Taschkent - Christian Günther - E-Book

Taschkent E-Book

Christian Günther

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Beschreibung

'Taschkent' ist psychologischer Roman und Agententhriller zugleich. Der junge BND-Agent Jan Werder ist 2003 nach Usbekistan entsandt worden, um einen Kollegen zu ersetzen. Gemeinsam mit seinem Vorgesetzten, Kien, in dem er nur einen versoffenen Versager sieht, versucht er, den Tod seines verunglückten Vorgängers aufzuklären. Kien, dem desillusionierten Mittfünfziger wiederum, missfällt die forsche Oberflächlichkeit seines neuen Mitarbeiters. Im Laufe der Ermittlungen - und unter dem Einfluss der Liebe - entwickeln sich ihre Persönlichkeiten zum Positiven. Der Roman, im Wechsel aus der Perspektive beider Männer erzählt, spielt vor dem Hintergrund der usbekischen Scheindemokratie und des US-amerikanischen 'War On Terror''.

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Seitenzahl: 228

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

1

It was so much easier when I was cruel1

Der vierschrötige Flugbegleiter, der ihm das Abendessen vorsetzte, hatte schwarz behaarte Handrücken. Unter dem Deckel lagen ein halbes Hähnchen und fingerdicke Plockwurstscheiben. Das Ganze hier nervte und kam ungelegen - in München wollte Monique, die mollige Moschus-Monique, erobert werden. Aber ihm war klar, warum man von den vielen 'Außendienstlern', die gerade in der Zentrale herumgehangen hatten, ausgerechnet ihn in die Steppe geschickt hatte, um einen Toten zu ersetzen: sein Russisch und eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Muslimen ...

Er wies Bärenpfote an, das Behältnis sofort wieder abzuräumen. Den Film, der auf den Monitoren gezeigt wurde, beachtete er nicht, hüllte sich in eine kratzende Decke und schlief ein.

Als er das erste Mal aufwachte, schmerzte seine Halsmuskulatur, weil sein Kopf trotz aufgeblasener Nackenstütze zur Seite gesackt war. Draußen nur Schwärze, rot durchpulst vom Blinken der Tragflächenlichter. Er überprüfte den Sitz der Ohrstöpsel, die das Dröhnen der Turbinen dämpften, und warf einen Blick zum Monitor hinauf, wo das kleine Flugzeugsymbol über die Landkarte kroch. Es hing über der Ukraine.

Beim nächsten Aufwachen über dem Schwarzen Meer.

Es dauerte noch über eine Stunde, bevor der Landeanflug auf Taschkent begann. Am schlaffen Profil seines betrunkenen Nachbarn vorbei schaute Jan auf die Lichter der Stadt hinunter. So was sah ja immer ganz nett aus.

Als er sich endlich am bulligen Steward vorbei aus dem Flugzeug drängen konnte und auf den Absatz der Treppe trat, die herangerollt worden war, musste er erst einmal nach Luft schnappen, so schwül und heiß war hier die Nacht. Es roch nach Holzrauch und fremd. Zikaden zirpten so nah, als säßen sie auf der Rollbahn.

Durch taktisch kluges Positionieren im Bus, der zum Flughafengebäude fuhr, und zügiges Gehen eroberte Jan den besten Platz am Band. Sein Ziehkoffer war eins der ersten Gepäckstücke. Anschließend passierte er ohne Schwierigkeiten die Passkontrolle.

In der Halle hielt ein Mann mit blondem Pagenschnitt, bleichem Gesicht und schwarzen Augen ein Schild, auf dem der Name 'Werder' geschrieben stand. Andrej Tvoludin – so stellte der Mann sich vor - nahm ihm den Koffer ab und bahnte ihm einen Weg durch die aufdringliche Menge schreiender Taxifahrer. Bevor Jan sich ins Auto setzte, schlüpfte er aus seinem verschwitzten Jackett.

Auf dem Weg zu einer ihm für eine Übergangszeit zur Verfügung gestellten Wohnung wechselten beide nur wenige Worte. Tvoludin war der Chefdolmetscher der deutschen Botschaft und sprach ein korrektes, wenn auch etwas maschinenmäßiges Deutsch. Im Morgengrauen fuhren sie breite, von großen Bäumen gesäumte Straßen entlang, die an Plattenbauklötzen vorbeiführten. Auf den Flachdächern reihten sich riesige, teils kyrillische, teils lateinische Buchstaben zu Parolen, von denen ihm Tvoludin einige übersetzte: ‘Unabhängigkeit und Frieden’, ‘Taschkent - Stern des Ostens’, ‘2003 - das Jahr von …' - Jan hörte nicht mehr zu und schaute sich die Milizionäre an, die an jeder Kreuzung standen. Kalaschnikows, grüne Uniformen.

Nun glitt der Wagen an einem hundert Meter breiten Springbrunnen entlang. Im Ministerium dahinter seien bei einer Bombenexplosion vor einigen Jahren viele Menschen getötet worden, sagte Tvoludin. Jan nahm sich vor, dem nachzugehen. Sie bogen in eine Mietskasernensiedlung ab.

In einem dunklen Treppenhaus, das nach Fisch und Machorkarauch roch, stiegen sie ins dritte Stockwerk hinauf. Als sein Begleiter die lederverkleidete Tür öffnete, kam ihnen stickige Luft entgegen. Die Wohnung war im russischen Stil eingerichtet: dunkle Tapeten, eine plumpe Couchgarnitur, Schrankwände; im Flur ein altes Telefon. In der Küche stand ein Teekessel auf dem Gasherd. Plötzlich musste Jan an Anna denken, an die Küche in ihrer Wohnung und an einen Abend, an dem sie sich dort wild geküsst hatten, während die Gäste im Wohnzimmer saßen. Er stellte seinen Koffer ab, ging ins Bad und wusch sich.

Tvoludin stand auf dem kleinen Balkon. Sie sahen in den Innenhof hinunter: Mülltonnen, ein Klettergestell und Bänke - umgeben von den Rohren der Warmwasserleitungen. Der Dolmetscher fragte, ob er sich etwas ausruhen wolle. Jan verneinte.

Als sie auf die Straße traten, war die Sonne aufgegangen. Eine Frau, die einen Karren vor sich herschob, bot laut schreiend Milch und Quark an. Von Minute zu Minute wurde es heißer. Unter Bäumen am Straßenrand waren Hunderte von Wassermelonen aufgehäuft; der Verkäufer schlief noch auf einem Bettgestell.

Im Wächterhäuschen der nahe gelegenen Botschaft stellte Tvoludin ihn den Wachmännern vor. Über den Parkplatz gingen sie dann auf das Hauptgebäude zu, einem unschönen Betonquader, der früher der DDR als Botschaftssitz gedient hatte. Drinnen, auf dem muffigen Flur trappelten ein paar Frühaufsteher über den knarzenden PVC-Boden.

Kien, Jans Vorgesetzter, war noch nicht im Hause. Das erfuhr er von dessen Sekretärin, einer kühlen künstlichen Blondine mit tiefer Stimme, die mit starkem russischen Akzent sprach. Kien musste ein komischer Vogel sein. Freund von Büttner, dem Orakel und Russlandexperten in Pullach, beide Fossilien mit Alkoholproblemen, überm Ablaufdatum, Kien mit kaputter Familie, aber das war ja nichts Besonderes in ihrem Verein.

Tvoludin führte ihn in den ersten Stock. Im Vorzimmer des Botschafters, Dr. Liemer, wartete Jan bei einer Tasse Kaffee darauf, vorgelassen zu werden. Schließlich geleitete ihn die Vorzimmerdame in die Räumlichkeiten seiner Exzellenz. Ein hochgewachsener, graumelierter Mann trat ihm entgegen und reichte ihm die Hand. Endlich sei der Mitarbeiter eingetroffen, auf den Herr Kien so ungeduldig gewartet habe. Nach einigen Sätzen über die derzeitige Situation im Lande und nachdem er betont hatte, für wie wichtig er die Arbeit der Abteilung Kien hielt, entschuldigte sich der Botschafter mit einem dringenden Termin und brachte ihn zur Tür. In den nächsten Tagen werde sich sicherlich einmal Gelegenheit bieten, eingehender über Inhaltliches zu sprechen.

Jan ging wieder ins Erdgeschoss hinunter und setzte sich in Kiens Büro an den leergeräumten Schreibtisch seines Vorgängers. Er schaltete den Computer an: Alle Dateien waren gelöscht. Nichts erinnerte an den Mann, dessen Unfalltod Jan hierhergebracht hatte. Die Sekretärin, sie hieß Bezmilutinova, musterte ihn und bot ihm eine Tasse Tee an, die er ablehnte. Sie verzog keine Miene, telefonierte - und mit Befriedigung stellte Jan fest, wie mühelos er ihren heruntergeratterten russischen Sätzen folgen konnte. 'Pokerface' ließ sich mit dem Chef der Miliz in Namangan verbinden und forderte eine schriftliche Bestätigung über den Eingang einer Lieferung von Schutzwesten. Sie vereinbarte einen Besuchstermin Kiens für kommende Woche Dienstag. Anschließend telefonierte sie im Befehlston auf Usbekisch. Eine Sprache, die unangenehm klang, wie Jan fand.

Er verließ das Büro und schaute sich im Flur die Aushänge am schwarzen Brett an. Ein scheidender Mitarbeiter bot seine Gartenstühle inklusive Polster zum Verkauf an. Der übliche Geiz-Quatsch also.

Schließlich stieß Tvoludin, der vielleicht damit beauftragt worden war, wieder zu ihm und schlug vor, gemeinsam zum Essen zu gehen. Das Stammrestaurant der Botschaftsleute sei gleich um die Ecke.

Draußen folgten sie der großen Straße und kamen an einem Monument vorbei, das, wie Tvoludin erläuterte, an das Erdbeben von 1966 erinnerte, dann bogen sie ab und gingen an einem baumbeschatteten Kanal entlang.

Vor dem Esssaal des ‘Chinor’ wurden in riesigen Kesseln Suppe und Plow, das hiesige Reisgericht, gekocht. Die Köche trugen weiße, etwas schmuddelige Kittel. Die usbekischen Männer schienen allgemein zur Untersetztheit zu neigen. Sowohl Männer als auch Frauen hatten kugelige Köpfe und meist etwas grobe Gesichtszüge.

Tvoludin lud zwei Schüsselchen mit dem Reisgericht und einige Salate auf ein Tablett, zahlte an der Kasse und setzte sich mit Jan zu einem Herrn an den Tisch, den er ihm als den Wirtschaftsattaché, Herrn Dr. Reck, vorstellte.

„Aha. Unser Andrej hat Ihnen schon unser kleines Reich gezeigt, nehme ich an. Ist der Pilaw oder Plow, wie die Einheimischen das Gericht hier nennen, nicht eine vorzügliche Speise?“ Der distinguiert gekleidete, etwa fünfzigjährige Diplomat hatte die Frage genau in dem Moment gestellt, als Jan eine erste Gabel der Mischung aus Reis, Gemüse und Lammfleisch probierte. Jan nickte mit dem Kopf.

„Der Tradition nach wird er mit dem Löffel gegessen, doch uns Fremdlingen sieht man das nach“, bemerkte Herr Dr. Reck. „Schmecken Sie die Berberitzen heraus?“

Reck begann ihm schon jetzt auf die Nerven zu gehen. Während der Attaché seine Mahlzeit einnahm, schien er sich anhand von Jans Konversationsfähigkeiten, aber auch mittels seiner Tischmanieren ein genaues Bild seines Charakters zu machen. Zuweilen umspielte ein ironisches Lächeln seinen Mund. „Sind Sie denn schon auf Herrn Kien getroffen? - Nein? Nun, er wird sich vermutlich im Laufe des Nachmittags einfinden, - wie das so seine Art ist.“ Reck räusperte sich.

Schweigend hatte der Dolmetscher inzwischen seine Mahlzeit verzehrt. Als er nun Anstalten machte, sich einen Nachschlag zu holen, bat ihn Dr. Reck, eine Flasche Mineralwasser mitzubringen. „Und fragen Sie doch gleich Frau Schuten, die dort am Buffet steht, ob sie sich nicht zu uns setzen möchte.“

Jan nahm vom Salat.

„Salat Olivier“, erläuterte Reck. „Eine typisch russische Speise. Aber das wissen Sie natürlich, Sie waren ja einige Jahre in Moskau.“ Reck 'spielte auf seinen Nerven', wie die Russen sagten. Jan sah auf die Mayonnaise-Pampe.

„So vieles hier in Usbekistan ist russisch geprägt und wird es noch viele Jahre bleiben. Dennoch - das Land ist im Umbruch. Für meinen Geschmack sucht es seine Wurzeln mitunter allzu forciert. Ich hoffe, unser Andrej studiert bereits seit geraumer Zeit mit Fleiß das Usbekische, denn ein Dolmetscher für Russisch dürfte hier bald fehl am Platze sein.“

Wenige Augenblicke später stellte Frau Schuten behutsam ihr Tablett auf dem Tisch ab und setzte sich zu ihnen. Sie erinnerte Jan an Uschi Glas in 'Zur Sache, Schätzchen'. Reck stellte sie einander vor: „Frau Schuten, unersetzliche Kraft in der Visaabteilung, - Herr Werder, Nachfolger Herrn Soldes.“ Tvoludin schenkte Frau Schuten eine Schale grünen Tees ein. Während sie sich leicht nach vorn beugte, um den Tee zu trinken, fiel Jan das Goldkettchen auf, das sie um den Hals trug. Ein kleiner goldener Delphin leuchtete im Ausschnitt ihrer Bluse auf, dort, wo im Dunkeln der Ansatz ihrer Brüste mehr zu erahnen als zu erkennen war. Sie aß schweigend und hörte dem Wirtschaftsattaché zu.

„Ein erschütternder Vorfall“, bemerkte dieser.

„Die Passstraße ist nicht ungefährlich“, stellte Tvoludin fest.

„Aber Solde war sie schon etliche Male gefahren. - Ein tatkräftiger Mann. Meist verzichtete er auf einen Fahrer und fuhr allein ins Fergana-Tal hinüber. An jenem Tag herrschte Nebel oben auf dem Pass. Wagen und Leiche wurden erst zwei Tage später in einer Schlucht gefunden. Das Ganze bleibt meiner Meinung nach aber merkwürdig.“

Frau Schuten hatte kaum etwas gegessen und zog, während alle sich erhoben, eine Packung Zigaretten aus ihrer Handtasche hervor.

Auf dem kurzen Weg zur Botschaft rauchte sie zwei Zigaretten. Hinter ihr hergehend bewertete Jan ihre Figur mit ‘gut plus’, fragte sich aber auch, wie sie es bei dieser Hitze in solch engen Jeans aushielt. Von Rohren, die über dem Kanal verliefen, sprangen kleine Jungen ins schmutzige Wasser.

Als sie das Tor durchschritten hatten, lud sie Jan zu einer Tasse Kaffee in ihr Büro ein. „Gerade von der Spedition aus Deutschland geliefert“, sagte sie stolz. Während der Kaffee durchlief, zeigte sie ihm ihre Topfpflanzen. Schließlich saßen sie sich gegenüber, hielten jeder eine Tasse in der Hand und schauten sich an. Überrascht bemerkte Jan, dass es fast aussah, als gebe der Henkel Frau Schuten - „Ich heiße Franziska“ - Halt - nicht umgekehrt.

„Hartmut“, begann sie mit brüchiger Stimme, „hatte soviel vor.“ Sie konnte nicht weitersprechen und nahm einen Schluck Kaffee. Ihre Bambi- Wimpern klimperten heftig. Jan räusperte sich. Endlich fuhr sie fort. „Ein paar Tage vor seinem Tod sagte er mir, dass die Bekämpfung des Drogenhandels an den Grenzen gerade auch dank unserer Hilfe immer besser laufe. Und dann ...“ Jan nippte am Kaffee und wartete. „Von Anfang an“, stieß sie plötzlich hervor, „war ich davon überzeugt, dass es kein Unfall war. Aber alle anderen hier scheinen diese Version akzeptiert zu haben. Vielleicht finden Sie ja etwas heraus.“ Sie sah ihn bittend mit ihren großen blauen Augen an und er nickte. Nun stellte sie die Kaffeetasse zur Seite. „Hartmut war dieser Auftrag so wichtig, und ich spüre, dass Sie seine Arbeit genauso gewissenhaft fortführen werden.“

Jan sah Franziska Schuten an und stellte sich vor, wie sie mit seinem Vorgänger im Bett war.

„Er war ein so guter Mensch.“ Ihre Lippen bebten.

Jan ließ seine Tasse halbvoll stehen und nickte ihr an der Tür noch einmal aufmunternd zu.

Weil ihm das Warten im Büro wie das Sitzen in einem Wartezimmer vorgekommen wäre, inspizierte er auf einer kleinen Runde das Botschaftsgelände. Vom Parkplatz aus führte ein Weg an der Längswand des Betonklotzes vorbei. An den Fenstern hingen alte, sprotzelnde Klimaanlagen. Hinten lagen ein Tennisplatz und ein Swimming-Pool, beide verlassen. Er ging wieder zurück und setzte sich auf eine Bank neben dem Parkplatz. Die Mehrzahl der Botschaftsmitarbeiter schien Geländewagen zu fahren. Im flirrend grellen Licht musste er die Augen zusammenkneifen und ärgerte sich, dass seine Sonnenbrille noch im Koffer lag. Über ihm rauschten Bäume im heißen Wind.

Anna wandte sich ab. Er sah noch, dass ihre Oberlippe seltsam vorgestülpt war. Sie weinte, und ihre Schultern zuckten.

Einen Moment lang musste er eingenickt sein. Als er aufschaute, ging der Botschafter gerade zu einem weißen Mercedes mit schwarzrotgoldener Standarte. Der Fahrer öffnete ihm die Tür, Dr. Liemer stieg ein und bestand darauf, die Tür selbst wieder zu schließen. Das Gittertor öffnete sich elektrisch, und der Mercedes fuhr hinaus.

Innerhalb der nächsten halben Stunde kamen nach und nach einige Mitarbeiter aus dem Gebäude, gingen zu ihren Wagen und verließen das Gelände. Als Franziska in ihren Cherokee Jeep stieg, grüßte Jan zu ihr hinüber. Vielleicht war sie zu sehr in Gedanken versunken oder sah ihn durch ihre Sonnenbrille nicht - jedenfalls grüßte sie nicht zurück.

Kurz darauf stieg der Wirtschaftsattaché in seinen Landrover Defender und rollte in Richtung Ausfahrt. Plötzlich hielt das Fahrzeug, ein Fenster schob sich hinunter und Dr. Reck rief ihm zu, Herr Kien habe sich krankgemeldet, jedoch für ihn und auch für den neuen Kanzler sowie dessen Gattin eine kleine Stadtführung organisiert. „In einer halben Stunde. Start am Erdbebendenkmal.“

1 Elvis Costello: When I Was Cruel No. 2

2

Ist alles nur Gefasel, Sherry-Brandy2

Kien ging aus dem Haus und im Schatten unter den Ulmen entlang. Er setzte sich auf eine Mauer, schaute auf das Haus zurück, in dem er jetzt seit mehr als einem Jahr wohnte, ein russisches Holzhaus, hellblau, und zündete sich eine Zigarette an. Er mochte die unparfümierte usbekische 'Pine' - ahh, der Schwindel nach einem tiefen Zug! - und die ungewohnten Gedanken, die sich aus diesem Schwindel ergaben. Er stellte sich vor, wie sein Haus in die Luft flog. 'Taschkentsky Point' – ein Blick in die Zukunft? Möglich.

Trotzdem fühlte er sich gut, wie seit langem nicht mehr. Weil er sich krankgemeldet hatte, ohne krank zu sein. Eine diebische Freude überkam ihn, wenn er an all die vom Beruf deformierten, irgendetwas hinterherjagenden Wesen dachte, die heute ohne ihn durch die Gänge der Botschaften und Ministerien liefen. Der neue Mitarbeiter würde sich einen Tag lang auch ohne ihn zurechtfinden, zumal er ihm ja eine Stadtführung organisiert hatte.

Kien mochte sein grünes, etwas verfallenes Viertel oberhalb des Luna Parks. Er ging zu einer blühenden Albizie und betrachtete die zart gefiederten Blätter und wunderbaren Blüten - fragile Flauschgebilde, am Ende der flimmernden Härchen pfirsichfarben gepudert, - Ballett tanzende Feen, die er beschützen wollte. Kien stellte sich vor, wie seine Kollegen reagieren würden, teilte er ihnen solche Gedanken mit. 'Weichei', 'Blumenflüsterer' käme vielleicht von den deutschen, 'douchebag', 'sissy' von den amerikanischen Agenten, 'faggot' von den britischen.

Kien sah noch einmal zum Haus zurück, sah sich darin liegen, sah Gestalten, die sich anschlichen, hörte schallgedämpfte Schüsse - double tap. Er fühlte, wie die Angst, die ihn ständig begleitete, stärker wurde. Äußerlich ruhig ging er ein paar Querstraßen weiter, bis er vor einer seiner beiden Stammkneipen stand, der 'American Sportsbar', einem fast nur von Expats besuchten, dunklen 'watering hole'. Er liebte die frühen Abendstunden in einer Bar, wenn es noch still war und nur wenige Leute am Tresen saßen, den ersten Schluck des ersten Drinks, vielleicht eines Gimlets, und das langsame Einsetzen der Wirkung. Ohne Zweifel war er Alkoholiker, hatte die Sucht aber meist gut im Griff. In letzter Zeit waren die Nächte allerdings öfter schlecht ausgegangen. Er nahm das als Zeichen, dass er nicht im Gleichgewicht war. Sicher hatte das mit Hartmut Soldes Tod zu tun, der ihn erschüttert hatte und den er vielleicht auf irgendeine Art hätte verhindern können. Er hatte Solde auf die Gruppe 'Seide' angesetzt und ihn mit der Aufgabe dort im Fergana-Tal alleingelassen. Hier in der Bar hatten sie oft zusammengesessen und getrunken, bevor Solde sich mit Franziska Schuten zusammengetan hatte. Hartmut bedachtsam vor seinem Bier, genau auf dem Barhocker, der jetzt leer neben ihm stand.

Wie Kien es gewohnt war, ließ er den Blick durch die Bar schweifen und beobachtete dabei die Gäste, von denen er einige kannte. Da war der Bundeswehrmajor Sass, der nicht mehr mit ihm sprach, seit Kien ihn betrunken einmal 'SA – SS' genannt hatte. Jetzt durchbohrte Sass ihn nur noch mit stechendem Blick. Kein Verlust. Der Mann war völlig humorlos, von seiner Wichtigkeit überzeugt. Noch schlimmer aber als Sass und die anderen Bundeswehroffiziere oder die immer dasselbe sagenden Botschaftsleute waren die kernigen US-Militärs und -Diplomaten, Typen wie der US-Attaché, dessen Augen wie hartgekochte Eier aussahen und der gerade wieder lautstark seinen 'Buddy-ism' zelebrierte. Eigentlich wäre hier mal eine richtige Saloon-Schlägerei fällig, dachte Kien, bei der Leute durchs Fenster flogen und so endlich Luft von außen in diesen Klimaanlagenmief hereinließen.

Heute war die Britin wieder einmal da, eine Hotelmanagerin, deren Witz noch trockener war als die Martinis, die sie Kette schlürfte, und mit der er einmal sogar tanzen gegangen war. Sie unterhielt sich gerade mit einem ihm unbekannten Mann, - vielleicht ein Journalist.

Nein, heute würde er hier keinen Zugang finden, wurde Kien klar und er beschloss, das Lokal zu wechseln. Er ging in die Nacht mit ihrer heißen, nach gegrilltem Fleisch riechenden Luft hinaus. Durch die Kiefern über ihm sah er hinauf zum roten Himmel und während er ein paar Blocks weiter durch die Wohngegend ging, schien es ihm so, als folge ihm ein dunkler Wolga. Alles okay, solange kein Lichtpunkt auf ihn fiel oder der Wagen plötzlich beschleunigte.

Das kleine armenische Restaurant hatte eine Art Veranda, von der aus man zwischen den Bäumen hindurch auf die Lichter der Stadt schauen konnte. Dazu erst einmal 200 Gramm Wodka und eine Schale Kharovaz. Der scharfe Gurkensalat mit frischem Koriander, Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch und Granatapfel war Kiens Lieblingsessen. 'Da könnte ich mich reinsetzen', hätte sein rheinischer Ex-Kollege Pütz gesagt. - Tot seit einem Jahr, tot wie Hartmut, den er ins Tal hätte begleiten sollen, obwohl dessen Berichte über die Operation seltsam schwammig gewesen waren, so dass Kien den Stand der Dinge im Grunde genommen gar nicht gekannt hatte. Sodiqov, den Solde hatte treffen wollen, war sicher eine Schlüsselfigur, ein Fergana-Magnat, der wie ein Fürst in Andijon Hof hielt, offiziell im Seidengeschäft war, aber vor allem mit Waffenhandel seine Gewinne erwirtschaftete. Er konnte die Schaltstelle zu Terroristen sein, die sich in den nahen, unwegsamen Bergregionen Kyrgystans versteckten. Kien dachte an Namangani, den berüchtigten Terroristen, der erst vor kurzem bei einem Luftschlag getötet worden war. Angeblich hatte er Amtsträger köpfen und die Köpfe vor dem Rathaus auf Stangen spießen lassen. Damals schon hatte die Regierung mit aller Härte zugeschlagen und Hunderte als Kollaborateure wahabitischen Terrors verhaftet. Vielleicht war Sodiqov aber auch eine Spielfigur der usbekischen Regierung ... Ah, der Pfefferwodka! Den Neuen konnte er getrost ins Tal fahren lassen, denn zu Sodiqov würde dieser Werder auf keinen Fall vordringen. Er, Kien, würde sich genug Zeit für seinen nächsten Schachzug nehmen, so dass sich der Gegner in Sicherheit wiegte. Wie war das? Steinitz war der Ansicht gewesen, es gäbe in jeder Situation einen besten Zug. Lasker dagegen hatte die Wirkung des Zuges auf die Psyche des Gegners für entscheidend gehalten: Überraschung, Bluff, Einlullung … Aber widersprachen sich diese beiden Überlegungen eigentlich?

Der Fall 'Solde' schien geklärt. Kien hatte sich die Unfallstelle angesehen: eine graue, gelegentlich gleißende Schotterpiste am verbrannten Hang, die dort, wo Bremsspuren hätten sein müssen, keine aufwies. Das allerdings war noch kein Beweis für ein Eingreifen von außen. Der Nexia war durch ein paar Büsche gebrochen, das konnte man erkennen -, war dann in eine Schlucht gestürzt und verbrannt. Kien hatte ein einziges Haus in der Gegend gesehen, etwa drei Kilometer vor dem Unfallort, abseits der Straße, das aussah wie eine verlassene Unterkunft für Zollbeamte oder Milizionäre, zweigeschossig, ganz anders als die Häuser der Viehhirten, und er hatte sofort gewusst, dass Solde dort ermordet worden war. Er vertraute seiner Intuition. Sie mussten Solde auf der Straße angehalten haben, hatten ihn ins Haus gebracht, dort bewusstlos geschlagen, in sein Auto gelegt, waren zur Schlucht gefahren, hatten den Ohnmächtigen auf den Fahrersitz gesetzt und den Wagen von der Straße geschoben, so dass er in die Schlucht stürzte. Dort war Solde verbrannt. Die deutschen Experten hatten keine Zeichen von Manipulation gefunden, und der Leichnam war nach Deutschland geflogen worden, wo auch die Gerichtsmediziner nichts Auffälliges hatten finden können. Kien aber wusste, dass der MXX, der usbekische Geheimdienst, Solde ermordet hatte, wollte die Mörder jedoch nicht wissen lassen, dass er es wusste. Er würde sie, wenn sie es am wenigsten erwarteten, spüren lassen, dass sie einen falschen Zug gemacht hatten. Es war ja erst ein paar Monate her, die wilden Tulpen hatten rot geblüht - die Hänge mit Blut besprenkelt.

Hinter ihm fiel etwas funzeliges Licht durch eines der Fenster auf die Veranda und er hörte den Satz auf Russisch 'Ich wette, dass die Packung noch nicht leer ist'. 'Ich wette, dass ich noch nicht tot bin', hatte Mandelstam geschrieben. Jemand stellte sich ans Fenster und blies Rauch hinaus. Auch Kien zündete sich eine Zigarette an, die letzte 'Pine' in der Packung, the trail of the lonesome pine ... Er dachte an Jakob. Was er jetzt wohl gerade machte? Hier war's elf Uhr nachts, in Deutschland acht. Ein 16-Jähriger? Saß bestimmt in seinem Zimmer und spielte ein Computerspiel, hatte vorher mit seiner Mutter zu Abend gegessen, Kien sah kurz ihr Gesicht, wie es früher einmal ausgesehen hatte, weich, ohne die Falten um den enttäuschten Mund. Wie Jakob wohl ausschaute? Sicher war er hoch aufgeschossen inzwischen, größer als er, sah ihm nicht besonders ähnlich, höchstens der Blick, nur waren die Augen nougatbraun, ganz anders als seine, die er immer, wenn er sich, was selten vorkam, im Spiegel ansah, als verstörend hell empfand.

Zuletzt gesehen hatte er Jakob vor mehr als einem Jahr, als er kurz in München gewesen war. Sie hatten vor einem Café gesessen und sich nicht viel zu sagen gehabt. Von sich aus erzählte er nichts, sein schweigsamer Sohn. Man musste die richtigen Fragen stellen. Die waren Kien aber an jenem Tag nicht eingefallen. Nur Standarderkundigungen nach Schule, Freunden, Sport. Als Jakob gefragt hatte, ob das ein Verhör werden solle, hatte Kien aufgegeben. Soweit er das beurteilen konnte, lief alles normal. Und der Junge kam offenbar recht gut mit Ingrid zurecht. Kien wollte nicht an sie denken, aber sah ihr Gesicht, früher, schön, im Halbdunkel des Schlafzimmers, meinte ihre weichen Lippen zu fühlen, ihre langen Haare umgaben ihn wie ein duftender Wasserfall, unter dem die Zeit stillstand …

Kien schenkte sich ein und trank eine Einheit. Er streckte die Beine aus, schaute auf seine Schuhe, Altmännerschuhe, und hatte plötzlich die 'Rudolf-Heß-Siedlung', wie sie früher geheißen hatte, vor Augen, das Gelände in Pullach, mit den Häusern, in denen es sich auserwählte Nazis hatten gutgehen lassen, Bormann und die Seinen, bis zum Kriegsende. Alles war verseucht von Brutalität und Ungeist. Dass der BND ausgerechnet dort seine Zentrale eingerichtet hatte. Wie war er nur bei diesem Verein gelandet? Er hatte Psychologie studiert, die alten Nazis gehasst und angegriffen, die noch überall auf guten Posten saßen, er wollte sie finden und bloßstellen, die Ärzte, Richter und Professoren. Er hatte die im Ausland Untergetauchten jagen wollen, die Mörder, die Mengeles, aber auch die Schreibtischtäter, er wollte ihnen auflauern wie der Mossad, wollte, dass sie ihre Schuld erkannten, zusammenbrachen, bereuten, Buße taten oder sich das Leben nahmen. Wollte, dass sie bestraft wurden. Deshalb hatte er den Weg zum BND gewählt, war aber damit in eine Organisation geraten, in der er umgeben von alten Nazis war. Die Zeit damals war furchtbar gewesen. Hochrangige Leute wie Filbinger, der Blut an den Händen hatte, Lenker wie Globke, Theoretiker wie Huber, die Edelriege der Geistesmenschen und Schaffenden wie Heidegger, Riefenstahl, Speer. Alles zum Kotzen. Er war nicht weit gekommen. Mitte der Sechziger und gegen Ende des Jahrzehnts hatten ihn die eifernden Studenten, deren Ablehnung der Vätergeneration sicher richtig war, abgestoßen mit ihrer Dogmatik und ihren Ausschüssen, die ihn an Tribunale vor dem Volksgerichtshof erinnerten. Nie hatte er irgendwo hineingepasst. Beim BND war sein einziger 'Vertrauter' Büttner gewesen, ein alter Hase, der es nach zehnjähriger russischer Kriegsgefangenschaft geschafft hatte, von der Organisation übernommen zu werden, und der wegen seiner Kenntnisse Russlands, der russischen Sprache und seiner Ideen schnell aufgestiegen war. Allerdings war Büttner ein Wrack gewesen, wie viele späte Kriegsheimkehrer nur unter Alkohol funktionierend. Er hatte nie von der Gefangenschaft erzählt, nur von der Zeit davor, zum Beispiel wie er bei Königsberg sein Auge durch einen Granatsplitter verloren hatte. In feuchtfröhlicher Runde hatte Büttner gerne mit den Worten 'Ich seh nicht mehr klar' sein Glasauge herausgenommen. Er hatte es am Hemd blank gerieben und wieder eingesetzt, um dann mit einem 'Schon viel besser' zum Glas zu greifen. Büttner und ihn hatte das Interesse an der russischen Literatur und am Schach verbunden. Sie passten nicht zur Meute der kalten Krieger, die nach oben kuschten und nach unten traten, weder zu den Strammstehern, die zu Anschnauzern wurden, noch zu den Machiavellisten oder den Mitläufern … Plötzlich stellte Kien sich Büttner im Sarg vor, verfallen, das Glasauge leuchtend …

Schade, dass Xenia heute Nacht nicht hier war, seine geistreiche Sparringspartnerin. Kien stemmte sich hoch, gab Grischa, der aus der Küche kam, das Geld und hätte ihm gern zum Abschied über das kratzige, blauschwarze Kinn gestrichen.

2 Ossip Mandelstam: Sherry-Brandy

3

I could be happy the rest of my life with a cinnamon girl3

Sozialistischer Schrott, dachte Jan, während er das Denkmal genauer betrachtete und wartete. Mister Bombastic, von einer Brünhilde flankiert, will irgendwas anhalten, Hulk-mäßig - Sofort einschmelzen das Ganze und 50.000 Bratpfannen draus machen, - ach nee, war ja aus Stein.

Er beobachtete zwei Hochzeitspaare, die vor dem Denkmal für Fotos posierten. Dann latschten den Fotografen zwei Gestalten ins Bild. Der Mann war als Tropenforscher verkleidet, die Frau wirkte wie ein gealtertes Blumenkind. Das mussten der Kanzler und seine Frau sein. Der bierbäuchige Indiana Jones war einfach stehengeblieben, weil er Jan als Deutschen ausgemacht hatte. Jetzt winkte er ihm zu. Die Fotografen baten 'Indy' aus dem Bild zu gehen, aber der gab weiter Zeichen. Jan tat so, als bemerke er das nicht, wartete ab, was geschehen würde und schaute in eine andere Richtung. Kurz darauf hörte er den Mann schreien: „Ich nix verstehen! Interessiert mich nich!“