Sauschwobe! - Ralf H Dorweiler - E-Book

Sauschwobe! E-Book

Ralf H. Dorweiler

4,5

Beschreibung

Ein Bombenattentat beim Stimmen-Festival in Lörrach bringt Rainer Maria Schlaichers Leben mit einem Schlag durcheinander: Seine Freundin Martina wird dabei verletzt. Schlaicher setzt alles daran, die Drahtzieher ausfindig zu machen. Aber ob beim Raubzug in der Basler Oper oder mitten unter schottischen Dudelsackpfeifern und Schweizer Trommlern, die gar nicht gut auf die "Sauschwobe" zu sprechen sind - Kommissar Schlageter kommt Schlaicher bei seinen Recherchen ständig in die Quere. Nur ein resolutes Seniorenpärchen, das für Ärger im Altersheim sorgt, kann Schlaicher helfen, einem explosiven Geheimnis auf die Spur zu kommen.

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Ralf H. Dorweiler, geboren 1973, lebt mit seiner Opern singenden Frau, seinem Sohn, den Bassets Dr. Watson und Peppi und vielen weiteren Tieren seit acht Jahren in einem der südlichsten und wohl auch schönsten Zipfel Deutschlands, dem Wiesental. Er arbeitet als Redakteur für eine Tageszeitung. Im Emons Verlag erschienen »Mord auf Alemannisch«, »Ein Teufel zu viel«, »Schwarzwälder Schinken« und »Badische Blutsbrüder«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2010 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-020-9 Der Badische Krimi Originalausgabe

In Erinnerung an Hugo Schwenderling.Danke für alles!

»Eine glückliche Ehe ist eine Ehe,in der die Frau ein bisschen blindund der Mann ein bisschen taub ist.«

Gordon Dean

1

Rainer Maria Schlaicher kurbelte hektisch am Lenkrad. Der Sprecher im Radio war definitiv in besserer Stimmung als er, von Martina ganz zu schweigen.

»In ein paar Minuten ist es so weit, dann kommt der Moment, auf den ganz SWR3-Land ungeduldig gewartet hat. Um Punkt acht Uhr werden Melanie, Thomas und Pablo die Stimmenbühne auf dem Lörracher Marktplatz stürmen. Zusammen sind sie Drei-X-Beziehung, der Top-Band-Act des Jahres. Dass ihr heutiger Auftritt für die drei ein Heimspiel ist, merkt man auch an der grandiosen Stimmung, die schon den ganzen Tag in Lörrach herrscht. SWR3 ist für euch live mit dabei, wenn die Newcomer vor 5000 Zuschauern die Stimmenbühne rocken. Sie werden auch »Late Breakfast« performen, ihren großen aktuellen Hit, der sich pünktlich in dieser Woche auf Platz eins der deutschen Charts gesetzt hat. SWR3-Reporter Klaus Semmerlich ist gerade backstage bei Melanie Weichsel, der Frontfrau von Drei-X-Beziehung. Klaus, ist Melanie schon aufgeregt?«

Martina saß mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz, während Schlaicher bereits zum dritten Mal an den Autoschlangen vorbeifuhr, die sich auf der Bahnhofstraße vor dem Migros- und dem Wallbrunn-Parkhaus gebildet hatten. Als drei aufgebrezelte Teenager vor Schlaichers Vectra über die Straße huschten und er heftig bremsen musste, knurrte sie leise. Die Luft im Wagen schien sich nochmals um ein paar weitere Grade abzukühlen. Schlaicher regelte die Klimaanlage instinktiv höher.

»Und jetzt?«, fragte Martina mit unterdrückter Wut in der Stimme. Diesen Tonfall hatte Schlaicher in den zehn Monaten ihrer mehr oder weniger festen Beziehung bereits zur Genüge kennengelernt. Jetzt dagegenzuhalten würde nur dazu führen, dass der erst schwelende Streit sich zu einem gehörigen Krach ausweitete.

»Ich schaue mal auf der anderen Bahnseite«, sagte Schlaicher möglichst sachlich.

Während Melanie Weichsel die Fragen des SWR 3-Reporters beantwortete, hörte man die Menge im Hintergrund bereits toben. Alles fieberte auf den Auftritt der Band hin, deren erster Hit, »Shaggy Town«, seit zwei Monaten auf allen Radiosendern in der heftigsten Rotation lief, die man sich vorstellen konnte. Jetzt war »Late Breakfast« dazugekommen, die zweite Single-Auskopplung, die ebenso erfolgreich zu werden versprach. Die Gruppe traf offenbar mit ihren Liedern genau den Nerv der Zeit.

Martina rutschte nervös auf dem Beifahrersitz hin und her. Sie hatte die Arme wieder entschränkt und trommelte mit den Fingernägeln ihrer rechten Hand auf der Türverkleidung herum. Seit offiziell bekannt geworden war, dass Drei-X-Beziehung die Konzerte auf dem Lörracher Marktplatz eröffnen würde, hatte Martina sich auf das Konzert gefreut. Bis vor einer Stunde. Natürlich wäre alles viel stressfreier verlaufen, wenn …

»Wenn du nur dieses eine Mal pünktlich gewesen wärst!«, motzte Martina vor sich hin.

Schlaicher fuhr die Brühlstraße entlang und suchte nach einer Lücke zwischen den Wagen, die Kennzeichen aus ganz Baden-Württemberg und der Nordwestschweiz trugen. Das Interview war vorbei, Melanie hatte sich »total« gefreut, gleich in ihrer Heimatstadt auf der Bühne zu stehen und der Moderator im Studio kündigte tatsächlich »Late Breakfast« an, um die Hörer auf das Livekonzert einzustimmen.

Endlich fand Schlaicher eine Lücke. Die war zwar fast ein wenig zu eng für seinen Wagen, aber bevor er sie dem Subaru hinter ihm überließ, quälte er sich lieber mit viel Kurbelei hinein. Er stand etwas zu weit vom Bordstein entfernt, doch das war Martina egal. Bevor er noch einmal versuchen konnte, ein paar Zentimeter nach vorne zu fahren, um dann gleich wieder den Rückwärtsgang einzulegen, stieg sie aus. Schlaicher schaltete den Motor ab, um ihr zu folgen. Das Letzte, was er vorher noch im Radio hörte, war: »Und da kommen Sie! Drei-X-Beziehung!«

Martina ging so schnell, sie rannte fast. Schlaicher hatte Mühe, hinter ihr herzukommen.

»Mach schon! Wir sind zu spät«, rief sie ihm zu, ohne sich umzublicken, was Schlaicher in Joggingschritt fallen ließ, bis er sie eingeholt hatte. Die Warnlampe am Bahnübergang blinkte, als sie sich ihr näherten, aber Martina flitzte durch, noch bevor sie sich absenkte. Schlaicher, der, mittlerweile leicht schnaufend, bezweifelte, dass er die Geschwindigkeit seiner Freundin noch lange durchhalten konnte, hetzte hinterher. Die Schranke berührte ihn noch leicht am Rücken.

Je näher sie dem Marktplatz kamen, umso voller wurde es. Und umso lauter. Drei-X-Beziehung hatte angefangen zu spielen, die Menge tobte. Einige Security Leute in ihren mit gelben Lettern bedruckten schwarzen Arbeits-T-Shirts fertigten mit unbeteiligtem Gesichtsausdruck die Nachzügler ab. Die Typen sahen so aus, als seien ihre muskulösen Körper alle in der gleichen Fitnessbude gezüchtet worden.

Schlaicher war ein bisschen erleichtert, dass sie wenigstens nicht die Letzten waren. Martinas Stimmung hatte sich auch tatsächlich massiv gebessert, nun, da sie »ihrem« Konzert so nahe war. Während sie fast geduldig darauf wartete, ihr Ticket vorzeigen zu dürfen, um endlich hinter die hermetisch um den ganzen Marktplatz gezogene Absperrung zu kommen, nahm sie Schlaichers Hand. Sie strahlte ihn an und wippte mit dem Kopf.

Schlaicher lächelte zurück und genoss die zarte Wärme ihrer Hand in seiner. Nachdem sich die ganze Lage jetzt ein bisschen entspannte, gelang es ihm sogar, die verkrampft hochgezogenen Schultern sinken zu lassen.

Sie traten auf den Marktplatz. Direkt vor ihnen erhob sich die Flanke der großen, mit blauem Stoff bezogenen Bühne. Davor türmten sich riesige Lautsprecher, die den rockig-poppigen Sound der Band herausbrüllten.

»Das lässt aber auch keiner aus heute«, stöhnte Schlaicher angesichts der Masse an Menschen, durch die er Martina zu folgen versuchte. Er drückte sich an einer Clique Jugendlicher vorbei, alle im passenden Fan-Outfit. Vor ihm tat sich eine Wand aus Prosecco haltenden Mittvierzigerinnen auf, die fast so laut wie die Musik waren. Daneben hatte ein Seniorenklub unverrückbar Position bezogen. Drei-X-Beziehung bot einfach allen etwas. Dass sie dazu noch aus Lörrach kamen, brachte die Euphorie in Südbaden nur noch mehr zum Kochen.

Noch bevor die letzten Töne des Liedes ausklangen, reckten sich Tausende von Händen nach oben und klatschten frenetischen Beifall. Schlaicher bemerkte, dass die meisten Fenster der angrenzenden Häuser mit Blick auf die Bühne voll besetzt waren. Offensichtlich hatten die Anwohner Freunde eingeladen und veranstalteten Konzertpartys oder machten vielleicht sogar noch den einen oder anderen Euro, weil ganz besonderen Fans ein ganz besonderer Blick auf ihre Stars sicher etwas mehr wert war.

Schlaicher richtete seinen Blick nach vorn. Die Sängerin, der Gitarrist und der Schlagzeuger wirkten auf der großen Bühne fast ein wenig verloren. Links von ihnen tänzelten drei sehr bewegliche Frauen, deren Haut den gleichen kaffeebraunen Farbton hatte wie die des Schlagzeugers. Ihre Mikrofone wiesen sie als Backgroundsängerinnen aus. Rechts wartete ein glänzender Flügel auf seinen großen Auftritt. Obwohl die tief stehende Sonne einen Teil des Platzes noch beschien, liefen die gewaltigen Strahler an den silberfarbenen Gerüsten schon auf vollen Touren und zauberten flackernde, bunte Muster auf die Bühne. Eine einzige Stelle ganz vorn in der Mitte der Bühne schien der Mittelpunkt allen Lichts zu sein. Dort stand eine Frau in einer Jeans und einem weißen Tanktop, das ihre gebräunte Haut zur Geltung brachte. Sie hielt ein Mikro in der Hand und ließ den Blick über die Menge schweifen. Auf Schlaicher wirkte sie wie ein Engel ohne Flügel. Mit blondem Haar und Augen, die, obwohl weit weg, doch alle Blicke magisch anzogen. Sie tanzte leicht und anmutig, als ein Gitarrensolo einsetzte.

»Hey, komm weiter«, schrie Martina und zog an seinem Arm. Schlaicher wandte den Blick von der faszinierenden Lichtgestalt ab und folgte Martinas Stimme. Sie selbst war schon wieder fast außer Sicht. Er zwängte sich an den Senioren vorbei und weiter durch einen Dschungel von Leibern. Es ging fast von allein. Irgendjemand hatte als Erstes den Weg geteilt, und jeder Nachfolgende konnte gar nicht anders, als dem Druck von hinten in die sich fast schon wieder schließende Lücke nachzugeben. Allerdings handelte es sich dabei um eine unfassbar langsame Art der Fortbewegung. Für ein paar Schritte weg vom dichtesten Pulk brauchten sie fast den ganzen Song. Nur damit Martina ihm anschließend ins Ohr rufen konnte: »Rainer, ich habe Durst.«

Schlaicher hätte am liebsten »Dann hol dir doch was zu trinken« geantwortet. Und »Bring mir auch was mit, wenn du grad da bist«. Aber Martinas etwas verlegenes Lächeln, das sie ganz genau dosiert einzusetzen wusste, sorgte dafür, dass er gar nichts erwiderte, sondern nur nickte. Es war sowieso zu laut, um viel zu reden.

Die nächste Möglichkeit, an etwas Trinkbares zu kommen, war das Lokal »Der Wilde Mann«, das vor seinem Eingang eine improvisierte Theke aufgebaut hatte. Allerdings war der Weg dorthin von einem feierwütigen Mob von Leuten versperrt, den zu umgehen genauso unmöglich schien, wie sich mitten hindurch zu kämpfen.

»Ich warte auf dich«, rief Martina dicht neben Schlaichers Ohr.

»Kommst du nicht mit?«

»Was?«

»Ob du nicht mitkommst!«

»Ich warte auf dich!« Im gleichen Moment machte sie jemanden in der Menge aus. »Petra!«, schrie sie begeistert. Und informierte Schlaicher: »Ich komme gleich wieder!«

Das Lied endete. Und Schlaichers Frage, was sie trinken wolle, ging im euphorischen Gebrüll unter. Martina zwängte sich furchtlos in die Richtung, in der sie ihre Freundin wähnte. Auch Schlaicher machte sich auf den Weg.

»’tschuldigung!«, rief er immer wieder, während er sich zwischen den vielen Menschen hindurchdrängte, die Theke, an der Bier und Cocktails ausgeschenkt wurden, fest im Blick. Ein Bär von einem Mann wurde plötzlich gegen ihn gedrückt, und er wäre fast gefallen, wenn nicht der Rücken einer Frau ihm Halt gegeben hätte.

»’tschuldigung!«, rief er ihr zu. Sie funkelte ihn böse an. Der große Mann hatte sich natürlich nicht entschuldigt. Schlaicher graute schon vor dem Rückweg, auf dem er zwei Plastikkelche mit bunten Drinks, etwas hineingeschnittenem Obst und je einem Fähnchen würde befördern müssen.

»’tschuldigung!«, rief er erneut. Die Frau vor ihm schien ihn gar nicht zu bemerken. Sie schaute auch nicht zur Bühne, sondern über sie hinweg. Schlaicher folgte ihrem Blick und staunte nicht schlecht. Nicht nur, dass es später, wenn es dunkel wäre, sicherlich eine wilde Lichtshow geben würde, auch für die noch bestehende Helligkeit hatten sich die Veranstalter etwas ausgedacht. Über der Bühne flog ein Helikopter, viel zu klein, um einen Passagier oder auch nur einen Piloten zu beherbergen, aber dennoch ein recht ansehnliches Modell. Dass sich die Rotorblätter drehten, sah man nur daran, dass die Luft direkt über dem Hubschrauber zu glänzen schien. Unter dem fast ballförmigen Körper der ferngesteuerten Flugmaschine waren zwei Kufen, und daran hing an Schnüren, die sich gegen den Himmel kaum ausmachen ließen, ein Paket, darunter baumelte eine längliche Rolle. Der Hubschrauber kam schnell und ziemlich niedrig näher und blieb etwa über der Mitte des Platzes in der Luft stehen. Schlaicher bemerkte, dass nun auch andere Leute auf den Helikopter zeigten oder einfach zu ihm hochblickten.

»Geil, ein cooles Teil«, rief ein Junge. Überall wurden Handys in den Himmel gehalten, um die einmalige Szene auf Foto oder als Video zu verewigen. Jubel kam auf, als der Hubschrauber sich wieder bewegte. Er flog auf Schlaicher zu, bis ganz an den nördlichen Rand des Platzes, schlug dann einen Bogen und zog einen großen Kreis über dem gesamten Publikum.

»Die machen echt eine coole Show!«, hörte Schlaicher aus den vielen Gesprächsfetzen um sich herum heraus. Ja, das stimmte wirklich. Der Hubschrauber kam fast zeitgleich mit den letzten Tönen des Liedes wieder genau über der Mitte des Platzes zum Stehen und drehte sich langsam um sich selbst. Applaus, begeisterte Pfiffe, fröhlicher Jubel und wildes Gegröle folgten. Die Stimmung auf dem Marktplatz war auf dem Höhepunkt, doch Schlaicher war sich sicher, dass das noch nicht alles gewesen sein konnte. Da war immer noch dieses Paket, das der Helikopter transportierte. Was für eine Überraschung hatten die Veranstalter sich da nur ausgedacht? Er vergaß sogar, dass er eigentlich unterwegs war, um etwas zu trinken zu besorgen. Stattdessen jubelte er einfach nur mit. Was für ein Konzert!

»Danke!«, rief Melanie, hundertfach verstärkt durch die großen Boxentürme. »Das ist ja echt eine voll krasse Idee!« Sie zeigte auf das Hubschraubermodell, und ihr Publikum gab noch einmal alles. »Vor allem passt es, weil jetzt einer meiner Lieblingssongs kommt, der auch was mit fliegen zu tun hat. Den hab ich hier in Lörrach geschrieben …« Der Lärm des Publikums war lauter als die Boxen. Auch von Weitem nahm Schlaicher das engelsgleiche Lächeln auf Melanies Gesicht wahr. Man sah ihr an, dass sie es liebte, auf der Bühne zu stehen. Und ihm gefiel es, sie auf der Bühne zu sehen, ihr zuzuhören. Jetzt führte sie das Mikro ganz nah an ihren Mund und rief: »Denn Lörrach ist meine …« Sie hielt es ins Publikum, und alle riefen »Shaggy Town!«

Schlaicher hatte gedacht, dass der Jubel nicht noch lauter werden konnte. Aber er wurde es. Gleichzeitig setzte die Musik ein, fetzige Gitarrenriffs und ein fordernder Beat. Die farbigen Lichtspots schossen wie verrückt gewordene Suchscheinwerfer hin und her, und über den Boden der Bühne zogen plötzlich schwere Nebelschwaden, die sich langsam nach oben hin ausbreiteten.

Überall um Schlaicher herum sangen die Leute mit, und auch er selbst verlor seine Hemmung und stärkte den Chor aus fünftausend Kehlen mit seiner Stimme. Alle Leute, die er hier in der Gegend kannte, hatten ihm gesagt, dass die Stimmen-Konzerte auf dem Marktplatz eine unglaubliche Atmosphäre boten. Und, Mann, sie hatten noch untertrieben. Am liebsten hätte er jetzt Martina im Arm gehabt, um mit ihr zusammen den Refrain zu singen. Den kannte wirklich jeder:

I will always find my way back to Shaggy Town,

Shaggy Town,

Loving you, loving you, already flying, flying …

Als die Menge das erste »Shaggy Town« sang, flog der Hubschrauber senkrecht in die Höhe. Bei »already flying« setzte er zum Vorwärtsflug an und verlor schnell an Höhe. Ein paar Leute duckten sich, andere sprangen in die Luft und versuchten, das Paket zu fangen. Doch so tief kam das Modell nicht, dass das Ducken nötig oder das Erreichen möglich war. Stattdessen gewann es unter dem Jubel der Masse wieder an Höhe und flog zurück zu seinem Platz.

»Wie krass ist das denn?«, rief Melanie in einer Textpause. Sie hüpfte auf und ab und lief ständig über die Bühne, sang die zweite Strophe, lief zu Pablo, dem kubanischen Schlagzeuger, und hielt das Mikro in die Menge, als der zweite Refrain anstand.

»I will always find my way back to Shaggy Town, Shaggy Town«, sangen alle, und in dem Moment entrollte sich der Stoff unter dem Paket, und ein Banner wehte im Wind.

»Was ist das?«, fragte jemand. Schlaicher hatte es sofort erkannt, und wie die meisten anderen begrüßte er das Banner jubelnd. Auf schwarzem Untergrund war ein weißer Totenkopf abgebildet. Eine Piratenflagge!

Eine Sekunde später war die Flagge nicht mehr. Man sah nur noch einen grellen Lichtblitz. Gleichzeitig schoss ein ohrenbetäubender Knall über den Platz, ein Knattern wie von mehreren Maschinengewehren. Schlaicher spürte einen heftigen Luftschlag in seinem Gesicht. Vor der Bühne, dort, wo der Hubschrauber das Banner entrollt hatte, hing jetzt ein Flammenball in der Luft. Brennende Teile flogen herum. Ein Mann neben Schlaicher begann zu schreien. Instinktiv hielt er schützend die Arme über seinen Kopf. Das war keine Show mehr.

Die Musiker hörten auf zu spielen, ein schriller Pfeifton heulte sekundenlang aus den Boxen. Melanie brüllte ein »Hey!« ins Mikrofon. Panische Schreie ertönten, und die Menge kam wie in Zeitlupe in Bewegung. Die Frau, die Schlaichers Blick zum Helikopter gelenkt hatte, drehte sich in seine Richtung. Ihre mit zu viel Kajalstift umrandeten Augen waren so weit aufgerissen wie ihr Mund. Sie schrie und drängte gegen Schlaicher, der noch immer starr dastand. Die Wand aus Menschen hinter ihm gab quälend langsam nach, während der Druck von der Bühne aus immer stärker wurde. Die Ohrringe der Frau drückten sich schmerzhaft in seine Schulter. Das war keine Show, dachte Schlaicher wieder.

»Oh Gott«, hörte er Melanie bestürzt ins Mikrofon sagen. Sie senkte es erst, nachdem sie tonlos hinzugefügt hatte: »So viel Blut!«

Darauf folgte pure Hysterie. Wer nicht schon von der in Richtung aller Ausgänge drängenden Menschenmasse ergriffen worden war, wer das Blut nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, begann spätestens jetzt, von dem plötzlich alles erfassenden Geruch der Furcht angesteckt zu werden. Schlaicher hingegen ging nur noch ein Gedanke durch den Kopf: Martina!

Mit aller Kraft kämpfte er gegen die Massen an. Doch anstatt näher an Martina heranzukommen, wurde er zum Ausgang am nördlichen Ende des Marktplatzes gedrückt. Er schaffte es, hinter den großen Steinquader zu kommen, der die Menge wie ein Fels in der Brandung teilte. Dahinter hielten sich fünf verängstigte Mädchen an den Händen. »Wir müssen hier weg!«, hörte Schlaicher eines davon quietschen. Gleich darauf waren sie im Strom der panischen Masse verschwunden.

Schlaicher holte tief Luft und warf sich gegen die Menschen, die an der rechten Seite des Quaders vorbeidrängten. Er wurde abgetrieben wie ein Schwimmer von einer zu starken Strömung, und irgendjemand boxte ihm schmerzhaft gegen den Oberkörper, doch dann war er plötzlich hindurch und stand relativ sicher am Getränkestand des »Wilden Mannes«, der nur an der der Bühne zugewandten Seite stark bedrängt war. Zwischen umgeworfenen Krügen und Kunststoffgläsern stand ein Jugendlicher auf dem aus Tischen gebildeten Tresen und rief ständig: »Sandra! Sandra!« Schlaicher nutzte den Moment und zog sich ebenfalls auf die unter dem ungewohnten Gewicht wackelnden Tische. Endlich stand er frei genug, um sich umzuschauen.

»Martina! Martina!«, brüllte er. Doch das war, als wollte er gegen einen Düsenjet anschreien. Von hier aus sah Schlaicher nun auch das Blut. Die Menschen, die davon besudelt im Pulk auf den Ausgang zusteuerten, mussten in direkter Nähe der Explosion gewesen sein. Eine Frau hielt ihren Kopf und führte danach die Hand vors Gesicht. Sie war leuchtend rot. Wie grell Blut sein konnte. Die Frau wurde blass und verlor den Halt, ihr Gesicht war plötzlich einen Kopf tiefer, dann verschwand sie unter der trampelnden Menge. Sie tauchte nicht wieder auf. Angewidert wandte Schlaicher den Blick ab von den Menschen, die für einen Moment zu wachsen schienen, wenn sie über die gestürzte Frau liefen.

»Martina!«, brüllte er, wohl wissend, dass sie ihn nicht hören konnte. Aber es war im Moment das Einzige, was er tun konnte.

Allmählich kamen die blutenden Menschen näher. Sie drängten und quetschten, schrien und klagten, doch Schlaicher fiel auf, dass kaum jemand wirklich Schmerzen zu haben schien. Auf einmal kam ihm die Farbe des sie bedeckenden Blutes nicht nur hell, sondern viel zu hell vor. Die Haare wirkten fast wie gefärbt, hingen nicht in verklumpten Strähnen von den Köpfen, wie man eigentlich erwarten würde. Dann hörte Schlaicher jemanden rufen: »Es isch numme Faarb. Verdammi nomoliine. Loos, hör uff so z’drugge, du Dubel.« Der Rest ging im Lärm unter, aber Schlaicher wusste, dass der Unbekannte recht hatte. So, wie die Leute aussahen, hatten sie rote Farbe abbekommen. Aber es gab auch Leute, die wirklich bluteten und sich die Gesichter hielten oder einen Arm. Ihr Blut floss ganz anders, flüssiger und lebendiger.

Langsam wurde der Platz leerer, und die schwindende Menge gab den Blick frei auf am Boden liegende Menschen. Manche krümmten sich in Schmerzen wie sterbende Fische, andere lagen reglos da. Ganz in der Mitte war am meisten Bewegung. Dort knieten Leute bei den Verletzten, hielten Köpfe und vergossen Tränen. Rot gesprenkelte Gestalten auf einem von Farbpfützen fleckigen Platz.

Schlaicher konnte Martina nirgends sehen. War sie mit den anderen zu irgendeinem Ausgang gespült worden?

»Sandra!«, rief der Junge neben Schlaicher. Sein Ruf klang zum ersten Mal nicht mehr verzweifelt. Er sprang vom Tisch und nahm ein Mädchen in den Arm, das einiges an Farbe abbekommen hatte. Sie verteilte bei der Umarmung einen Großteil davon auf seiner Kleidung. Wie in Trance ließ Schlaicher seinen Blick über die immer noch hinausströmenden Menschen an den Rändern des Marktplatzes schweifen. Als er Martina nirgends entdecken konnte, konzentrierte er sich wieder auf die Mitte. Er schüttelte den Kopf über die sinnlose Kraft, die die Mitte des Platzes in ein Schlachtfeld verwandelt hatte, wo die zerfetzten Teile des Helikopters zwischen Plastikgläsern, fallen gelassenen Jacken und Verletzten lagen und Reste der Explosion rauchig vor sich hin brannten.

Dann sah er Martina. Ihr Körper, der etwas abseits der größten Zerstörung auf dem Boden lag, bewegte sich nicht. Gar nicht.

»Martina!«, schrie er und sprang von dem Tisch, hinein in die mittlerweile zerklüftete Menge. Er schubste einen Mann zur Seite, der ihm im Weg stand, und wurde von einer Frau fast umgeworfen, raffte sich aber wieder auf, den Blick immer nur auf Martina geheftet. Er ging neben ihr auf die Knie, drehte ihren Körper auf die Seite, schrie spuckend ihren Namen.

Martinas mit blutroter Farbe besudelter Arm klatschte schlaff wie der einer Puppe neben ihm auf das Pflaster.

2

»Es wird dir wirklich gefallen, Hilde. Du wirst schon sehen«, sagte Bernd Kohler-Wiesenkamp und schaute in den Rückspiegel. Seine Schwiegermutter saß auf der Rückbank und machte ein unglückliches Gesicht.

»Bernd«, zischte seine Frau Jutta vom Beifahrersitz aus und blickte ihn zornig an. Er wollte protestieren, doch dann wurde ihm klar, welchen Fehler er gemacht hatte.

»Oh, entschuldige, Hilde«, sagte er schnell. »Ich meine natürlich: Du wirst schon merken.«

»Dadurch, dass du darauf herumreitest, wird es auch nicht besser«, fauchte Jutta. Ihr Oberkörper ruckte vor und wurde vom gespannten Sicherheitsgurt gehalten, als Bernd eine Kurve etwas plötzlich nahm.

»Bernd!«

»Entschuldigung. Alles klar bei dir, Hilde?«

Hilde Wiesenkamp nickte stumm. Ihr war es egal, im Auto hin- und hergeschüttelt zu werden. Ihr waren die erbärmlichen Versuche, die unangenehme Situation mit passablen Gesprächen erträglicher zu machen, gleich. Sie wusste sehr genau, wohin es ging. Der Halt dieses Wagens würde nicht nur das Ende der Fahrt bedeuten, sondern auch die Endstation eines langen, erfüllten Lebens.

Ihre Geburt hatte im Sommer 1934 unter keinem guten Stern gestanden. Zumindest hatte ihr das ihre Mutter später erzählt. Fast einen Monat zu früh hatten die Wehen eingesetzt und Hilde das Licht der Welt in ihrem Elternhaus in der Mendelssohnallee in Dresden erblickt. Bis in den Oktober war niemand sicher gewesen, dass die kleine Hilde nicht bald wie ihre Schwester im Familiengrab statt im Bettchen in der Schlafkammer ihrer Eltern liegen würde. Es war das Jahr, in dem Lehár in Wien seine letzte Operette dirigiert hatte: Giuditta. Die Melodien aus diesem Werk wurden damals in Windeseile zu Gassenhauern, die auch in Dresden jeder schmetterte, der singen konnte. Allen voran »Freunde, das Leben ist lebenswert«. Als hätte das zu kleine Bündel Mensch dies verstanden, war Hilde von einem Tag auf den anderen mit einer unglaublichen Kraft gewachsen und hatte sich zu einem gesunden Baby entwickelt. Sie war nie groß geworden, aber schön. Sie war nicht wichtig geworden für die Menschheit, aber für ihre kleine Familie, die sie nach dem Krieg mit Erich Wiesenkamp, einem Chemiker aus Schleswig, im südbadischen Rheinfelden gegründet hatte. Erich, Jutta und sie selbst. Zwanzig Jahre später kam ein junger Heißsporn dazu, der immer redete, ohne vorher zu denken. Bernd Kohler hatte Jutta schon ein Jahr, nachdem sich die beiden kennengelernt hatten, geheiratet.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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