amerikanischen Bischöfe Millionen von Dollars ein, so der 2018 auf Arte ausgestrahlte Film Hinter dem Altar. Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche.43

Bei Kindesmissbrauch ist die Verjährungsfrist in den meisten Bundesstaaten der USA sehr kurz, weil die meisten Gesetzgeber davon ausgingen, dass die Kinder über die sexuelle Gewalt durch Erwachsene sprechen würden und dass Erwachsene ihnen auch tatsächlich glauben würden. Aber das war falsch, wie auch der kirchliche Gesetzgeber inzwischen eingesehen hat, und deshalb entsprechend lange Verjährungsfristen aufgenommen hat.44 Die Veränderung der Verjährungsfrist bei sexueller Gewalt an Kindern wurde inzwischen in vielen Staaten den neuen Erkenntnissen angepasst. Japan, Deutschland, Schottland, Irland und Australien haben alle über die Verjährungsfrist bei sexueller Gewalt an Kindern nachgedacht.

Vielen Kindern fehlt schlicht die Sprache, um über eine sexuelle Vergewaltigung durch einen Priester, der von der Familie hochgeschätzt wird, sprechen zu können.

»For many survivors talking about past events required them to revisit traumatic experiences which have seriously compromised their lives. Many spoke of having their innocence stolen, their childhood lost, their education and prospective career taken from them and their personal relationships damaged. For many, sexual abuse is a trauma they can never escape. It can affect every aspect of their lives.«45

Diese sexuellen Gewaltverbrechen durch kirchliche Vertrauenspersonen haben viele Kinder und Jugendliche im wörtlichen Sinn sprachlos gemacht. »Children who are sexually abused at a young age may not have the language or communication skills to convey their experience. Many children do not recognise that the abuse is wrong, or that it is something to be reported.«46 Der Amerikaner Marc Rossi z. B. brauchte 25 Jahre, bis er als Opfer über das Sexualverbrechen eines Priesters reden konnte. Richard Gartner, ein Psychologe, sagt dazu, dass sich darin ein Verhalten zeige, das für die Opfer von sexueller Gewalt typisch sei.

»Wer als Kind oder Jugendlicher sexuell missbraucht worden ist, braucht eine ganze Weile, bis er sich eingestehen kann, dass das tatsächlich passiert ist. […] Das ist für einen Jungen mit viel Scham verbunden, Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein. Er geht wohl kaum heim und erzählt seinen Eltern davon. Doch das kann zu einem Leben führen, das mit Zwängen und Süchten einhergeht, zu Alkohol und Drogenabhängigkeit. Erst wenn alles scheitert, wird ihm vielleicht klar, ja das ist damals passiert und das ist schlimm, obwohl ich das abgestritten habe. Es hat mein Leben zerstört.«47

Dazu kommt eine große Zahl von Nichtüberlebenden, wie es der Amerikanische Film Spotlight ausdrückt. Auch der australische Bericht spricht von »Überlebenden-Organisationen«.48

Wie haben die Verantwortlichen der Kirche, die Bischöfe in den USA, reagiert, als sie von den sexuellen Übergriffen von Priestern auf Kinder erfahren haben?

»Als noch niemand wusste, dass in der römisch-katholischen Kirche reihenweise Kinder missbraucht wurden, wussten die [amerikanischen] Bischöfe schon Bescheid. Deshalb waren alle Diözesen versichert. Wenn irgendetwas herauskam, konnte Schadensersatz gezahlt werden. Das Problem ist nun, dass Versicherungen über Jahrzehnte Prämien von der Kirche kassiert haben und nie zahlen mussten. Plötzlich müssen sie zahlen und weigern sich. Deshalb sind die Bischöfe und die Versicherungsindustrie gemeinsam das Haupthindernis […]«49

für eine Verlängerung der Verjährungsfrist, um den Opfern der Sexualverbrechen durch Priester gerecht werden zu können vor staatlichen Gerichten in den US-amerikanischen Staaten. Die amerikanische Kirche hat allen Grund, Reformen zu fürchten. Als der amerikanische Bundesstaat Minnesota (2013) die Verjährungsfrist verlängerte, meldeten über 850 neue Opfer den Missbrauch an, in Kalifornien (2003) waren es über tausend.

Die Sorge der Priesterhierarchie »um sich selbst, um ihren guten Ruf, um ihr Erscheinungsbild, um ihre [jungfräuliche] ›Reinheit‹ und um ihren eigenen Fortbestand entfremdet die Kirche schließlich auch von sich selbst«.50 Die Täterorganisation (Kirche) zusammen mit der Versicherungsindustrie ist Partei in den Milliarden von Dollars schweren anstehenden Gerichtsfällen. Darum unternehmen die Bischöfe vieles, damit die Verjährungsfrist der sexuellen Gewalttaten an Kindern in den Parlamenten der US-amerikanischen Staaten nicht verlängert wird. Hier zwischen Opfer und Anwalt der Kirche einen Deal zu finden, den man Wiedergutmachung nennt, kann den Interessen der Täterorganisation (Kirche), die priesterliche Sexualverbrecher versteckt und versetzt hat, entsprechen. Gerechtigkeit im Sinne von Ulpian ist das allerdings nicht.

»Schon die bei den scholastischen Autoren stets präsente Formel Ulpians, Gerechtigkeit sei der beständige und dauernde Wille, jedem51 sein Recht (nicht einfach: das Seine) zuzuteilen, ist ja für eine Bedeutung im Sinne einer Berechtigung, die dem andern zukommt, offen gewesen. Was dem andern gerechterweise geschuldet ist, was ihm (objektiv) gebührt, ist das nicht auch sein (subjektives) Recht?«52

5. Schutzlosigkeit der Opfer

Um des Menschen willen, in diesem Fall um der Kinder willen, muss das Recht auch in der Kirche in seiner Eigenständigkeit, »in seiner eigenen Methode und Gesetzlichkeit (vgl. Rechtsprinzipien, Gleichbehandlungsgebot/Willkürverbot, Rechtssicherheit usw.) geschützt und kultiviert werden. Es darf insbesondere nicht mit theologischen Inhalten so aufgeladen werden […], dass die Judiziabilität und die juristische Methode unmöglich gemacht werden.«53 Reinhold Schwarz’ These wirkt daher geradezu unerträglich, wenn er zwei Gerechtigkeitsverständnisse für Kirche und Staat verlangt: Es geht für ihn in der Kirche

»nicht um den Schutz von ausschließlichen Persönlichkeitsrechten, sondern einzig um die Erlangung der allen gemeinsamen salus animarum. […] Deshalb ist bei einem Versagen kirchlicher Verwaltungsorgane nicht der Klageweg zu beschreiten, sondern unter stillem Erdulden menschlicher Unzulänglichkeiten der Kreuzweg, da das Kreuztragen in der Nachfolge Christi selbst noch einmal der Verwirklichung der salus animarum dient.«54

Diese Spiritualisierung des klerikalen Unrechts ist in aller Form zurückzuweisen. Denn mit einem unterschiedlichen Gerechtigkeits- und Rechtsbegriff55 für Kirche und Staat werden keine Konflikte in der Kirche gelöst, außer auf eine sehr paternalistische Weise, in der das Opfer wieder ganz von der Gnade des klerikalen Amtsträgers abhängig gemacht wird.

»Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit«,56 schreibt Paulus an die Korinther (1 Kor 12,26). Wer mit Opfern ins Gespräch kommt, ist bereit, hinzuschauen und die Fakten zur Kenntnis zu nehmen.

»Ob jemand einem Opfer Glauben schenkt, ist ebenfalls eine persönliche Entscheidung. […] In dieser Hinsicht bestand über Jahre hinweg ein Zögern – sind doch die Übergriffe im kirchlichen Bereich seit rund 50 Jahren im breiten Ausmaß bekannt geworden; dass die Reaktion so lange auf sich warten ließ, ist beachtenswert, und wirft Fragen auf. Hat dies mit Angst vor einer unliebsamen Wahrheit zu tun, wie dies Pater Klaus Mertes in seiner Monographie formuliert hat?«57

Aus australischen Wohnheimen wird ein Verhaltensmuster dokumentiert, das zeigt, wieso es für die völlig abhängigen Kinder unmöglich war, sich in einem geschlossenen System gegen die Betreuer und Betreuerinnen zu wehren.

»What really gets me is how respected the staff […] were in the community and how they used us for fund raising and to promote themselves as doing good works, when all the time we were treated as slaves, beaten and abused, used for their perverted desires. These were terrible years. No love or kindness, no safety or warmth. Always hungry and always frightened.«58

Die sexuelle Gewalt war Teil eines gewaltsamen Umgangs der Betreuer und Betreuerinnen mit den schutzlosen Kindern. Ein ähnliches Verhaltensmuster zeigt sich auch in kirchlich geführten Erziehungsanstalten in der Schweiz.

»Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder von nicht verheirateten Müttern59 waren gesellschaftlich weitgehend geächtet. Der tiefe soziale Status entzog ihnen den Schutz gegen aus heutiger Sicht ungerechtfertigte Weisungen der Behörden. Nach einer Heimeinweisung waren sie dem Risiko von Übergriffen ausgesetzt und in gewisser Weise Freiwild ihrer Betreuer, besonders, wenn sie keine Angehörigen hatten. Die Kinder verfügten über keine wirksamen legalen Mittel, um sich gegen Angriffe auf ihre persönliche Integrität zu wehren. […] Beschwerden der Kinder liefen im Kreis: Klagen bei der Heimleitung gegen den Vormund wie auch beim Vormund gegen die Heimleitung liefen ins Leere oder zogen eine Bestrafung nach sich. Die Kinder wurden systematisch entmutigt, sich zu wehren. Bei Gesprächen der Kinder mit ihren Aufsichtspersonen, beispielsweise einem Vormund, waren meist Vertreter des Heimes anwesend. Die Kinder konnten sich deshalb nicht frei äußern. Ihr Briefverkehr wurde zensuriert. […] Klagen wurden als unbegründet abgewiesen.«60

Sich auf Opfer einzulassen, ist als Mitglied einer Kirche, die Täter und Täterinnen schützte, jedenfalls nicht ohne neue Sicht auf die Kirche möglich.

»Das Opfer hat eine Geschichte zu erzählen, die das Selbstverständnis von Gruppen, Schulen und Gesellschaften [und Kirchen] erschüttert. Einem Opfer zuzuhören – nicht aus der beobachtenden, begleitenden oder therapeutischen Perspektive, sondern aus der beteiligten sich selbst dem System [der Täterorganisation Kirche] zurechnenden Perspektive – bedeutet, sich einem anderen Blick auf sich zu öffnen, Mythen des Selbstverständnisses loszulassen, den Stolz aufgrund von Zugehörigkeit zurückzustellen. Das tut weh. Um den Schmerz zu vermeiden, bietet sich als Alternative an, das Opfer zum Schweigen zu bringen.«61

Am Anfang eines moralischen Prozesses der Umkehr steht die Offenheit für die Selbstprüfung. »Mit der Selbstverunsicherung beginnt der Schritt vom Sofa der Selbstsicherheit und des Zuschauers hinaus auf die Straße, in die Verantwortung, im Fall der Fälle in den Konflikt.«62

Die Verdrängung der Sicht der Opfer ist weltweit nach wie vor das größte Problem. Auf dem Kongress »Unterwegs zu Heilung und Erneuerung« an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom formulierte es Stephen J. Rossetti am 7. Februar 2012 vor 200 Bischöfen aus allen Kontinenten so:

»Als die ersten Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch öffentlich wurden, gingen die meisten davon aus, dass es sich um isolierte Vorfälle handelt. Ja, gaben einige Bischöfe zu, leider gibt es diesen einen Fall von sexuellem Missbrauch, aber es ist ein seltener Fall. In aller Welt sagten die Kirchenführer: Das ist nur ein amerikanisches Problem.63 Als dann weitere Fälle in anderen Ländern auftauchten, sagten sie: Das ist ein Problem der englischsprachigen Länder. Dann, als sich der Kreis des Missbrauchs weitete, hieß es: Das ist ein Problem des Westens. Die Grenzen wurden immer weiter ausgedehnt, aber jedes Mal sagten die Kirchenoberen: Bei uns passiert so etwas nicht. Eine […] Metaanalyse zeigt, dass sexueller Kindesmissbrauch in Afrika, Asien, Australien, Europa, Süd- und Nordamerika in ähnlich hohem Maße vorkommt. Die Weltgesundheitsorganisation schrieb in ihrem Bericht zum sexuellen Missbrauch 2002: Der Missbrauch und die Vernachlässigung von Kindern stellen weltweit ein ernstes Gesundheitsproblem dar. Dieses Problem betrifft alle Generationen, sozialen Schichten und Gesellschaften.«64

Die sexuellen Straftaten der Kleriker sind auch im Kontext von verrohten Erziehungsmethoden in der Kirche zu sehen, die verschiedene Schriftsteller beschrieben haben und die nach dem heutigen Stand des Wissens nicht mehr als Einzelfälle abgetan werden können: So berichtet der Theatermann Volker Hesse einer Journalistin, wie er sich nach einer strengen, katholischen Sozialisation frei spielen konnte.65 Als er

»neun Jahre alt war, suchte sein Priester, den er selbst sehr verehrte, eines Tages ›irgendeine Art von Berührung‹, die Hesse nicht nachvollziehen konnte. Hesse schob die Hand des Priesters, die seinen Kopf streichelte, weg. Immer wieder. ›Nach dem vierten oder fünften Mal knallte mir der Priester eine, dass ich durch die Sakristei flog.‹ Dieses Erlebnis griff Hesse in einem seiner Stücke auf. ›An diesem Tag habe ich meinen Dienst als Ministrant quittiert.‹«66

Thomas Bernhard beschreibt noch drastischere Erziehungsmethoden im katholischen Salzburg:

»Es habe im Grunde ›gar keinen Unterschied zwischen dem nationalsozialistischen und dem katholischen System‹ im Internat gegeben. Es habe ›alles nur einen anderen Anstrich und […] andere Bezeichnungen‹ gehabt (U 107f.), die ›Züchtigungsmethoden‹ (U 105) seien aber die gleichen geblieben.«67

Der heranwachsende Bernhard beginnt zu schreiben, »seine Empfindungen mit Hilfe von Sprache auszudrücken. Die Gedichte, die er im Alter von achtzehn Jahren schreibt, haben dabei jene Selbsterhaltungsfunktion, die Bernhard im Zusammenhang mit dem Schreiben stets so nachdrücklich betont hat.«68

Es sollte deutlich geworden sein: Die therapeutische Arbeit mit den Opfern kann die Präventionsarbeit an den rechtlichen Strukturen der Täterorganisation Kirche, die weltweit X-Tausende von Priestern als Sexualverbrecher versteckt und versetzt hat, nicht ersetzen. Der bisherige Klerikalismus lässt ahnen, dass auch in Zukunft die Interessen der Priester, auch als Sexualtäter, größer geschrieben werden als die Interessen der Kinder, wenn erst einmal die lästigen Medien das Thema aufgegeben haben.

Solange die Kritik am Klerikalismus eine rein moralische Geste bleibt, wird sich kaum viel ändern, denn diese moralische Kritik ist seit dem Mittelalter bekannt. Entscheidend ist die strukturelle Veränderung, die sich im Verhältnis von Kirche und Staat zeigt. Diese weit verbreitete arrogante Haltung des Klerus, die als Klerikalismus69 beschrieben wird, muss mit rechtlichen Mitteln, mit einklagbaren Grundrechten vor einem kirchlichen Gericht, mit einer Frau als Gerichtspräsidentin eingeklagt werden können. Sonst bleibt dieses Klerikalismus-Kartell des Schweigens gegenüber der Anklage eines Kindes, das sexuell ausgebeutet wurde, bestehen.

Die Päpste Benedikt XVI. und Franziskus verabschieden

»sich von einer Mentalität, die aus einem falsch verstandenen Korpsgeist heraus meinte, priesterliches Fehlverhalten in der Öffentlichkeit decken und vor dem Zugriff durch staatliche Gerichte schützen zu müssen – etwa im Missbrauchsskandal, als die Hinweise von Opfern nicht ernst genommen und Täter in eine andere Pfarrei versetzt wurden, wo sie neues Unheil anrichteten. Eine solche Haltung hat ihre Wurzeln in der mittelalterlichen Gesellschaft, in der der Klerikerstand einer eigenen kirchlichen Gerichtsbarkeit unterworfen war. Es hat bis in unsere Zeit hinein gedauert, bis […] den kirchlichen Verantwortlichen klar wurde, dass sich auch ihre Amtsträger vor einer staatlichen Justiz zu verantworten haben und die bischöfliche Fürsorgepflicht nicht primär ihnen, sondern den Opfern zu gelten hat.«70

Die Vergewaltigung eines Kindes durch einen Priester oder eine Person des diplomatischen Korps oder im Offiziersrang oder eine andere Person muss heute als Verletzung der Würde des Kindes und damit der Personenrechte des Kindes behandelt werden, ohne Beachtung der Funktionen der Straftäter und Straftäterinnen,71 »ohne Ansehen der Person« (Röm 2,11).72

Gemäß dem Bericht der unabhängigen Untersuchungskommission zum Fall des Kapuziners Joël Allaz73 übte dieser in den Jahren 1958–2003 sexuelle Gewalt an Kindern in der Schweiz und in Frankreich aus. Der Fall zeigt exemplarisch die Hemmungen der katholischen Kirche, Maßnahmen gegen einen fehlbaren Priester zu ergreifen.

»Ebenso prangert die Kommission das Fehlen von Mut und Verantwortungsgefühl von Zeugen an, die es vorgezogen hätten, die Augen zu schließen und zu schweigen. […] Auf erste Klagen im Kanton Wallis, vorgebracht in den 1970er Jahren […] sei nicht reagiert worden, auch nicht auf weitere interne Hinweise. […] Die Kommission nennt in ihrem Schlussbericht auch Namen von Vorgesetzten, die durch Vertuschung und Inaktivität ›geglänzt‹ hätten. Unter ihnen finden sich der einstige Provinzial der Schweizer Kapuzinerprovinz Gervais Aeby sowie Pierre Mamie, der von 1970 bis 1995 Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg war. Letzterer habe sich gegen eine Intervention bei den Justizbehörden gestemmt.«74

6. Nulltoleranz gegen klerikale Sexualstraftäter und gegen klerikale Vertuscher

Nachdem in den USA und in Westeuropa das Bewusstsein wächst, gegen Priester, die sexuelle Handlungen mit Kindern vornehmen, vorzugehen, suchen sich diese Schlupflöcher in den ärmsten katholischen Ländern der Welt. Die Co-Leiterin der Internet Plattform BishopAccountability.org, Anne Barrett Doyle, verlangt, dass Priester, die z. B. von amerikanischen Bischöfen als ungeeignet für das Arbeiten mit Kindern eingestuft wurden, weil sie sich sexuell an Kindern vergangen haben, nicht in andere Länder wechseln können, in denen die Bischöfe keine Nulltoleranz praktizieren. Die Organisation BishopAccountability.org versucht das zu tun, was die Kirche weltweit versäumt: Priester, die sexuelle Handlungen mit Kindern vollzogen haben, weltweit nachzuverfolgen. Aber viele dieser Priester arbeiten heute noch weltweit mit Wissen des Ordensoberen oder Bischofs.

»Sharing information about possible perpetrators is important to protect children. Information sharing between institutions – and between those institutions and relevant professionals – is necessary to identify, prevent and respond to incidents and risks of child sexual abuse. A failure to share information may allow perpetrators to continue in an institution or to move between institutions and jurisdictions.«75

Ein in Verona (Italien) angezeigter Pater, Nicola Corradi S. M., des Istituto Provolo durfte weiterhin mit gehörlosen Kindern in Argentinien arbeiten, obwohl sechzig Opfer des Istituto Provolo in Verona 2009 Anzeige erstattet hatten wegen sexuellen Missbrauchs und körperlicher Misshandlungen. Keiner der Priester dieses Instituts wurde des Amtes enthoben. Nur einem Priester wurde der weitere Kontakt mit Kindern verboten. Nach staatlichem Recht waren all diese Vergehen verjährt wegen der oben besprochenen viel zu kurzen Verjährungsfristen.

Den Opfern wird auf weite Strecken nicht geglaubt.76 So kommt es zu einer weiteren Katastrophe im argentinischen Mendoza, wohin Pater Corradi versetzt wird. Der Generalstaatsanwalt von Mendoza, Alejandro Gulle, der diesen Fall 2016 bearbeitet, vergleicht ihn mit dem Öffnen der Büchse der Pandora. Das Istituto Provolo in Mendoza ist eine von außen wunderbare Schule für gehörlose Kinder und Jugendliche in Argentinien. Dort geschehen seit dem Amtsantritt von Pater Corradi eine Reihe von schweren Vergehen: u. a. Verführung Minderjähriger, Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe. Seine Opfer sind die Internatsschüler des Instituts. Die Minderjährigen würden korrumpiert, so der Generalstaatsanwalt, und wiederholten untereinander, was sie von Pater Corradi u. a. in der Gotteskammer, wo ihnen die Beichte abgenommen wurde, gelernt hätten. Die Enthüllungen seien so unvorstellbar gewesen, dass sie sie zuerst nicht glauben konnten, so der Generalstaatsanwalt.77

Wie war es möglich, dass ein Priester, dem in Italien sexuelle Gewalt an gehörlosen Kindern und Jugendlichen vorgeworfen wurde, weiterhin in Argentinien mit gehörlosen Kindern und Jugendlichen arbeiten durfte, obwohl die Kirche wusste, dass im italienischen Istituto Provolo Sexualverbrechen an gehörlosen Kindern mit großer Wahrscheinlichkeit vorgekommen waren? Wegen der fehlenden Empathie der kirchlichen Untersuchungsbehörde schenkte man den Opfern der Sexualverbrechen keinen Glauben, da sie als Gehörlose und gezeichnet von den Sexualverbrechen nicht so geschickt argumentieren konnten wie die angeklagten Priester.

Die Personalverantwortlichen der Diözesen und Ordensgemeinschaften wissen, wo ihre suspendierten oder nur versetzten Priester, die sexuelle Handlungen mit Kindern hatten oder noch haben, arbeiten. Der Schweizer Bericht der unabhängigen Untersuchungskommission zum Fall des Kapuziners Joël Allaz,78 der 45 Jahre unbehelligt in der Kirche seine sexuelle Gewalt gegen Kinder ausüben konnte, spricht von »grober Naivität der Verantwortlichen gegenüber der ›sexuellen Perversion‹ des Paters«.79 Es wäre eine große Hilfe für die weltweite katholische Öffentlichkeit, wenn Priester, die sexuelle Handlungen mit Kindern hatten, nicht mehr von einer Gegend, wo sie nicht mehr tragbar sind, in eine andere wechseln könnten, so Anne Barrett Doyle.80 Sie kämpft als Katholikin für mehr Transparenz in der Kirche, was die Kirche als Institution nur stärken und die katholischen Schulen weltweit schützen kann.

Es müssen nicht nur die Täter, die sexuelle Handlungen mit Kindern hatten, bestraft werden, sondern auch die Vertuscher, die einen Priester, obwohl er zum vermuteten Sexualstraftäter geworden ist, versetzen (Ordensobere, Bischöfe, Generalvikare etc.). Personalverantwortliche in der Kirche, die ab sofort nicht mehr ausschließlich Priester sein können, müssen konfrontiert werden mit der Tatsache, dass z. B. in der US-amerikanischen Kirche, gemäß Richard Sipe, 6% der Priester sexuelle Handlungen mit Kindern vornehmen. Im australischen Bericht wurden 7% der Priester wegen sexueller Handlungen mit Minderjährigen angeklagt. Unter sexuellen Handlungen mit Kindern ist gemeint: »vom Zungenkuss bis zur analen, oralen und vaginalen Penetration. Darunter kann man sich dann nicht mehr nur ein bisschen Betatschen vorstellen«,81 so die forensische Psychologin Monika Egli-Alge.

Die Westschweizer Untersuchungskommission klagt »das Fehlen von Mut und Verantwortungsgefühl von Zeugen an, die es vorgezogen hätten, die Augen zu schließen und zu schweigen«.82 Die Gläubigen müssen lernen, schuldig gewordene Priester und Bischöfe vor staatlichen Gerichten (außerhalb der eigenen Institution Kirche) anzuklagen, um weitere sexuelle Straftaten an Kindern und Jugendlichen verhindern zu können, was der Westschweizer Bericht explizit fordert. Kurz: Gläubige müssen lernen, den ihnen zustehenden Rechtsschutz auch gegenüber Priestern einzuklagen. Die seit dem Konzil geforderten kirchlichen Verwaltungsgerichte wären dabei ein wichtiges Lernfeld.83

Papst Franziskus führt wie Benedikt XVI. die Nulltoleranz gegen Priester als Sexualstraftäter fort. Er werde es nicht dulden, dass Minderjährigen irgendein Leid geschieht. Franziskus hat angeordnet, dass kirchliche Würdenträger, die Sexualstraftäter und Sexualstraftäterinnen nicht suspendieren, ab sofort entlassen werden können.84 Aber Bischöfe, Generalvikare und Ordensobere, die in der Vergangenheit weggeschaut haben, können sich auf den Grundsatz stützen: »Nulla poena sine lege« (»Keine Strafe ohne Gesetz«).85 Zudem kann ein neues Gesetz erst ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens gelten.86 Moralisch könnte ein Amtsträger mindestens den Rücktritt anbieten, weil er gegen die Grundsätze der Kirche verstoßen hat, die jetzt rechtlich umschrieben worden sind. Aber rechtlich gibt es im kirchlichen Recht dazu keine Verpflichtung. An diesem Punkt wird deutlich, dass die menschenrechtlich-theologischen Sätze des Konzils (z. B. NA 5) im Streitfall reine Makulatur sind, weil sie nicht rechtlich im Rahmen einer Kirchenverfassung (Lex Ecclesiae Fundamentalis, wie von Paul VI. vorgesehen) in Kraft gesetzt wurden und damit einklagbar sind.

In der österreichischen kirchlichen Verfahrensordnung bei Beschuldigung wegen sexuellen Missbrauchs und Gewalt (2016) werden nach der kircheninternen Klärung die möglichen kirchlichen und staatlichen Strafverfahren behandelt. Es stellt sich aber die Frage: Hält ein Opfer sexueller Gewalt wirklich drei solcher Verfahren durch? Oder muss ein Opfer, das nach vielen Jahren die Kraft zum Sprechen hat, sich entscheiden, eine Klage betriebs intern (bei der Kirche) oder beim Staat (betriebsextern) einzureichen?

Der Fall des pädophilen Kapuziners Joël Allaz, der 45 Jahre lang Kinder und Jugendliche in der Kirche missbrauchte (CH; F), veranschaulicht

»die Schwierigkeiten der katholischen Kirche, ›das abnormale Verhalten bestimmter Geistlicher gegenüber Minderjährigen allein zu bewältigen‹. Die Kirche habe lange Zeit ›eine defensive Haltung eingenommen‹, indem sie sich damit begnügt habe, den misshandelnden Priester samt seinem Problem zu versetzen und ihn dadurch der Justiz zu entziehen.«87

Mit diesem Verhalten ist die Kirche zur Täterorganisation geworden, die Sexualverbrecher, wenn sie Priester sind, in ihren Reihen weiterhin tätig sein ließ.

7. Wiedergutmachung benötigt strukturelle Veränderungen

Marie L. Collins ist Gründungsmitglied einer Depressionsselbsthilfegruppe von Opfern sexueller Gewalt durch Priester. Sie selbst wurde als Mädchen im Spital von Pater Paul sexuell missbraucht. Sie schreibt:

»Nach dem Prozess machte ich eine jahrelange Therapie durch, die mir half, mein Leben zurückzugewinnen, Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen wiederzuerlangen. Langsam fand ich mich mit dem ab, was mit mir und meinem Leben geschehen war. […] Ich schaue nicht verbittert darauf zurück, wie anders mein Leben verlaufen wäre, wenn Pater Paul meinen Weg nicht gekreuzt hätte – es hat keinen Zweck. Ich habe ihm vergeben; er war ein Mann mit einem Problem. Das Handeln meiner Kirche ist nicht so leicht zu verzeihen. Sie traf ihre Entscheidungen im hellen Tageslicht. Sie hat sich für ihre Prioritäten entschieden: den Schutz der Institution. Den Verwundbaren Gottes Liebe zu zeigen und Gefährdete zu schützen stand nirgendwo auf ihrer Tagesordnung. Im kürzlich erschienenen Bericht über die irische Kirche [›Zeit zuzuhören – Der katholische Klerus in Irland stellt sich dem Problem der sexuellen Misshandlung von Kindern‹88] hat sich das in vielen ähnlichen Fällen als Norm erwiesen.«89

Frau Collins schreibt weiter:

»Meine Religion wurde mir nicht von meinem Peiniger [Pater Paul], sondern von der Kirche weggenommen. Damit bin ich nicht allein. Die Entfremdung von der Kirche hat bei Opfern und Familienmitgliedern ›eher auf Grund der Art [stattgefunden], wie auf ihre Beschwerde über den Missbrauch reagiert und mit ihr umgegangen wurde, statt als direkte Folge des Missbrauchs selbst‹90. Die Kirche muss die Fehler der Vergangenheit zugeben, um aus ihnen zu lernen. Die Zeit für eine vollständige Neubewertung der [rechtlichen] Strukturen und des Ethos der Institution ist gekommen. Soll es in dieser geschlossenen Männer-Gesellschaft einen Platz für Frauen geben? Kann eine ausschließlich männliche Gruppe die Bedürfnisse und Gefühle einer Gesellschaft, die zu 50 Prozent weiblich ist, verstehen und widerspiegeln? […] Leider ist es ein gravierender Mangel an Gefühlen für Opfer und schutzlose Kinder, der zu der gegenwärtigen Krise der Kirche geführt hat. Das Prinzip, dass der Schutz der Institution an erster Stelle steht, muss […] in Frage gestellt werden.«91

Eine allzu schnelle Wiedergutmachung, um des guten Rufes der Kirche willen, oder um die Opfer zum Schweigen zu bringen, oder um die wenigen Priester (darunter die Sexualstraftäter) um jeden Preis zu schützen, oder weil nur die Untreue gegenüber der Zölibatsverpflichtung im Vordergrund steht, oder weil die Opfer und ihre Rechte kleingeredet werden, ist menschenrechtlich nicht akzeptierbar, auch nicht für das Lehramt der Kirche. Denn

»jeder Theorie oder Praxis [wird] das Fundament entzogen, die zwischen Mensch und Mensch, […] bezüglich der Menschenwürde und der daraus fließenden Rechte einen Unterschied macht. Deshalb verwirft die Kirche jede Diskriminierung eines Menschen oder jeden Gewaltakt gegen ihn […], weil dies dem Geist Christi widerspricht.«92

Die Kirche muss also institutionell lernen, ihre Kinder mit der Kinderrechtskonvention zu schützen, nicht vor dem Wolf, sondern vor dem guten Hirten (Joh 10), der das volle Vertrauen der Eltern und der Kinder genießt. Die Kirchenhierarchie hat es nicht geschafft, Priester aus ihren Ämtern zu entlassen, die Kindern sexuelle Gewalt antaten und heute noch antun. Die damit verbundene Abwertung des Priesterberufes hat die Hierarchie der Kirche zu verantworten. Eine neue Ausrichtung für religiöse Täterorganisationen gibt die Royal Commission into Institutional Responses to Child Sexual Abuse aus Australien. Erfüllt die Kirche die zehn Standards zur Sicherheit für Kinder vor sexuellem Missbrauch?93 Eine kirchenrechtliche Diskussion über vergleichbare Sicherheitsstandards für Kinder und entsprechende Präventionsmaßnahmen aufgrund der Kinderrechte stehen noch aus. Denn die durch den Heiligen Stuhl ratifizierte Kinderrechtskonvention müsste entsprechend im kanonischen Recht implementiert werden, was ebenfalls noch aussteht.94

8. Menschenrechtlich-theologische Bewältigung der Krise

In diesem Artikel wird bewusst von sexueller Gewalt durch Priester gesprochen. Damit kommt die Entwürdigung der Person des Kindes und seiner nicht beachteten Menschenrechte95 in den Blick.

In einer Kirche, die die Laien und damit die Kinder über Jahrhunderte als Objekte der Seelsorge behandelt hat,96 wird der neue, durch das Vaticanum II ermöglichte ekklesiologische Subjektstatus der Gläubigen mit dem Begriff der Menschenwürde und der Würde als Getaufter in der Verfassung des Volkes Gottes unterstrichen. Auch »der gute Hirte« (Joh 10,11–21) spricht nicht mehr mit Pfarrkindern und Objekten der Seelsorge, sondern mit Brüdern und Schwestern auf gleicher Augenhöhe, da die Egalitätsvorstellung der »communio fidelium« die Kirchenkonstitution (LG 32) prägt. Die Laien haben Christus und die geweihten Amtsträger zum Bruder (LG 32). Die Bischöfe auf der Bischofssynode 1967 haben daher zu Recht die Grundrechte der Gläubigen als eines der Hauptanliegen der kirchlichen Verfassung (Lex Ecclesiae Fundamentalis) im Nachgang zum Konzil genannt. Daher darf »der Gebrauch von Macht […] in der Kirche nicht willkürlich sein, weil dies nach dem Naturrecht, nach dem positiven göttlichen Recht und nach dem kirchlichen Recht verboten ist. Die Rechte eines jeden Christgläubigen müssen anerkannt und geschützt werden«,97 auch die Rechte der Kinder.

Einerseits haben die Aufsichts- und Kontrollorgane auf allen Ebenen der kirchlichen Hierarchie

»versagt mit der Folge, dass die identifizierten [Priester-]Täter nicht nur nicht zur Rechenschaft gezogen, sondern vielmehr dem Zugriff der staatlichen Strafverfolgungsorgane bewusst entzogen worden sind. Den traumatisierten Kindern und Jugendlichen war man über Jahre mit Unglauben, Verachtung, haltlosen Schuldzuweisungen oder Lächerlichmachen begegnet.«98

Andererseits hat das Völkerrechtssubjekt »Holy See« (Heiliger Stuhl) als eines der Ersten das Schlussdokument der UNO-Kinderrechtskonvention ratifiziert, das vorher durch die Generalversammlung der UNO 1989 verabschiedet wurde.

»Das Zusammentreffen von Vertretern der römisch-katholischen Weltkirche mit den Stimmen des Weltgewissens im Genfer Überwachungsausschuss bedeutete zunächst jedoch nicht mehr als ein Rede-und-Antwort-Stehen im juristischen Jargon eines anglo-amerikanisch gefärbten Rechtsdenkens. Den roten Faden für die Erörterung bildete dabei eben die Kinderrechtskonvention mit ihren gleichheits- und würdebasierten Schutz- und Beistandsverpflichtungen, mit ihren freiheitsorientierten Gewährleistungen und ihren Ansprüchen auf Teilhabe an den sozialstaatlichen Errungenschaften.«99

Es war also ein Ringen zwischen Wahrheitsansprüchen der Kirche (Priestertheologie; Ekklesiologie) und völkerrechtlich garantierten Menschenrechten der Kinder, die der Heilige Stuhl ratifiziert hat. Doch Wahrheitsansprüche im Kontext der Freiheitsrechte zu denken, ist für die Theologie erst seit 1963 (Pacem in terris und Vaticanum II) überhaupt denkbar geworden.100

Die Kirche steht am Scheideweg. Ablehnung der Moderne oder die konsequente Umsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils, der obersten Autorität in der Kirche, die menschenrechtlich argumentiert. Die rechtliche Umsetzung dieses Konzils steht allerdings noch bevor, da die menschenrechtliche Hermeneutik des Konzils (Lex Ecclesiae Fundamentalis) nicht kirchenrechtlich umgesetzt wurde. Das Konzil beschreibt die Kirche als »eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst« (LG 8). Die Kirche ist eine Heilige, da sie mit dem Ewigen im Bund steht. Die Kirche ist aber auch eine Sünderin, die gemäß Lumen gentium eine »Ecclesia semper reformanda« bleibt, eine »Ecclesia […] sancta simul et semper purificanda« (LG 8,3), wie Karl Rahner101 betont. »Während Christus heilig, schuldlos, unbefleckt war (Hebr 7,26) und Sünde nicht kannte (2 Kor 5,21), […] umfasst die Kirche Sünder in ihrem eigenen Schoße. Sie ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig.« (LG 8,3)

Hans Urs Kardinal von Balthasar interpretiert diese komplexe Wirklichkeit Kirche (LG 8) mit dem Begriffspaar: »Casta meretrix«102 (keusche Prostituierte). Die Kirche ist danach

»heilig durch das, was Gott in sie legt, was Gott in ihr wirkt. Sie ist es nicht durch das, was die Menschen von sich aus ihr zutragen. […] Wehe den Menschen der Kirche, die sich als gerecht und besser als die übrigen ausgeben! […] Sind aber die Glieder des mystischen Leibes Sünder, dann müssen sie sich auch als Sünder benehmen und selbst dort, wo sie sich von ihrer Sünde befreien wollen. […] Natürlich sind jene kirchlichen Akte auszunehmen, die Akte des Herrn sind und insofern sie es sind, so der Vollzug der Sakramente oder die feierliche Verkündigung einer Glaubenswahrheit. Hier ist nichts als Heiligkeit.103 Aber überall sonst, überall wo der Mensch als Mensch handelt, in allem, was die Christen tun, auch die besten unter ihnen, in allem, was die Führer [sic!] der Kirche tun, auch die höchstgestellten, wird menschliche Schwäche und menschliche Arglist, wird die menschliche Spur der menschlichen Sünde sich unweigerlich und häufig zu erkennen geben. Selbst die Heiligen entrinnen dieser Armseligkeit erst […] im Augenblick des Todes.«104

Von Balthasar schließt mit seiner Kirchenkritik an die Propheten der hebräischen Bibel (AT) an, die das heilige Volk Gottes sehr deutlich kritisierten, gerade weil es mit dem Ewigen im Bund steht. Von dieser prophetischen Kritik werden auch Könige und Priester105 nicht ausgenommen.

Das erste Lied vom Gottesknecht erinnert daran: Der Knecht Gottes bringt den Völkern das Recht und die Gerechtigkeit (Jes 42,1–9). Was das heißt, wird in solchen Bildern ausgedrückt, wie sie das Opfer sexueller Gewalt, Frau Collins, verstanden hätte: »Das geknickte Rohr zerbricht er [der Gottesknecht] nicht, und den glimmenden Docht löscht er nicht aus; ja, er bringt wirklich das Recht. Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen, bis er auf der Erde das Recht begründet hat« (Jes 42,3f.). Wegen dieses Rechts, bzw. dem Bemühen um Gerechtigkeit, wird das Volk Gottes zum »Licht der Völker« (Jes 42,6), zum lumen gentium.

Der Evangelist Matthäus (12,18–21) sieht Jesus ebenfalls als Gottesknecht, der den Völkern das Recht verkündet und damit das geknickte Rohr nicht zerbricht und den glimmenden Docht nicht auslöscht (Mt 12,20). Der Evangelist Lukas erinnert auch an diese Jesajastelle, wenn er den greisen Simeon sagen lässt: »Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, […] ein Licht, das die Heiden erleuchtet […]« (Lk 2,29–32; vgl. Jes 42,6).

Lumen gentium, ein Licht für die Völker, wird die Kirche aber nur dann sein können, wenn sie das Recht den Völkern bringen kann, wie Jesaja sagt. Aber eine Kirche, die es nicht schafft, ihre Priester, die sexuelle Handlungen mit Kindern hatten, zu entlassen, und ebenso jene Bischöfe und Generalvikare, die das Leid der Kinder durch die Versetzungen der Straftäter in Kauf nahmen, kann den Kindern und Jugendlichen nicht gerecht werden und damit nicht Gerechtigkeit und Recht den Völkern bringen.

Die Kirchenrechtswissenschaft bestand für Gratianus nicht nur im Erklären des positiven Rechtstextes der Kirche, sondern auch im Fragen nach den Gerechtigkeitsvorstellungen, über die sich die neue Rechtswissenschaft der Kirche (1140) mit der gleichzeitig entstehenden Rechtswissenschaft der politischen Gemeinschaften austauschte. Die Rechtsstaatlichkeit (rule of law) wurde ausgerechnet in der römisch-katholischen Kirche entwickelt, wie z. B. der Rechtshistoriker Harold Berman106 zeigt und der Philosoph Jürgen Habermas107 bestätigt.

Die Rede von Wiedergutmachung ohne rechtliche Strukturbereinigung und ohne Absetzung der priesterlichen Generalvikare und Bischöfe, die die Sexualstraftäter versetzt haben, ist nicht haltbar, wie im Film Spotlight auch die Anwälte zeigen, die für die Kirche diese Wiedergutmachung außerhalb des staatlichen Gerichts versucht haben. Sie werden mit ihrer systemischen Deckung von Sexualverbrechen der Priester konfrontiert. Aber auch theologisch weiß die Kirche: »Der Friede in der Welt und in jeder Gemeinschaft, auch in der Kirche, ist nur auf der Grundlage der Gerechtigkeit möglich: Opus iustitiae pax. Der Friede ist das Werk der Gerechtigkeit (vgl. Jes 32,17). Nach Augustinus ist ein Staat ohne Gerechtigkeit nichts anderes als eine große Räuberbande (vgl. Civ. Dei IV, 4).«108 Der Rechtsphilosoph Augustinus legt den Finger auf den kleinen Unterschied zwischen einer Räuberbande und einer Rechtsinstitution.109

Die Kirche ist keine Räuberbande, da sie die »rule of law« (Rechtsstaatlichkeit), die den Westen als Rechtsgemeinschaft prägt,110 entwickelt hat. Die Kirche könnte aber zur Räuberbande verkommen, wenn sie diesen Konflikt mit den priesterlichen Sexualstraftätern und ihren Sympathisanten in der Hierarchie nicht im Sinne der Kinderrechte, sondern als Anwältin der begnadeten Täter (Priester) und vor allem ihrer Vertuscher (Hierarchie) angeht. Welche Gefahr das Amt eines Bischofs mit sich bringt, war sich der Theologe Augustinus durchaus bewusst: »Wo mich erschreckt, was ich für euch bin, da tröstet mich, was ich mit euch bin. Für euch bin ich Bischof, mit euch bin ich Christ. Jenes bezeichnet das Amt, dieses die Gnade, jenes die Gefahr, dieses das Heil.« (LG 32)

Papst Franziskus hat angeordnet, dass kirchliche Würdenträger, die Sexualstraftäter nicht suspendieren, ab sofort entlassen werden können.111 Im Umgang mit dem Missbrauchsskandal hat sich Papst Franziskus als lernfähig erwiesen:

– Er hat im Januar 2018 mit seinem Verhalten bei dem Besuch in Chile die Bemühungen der kirchlichen Kinderschutzkommission unterminiert.

»Den von zahlreichen Missbrauchsopfern der Mitwisser- und Mittäterschaft bezichtigten Bischof Juan Barros verteidigte Franziskus uneingeschränkt und bezichtigte die Opfer der Verleumdung eines unbescholtenen Kirchenmannes. Nach einem Aufschrei des Entsetzens musste sich Franziskus entschuldigen und im Februar einen vatikanischen Sonderermittler nach Chile schicken.«112

– Franziskus räumt »schwerwiegende Fehler bei der Bewertung und Wahrnehmung der Situation«113 in Chile ein. Der Papst schrieb einen Brief an die Bischöfe des Landes. Ein Papst, der sich öffentlich kritisieren lässt vom Vorsitzenden der vatikanischen Kinderschutzkommission Kardinal Sean O’Malley und der seine Fehleinschätzung öffentlich zugibt, setzt neue Zeichen, wie man in einer geschwisterlichen Kirche miteinander umzugehen hat. Auch der Papst ist dabei, zu lernen, mit den Kinderrechten der Opfer zu argumentieren gegen Bischöfe in Amt und Würde.

– Die kirchliche Kinderschutzkommission hat bisher keine grundrechtlichen Instrumente im Rahmen einer Kirchenverfassung (Lex Ecclesiae Fundamentalis), mit der sie gegen die Täter und ihre Sympathisanten in der Hierarchie vorgehen kann. Umso wichtiger ist deshalb die völkerrechtliche Kinderrechtskonvention, die der Heilige Stuhl ratifiziert hat, aber noch nicht in den Kodizes implementiert hat.

Wo die Würde der menschlichen Person, und die daraus fließenden Rechte der Person (NA 5), auch eines Kindes oder einer Frau, nicht geachtet werden, dort herrscht ein Klima des Unrechts. Wo Hochwürden über aller Würde der Anderen steht, hat die gleiche Würde der Person (DH 1) und die gleiche Würde der Getauften (LG 32) rechtlich keinen Platz.

Ein früherer Bischof von Rom, Johannes XXIII., hat kurz vor seinem Sterben sein Glaubensbekenntnis sprechen wollen. Man erwartete das Credo in lateinischer oder italienischer Sprache. Es folgten unerwartete Sätze, die sein Mitarbeiter aufschrieb: »Mehr denn je, bestimmt mehr als in den letzten Jahrhunderten, sind wir heute darauf ausgerichtet, dem Menschen als solchem zu dienen, nicht bloß den Katholiken, darauf, in erster Linie und überall die Rechte der menschlichen Person und nicht nur diejenigen der katholischen Kirche zu verteidigen.«114 Ein solches Bekenntnis zu den Menschenrechten jeder Person hätten auch die Opfer der sexuellen Gewalt von Priestern verstanden.

Zudem müsste die Identifikation Christi mit den geringsten Brüdern und Schwestern die Hörer und Hörerinnen sowie Leser und Leserinnen des Evangeliums nach Matthäus aufhorchen lassen. Christus wird in der Kirche nicht durch die priesterlichen Täter und die bischöflichen Vertuscher der Sexualverbrechen repräsentiert, sondern durch die Opfer. Sie sind Christi Realpräsenz in der Kirche gemäß Matthäus (Mt 25,31–46). Ostern ist der Glaube, dass der Karfreitag der sexuellen Gewalt von Priestern in der Kirche weltweit (Berichte aus Australien, Irland, USA, Argentinien, BRD, Österreich, Schweiz etc.) nicht das letzte Wort hat. Aber Gerechtigkeit benötigt eine rechtliche Umsetzung, um nicht zu einem in der Kirche oft gehörten frommen Spruch zu verkommen.

»Christi Präsenz in der Kirche ist […] eine Präsenz der Erniedrigung und des ›Kreuzwegs‹: Er lässt sich auch in seiner Kirche verunstalten und an den Rand drängen; und doch ist er in ihr da. […] deshalb gibt es das Paradox der heilsamen und – nach menschlichem Ermessen – verderbten Institution Kirche.«115 Denn Kirche im katholischen Sinn ist »keine platonische Idee, die fein säuberlich zwischen der sündigen Realität und der theologischen Qualität von Kirche unterscheiden könnte«.116 Die »nicht unbedeutende Analogie« (LG 8) zum Christusereignis ist »für die Kirche keine Garantie ihres Wesens, sondern eine streng an ihre Aufgabe gebundene Gabe«,117 die Johannes XXIII. so umschrieb: »›Euch muss es zuerst um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit gehen‹ (Mt 6,33). Dieses Wort ›zuerst‹ macht uns aufmerksam, worauf wir unsere Überlegungen und Anstrengungen richten sollen.«118

Doch diesen Glauben können einige Opfer der priesterlichen Gewalt und der hierarchischen Vertuschung nicht mehr teilen.

»Mit dem Wunsch nach Verzeihung verbindet sich immer noch der unsentimentale Wunsch, das anderen zugefügte Leid ungeschehen zu machen. Erst recht beunruhigt uns die Irreversibilität vergangenen Leidens – jenes Unrecht an den unschuldig Misshandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes Maß menschenmöglicher Wiedergutmachung hinausgeht. Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion hinterlässt eine spürbare Leere.«119

Abkürzungen

Die Abkürzungen folgen dem Internationalen Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschriften, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben, zusammengestellt von Siegfried M. Schwertner, Berlin/Boston 32014. Darüberhinausgehende Abkürzungen werden wie folgt verwendet:

c.

Canon (Abschnitt des kanonischen Rechts, der weiter in Paragraphen und/ oder Nummern unterteilt wird); Causa

can.

Canon (Abschnitt des kanonischen Rechts, der weiter in Paragraphen und/ oder Nummern unterteilt wird)

cc.

Canones (Mehrzahl [lat.] von Canon)

DH

Dignitatis humanae (Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit »Dignitatis humanae«, 7. Dezember 1965)

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

GS

Gaudium et spes (Zweites Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute »Gaudium et spes«, 7. Dezember 1965)

LG