Sauger - Christian Günther - E-Book

Sauger E-Book

Christian Günther

3,0

Beschreibung

Sauger’ ist ein Thriller, der die beschauliche ehemalige Bundeshauptstadt Bonn in eine düstere Atmosphäre taucht. Sonja, eine etwas leichtsinnige junge Frau, erlebt, wie ihre beste Freundin ermordet wird. Der Polizist, der diesen Fall untersucht, erweist sich als unfähig. Seiner anfangs noch in ihn verliebten Kollegin wird zudem allmählich klar, dass er ein Psychopath ist. Sonja flüchtet zu einem Pressefotografen, der sich in sie verliebt hat ...

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Seitenzahl: 185

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Inhaltsverzeichnis

Horror Shopping

Polizisten

Der Fotograf

Die Todespassage

Psychophysis

Krebsschwänze

Bis zum Morgengrauen

Strangulator

Das alte Haus

Schlachters Traum

Blutbad

Lob der Lobotomie

Im Kirschgarten

Horror Shopping

Sonja räkelte sich wohlig auf ihrem breiten Bett. Sie blinzelte mit den schweren Lidern, schwarzen, langen und gebogenen Bambi-Wimpern. Es war bereits Mittag, was Sonja daran erkannte, dass die herbstlich kühle Sonne in ihr Schlafzimmerfenster schien. Automatisch tastete sie das Bett neben sich ab. Heute lag ausnahmsweise einmal kein Mann da. Das machte nichts. „Wäre jetzt auch nur Stress“, murmelte sie mit vom Schlaf rauer Stimme vor sich hin, „und Stress wollen wir doch nicht.“ Sie hatte gerade beschlossen, noch ein bisschen zu dösen, als das Telefon klingelte. Grunzend warf sie ihr Kopfkissen nach dem Ding. Es hörte auf zu klingeln, aber stattdessen vernahm sie ein piepsendes Stimmchen. Der Hörer musste runtergefallen sein. Sonja wusste auch, wer da sprach: Nur Melinda konnte so losplappern und nicht einmal merken, dass ihr niemand zuhörte. Sie angelte sich ächzend den Hörer, und es machte ihr Spaß, hineinzukrächzen: „Dich hamse wohl, Melli! Um diese Zeit hier anzurufen!“

„Bist du allein?“, fragte Melinda.

„Ich? Und allein?“ Sonja lachte absichtlich anzüglich und tat so, als spräche sie mit einem Dritten: „Komm, Kleiner, mach mal Männchen. - So ist’s fein. Und jetzt sag mal was...“ Sie verstellte ihre Stimme: „Du machene michi kapuhte, Sosonija! - Nejn, bitte nejn!“

Melinda kicherte am anderen Ende der Leitung. „Aber der gestern war doch wirklich süß. Warum hast du ihn nicht abgeschleppt, Son?“

„Er hatte Angst vor mir “, gähnte Sonja. „Ich hab da ein Flackern in seinen Augen gesehen, das hat mir nicht gefallen. Ich mag keine Himbeerbubis.“

„Aber er hing doch an dir wie eine Klette.“ Melli seufzte. „Wenn ich die Chance gehabt hätte ...“

„Ja ja, leg jetzt besser weiter an deiner Patience auf dem Computer. Überhaupt ... ich frag mich immer, warum du während der Arbeitszeit so ungeniert am Telefon quasseln darfst.“

„Ach, das interessiert hier doch keinen.“

Sonja setzte sich gähnend auf. „Also, was geht heute, Mel?“

„Ja, ich weiß nicht ...“

„Tss, solange wie du dir was überlegst, ... da kann ich ja erst mal in aller Ruhe kotzen gehen.“

„Jetzt hör schon auf, Sonja! Du kannst richtig eklig sein. Ich esse doch gerade mein Laktobazillussowieso“, beklagte sich Melli, „ich dachte, wir könnten zusammen ein Geschenk für Nicole...“

„Die doofe Kuh hat mir doch auch nichts geschenkt, als ich Geburtstag hatte, und was kann man der schon schenken... Vielleicht ein Abo beim Seelenklempner...“

„Oder beim Schönheitschirurgen“, ätzte Melli unerwartet mit.

„Hat kein’ Zweck, bei der Visage muss man mit der Flex ran.“ Beide lachten.

„Trotzdem sollten wir ihr ‘ne Kleinigkeit schenken“, sagte Melinda. „Ich hab da an den komischen Laden in deiner Nähe gedacht. Wir könnten uns da in einer Stunde treffen. Dann hab ich Pause.“

„Wie soll ich das schaffen, verflucht noch mal? Ich muss mich doch erst noch von gestern abschminken.“

„Lass es doch einfach drauf.“

„Du bist gut! Ich seh aus wie aus dem Schlamm gezogen.“

„Ach komm, so schlimm kann es doch gar nicht sein.“

„Doch, wenn ich auf die Straße will, brauch ich‘n Monsterausweis.“

„Du“, flüsterte Melli schnell, „mein Chef kommt, ich leg lieber auf, also um halb zwei.“

Sonja hörte noch ein Brüllen, - hat wohl einen ziemlichen Hals, der Chef, dachte sie -, dann herrschte Stille in der Leitung. Sie ließ sich der Länge nach auf das Luxusbett sacken, das Rainer ihr geschenkt hatte. Oder war es Dieter gewesen? Sie massierte sich die Schläfen und sah in den mildblauen Himmel hinauf. Eine Tasse Kaffee. Vorher ging gar nichts. Aber sie war zu faul zum Aufstehen. Sie zog einen Flunsch. Niemand da, der ihr einen Kaffee kochte. Sie hob ein Bein und musterte es. Lang, schöne Wade, schmale Fessel, hübscher Fuß, nette Zehen dran. Sie ließ das Bein wieder auf das Bett zurückplumpsen. - Wie es wohl ist, wenn man nur ein Bein hat. Dummer Gedanke. Wie komm ich nur auf sowas? Sie raffte sich auf und tapste zum Bad, schnitt vor dem Spiegel Grimassen. - Für die ganze Sumpferei seh ich ja noch passabel aus, dachte sie, sah zu, wie sich die Zahnpasta aus der Tube kringelte, rubbelte über die Zahnreihen, stellte die Dusche an, gurgelte. Sie dachte an ihre Mutter, wie sie in der Klinik gelegen hatte vor Jahren, gestorben war; Gedanken an ihren Vater vermied sie. Denn immer wenn sie an ihn dachte, fühlte sie eine Art Beklemmung in sich aufsteigen. Sie wusste nicht recht, woher das kam. Seit einigen Jahren hatte sie nichts mehr von ihm gehört, die letzten Treffen waren sehr verkrampft gewesen. Einige nichtssagende Telefonanrufe. Eigentlich wusste sie nichts von ihm und seinem Leben. Es war ihr lieber so. Aber jetzt hatte sie doch an ihn gedacht! Sie empfand es als ablenkend und erleichternd, dass sich, während sie den warmen Strahl des Wassers spürte, Bilder der vergangenen Nacht einstellten: Na ja, der übliche Typ, das übliche Geplapper, na, das Gesicht war doch etwas verfettet gewesen, zumindest im Ansatz, und das Gelaber unter aller Kajüte, außerdem dieses dämliche Grinsen, Knackarsch auch Fehlanzeige, - Hast alles richtig gemacht, Kindchen, mit dem hättest du ‘ne Niete gezogen, sagte sie sich und begann, sich abzutrocknen.

Mit einem Toast in der Hand lief sie kurz darauf zu dem komischen Krimskramsladen. Als sie einen Moment an einer Ampel stehenblieb, um dann doch noch bei Rot hinüberzuhuschen, meinte sie, aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen. Sie lief weiter, aber nun war ihr, als folgten ihr Schritte. Doch es war ihr zu dumm, sich umzudrehen. Vielleicht hatte sich nur wieder einmal ein Typ in sie verguckt; sie war es gewohnt, dass ihr Männer folgten. Dann bremste sie doch plötzlich ihren über 1,80 großen Model-Körper und warf ihren Kopf herum, so dass die blonden Haare nur so flogen. Aber da war nichts. Nur unscheinbare lahme Schnecken, die vor sich hinmurksten. Leute in grauen Mänteln. Nichts Besonderes.

Melli stand schon vor dem Schaufenster und spielte mit einer Kastanie, die sie gefunden hatte. Sie steckte in ihrem Büro-Anzug, leichte Nadelstreifen oder so’n Zeug, soviel Sonja unter dem offenen Trench erkennen konnte. Mellis widerspenstige rote Haare waren streng mit Spray und Kamm betoniert. Sie küssten sich, und Sonja wunderte sich, während sie sich herabbeugte, wieder einmal über den zarten, samtenen Flaum auf Mellis süßen Bäckchen. Melli zupfte bewundernd an Sonjas flauschigem Pullover, der ein wenig die Hüften freiließ. „Die Sixties waren wirklich sexy“, sagte sie.

„Komm Melli“, Sonja nahm die Freundin am Arm, „bringen wir’s hinter uns mit ‘Wie-war-doch-noch-ihr-Name’ ihrem Geschenk, äh, Nicole.“

Ein kleines Türklingelchen bimmelte, als sie eintraten. Eine Graue-Maus-Verkäuferin fragte sie, ob sie ihnen helfen könne. „Nein“, speiste Sonja sie barsch ab, und das bleiche Wesen mit unförmiger Hornbrille verzog sich in den hinteren Teil des etwas düsteren Ladens. Melli nahm irgendeine plumpe Plastikfigur in die Hand. „So was Dämliches hab ich ja noch nie gesehen.“ Beide lachten. Ein Gimmick stand neben dem anderen: Tischfeuerzeuge, die wie Vulkane geformt waren, phallische Lavalampen, über die sie kicherten, Tim und Struppi fehlten auch nicht, komische Uhren, bei denen an Stelle eines Zeigers eine Ente auf einer Wasserfläche ruckhaft vorwärts schwamm.

„Guck mal, wär das nichts für Nikki?“ Melli hob einen Gartenzwerg mit dicker Zigarre im Grinsemaul hoch.

„Seit wann nennst du sie Nikki? Aber die Nikolle hat doch gar keinen Garten. Und außerdem ist sie militante Nichtraucherin“, knurrte Sonja, „ist mir oft genug damit auf die Eier gegangen.“ Wieder lachten beide, kurz begleitet vom erneuten Bimmeln des Türglöckchens. Sie beachteten es nicht weiter, zumal sie hinter einem Regal standen und niemanden sahen.

„Das hier ist doch ganz niedlich“, meinte Melli dann und zeigte auf ein aufblasbares Sabberlätzchen.

„Zwanzig Mark für so’n Schmu, aber warum eigentlich nicht? Kann sie vielleicht auch als Schwimmflügel benutzen. Ist sowieso egal, sie schmeißt es doch in die Abstellkammer.“

Sie gingen in dem verwinkelten Laden umher und suchten die Verkäuferin.

„Das Biest muss sich versteckt haben“, flüsterte Sonja Melli zu.

Tatsächlich war die Verkäuferin nirgendwo zu entdecken.

„Ich geh sie mal suchen“, sagte Melli, schob eine Art indianischer Decke, die vor einer Tür hing, zurück und verschwand in einem dunklen Gang.

„Tu das, tu das“, brummte Sonja zerstreut. „Typisch Melli“, fuhr sie zu sich selbst fort, „anstatt einfach zu türmen, rennt sie dieser unfähigen Verkäuferin auch noch nach.“ Sie betrachtete einen Bierseidel aus Zinn. - Was Blöderes gibts doch gar nicht. Sie spürte einen leichten Kopfschmerz, ein Stechen in der Schläfe. Eine Kuckucksuhr tickte, im Laden wurde es dunkler. - Dass die Sonne schon so schnell untergeht, dachte sie. Herbst eben. Sie sah auf die leere Straße, ein paar Blätter lagen auf dem Gehweg. Warm war es hier im Laden nicht, und einen Stuhl gabs auch nicht. Wo blieb Melli bloß? Hielt wahrscheinlich ein gemütliches Schwätzchen mit der Tante, bei einem Tässchen Tee und Keksen. - Du meine Güte, jetzt reichts mir aber! Sie ging auf den Vorhang zu. Seltsamer Laden. Weit entfernt meinte sie, ein Geräusch zu hören. Und merkwürdigerweise verschwand, je näher sie diesem halben Teppich kam, ihre Energie, ihre Schritte wurden langsamer, die Beine schwer. Ins Dunkel spähend hob sie den schweren Stoff. Irgendwo musste hier doch ein Lichtschalter sein. Sie tastete sich an der Wand entlang. „Melli?“, rief sie ins Dunkel und tappte über den Teppichboden. Sie lauschte so angestrengt, dass in ihren Ohren ein Summen entstand. Sie bildete sich ein, unterdrücktes Atmen zu hören. Inzwischen ging sie nur noch ganz langsam, schob einen Fuß vorsichtig vor den anderen, so als könnte sich vor ihr plötzlich ein tiefer Spalt auftun, - umkehren, dachte sie, zurück zum Laden laufen, aber vielleicht war ja da hinter ihr schon etwas, das sie verfolgte. Und immer noch kein Lichtschalter. Doch da fühlte sie Plastik unter ihren Fingern, drückte ungeduldig darauf, aber nichts geschah. Der Gang schien einen Knick zu machen, vor sich sah sie jetzt etwas, die Dunkelheit wurde körnig grau. Ihre rechte Hand griff plötzlich ins Leere, eine Tür, ihr Herz schlug jetzt wie verrückt, so laut, dass es sie verraten würde, dachte sie. Sie versuchte, sich Mut zu machen, atmete tiefer, richtete sich höher auf, spannte die Muskeln an. Was ist das für ein Raum? Sie geht hinein. Dort steht eine Art Ungetüm, vielleicht ein Ofen, sie kann es nicht genau erkennen, und davor, ihr stockt der Atem, ihre Nackenhaare sträuben sich, davor liegt etwas, ein Mensch, sie beugt sich herab, dreht sich so, dass sie mit dem Gesicht zum hinter ihr dunkel gähnenden Türrahmen steht, so dass niemand sie überraschen kann. Ist es Melli, sie befühlt das Gesicht, spürt etwas Klebriges, Blut, sehr schwarz, läuft über das graue Gesicht, aber durch die Nase fährt Luft über Sonjas Handfläche, der Mensch lebt. Sie erkennt die Verkäuferin, ohne Bewusstsein liegt sie da, und nun ergreift Sonja Panik. - Was hat das zu bedeuten? Nur raus hier! Aber Melli! Was ist mit Melli geschehen? Hier kann ich nicht warten, hier wird er mich finden. Sie versucht, etwas in der schwarzen Türöffnung zu erkennen. Das Fenster hinter ihr ist vergittert, und wenn sie hinläuft, um es zu öffnen und hinaus zu schreien, müsste sie der Tür den Rücken kehren ... Nein, sie muss weiter diesen Gang entlanggehen. Das Summen in ihren Ohren wird immer lauter, es ist die Stille, die so rauscht oder das eigene Blut. Sie streckt eine Hand durch die Türöffnung, gewissermaßen als Köder hinaus und erwartet, dass sich jemand darauf stürzt. Wenn sie ihn nur erst vor sich hätte, den Wahnsinnigen, der irgendwo hier in der Nähe auf sie lauert. Nichts geschieht, und sie schiebt sich um den Türrahmen herum in den Gang hinein, geht weiter. Ihr scheint es so, als liege irgendein merkwürdiger Geruch in der Luft, den sie jedoch nicht benennen kann. Ist das Blut? Der Geruch frischen Blutes, der, wie sie sich erinnert, Schweine, die zur Schlachtung getrieben werden, vor Angst wahnsinnig macht? Ein metallischer, fetter Geruch? Wie lang dieser Gang ist. Der Teppichboden unter ihren Füßen gibt ein patschendes Geräusch von sich, und sie hält inne. Sie reißt die Augen so weit wie möglich auf, aber sieht doch nur Schwarz vor sich. Sie schnüffelt leicht. Es ist ein Parfümgeruch, der in der Luft steht. Ihre Schuhsohle scheint ein wenig festzukleben, mit der anderen tritt sie auf etwas Weiches, stößt einen Schrei aus und zuckt zurück. Dort auf dem Boden liegt etwas bewegungslos. O nein! schießt es ihr in einem fort durch den Kopf, sie kann nichts anderes mehr denken. Sie geht auf die Knie, flüstert leise „Melli?“, schiebt sich näher, tastet sich heran, dann fühlt sie die schlaffe, kleine, warme Hand von Melli, ja, es ist Melli! Sonja kriecht näher, fühlt Mellis Büroanzug, aber wo ist ihr Kopf? Er scheint zurückgesackt, in den Nacken. Sonja greift Melli an den Armen, zerrt sie den Gang entlang, irgendwo muss hier doch Licht sein. Und wenn dort nur eine Betonwand ist? Ohne Tür? Ist da ein Geräusch gewesen? Hat der Lärm, den Mellis über den Boden schleifender Körper macht, es übertönt? Aber da ist doch etwas? Kommt es von vorne oder von hinten? Und Melli ist so schwer. „Melli, Melli“, flüstert sie, Mellis Kopf pendelt zwischen Sonjas Unterarmen, schlägt dagegen. „Melli, Melli.“ Dann ist da plötzlich ein verhangenes Oberlicht, und Sonja sieht im Grau Mellis Gesicht. Sie springt zurück und schreit auf: Melli liegt da mit offenen Augen, sie ist tot, ihr Hals ist halb durchtrennt, der Kopf hängt seitlich herab, schwarzes Blut überall. Sie will loslaufen, nur loslaufen, aber hier geht es nicht weiter, keuchend sucht sie einen Ausgang, eine Tür, den ganzen langen Gang zurück, sie dreht sich schnell immer wieder um die eigene Achse, damit der Mörder keinen Angriffspunkt hat, den ganzen langen Gang, los! Sie macht den ersten langen Schritt über Mellis Leiche hinweg, springt, da sieht sie im Augenwinkel eine Gestalt, die sich aus dem Dunkel der Wand löst und sie anfällt, fühlt einen tiefen Stich im Oberarm, etwas schlägt auf dem Boden auf, Sonja läuft schreiend weiter, prallt in der Biegung des Gangs gegen die Wand, weiter, nur weiter, raus hier! Sie rennt durch den Vorhang, reißt ihn herunter, meint, hinter sich Schritte zu hören, sie ist im Laden, zieht die klirrende Tür auf und läuft schreiend die Straße hinunter, ein Passant dreht sich nach ihr um.

Erst nach Hunderten von Metern blickte sie im Laufen zurück, sah niemanden, aber auch hier war es dunkel, unter den Bäumen glänzten nasse Stellen. Sie sah einen Laden, eine Art Tante-Emma-Laden im Souterrain, und lief zwischen den Zeitungsständen dort hinein, wo es hell war, wo Menschen waren. Schweiß stand ihr auf der Stirn, sie hatte einen Blutgeschmack im Mund.

„Rufen Sie die Polizei!“, schrie sie.

Der Ladeninhaber, der einen weißen Kittel trug und gerade Leber verpackte, sah sie fragend an. „Beruhigen Sie sich erstmal, junge Dame. So schlimm wird es ja wohl nicht ...“

„Telefonieren Sie schon!“ schrie sie.

„Ändern Sie erst einmal Ihren Ton. Das ist ja ...“

Sonja begann hysterisch zu kreischen.

Der Inhaber verschränkte die Arme und wollte es zuerst wohl auf einen Machtkampf ankommen lassen, dann aber verlor er bei dem schrillen Dauerton die Nerven und versuchte, Sonja aus seinem Laden zu schieben.

Plötzlich war das Brüllen einer tiefen Raucherstimme aus dem Hintergrund zu hören. „Verdammt nochmal! Ruf endlich die Polizei, du ... du ...“ Eine Frau, die Hildegard Knef ähnelte, trat hinter einem Stapel Waschpulver hervor und beendete unter Husten den Satz: „Vollidiot!“

Sofort lief ihr Mann in einen Sperrholzverschlag, wo man ihn wählen und herumstottern hörte. Seine Frau, deren Hustenanfall vorüber war, klopfte Sonja auf die Schulter und schob sie zum Telefon.

Sonja stammelte die nötigen Informationen in den Hörer.

„Und du gehst Gurkengläser sortieren, Bert. Vergiss nicht: Die nach Schlesischer Art nicht mit den Moskauer vermischen. Ich will nicht wieder dieses Kuddelmuddel. - Sie sind ja ganz bleich, Kindchen. Setzen Sie sich erstmal, möchten Sie ein Glas Wasser?“

„Nein danke“, fielen Sonja die Worte monoton aus dem Mund, während sie sich auf das kleine Drehstühlchen hinter der Kasse sinken ließ.

„Bert!“ schrie sie. Berts Kopf tauchte hinter Gurkengläsern auf. „Setz mal heiß Wasser auf!“

„Wie sprichst du eigentlich mit mir? Ich ...“

„Mach schon.“

Bert verschwand wieder im Sperrholzverschlag.

Sonja zitterte jetzt am ganzen Körper, weil die Anspannung etwas nachließ.

„Die Polizei wird ja gleich da sein. Keine Bange. So. Eine heiße Tasse Tee.“ Sie schnippste mit den Fingern und rief: „Rum!“

Folgsam brachte Bert eine Flasche Pott heran.

„Das wird dir gut tun, Kindchen.“

„Nennen Sie mich nicht immer Kindchen“, sagte Sonja schlapp.

„Sie wehrt sich! Das ist ein gutes Zeichen. Bald sind wir wieder obenauf, Kindchen.“

Sonja zuckte resigniert die Achseln.

„So“, sagte die Frau, zündete sich eine Zigarette an und machte es sich gemütlich, „und nun erzähl nochmal, was passiert ist.“

Sonja sagte nichts.

„Na?“

„Keine Lust.“

„Frech wird sie auch noch, Undank ist der Welt Lohn“, lamentierte die Alte, „aber wenigstens ist sie wieder hergestellt.“

Plötzlich begannen aus Sonjas Augen Tränen herauszukullern, ein Weinkrampf schüttelte sie. „Melli“, schluchzte sie. „Melli.“ Sie heulte wie ein Kind und krümmte sich über dem schwarzen Kassen-Laufband zusammen.

Die Alte schenkte sich Rum in eine schmutzige Tasse ein und nippte daran.

Weinend schüttelte Sonja den Kopf. Hin und her, hin und her. Dann sprang sie auf und lief an der kurzen Regalreihe des winzigen Ladens entlang. Auf und ab, auf und ab. Sie sprach mit sich selbst. In ihrem Nuscheln konnte die Alte nur das Wort ‘Melli’ hin und wieder erkennen. Immer noch ging Sonja auf und ab. Plötzlich jedoch kam sie nicht zurück. Die Alte, die an ihrem Rum genippt hatte, stand auf und fand sie kauernd hinter einem Stand mit Chips.

„Was machen Sie denn da, Kindchen? Sie brauchen sich doch nicht zu verstecken.“ Jetzt erst sah die Alte, dass Sonja Blut an den Händen und am Pullover hatte. Sie führte Sonja wieder nach vorne zur Kasse. „Warten Sie, ich hole Ihnen ein Erfrischungstuch. Hier ...“ Sie begann, die Hände des Mädchens abzureiben. Sonja ließ das willenlos mit sich geschehen und starrte nur furchtsam hinaus auf die dunkle Straße.

„Ich hab Angst.“

„Aber, Kindchen, hier kann Ihnen doch nichts passieren. Wir sind ja bei Ihnen.“ Sie drehte sich um und rief nach hinten: „Bert?“

Nichts rührte sich. Kein Geräusch außer Sonjas gelegentlichem Schluchzen.

„Bert?“

Jetzt wurde es der Alten selbst unheimlich, und sie zog eine Holzlatte unter der Kasse hervor.

„Bert?“ rief sie noch einmal und ging langsam zu den Gurkengläsern. Die Gläser waren noch nicht vollzählig aufgestellt, einige standen kreuz und quer auf dem Boden. „Verdammt! Und wieder die Schlesischen mit den Moskauer durcheinander!“, fluchte die Alte leise. Eine der Neonröhren flackerte. Die Alte hob die Latte und stand jetzt vor einem Vorhang aus breiten halbdurchsichtigen Plastikstreifen, hinter denen es jedoch dunkel war, so dass man nichts sehen konnte. Plötzlich kam ein Kopf zwischen den Streifen hervor, und automatisch ließ die Frau die Holzlatte darauf niedersausen.

Bert stöhnte auf und sackte zusammen.

Seine Frau beugte sich zu ihm hinunter, streichelte den Benommenen und beschimpfte ihn liebevoll: „Bertchen. Warum hörst du auch nicht, wenn man dich ruft!“

Sonja sah den beiden aus verheulten Augen zu und hörte auf zu weinen.

In diesem Moment erhellte aufflammendes Blaulicht die Straße vor dem Laden, Bremsen quietschten.

Polizisten

Die erst vor wenigen Tagen zur Streifenpolizistin ernannte Cornelia Pörl lief durch die Gänge des Reviers. Ihr Herz klopfte aufgeregt. Heute würde sie zum ersten Mal mit dem Kollegen Embisch fahren, mit Karsten, denn für sich nannte sie ihn bereits nur noch bei seinem Vornamen. Sie lief am Umkleideraum der Männer vorbei, aus dem der herbe Geruch von Schweiß drang, und ihre Nasenflügel bebten leicht. Karsten! Sie sah seinen muskulösen Körper vor sich, kein Gramm Fett zuviel, die Bauchmuskeln zeichneten sich ab, bretthart. Ein einziges Mal hatte sie ihn während der Ausbildung mit nacktem Oberkörper gesehen, da musste er an einem Seil hochklettern. Seine langen Beine hatten das Seil umschlungen, seine starken Hände hatten hart zugegriffen, die anschwellenden Muskeln an seinen Armen waren ihr aufgefallen ... Aber eigentlich war sie schon vorher in ihn verliebt gewesen. Gleich als sie zum ersten Mal sein entschlossen hervorspringendes Kinn, die gerade Nase, die blauen Augen gesehen hatte, die Augen besonders, in deren Blick Tiefe lag und eine gewisse unbestimmte Traurigkeit. - Ja, es ist sein Blick, dachte sie, während sie auf den Parkplatz hinauslief. Dort stand das grünweiße Auto, undeutlich sah sie Karstens Gestalt auf dem Fahrersitz. Sie stieg schnell ein, schlug die Tür zu, und sah ihn beim Anschnallen an. Es schien ihr so, als beiße er die Zähne aufeinander, denn seine Kiefermuskeln zeichneten sich ab und sein Kinn trat noch schärfer hervor.

„Das nächste Mal...“ Seine Stimme war zwar nicht besonders tief, löste aber Schauer in ihr aus, die ihr zwischen den Schulterblättern bis hinauf in den Nacken liefen. „Das nächste Mal muss das schneller gehen.“

Erst jetzt begriff sie, dass er ihr einen Vorwurf machte. Sie traute sich nicht, ihn anzusehen und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie er am Schaltknüppel riss. Die Beschleunigung drückte sie tief in den Sitz hinein. Sie rasten über eine Brücke, gerade erhaschte sie noch einen Blick auf das Obdachlosenasyl, vor dem einige Männer standen.

Diese Penner müssen raus aus der Stadt.

Hatte er das gesagt? Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Vorsichtig schaute sie zur Seite und musterte sein markantes Profil. Die Lippen waren schmal zusammengepresst, und sein Kiefer schien zu mahlen. Nein, er war ja ein Schweiger. Ein einsamer Wolf, der erst in ihren Armen ... Wahrscheinlich war es die Aufregung, die sie Stimmen hören ließ. Ihre Nerven waren angespannt, in letzter Zeit war zuviel Neues auf sie eingestürzt.

Sie jagten über eine Allee. Rechterhand sah sie