Scarlet Cheeks:  Unschuldige Verlockung - Alexis Kay - E-Book

Scarlet Cheeks: Unschuldige Verlockung E-Book

Alexis Kay

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Beschreibung

Von zu Hause ausziehen … Check! Auf eigenen Beinen stehen … Check! Sich Hals über Kopf verlieben … Check!? WTF?! Letzteres steht eigentlich nicht auf Irinas To-Do-Liste und dennoch hätte sie es beinahe wörtlich genommen, als sich ihr Absatz, beim Fuß fassen in der neuen Heimat, zwischen den Pflastersteinen verkantet. Ihr Retter ist Hotelerbe Alain Foster - eingefleischter Junggeselle und Frauenheld, dessen Lebensmotto lautet: Keine festen Beziehungen, keine Affären mit einheimischen Frauen, sondern einzig und allein One-Night-Stands mit Touristinnen. Doch seine Prinzipien sind zum Scheitern verurteilt, als Irina in sein Leben stolpert. Diese gottverdammte Jungfrau in Nöten weckt nicht nur seinen Beschützerinstinkt – und das ununterbrochen! –, sondern auch so manch verloren geglaubtes Gefühl, das tief in ihm schlummert. Noch sträubt er sich dagegen, aber wie lange kann er der (unschuldigen) Verlockung widerstehen? Überarbeitete Neuauflage von Teil 1 des "Scarlet Cheeks"-Zweiteilers

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Alexis Kay

Scarlet Cheeks 1: Unschuldige Verlockung

© 2015/2021 Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg

(www.art-for-your-book.de)

© Coverfoto: Shutterstock.com

ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-516-7

ISBN eBook: 978-3-86495-517-4

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses eBook darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches anderes Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Autorin

Widmung

Im Jahr 2020 ist die Mutter genau doppelt so alt wie

ihr Sohn …

Keine Angst, das wird keine typische Matheaufgabe. Ich habe nicht vor, meine Leser*innen schon auf den ersten Seiten zu vergraulen. Hier und jetzt muss niemand die grauen Gehirnzellen anstrengen, mit Zahlen und Variablen jonglieren, um eine Gleichung aufzustellen und die Aufgabe zu lösen …

Bild ich’s mir ein, oder habe ich gerade tatsächlich ein erleichtertes Aufatmen gehört?

Nichtsdestotrotz.

Meine Leser*innen können sich nun also beruhigt zurücklehnen, es sich so richtig gemütlich machen und in die Geschichte von Irina und Alain eintauchen.

Viel Vergnügen!

Lösung:

Kay,

Kapitel 1

„Uaaah!“, dringt es laut und herzhaft aus meinem weit aufgerissenen Mund, während ich räkelnd alle Glieder von mir strecke. Eine lange Nacht mit furchtbar wenig Schlaf liegt hinter mir.

Nein, ich bin nicht um die Häuser gezogen, reagiere auch nicht auf den bevorstehenden Vollmond und am allerwenigsten habe ich etwas nicht Jugendfreies getrieben. Letzteres ist … war unter diesem Dach undenkbar.

Zunächst konnte ich vor lauter Gedanken den Schlaf nicht finden, hinzu kamen Aufregung und Vorfreude, die mich immer wieder wachkitzelten … und dann war da noch dieses Stechen in meinem Herzen, das ich nach wie vor verspüre: Wehmut. Vielleicht wollte ich einfach nur den Abschied von meinen vertrauten vier Wänden etwas hinauszögern.

Den zartrosa getönten Wänden, die wohl ihren farbigen Anstrich erhalten haben, während ich noch ein kleines Mädchen war – ganz in meiner Prinzessinnen-Phase.

Erst kam die Zeit, in der ich mit meinen zierlichen Händchen Höhlenmalerei betrieben habe. Später habe ich die Wände mit Bildern von Pferden geschmückt, die jedoch schon bald Balletttänzerinnen in Posen wie Arabesque, Attitude, Croisé und Scherensprüngen weichen mussten. Als schwärmerischer Teenager wurden sie mit Postern von Boygroups tapeziert und die Einschlaglöcher der Nägel – anstatt sie sauber zuzuspachteln – damit spielerisch verdeckt. Inzwischen sind die Wände wieder kahl und tragen die Spuren der verflossenen Jahre wie Gekritzel, kleine Löcher und vergilbte Klebereste an sich, und wie sie wurde auch ich von der Vergangenheit geprägt.

Neunzehn Jahre ist es her, seit meine Eltern mit mir in diese schmucke Stadtwohnung gezogen sind. Die ersten dreizehn Jahre verbrachte ich wohl behütet in der Obhut beider Elternteile. Eine glückliche Familie wie im Bilderbuch: Vater, Mutter, Kind. So, wie es eigentlich sein sollte, es tief in mir verankert ist und ich es in Zukunft selbst erstrebe, falls ich den Richtigen dazu finde.

Nicht, dass ich explizit danach suche. Mit meinen beinahe zwanzig Jahren bleibt mir dafür noch genügend Zeit. Ich habe also keine Eile. Kein Ticken im Hinterkopf. Doch meine Unschuld schwebt wie ein Damoklesschwert über meinem Haupt, was ich nicht zuletzt Paps zu verdanken habe.

Oh, Jesus, Maria und Josef! Ich wurde nicht streng katholisch erzogen, um einen Zusammenhang mit meiner Konfession schon vorneweg auszuschließen. Dennoch möchte ich meine Jungfräulichkeit nicht an irgendeinen oder den erstbesten Deppen verschwenden.

Scheiße! Widersprüchlicher kann man es nicht in Worte fassen. Meiner These nach müsste der Mann, dem ich meine Unschuld schenke, der Mann meines Lebens werden, und das genau in dieser Reihenfolge. Also nicht nach dem Motto: Kein Sex vor der Ehe!

Aber wie meine Mutter immer zu sagen pflegte: Bis dahin fließt noch viel Wasser die Rhone hinunter!

Still vor mich hin lächelnd erinnere ich mich an die Zeit, als ich wie jedes kleine Mädchen, das ein gutes Verhältnis zu seinem Vater hegt, am liebsten diesen geheiratet hätte, und peinlich, peinlich ist mir diese Vorstellung jetzt, wenn ich daran zurückdenke. Doch Mamas früher Tod vor sechs Jahren riss unser beider Leben gewaltig aus den Fugen. Unsere Vater-Tochter-Beziehung litt unweigerlich darunter, bekam einen regelrechten Knacks.

Nicht zu vergleichen mit dem Eselsohr, das Paps einst anstelle eines Lesezeichens in die obere Ecke der Seite meines Lieblingsmärchenbuches Schneewittchen und die sieben Zwerge, aus dem er mir abends vor dem Zubettgehen immer vorgelesen hat, falzte. Sondern eher zu vergleichen mit dieser tiefen, eingerissenen Furche auf der letzten Seite, die entstand, als ich ihm als Teenager wutentbrannt und mit den Worten: „Steck dir dein ödes Märchen sonst wohin! Aus dem Alter bin ich raus!“, das Buch gegen die Brust geschleudert habe.

Nichtsdestotrotz war ich das einzige Überbleibsel ihrer Liebe und dementsprechend wurde ich auch behandelt. Aus seiner kleinen Prinzessin ist eine Prinzessin im goldenen Käfig geworden. Der Vater, der seine Tochter auf Händen trug, ihr jeden Wunsch von den Augen ablas und auch manchmal ein Auge zudrückte, sich von ihr um den kleinen Finger wickeln ließ, mutierte zu einem gestressten, übereifrigen und vom Beschützerinstinkt getriebenen Vollzeit-Daddy.

Daddy? Despot wäre wesentlich angemessener.

Aber jetzt tue ich ihm wohl unrecht. Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich damals mitten in meiner Pubertät steckte, also werde ich es bei der Bezeichnung Übervater belassen.

Mittlerweile haben sich die Wogen geglättet. Die letzte Seite von Schneewittchen wurde gebügelt und geklebt und wir haben uns einigermaßen zusammengerauft. Doch wie man meinem Buch die Strapazen heute noch ansieht, blieb auch bei mir der Ruf als unantastbare Hauptmannstochter haften.

Die Jungs in meinem Alter fürchteten meinen Vater. Ausreden wie zum Beispiel: „Mir ist ein Marschbefehl ins Haus geflattert“, „Ich steh kurz vor der Aushebung“ oder „Bald muss ich in die RS einrücken“, waren an der Tagesordnung und ziemlich frustrierend. So habe ich mit süßen sechzehn den Entschluss gefasst, dass ich mich nur auf einen Typen einlasse, der Zivilschutz leistet, die RS respektive Rekrutenschule schon hinter sich gebracht hat oder alt genug ist, Paps die Stirn zu bieten. Ersteres traf auf Riley zu. Und das desaströse Date mit ihm vor einem knappen Jahr hat auch dazu geführt, dass ich die Liste mit einem fetten 25+ergänzt habe. Von da an habe ich den unreifen Jungs in meinem Alter die kalte Schulter gezeigt.

Ich setze mich auf. Mein Blick fällt auf einen Stapel gepackter Kisten, die von einem Umzugsunternehmen in mein neues Zuhause nachgeliefert werden sollen. Toilettenutensilien, Unterwäsche, Strümpfe, warme Kleidung, darunter meinen platzsparend vakuumverpackten Skianzug – sicher ist sicher, schließlich wohne ich von nun an in der Arktis –, Eisbärenabwehr… äh … Paps’ Pfefferspray und, und, und habe ich in meinem Rollkoffer verstaut, den ich neben der Zimmertür abgestellt habe, damit ich ihn nicht vergesse.

Wie graust es mir, in die Kälte ziehen zu müssen, habe ich den kräftezehrenden Winter doch gerade erst hinter mich gebracht.Es ist April. Die Tage werden wieder länger und vor allem wärmer. Im Rhonetal hat der Frühling bereits begonnen. Es grünt, die Blüten sprießen, während die mächtige Bergkette, die uns umgibt, noch in eine Schneedecke gehüllt ist. Einige davon tragen die weiße Pracht das ganze Jahr über. Und jetzt verschlägt es mich ausgerechnet nach Zermatt: 1.000 Meter Höhenunterschied und durchschnittlich gemessene acht Grad kälter, 365 Tage im Jahr Skifahren dank Gletscherpisten. Schon der bloße Gedanke daran lässt mich erschaudern, da brauche ich gar nicht erst aus dem Fenster zu sehen und die noch verschneiten Berggipfel zu betrachten.

Mein Vater lässt meiner Cousine Corinne und mir eine Drei-Zimmer-Mansardenwohnung herrichten. Sie befindet sich im Haus meiner Tante, seiner Schwester.

So ganz lässt er mich also nicht von der Leine.

Seit Mama mit mir schwanger war, pflegte Paps nur noch telefonischen Kontakt zu Marie. Zu seinen Eltern hat er den Kontakt wohl ganz abgebrochen. Soweit ich mich entsinnen kann, hat Paps keinen einzigen Fuß mehr in sein Heimatdorf gesetzt.

Schon als Kind habe ich eher widerwillig meine Winter- beziehungsweise Sportferien bei Tante Marie und ihrer Familie verbracht. Selbst die Skipisten, die Eisbahn, die Rodelbahn, der Kletterpark, das Kino und die vielen Geschäfte vermochten meine Laune nicht zu bessern. Einziger Lichtblick: meine Cousine Corinne, meine beste Freundin.

Obwohl das abgelegene, urige Dörfchen für Touristen einiges zu bieten hat, während der Hochsaison steigt die Einwohnerzahl von 6.000 auf bis zu 35.000 Seelen an, zeigt es auch seine Schattenseiten. In den Wintermonaten ist es manchmal von der Außenwelt abgeschnitten, ausgestorben, falls die Lawine im Spalt des imposanten Bergtrichters ihre Bahn nimmt, die Gleise und die Zufahrtsstraße, die ausschließlich mit Bewilligung befahren werden darf, unter sich begräbt.

Da läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Kein Wunder, dass es meine Mutter in die Stadt gezogen hat und mein Vater ihr aus Liebe gefolgt ist. Erst seit dem Tod seiner Frau zieht er es wieder in Erwägung, zu seinen Wurzeln zurückzukehren.

Vielleicht rührt meine Abneigung also auch daher, weil Mama es mir als Kind so eingetrichtert und ihren Unmut auf mich übertragen hat …

Ich sollte die Vorurteile abstreifen und mein Herz für meine neue Heimat – meinen Ursprung öffnen …

Umstrukturierungen beim Bund zwingen Paps dazu, aufs Militärareal zu ziehen und nicht mehr zu pendeln. Mich mitzunehmen stellte keine Option für ihn dar, warum auch immer, und da ich ihm hoch und heilig versprochen habe, mich in die Obhut von Tante Marie zu begeben, gab es auch keinen Grund mehr, die bevorstehende Beförderung zum Major auszuschlagen.

LauterMänner in Uniform! Lechz!

Schmunzelnd verschränke ich die Arme hinter dem Kopf und lasse mich schwärmend zurück aufs Bett fallen. Paps’ Beweggründe robben gerade vor meinem inneren Auge durch den Schlamm oder sie formieren sich, stehen stramm in tarnfarbenen Anzügen, das Sturmgewehr vorgehängt, in Reih und Glied und salutieren.

„Hauptmann, ich habe dich durchschaut!“, rufe ich laut aus und fuchtle mit dem Zeigefinger.

„Irina. Bist du wach?“, ertönt es gedämpft.

Wenn man vom Teufel spricht!

Paps klopft an und streckt den Kopf durch den Türspalt. „Das Taxi, das dich zum Matterhorn-Terminal bringen wird, fährt in einer Stunde vor. Spute dich, damit du den Shuttlezug nicht verpasst.“ Er runzelt die Stirn, als er meinen erhobenen Zeigefinger sieht.

Ups! Ich grinse ertappt, klappe meinen Finger wie die Klinge eines Schweizer Offiziersmessers zu und stelle den Militaristen in Paps mit einem „Ich komm gleich runter, Hauptmann!“ zufrieden.

Das Einrasten der Tür ist wie ein Startschuss. Ich hüpfe aus dem Bett, ergreife den bereitgelegten Kleiderstapel, bestehend aus einer bequemen Skinny-Jeans und einem gerippten Feinstrickpulli – beides in der Farbe Schwarz, mit welcher man laut Corinne, diplomierte Farb- und Modestilberaterin, nichts falsch machen kann –, und verziehe mich damit ins angrenzende Badezimmer. Gründlich putze ich mir die Zähne, wasche mein Gesicht und bändige meine langen Haare. Mit gewohnten Handgriffen setze ich die dunkelblauen Kontaktlinsen ein und schminke mich.

Meine Augen werden sich wohl nie an die Linsen gewöhnen. Ohne würde ich prächtig sehen, doch eisblaue Augen wirken so kühl und unnahbar. Eine wunderschöne und seltene Augenfarbe, die ich von meinem Vater und dessen Familie geerbt habe, aber sie scheint die Leute ungemein zu verunsichern oder macht ihnen gar Angst. In Paps’ Beruf eine nützliche Eigenschaft, jedoch sind meine Erfahrungen damit eher negativ.

Ich habe meinen ersten und bisher letzten Freund – Date … Speed-Date trifft es noch besser – damit verschreckt, als ich während der Pause einer Kinovorstellung meine Kontaktlinsen entfernt habe, da meine Augen unter der 3D-Brille auszutrocknen drohten. Nach der Vorstellung stotterte Riley etwas von einem Anruf und murmelte eine plumpe Entschuldigung. Er ließ mich wortwörtlich im Regen stehen und brauste mit seinem Auto davon. Eine Art Flucht. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich angenommen, der Hauptmann würde dahinterstecken.

Meine Mutter hatte pechschwarzes Haar, wie ich es habe. In der Familie meines Vaters sind alle blond. Paps nannte mich darum oft liebevoll sein Schneewittchen, doch dieses liebliche Kosewort ist ihm nach dem Vorfall mit dem Märchenbuch wohl entfallen.

Die Haut so weiß wie Schnee,

die Lippen so rot wie Blut,

das Haar so schwarz wie Ebenholz

und die Augen so blau wie Gletschereis.

Als ich noch ein kleines Mädchen war, hat er mir erklärt, der Gletscher in unserer Heimat würde bei Mondschein im gleichen Blau leuchten wie meine Augen …

Selbst der Kettenanhänger meiner Mutter, den ich als Andenken an sie trage, ist eisblau und strahlt mit meinen Augen um die Wette. Von den passenden Ohrringen ist seit jeher nur noch einer übrig, welchen ich bei einem Juwelier zu einem Dermal Anchor Piercing habe schmieden lassen. Seit meinem achtzehnten Geburtstag glitzert das Steinchen nun zwischen meinen Brüsten, ganz nah an meinem Herzen …

Fertig angezogen und meinen Rollkoffer in der Hand trete ich meinem Vater gegenüber, um mich von ihm zu verabschieden. Kein Abschied für immer, aber der erste Schritt in die Selbstständigkeit.

„Irina, mach dir nicht allzu viele Sorgen. Du wirst dich bald einleben.“ Mein Vater drückt mich fest an seine Brust und küsst mich, mit einem Hauch von Wehmut in seinem Blick, auf die Stirn. „Vergiss nicht, Marie von mir zu grüßen.“

Ich bin aufgewühlt. In meinem Innern tobt ein Sturm. Ein Sturm der Gefühle. Freudige Erwartung, Bedauern, Heimweh … Klar werde ich meinen Paps vermissen, aber in gewisser Weise freue ich mich auch auf die mir frisch anvertraute Freiheit. Mit meinen bald zwanzig Jahren ist es an der Zeit, flügge zu werden.

Mich nach etlichen langen Telefonaten mit Corinne endlich wieder richtig auszutauschen, von Angesicht zu Angesicht, wird mir mein Heimweh bestimmt vertreiben. Außerdem kann ich mir ihre Erfahrung mit Männern zunutze machen. Nachhilfe in Sachen Liebe sozusagen.

Jetzt werde ich mich erst einmal erholen. Ein, zwei oder drei Wochen vielleicht. Nach meiner dreijährigen Lehre als Kauffrau, dem Prüfungsstress, dem Abschluss und dem Praktikum eine wohlverdiente Belohnung. Erst dann werde ich mich um einen neuen Job kümmern. Vielleicht hat Corinne eine Ahnung, wo ich mich bewerben könnte, oder es ergibt sich ganz von selbst etwas.

Herrje, in einem Dorf mit so vielen Bars, Hotels und Einkaufsmöglichkeiten wird das wohl nicht so schwer sein!, denke ich mir. Ich muss ja nicht zurück in ein stickiges Büro.

„Tochter.“ Die Stimme meines Vaters holt mich ins Hier und Jetzt zurück. „Kopf hoch. In deinem neuen Zuhause erwartet dich eine kleine Überraschung. Damit du dich auch dort sportlichen Aktivitäten widmest und um dich vom Heimweh ein wenig abzulenken, habe ich Corinne beauftragt, etwas für dich vorzubereiten. Für den nötigen Unterricht ist ebenfalls gesorgt.“

Skifahren. Darauf würde ich fast wetten. Doch wenn das ein Aufmunterungsversuch hätte werden sollen, so ging er gewaltig nach hinten los. Vor lauter Unmut darüber seufze ich auf und werfe Paps einen Muss-das-denn-sein-Blick zu.

Dieser lässt sich davon aber nicht beirren. Grinsend zaubert er einen Skipass – die Bestätigung, dass ich mit meiner Vermutung goldrichtig liege – mit, oh Wunder, ganz passablem Foto und eine zweite Karte aus der Brusttasche seines weißen Hemds und fächert sie wie Spielkarten auf. Sein Ass im Ärmel ist definitiv Karte Nummer zwei: eine Kreditkarte.

„Motivation genug?“, fragt er mich mit erhobener Augenbraue und scheint auf eine Antwort oder eine Reaktion zu warten.

Skeptisch sehe ich ihn an. So viel also zum Thema: auf eigenen Beinen stehen.

„Irina. Nimm sie! Es soll dir an nichts fehlen.“ Mein Vater bedenkt mich mit einem aufmunternden Lächeln.

Bis ich mich eingelebt und einen Job gefunden habe, kann ein kleiner Zuschuss von Paps’ Seite bestimmt nicht schaden …

„Okay“, räuspere ich mich und nicke.

Zufrieden steckt er beide Karten in die Tasche meiner Jeans, nimmt mir den Koffer ab und begleitet mich zum Taxi. Nachdem er mein Gepäck dem Fahrer ausgehändigt hat, öffnet er zuvorkommend die Wagentür. Wehmütig lässt er sie hinter mir wieder ins Schloss fallen und ich kurble rasch die Scheibe herunter.

Hmmm. Sport sollte ich tatsächlich ins Auge fassen, wenn sich dadurch schon Muskelkater ankündigt …

„Irina. Wenn du irgendetwas brauchst, du Probleme hast, reden möchtest, was auch immer, genier dich nicht, mich anzurufen. Du musst nicht von heute auf morgen alles allein meistern.“

„Paps. Ich werd schon klarkommen. Dir fällt der Abschied ja schwerer als mir“, bedauere ich ihn. „Mach dir bitte keine Sorgen um mich. Corinne hat bestimmt einen sexy Skilehrer engagiert, um mich auf andere Gedanken zu bringen.“ Kokett zwinkere ich ihm zu.

Seine Miene wird plötzlich ernst wie die Stimme, die mir entgegenschlägt: „Tochter, denke daran: Kein dahergelaufener Kerl, der mir das Liebste auf der Welt nehmen will, erhält einen Freifahrtschein! Er wird einer gründlichen Überprüfung unterzogen.“

Fängt er schon wieder an? Genervt verdrehe ich die Augen. „Damit drohst du schon seit meinem sechzehnten Geburtstag.“

„Du weißt, dass ich dazu in der Lage bin …“

Ach ja, woher?

Unweigerlich driften meine Gedanken in die Vergangenheit ab und ich erinnere mich daran, wie der Hauptmann es sich nach dem Vortrag über „Die Armee, mein Arbeitgeber“ nicht nehmen ließ, vor meinen Klassenkameraden noch eine Anmerkung in eigener Sache fallen zu lassen und den Groll, den ich einen Monat lang auf ihn hegte, in Kauf zu nehmen. „So oder so sehen wir uns in ein paar Jährchen bei der Rekrutierung wieder, und ich werde mir jeden Einzelnen von euch hormongesteuerten Scheißern merken, der meiner Tochter zu nahe tritt!“Okay. Für die Variante Berufsmilitarist hat sich wohl keiner von meinen Mitschülern freiwillig gemeldet …

„Und du wirst auch nicht davor zurückschrecken, ich weiß. Du wirst deine militärischen Beziehungen spielen lassen, dubiose Verhörmethoden anwenden und, und, und …“ Gelangweilt wiederhole ich die Worte, die mein Vater mir Mal für Mal eingetrichtert hat.

„Du bist immer noch der Meinung, dass ich scherze.“ Paps runzelt die Stirn.

„Ja. Bisher waren’s nur leere Drohungen!“, antworte ich und verschränke die Arme auf der heruntergelassenen Scheibe.

Nachdem er seinen Standpunkt vor meiner Klasse unmissverständlich vertreten hat, hat sich kein Junge mehr an mich herangetraut, außer Riley …

Riley? Ich werde blass um die Nasenspitze.

„Riley Schmidt“, sagt mein Vater kurz und knapp, doch diese zwei Worte lassen mir das Blut in den Adern gefrieren.

Erschrocken sehe ich ihn an. „Du warst der Grund für Rileys Flucht? Ich habe immer angenommen, er hätte mich wegen meiner Augenfarbe abserviert. Das erste Mal seit Jahren habe ich mich endlich getraut, mich ohne diese dämlichen Kontaktlinsen in der Öffentlichkeit blicken zu lassen, und du …“ Innerlich gebe ich einen zornigen Aufschrei von mir.

„Irina. Ich habe dir schon immer gut zugeredet, dass du diese Dinger nicht brauchst“, lässt Paps verlauten.

„Was soll’s.“ Gleichgültig zucke ich mit den Schultern. „Riley wäre bestimmt nicht der Richtige für mich gewesen, jetzt wo ich Gewissheit habe, dass er sich von dir hat beeinflussen lassen. Aber eines Tages, René, werde ich dir einen Mann vorstellen, der dir gewachsen ist.“ Die Entschlossenheit in meiner Stimme ist auch dem Hauptmann nicht entgangen, nicht zuletzt deswegen, weil ich ihn beim Vornamen genannt habe.

„Dieser Herausforderung trete ich gerne gegenüber“, erklärt er und unterdrückt kläglich ein Schmunzeln.

„Hauptmann!“ Ich salutiere zum Abschied.

Der Taxifahrer macht sich für die einstündige Fahrt bereit. Ein letztes Mal blicke ich zurück. Mein Vater winkt. Er wirkt geknickt. Ich werfe ihm eine Kusshand zu, bevor das Taxi um die Ecke biegt. Eine Träne rollt über meine Wange, während ich mich wieder gerade hinsetze und nach vorn schaue. Nicht nur durch die Frontscheibe, sondern auch in eine selbstständige Zukunft.

Schluss jetzt!, ermahne ich mich und wische die Träne weg. Seit dem Tod meiner Mutter bin ich sehr nahe am Wasser gebaut. Ich sehe Paps allerspätestens am 7. Dezember zu meinem 20. Geburtstag wieder, rufe ich mir in Erinnerung.

Als ich mich gesammelt habe, nehme ich mein iPad zur Hand, in der Hoffnung, mir mit einem Liebesroman die Zeit etwas vertreiben zu können. Doch nach nicht einmal zwei Sätzen unterbricht mich schon der erste ungeduldige Anruf meiner Cousine.

„Hallo Cousinchen. Bist du bereits unterwegs? Du, ich freue mich riesig auf dich.“

Corinne und ich, wir sind wie Schwestern. Ich bin froh, ihre Stimme zu hören, so fällt mir der Abschied wesentlich leichter. „Hi Corinne. Ja, ich bin gerade ins Taxi gestiegen.“ Ich werfe einen kurzen Blick auf die Uhr auf dem Display. „In anderthalb Stunden bin ich da. Ich freue mich auch.“

„Es wartet eine Überraschung auf dich“, haucht sie geheimnisvoll in ihr Handy.

„Lass mich raten, ein Paar Ski?“

Wieder verdrehe ich die Augen, was sie natürlich nicht sehen kann, also fährt sie munter fort: „René, diese Tratschta… äh … dieser Tratschonkel! Ich hab mir solche Mühe gegeben, seinen Auftrag auszuführen, durfte kein Sterbenswörtchen darüber verlieren, eine geheime Mission sozusagen, und nun stellt sich heraus, dass er derjenige ist, der die Klappe nicht halten konnte.“

„Aber Corinne. Ich kann doch gar nicht mehr Skifahren …“ … und Privatunterricht in meinem Alter ist mir zu peinlich, führe ich den Satz in Gedanken zu Ende. Im Geiste sehe ich mich schon – die Skier in der V-Formation – den Idiotenhügel hinunterpflügen.

„Dafür ist auch gesorgt. Ich konnte einen echt heißen Skilehrer engagieren. Samuels Jahrgänger und zugleich bester Freund …“

Dass er in Sams Alter ist, hallt in meinem Ohr nach, derart euphorisch hat sie es gesungen, noch dazu macht es mich stutzig.

„Ein Ass auf den Brettern. Eigentlich fährt Kev ja Skicross-Wettkämpfe. Momentan trainiert er nicht ganz so hart und arbeitet bei uns imDorf in der Skischule mit.“

Es scheint mir so, als wolle mir Corinne diesen Typen schmackhaft machen. „Sag mal, willst du mich verk…“

Tuut, tuut.

Scheiße! Kein Netz.

Ich tippe eine Nachricht und hoffe, dass sie meine Cousine bald erreichen wird:

Sorry. Funkloch. Holst du mich bitte gegen 11 beim Umschlagplatz ab?

Der beste Freund meines Vetters also. Wie alt ist Sam noch gleich? Corinne ist drei Jahre älter als ich, dreiundzwanzig, und Sam, ihr Bruder, ist wiederum drei Jahre älter als sie. Sechsundzwanzig!

Ein potenzieller Kandidat?

Den wesentlichsten Punkt auf meiner Liste kann ich schon mal abhaken …

Und da dämmert es mir: die Liste. Corinne kennt meine Punkte darauf in- und auswendig. Schließlich ist sie die Initiantin der Do-to-Liste, wie sie sie damals kurzerhand getauft hat.

Nein, hier wurde nichts vertauscht. Corinne hat auch nicht gestottert. Sie heißt, ohne Scheiß, Do-to-Liste. Hergeleitet von: Don’t touch! Im Sinne von: Lass gefälligst die Finger von diesen Typen! Oder in Corinnes Fall: diesem Typ. Sie hat sich tatsächlich nur einen einzigen Namen notiert, der mir aber leider entfallen ist.

Schmunzelnd schaue ich durchs Fenster und genieße die letzten Meter der gewohnten Umgebung. Wehmut ergreift mein Herz. Doch die Tränen, die ich jetzt vergieße, schiebe ich auf die Kontaktlinsen. Sie jucken und brennen. Ich krame ein Spiegelchen aus meiner Handtasche und entferne vorsichtig die Fremdkörper aus meinen Augen. Es ist wohl wirklich an der Zeit, mir diesen Tick abzugewöhnen. Ich setze mir stattdessen die Sonnenbrille auf. So ganz entblößt möchte ich mich meiner Zukunft dann doch nicht stellen …

Der Shuttlezug, auf welchen ich umgestiegen bin, erreicht nach einer zwölfminütigen Fahrt den autofreien Kurort.

Endstation! Ab hier geht’s zu Fuß weiter … für mich jedenfalls.

Ich ziehe mir die Jacke über, ergreife den Rollkoffer und steige aus. Die Luft, die mich empfängt, ist wie erwartet etwas kühler, als ich es aus dem Tal gewohnt bin. Ich atme ein … zweimal, dreimal … sauge sie tief in meine Lungen und gerate ins Schwärmen: Sie ist rein … frisch … kristallklare Bergluft … mit einem Hauch von … Ich schnuppere. Kurze, abgehackte Atemzüge. Pferd? Angewidert ziehe ich die Nase kraus. Pferdemist!

Auf dem Umschlagplatz herrscht reges Treiben. Touristen strömen aus. Nostalgische Postkutschen bespannt mit kräftigen Pferden – daher weht also dieses strenge Aroma, zudem zeigen die dampfenden Pferdeäpfel auf, wie kalt es wirklich ist und dass es meine warm gefütterte Lederjacke gut verträgt –, Elektro-Taxis und E-Busse stehen für den Abtransport der Hotelgäste bereit. Einzige Umweltsünder: Die Helikopter, die am äußeren Dorfrand auf dem Heliport auf einer Anhöhe zur Schau gestellt werden. Eigentlich für Rettungsflüge vorgesehen, doch werden sie auch für Heli-Skiing, Rundflüge, Transporte und, wer’s sich leisten kann, Taxiflüge genutzt.

Ich halte Ausschau nach meiner Cousine. Eine überschwänglich winkende Blondine zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Nicht nur ich fühle mich angesprochen und winke zurück, obwohl sie definitiv mich meint, denn es handelt sich dabei um Corinne.

Sie ist eine attraktive, schlanke Frau mit großen, dunkelblauen Augen, hellblonden, langen Haaren, die mit ihrem Look mal wieder ihr Händchen für Mode beweist. In einer schwarzen, engen Stoffhose, darunter blitzen die Spitzen von ein Paar Lack-Pumps hervor, einem weißen Top und einem hauchdünnen, schwarzen Blazer steht sie dann plötzlich vor mir.

Beim Betrachten ihres Aufzugs stellt’s mir die Haare zu Berge. Mich friert’s regelrecht.

„Irina!“ Corinne fällt mir um den Hals und drückt mir drei Küsschen abwechselnd auf die Wangen … ein Countdown.

Drei, zwei, eins, zähle ich in Gedanken abwärts, und schon nimmt die Modepolizei mein Outfit in Augenschein.

Corinne mustert mich von oben bis unten und kommt zum Schluss: „Gibt’s was zu betrauern? Willst du auf eine Beerdigung? Oder steht dein schwarzer Aufzug symbolisch für den Abschied von deinem alten Leben?“

Wie jetzt?! „Ich dachte, mit Schwarz könne man nichts falsch machen?“

„Stimmt. Aber bei deinem hellen Hautton musst du farbige Akzente setzen, damit du nicht so blass wirkst …“ Neckisch kneift sie mich in die Wange.

„Du predigst mir hier gerade etwas von Farbe. Wo bekennst du denn Farbe? Weiß gehört bekanntlich nicht dazu, Frau Farb-“, ich zeichne Anführungszeichen in der Luft, „und Modestilberaterin!“

„Touché … nein warte …“

Mein siegreiches Lachen weicht einem Flunsch, als sie mir die roten Sohlen ihrer Pumps präsentiert.

„Mach dir nichts draus, Cousinchen. Dafür bin ich ja jetzt da. Ich stehe dir mit Rat und Tat zur Seite. Aber eins“, ihr Zeigefinger schnellt in die Höhe, „muss ich noch loswerden …“

Was kommt denn jetzt noch? Ich verdrehe die Augen.

Ihr Finger stupst den Zipper meiner Jacke an und bringt ihn zum Baumeln. „Die ist etwas übertrieben, findest du nicht?“, spöttelt sie und grinst wie ein Honigkuchenpferd.

„Ich bin die Kälte nicht gewohnt.“ Bibbernd stehe ich vor ihr.

„Kälte? Es ist beinahe zwanzig Grad warm, und du tust gerade so, als wäre es tiefster Winter.“ Sie umfasst den Griff meines Rollkoffers. „Komm, wir genehmigen uns einen Burger in Sams Bar. Dort ist es schön warm!“, zieht sie mich weiter auf.

Na, das kann ja heiter werden …

Hilfe! An das Kopfsteinpflaster in der Bahnhofstraße konnte ich mich gar nicht mehr erinnern. Wie auch, sind Straßen und Wege doch im Winter von festgetretenem Schnee bedeckt. Ich habe mich bei Corinne im Vorhinein lediglich erkundigt, ob die Straßen aper, also schneefrei sind.

Der Rollkoffer klappert über die unebenen Pflastersteine mit den tiefen, zum Teil ausgespülten Fugen und verursacht einen Heidenlärm.

Mann, ist das peinlich!

Corinne scheint’s nicht zu stören, sie lässt ihn munter weiterruckeln. Ich hingegen hätte den Griff längst verstaut und würde mein Gepäck tragen. Die Einheimischen grinsen und nicken Corinne freundlich zu, wissend, dass der Koffer der peinlich berührten Touristin neben ihr gehört.

Eigentlich bin ich ja auch einheimisch, glaubt man meinem Pass, aber ich fühle mich fremd und verloren, etwas fehl am Platz.

Wiederum habe ich keine Mühe damit, die Feriengäste von den Dorfbewohnern zu unterscheiden. Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass die meisten der hiesigen Touristen Asiaten sind.

Wie Prozessionsraupen bewegen sie sich fort, und wir befinden uns mitten in ihrem Zug.

Lässig drehe ich mich einmal um 360 Grad, möchte die Umgebung auf mich wirken lassen und bringe dabei die Schar zum Stocken. Doch ich achte nicht auf die bösen Blicke der Passanten. Meine Aufmerksamkeit gilt einzig und allein der verschneiten Bergkulisse und dem einen, prachtvollsten Berg unter ihnen, dem Wahrzeichen des Dorfes, dem Matterhorn, dessen Spitze leider von einer Wolke verdeckt wird. Aber ich werde schon noch in den Genuss kommen, es in seiner vollen Pracht zu bewundern …

Bin ja jetzt für eine Weile hier oder gar für immer?

„Es ist nicht mehr weit. Nur noch fünf Minuten“, höre ich Corinne sagen.

Gut. Ich genieße nochmals die Aussicht und erspähe ein einzelnes majestätisches Haus auf einer Anhöhe. Ein Palast mit Blick aufs ganze Dorf. Wow, staune ich und bin gerade im Begriff, Corinne zu fragen, was es mit dem Gebäude auf sich hat, als ich unfreiwillig gestoppt werde. Der dünne, vier Zentimeter hohe Absatz meines Kitten Heels hat sich zwischen den Pflastersteinen eingehakt.

Ich stecke fest.

„Verdammt!“, fluche ich so gar nicht ladylike. Hätte ich doch bloß meine Sneakers angezogen.

Doch alles Rütteln ist zwecklos. Es bringt mich nur noch mehr in Schwierigkeiten. Ich gerate vollends aus dem Gleichgewicht.

Plötzlich ist es, als würde alles um mich herum in Zeitlupe ablaufen. Ich bin mein eigener Beobachter, stehe neben mir und kann mir praktisch selbst dabei zuschauen, wie ich zur Seite kippe. Geistesgegenwärtig ergreift jemand meinen ausgestreckten Arm, mit welchem ich mich hätte abstützen wollen. Ich pralle seitwärts gegen eine starke, harte Männerbrust.

Die saubere Bergluft vermischt sich mit Aftershave und einer betörend männlichen Duftnote. Verstohlen sauge ich noch mehr des herrlichen Aromas in meine Lungen, das meine Sinne berauscht und meine Knie weich werden lässt. Den festen Stand habe ich ja ohnehin schon verloren.

„Hoppla“, ertönt eine tiefe, raue Stimme und jagt einen Schauder meinen Rücken hinunter.

Wie kann ein „Hoppla“, ein einfacher Ausdruck, den heutzutage kein Mensch mehr benutzt, nur so höllisch sexy rüberkommen?

Ich blicke, trotz Sonnenbrille, schüchtern zu ihm auf. Die dunkle Stimme gehört einem attraktiven jungen Mann, welchen ich auf Mitte bis Ende zwanzig schätze. Meinem Retter, der mich vor einer unsanften, peinlichen Landung bewahrt hat. Meine Unerfahrenheit und meine Schüchternheit lassen mich erröten. Außerdem ist mir meine Unbeholfenheit unsagbar peinlich. So senke ich scheu mein Haupt, als er vor mich tritt.

Verlegen mustere ich den Schönling von unten bis oben. Ein Schlipsträger. Der groß gewachsene Typ trägt einen eleganten schwarzen Anzug, ein schwarzes Hemd und eine graue Krawatte. Sein Lächeln wirkt gequält. Wahrscheinlich habe ich gerade sein Chi aus dem Gleichgewicht gebracht. Strähnen seines wilden, dunkelbraunen Haares, welches er geschmeidig mit den Fingern durchkämmt, fallen ihm wieder ins Gesicht. Er nimmt die filigrane Pilotenbrille ab, faltet sie und steckt einen Bügel in die Innentasche seines Jacketts. Knapp oberhalb des Knopfes prangt ein rotes Etikett mit den vier großen Lettern: H U G O – Hugo Boss.

Sein interessierter Blick wandert über meinen Körper, lässt mich taumeln.

„Ist alles in Ordnung? Haben Sie sich verletzt, Fräulein?“, erkundigt er sich fürsorglich, während seine linke Hand meinen Arm immer noch fest umschlungen hält.

Seine Schönheit verschlägt mir wortwörtlich die Sprache. Durch ein Räuspern erhalte ich meine Stimme zurück. „Ja und nein“, antworte ich etwas zittrig. „Ich habe mir nicht wehgetan, nur …“ Ungern reiße ich den Blick von seinem hübschen Gesicht los. Ohne die Sonnenbrille wäre ich wohl nicht in der Lage gewesen, es so lange zu betrachten. Ich blicke zu Boden, auf meinen linken Fuß. Mit Ruckeln versuche ich mich zu befreien, doch der Absatz will sich einfach nicht lösen und bleibt fest verankert.

Hilfe!, flehe ich stumm.

Sofort erkennt er meine missliche Lage. Sein fester Griff wandert von meinem Unterarm zu meiner Hand. Seine Haut kommt mit meiner in Kontakt.

Mmmmh! Angenehm warm und weich. Bestimmt sind es keine Hände, die hart anpacken müssen.

Irina! Der Typ trägt einen Designeranzug. Der arbeitet sicherlich nicht auf dem Bau!, flüstert mir meine innere Stimme zu.

Durch das Strecken seines Arms, während er sich vor mir aufs Knie senkt, um mich zu erlösen, tritt seine wohl nicht gerade billige Uhr hervor.

Noch ein Beweis dafür! Einfach alles an ihm schreit:TEUER!

Doch ich lasse mich nicht davon blenden und mein Blick wandert wieder zu diesem unheimlich attraktiven, markanten Gesicht und diesen Augen, umgeben von feinen Lachfältchen, die mich einen Augenblick lang von unten herauf anstrahlen. Meine Atmung gerät kurz ins Stocken.

Welche Augenfarbe er wohl hat? Durch meine Sonnenbrille lässt sich das nicht so genau sagen …

Mein Herz klopft wie wild, meine Hand in der seinen reagiert mit einem leichten Prickeln in den Fingerspitzen. Als er erneut seinen Kopf hebt und mich anlächelt, drohe ich zu zerschmelzen. Die Hitze, die in mir aufsteigt, bringt meine Wangen abermals zum Glühen, verleiht ihnen einen scharlachroten Touch. Ich fühle mich fiebrig.

„Seien Sie nicht verlegen. Stöckelschuhe und Kopfsteinpflaster vertragen sich einfach nicht.“ Er zwinkert mir zu.

Verdammt, er muss meine Röte bemerkt haben.

Doch irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass der Fremde mit mir flirtet. Einen Atemzug lang senkt er den Blick. Seine Fingerspitzen streicheln zärtlich über meinen Fußrücken, bevor die langen Finger meinen Knöchel umschließen. Ich erbebe unter der sachten, intimen Berührung.

Was erlaubt er sich? Wenn ich nicht gefangen gewesen wäre, hätte ich ihm einen Tritt verpasst.

Mein Zittern ist ihm ebenfalls nicht entgangen. „Ruhig Blut …“ Mit sanfter Stimme redet er auf mich ein, wie wenn er eine Stute besänftigen möchte, die beim Hufauskratzen bockt. Innerlich schnaube ich aufgebracht. Mit geschicktem Ruckeln und einer leichten Drehung gelingt es ihm schlussendlich, mich zu befreien.

Ich atme erleichtert auf, vergesse die Empörung, die mich soeben noch einzunehmen drohte. „Vielen Dank“, bringe ich gerade so über die Lippen und atme einmal tief durch. „Ich sollte es eigentlich besser wissen. Dort, wo ich aufgewachsen bin, wurde jede noch so kleine Gasse damit gepflastert. Der Tod eines jeden Pfennigabsatzes. Erst als eine Frau das Zepter übernommen hat und Stadtpräsidentin wurde, sind die Wege zunehmend High-Heels-freundlicher geworden … äh … sorry … Hier habe ich wahrlich nicht mit Kopfsteinpflaster gerechnet.“ Ich bedenke meinen Helden mit einem scheuen Lächeln, denn dieser plötzliche Redefluss, mein Mitteilungsdrang, überrascht mich.

Der hübsche Mann zu meinen Füßen richtet sich wieder auf, glättet souverän seinen Anzug und zupft die Ärmel zurecht.

Erst jetzt bemerke ich den Husky, der artig neben ihm sitzt, uns mit schräg gelegtem Kopf, gespitzten Ohren und seinen treuen eisblauen Augen aufmerksam beobachtet.

Wow, ein Prachtexemplar … wie sein Herrchen!,denke ich mir schmunzelnd.

Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung erhebt sich der Hund, schreitet auf mich zu und beginnt an meinen Fingern zu lecken. Ich zucke zurück. Es ist ein anmutiges, großes Tier, welches mir Respekt einflößt. Mein Retter registriert mein Unbehagen und ruft den Husky streng zurück.

Hmmm. Wie hat er ihn genannt? Sein Name klingt nach … Whiskey?

„Sorry.“ Mit einem verlegenen, doch unverschämten Grinsen entschuldigt er sich und streicht sich hektisch mit einer Hand durchs Haar. „Eigentlich ist er Fremden gegenüber eher scheu.“

Sein Haar. Am liebsten würde ich auch gleich zulangen.Ob es sich so weich anfühlt, wie es aussieht?

Ein unwiderstehliches Lächeln umspielt seinen Mund.

Sein Mund, seine vollen Lippen. Hier stelle ich mir dieselbe Frage. Wie würde es sich anfühlen, von ihm geküsst zu werden? Wie würde er schmecken? Würde sein Dreitagebart piksen? Meine Haut sich röten, wenn er mit seinem Mund quälend langsam meinen Körper erkundet?

Plötzlich verspüre ich dieses lustvolle Ziehen in meinem Unterleib. Eine in diesem Ausmaß noch nie dagewesene Sehnsucht, wie sie in einer abgeschwächten Form nur auftritt, wenn ich diese verteufelten erotischen Romanelese. Meine Reaktion auf ihn erschreckt mich, und als ich mich dabei ertappe, wie ich ihn mit offenem Mund anschmachte, presse ich hastig meine Lippen fest aufeinander.

Während er seinem Husky kurz über das samtig weiche Fell streichelt, ergreife ich die günstige Gelegenheit, Adonis noch ein letztes Mal genauer unter die Lupe zu nehmen, ohne diesen getrübten Braunton. Ich hebe vorsichtig meine Sonnenbrille an.

Als hätte er nur darauf gewartet, dass ich meine Augen entblöße, treffen sich unsere Blicke. Das Herz in meiner Brust beginnt zu flattern und droht auszubrechen. Der Fremde zieht mich in seinen Bann. Seine Augen wirken zwar kalt, was wohl unweigerlich der Farbe der Iris geschuldet ist, aber sie sind wunderschön. Sie strahlen in einem satten, kühlen Blauton und sind meinen sehr ähnlich …

Meiner Augenfarbe ohne die lästigen farbigen Kontaktlinsen!, dämmert es mir und ich lasse augenblicklich die Sonnenbrille wieder auf die Nase sinken. Nicht gerade ein flirtfördernder Schachzug, aber ein Schutzschild gegen die Autorität, die mir so plötzlich entgegenschlägt.

Da liegt ein Ausdruck in seinen Augen. Ich bemerke das Kribbeln auf meiner Haut und wie sich die Härchen auf meinen Armen aufrichten. Trotzdem versuche ich mir einzureden, dass es bestimmt auf die ungewohnte Temperatur zurückzuführen ist und nicht auf das plötzlich so unheimlich selbstsichere Auftreten dieses Mannes, das ich als eine Art Schutzmechanismus deute. Eine Maske.

Der Vater-Tochter-Tag vor fünf Jahren kommt mir wieder in den Sinn. Ich durfte meinen Paps zur Arbeit begleiten und konnte mit ansehen, wie er einen Soldaten allein mit seinem strengen Blick entwaffnet hat. Sofern man ein vorlautes, schmutziges Mundwerk als Waffe bezeichnen konnte …

Das Klingeln seines Handys reißt mich aus meinen Gedanken.

Haben wir uns die ganze Zeit nur angestarrt? Als wäre die Zeit eingefroren! Aber nein. Die Menschenschar um uns ist nicht stehen geblieben. Nur wir beide sind erstarrt und ernten ein missmutiges Murren der vorbeigehenden Passanten.

„Ihr Handy.“

Der Schönling sieht mich entgeistert an.

„Ihr Handy klingelt“, versuche ich noch einmal zu ihm durchzudringen und schenke ihm ein Lächeln.

Er tastet sich ab und zieht sein Smartphone aus der Brustinnentasche seines Sakkos. „Foster … Verdammt!“, ertönt es in einem herrischen, genervten Tonfall, als er den Anruf entgegennimmt, und es ist, als wäre ich mit einem Kübel kalten Wassers übergossen worden.

Mein Mund klappt auf. Der äußere Schein trügt eben doch manchmal.

„Irina? Irina. Wo bist du?“ Irgendwo in der Menschenmenge vernehme ich Corinnes Rufen.

Ich fasse mir ein Herz, gehe kurz in die Hocke und streichle dem Husky übers weiche Fell. „Bye Süßer!“ Der Hund erhebt sich und schwänzelt freudig. Danach werfe ich einen letzten Blick auf sein Herrchen, dessen Miene wieder freundlicher ausfällt, bedenke ihn mit einem Nicken und ergreife die Gelegenheit zur Flucht, solange er noch in das Gespräch verwickelt ist. Stress bei der Arbeit, nehme ich an.

Wie sich Hunde schüttelnd vom Wasser im Fell befreien können, hoffe auch ich mich durch den Schauder, der meinen Körper abermals erbeben lässt, mental von dieser Begegnung, dieser buchstäblich kalten Dusche, lösen zu können, doch ich verbleibe weiterhin innerlich aufgewühlt und fröstelnd.

Samuel begrüßt seine Schwester und mich bereits am Eingang und führt uns voller Stolz hinunter in seine Bar. Sie besitzt einen urig-alpinen Charme und wurde mit modernen Möbeln aufgepeppt. Die VIP-Lounge hinter der Glasscheibe ist ein echter Blickfang, und so steuert Sam, mit uns beiden im Arm, direkt darauf zu.

Ich lasse mich in einen der schwarzen Polstersessel fallen, Corinne nimmt gegenüber Platz. Gleichzeitig legen wir unsere Sonnenbrillen auf den hölzernen Clubtisch.

„Und, Cousinchen, hat Onkel René dich endlich in die Freiheit entlassen?“, erkundigt sich Samuel.

„Ach Sam. So schlimm ist unser Onkel nun auch wieder nicht!“, mischt sich Corinne ein.

„Ach nein? Ein Kontrollfreak sondergleichen, der Hauptmann. Also, Kleines, genieße deine frisch erworbene Freiheit.“ Er zwinkert. „Champagner zur Feier des Unabhängigkeitstages?“

„Für mich bitte ein Mineralwasser.“ Corinnes Antwort kommt etwas prompt.

Ich mustere sie argwöhnisch.

Sams Augenbrauen schnellen hoch.

„Was ist? Ich habe ein Antibiotikum verschrieben bekommen, wegen der Grippe“, rechtfertigt sie sich genervt, mit einer plötzlich so nasalen Stimme, dass sie nur gespielt sein kann.

„Ich nehme gerne ein Glas, Sam.“

„Bring uns doch bitte zwei Raclette-Burger“, komplettiert sie die Bestellung. Corinne schlägt ein Bein übers andere und nascht vom Schälchen mit dem Knabbergebäck.

„Wow. Da ist Sams Traum endlich in Erfüllung gegangen. Eine eigene Bar!“, sage ich anerkennend, während dieser unsere Getränke holen geht.

„Ja, das ist er. Mit etwas Unterstützung. Da fällt mir ein, übermorgen sind wir bei Oma und Opa zum Abendessen eingeladen …“

„Funktioniert die Gondel immer noch?“, frage ich grinsend und hoffe inständig, dass sie mittlerweile den Geist aufgegeben hat. Unsere Großeltern wohnen etwas abgelegen. Zum Haus, das noch dazu höher gelegen ist, führt eine kleine Privatgondel.

„Selbstverständlich. Erinnerst du dich daran, wie wir einen Nachmittag lang damit einfach nur rauf- und runtergefahren sind?“

„Natürlich. Bis sie wegen eines Stromausfalls mitten im Hang hängen geblieben ist. Ein Grund dafür, dass ich solche Gerätschaften meide.“ Ich lege meine Stirn in Falten.

„Ach komm schon. War doch ganz witzig.“

„Für dich vielleicht“, erkläre ich missbilligend. Ich schnappe Corinne die letzte Salzstange vor der Nase weg und knabbere genüsslich die einzelnen Salzkristalle vom Stängel, bevor ich den Rest verzehre.

„Dann betrachte die Seilbahn morgen als Vorbereitung.“

Entnervt stöhne ich auf: „Das ist nicht dein Ernst, oder? Morgen schon?“

„Ja. Kevin steht dir morgen den ganzen Tag über zur Verfügung.“ Etwas in ihrer Stimme klingt vielversprechend.

Und wieder beschleicht mich diese Vorahnung. „Sag mal, willst du mich verkuppeln?“

„Wann hast du unsere Großeltern eigentlich das letzte Mal gesehen?“, lenkt sie offenbar ab.

„Seit Mamas Beerdigung … nicht mehr. Paps selbst ist auch nicht so erfreut gewesen, als er erfahren hat, dass ich, während ich die Ferien bei euch verbracht habe, Kontakt zu ihnen aufgenommen habe.“

„Da du jetzt volljährig bist, ist es wohl deine Entscheidung. Am Sonntag sind wir bei ihnen zum Abendessen eingeladen … Basta! Da kann sich der Hauptmann am anderen Ende der Schweiz die Zähne ausbeißen! Und den großzügigen Anteil, den sie jedem Enkelkind auszahlen, wirst du nicht ablehnen.“ Corinne ist unerbittlich.

„Großzügiger Anteil? Was meinst du damit?“

„Ups. Da habe ich wohl etwas zu viel verraten. Jedenfalls, wie dachtest du, kann sich Sam so etwas aufbauen?“ Eine Frage, die wohl keiner Antwort mehr bedarf.

Sam serviert die Getränke und die Burger.

Genüsslich beiße ich in meinen Cheeseburger. „Mmmmh. Schmeckt köstlich“, sage ich, während ich kaue. „Sorry.“ Ich lächle verschämt, verstecke meinen Mund hinter der Hand und schlucke den Bissen runter.

Sam grinst mich an. „Geht aufs Haus, Kleines!“

„Vetter. Falls du irgendwann eine Aushilfe gebrauchen könntest, ich würde mich gerne anbieten …“

„Hmmm … Aber Irina, mit deiner Ausbildung gehörst du nicht hinter eine Bar.“ Dieser Satz hätte auch von Paps stammen können. „Außerdem habe ich momentan keine Vollzeitstelle zu besetzen, aber vielleicht kann Corinne ihre Beziehungen sp…“

Corinne räuspert sich laut. „Bruderherz!“

Ein kurzer Blickwechsel zwischen Bruder und Schwester, stumme Kommunikation, der ich nicht folgen kann, doch die Geschwister verstehen sich auch ohne Worte.

„Offenbar habt ihr noch einiges zu klären … Allerdings, wenn Not am Mann herrscht, könnte ich dich schon ab und zu aufbieten, liebes Cousinchen, also werde ich bestimmt auf dein Angebot zurückkommen.“ Sam verlässt die Lounge.

Bevor ich Corinne auf ihr Blickgefecht mit Sam ansprechen kann, lenkt sie erneut ganz offensichtlich auf ein anderes Thema: „Sag mal, was ist eigentlich aus diesem Andy geworden, der dich anstelle von Riley nach Hause gefahren hat?“

„Nur ein guter Freund, den ich in jeder Notlage anrufen kann, und der Bruder meiner besten Freundin.“

„Ein guter Freund, der dich geküsst hat“, lässt sie mit singender Stimme verlauten. „Ach so, wo ist er abgeblieben?“, bohrt sie nüchtern weiter.

„Er bereist Australien“, antworte ich kurz und knapp.

„Okay. Daraus schließe ich, dass du immer noch keinen Sex hattest.“

„Corinne!“, schreie ich empört auf und bin dankbar dafür, dass wir die Lounge für uns haben.

„Oh Süße. Dann werden wir dich mal auf die hiesigen Männer loslassen, oder umgekehrt …“

Es ist bereits dunkel, als Corinne die Tür zu unserer gemeinsamen Wohnung aufschließt. Durch den Spalt ertastet sie den seitlich angebrachten Lichtschalter und präsentiert mir mit einem „Tadaa“ und einem schwungvollen Tritt gegen die Tür mein neues Heim.

Ich trete in den geräumigen Hausgang mit Garderobe und großem Spiegel, wo Corinne für den Augenblick meinen Koffer abstellt, ehe sie mit der Führung beginnt.

„Erste Tür links. Das Bad und wie versprochen mit Badewanne.“

Die Beleuchtung flammt auf und gewährt mir einen Blick auf eine kleine, aber feine Wohlfühloase: Eine Toilette, zwei runde Waschtische mit separat beleuchteten Spiegeln, die einem wohl auch jede noch so kleine Pore aufzeigen, und eine großzügige Badewanne, die mit stark gemustertem Holz verschalt ist und liebevoll dem Rand entlang mit Vanilleduftkerzen dekoriert wurde. Selbst an eine Badewannenauflage mit Buchstütze und Glashalter hat Corinne gedacht. Der schwarze Fliesenboden wurde mit einer pinken, flauschigen Badgarnitur versehen, drei der vier Wände sind mit hellbraunen Platten gefliest, die vierte mit Naturstein. In der Dachschräge geradewegs über der Wanne befindet sich ein Dachfenster.

„Baden unterm Sternenhimmel“, flüstert meine Cousine geheimnisvoll und gesteht mir mit ihrem offensichtlichen, übertriebenen Blinzeln jede noch so kleine Schandtat.

Als Nächstes zeigt sie mir die Zimmer. Beide sind fast identisch, jedoch spiegelverkehrt. Das moderne große Bett befindet sich unter dem Dachfenster, parallel zur Tür. Ein mächtiger Schrank mit verspiegelten Schwebetüren erstreckt sich der linken Wand entlang bis zum Winkel, an dem die Dachschräge beginnt. Gegenüber vom Schrank, zu meiner Rechten, steht der Schreibtisch. Da Corinne mich vor einer Weile nach meiner Lieblingsfarbe gefragt hat, ließ sie die Wand dahinter violett streichen und hat das Bett mit lila Bettwäsche bezogen. Ich fühle mich sofort heimelig.

Wir verlassen mein Zimmer und biegen um die Ecke. Eine L-förmige, moderne Küche mit Insel erstrahlt in weißem Glanz. Hier wurde bisher nicht sehr viel gekocht, nehme ich an. Ich beäuge Corinne mit einem Schmunzeln auf den Lippen.

„Was ist?“ Sie zuckt gleichgültig mit den Schultern, weiß, was mir gerade durch den Kopf geht. „Ich ess halt bei Ma… bei Mama unten.“

Der schwarze Fliesenboden ergänzt sich ausgezeichnet zu den weißen Wänden und den feuerroten Kacheln in der Küche, die offen ist zum Ess- und Wohnbereich. Die rustikale Holzwand, vor der ein wärmender Schweden-Ofen steht, verleiht dem modernen, weißen Esstisch mit den rot lackierten Holzstühlen und der dunkelgrauen Stoffcouch, geziert mit lilafarbenen Barockkissen, einen gewissen Kontrast.

Ich werde mich wohl gar nicht entscheiden können, welcher Anblick fesselnder ist: die flackernden Flammen hinter der Glasscheibe des Cheminéeofens oder eine Liebesschnulze auf dem großen Flatscreen an der Wand gegenüber.

Obwohl hier das Urige mit dem Modernen kombiniert wurde, wirkt alles ganz harmonisch.

„Und? Wie findest du es?“, fragt Corinne aufgeregt, reibt die Handflächen aneinander und buhlt um Anerkennung.

„Wow. Ich bin sprachlos. So modern …“

„Was hast du denn gedacht, dass wir in einer Alphütte hausen, ohne Warmwasser und ohne Strom? Typisch Städter eben …“

„Danke Corinne. Du hast einen wunderbaren Geschmack!“ Begeistert falle ich ihr um den Hals und stimme sie wieder milde.

„Gern geschehen“, antwortet sie und gähnt. „Ich werd schlafen gehen.“

Ihre plötzliche Müdigkeit macht mich stutzig. Doch ich lasse mich nicht beirren, mir nichts anmerken und stelle sie mit den folgenden Worten auf die Probe: „Kein Problem. Ich finde mich schon allein zurecht.“

„Was hast du denn noch vor?“, fragt sie scheinheilig nach.

„Auspacken?“ Ich hebe die Augenbraue, schürze die Lippen, während ich sie intensiv mustere.

„Das kannst du auch morgen noch erledigen.“

Sie will mich loswerden. Definitiv.

„Corinne. Du benimmst dich echt merkwürdig, um nicht zu sagen, äußerst verdächtig.“ Ich bemerke ihren schuldbewussten Blick. „Also. Wann kommt er?“ Ich stemme die Fäuste in die Hüften und beharre auf eine Antwort.

„Um zehn“, antwortet sie mir knapp.

„Dann habe ich ja noch ein wenig Zeit, um mich bettfertig zu machen. Erklärst du’s mir morgen?“

Sie nickt. „Danke, Süße, und denk daran, es heißt, dass das, was man in der ersten Nacht im neuen Heim träumt, in Erfüllung gehen wird … Darum träum fein, Cousinchen.“

Schon bald darauf liege ich erschöpft in meinem neuen Bett. Corinnes Aberglaube hat auch mich befallen. Ich schließe die Lider und drifte mit dem Gedanken: Bitte lass es kein Albtraum werden, in meine Traumwelt ab.

~*~

Eisige Windböen wirbeln den Neuschnee auf und peitschen mir die losen Kristallkörnchen ins Gesicht. Die Augen geschützt hinter einer Sonnenbrille, die Mütze so weit wie möglich über die Ohren gezogen, den Reißverschluss der Skijacke bis zum Anschlag geschlossen, ergreife ich mit den behandschuhten Fingern die Kapuze, ziehe sie mir bis tief ins Gesicht und kämpfe beinahe blind gegen den bitterkalten Sturm an. Man kann kaum die Hand vor Augen sehen, geschweige denn die schneebedeckte Bergkulisse, um sich an ihr zu orientieren.

Einen Fuß vor den anderen setzend, die freie Hand zum Schutze vor meinem Körper ausgestreckt, wate ich durch den meterhohen Schnee, dessen vereiste Kruste unter jedem kräftezehrenden Tritt knackt und mich tief einsacken lässt. Die Skischuhe fühlen sich wie Blei an meinen schmalen, zierlichen Füßen an, wenn man doch sonst nur Ballett- und Stöckelschuhe gewohnt ist, und lassen mich praktisch auf der Stelle treten. Die Schritte, bevor ich gezwungenermaßen rasten muss, kann ich an einer Hand abzählen. Ein kleiner Trost: Die eng- und hochgeschlossenen Schalenschuhe halten meine Füße warm.

Ich habe mich in das an der Piste angrenzende Wäldchen gerettet, um zwischen und unter den hohen, nadeligen Föhren Schutz zu suchen. Sie beschützen mich zwar etwas vor dem Sturm, andererseits nicht vor den frostigen Temperaturen, die, je länger ich ausharre, ihren Tribut zollen.

Ich nutze das kurze Zeitfenster, die Windstille, ziehe, oh graust es mir, den Handschuh von der rechten Hand und fische mein Mobiltelefon aus der Jackentasche. Der runde Knopf lässt das Display flüchtig aufleuchten, doch meine Finger sind zu kalt und zu steif, um den Touchscreen zu bedienen. Das Handy reagiert nicht und schaltet wiederum in den Standby. Abermals drücke ich die Home-Taste, um es zum Leben zu erwecken, jedoch erfolglos. Das Display bleibt schwarz. Mist! Ich lasse das nutzlose Gerät wieder verschwinden, bekomme mit größter Mühe den Handschuh übergestreift und begebe mich tiefer ins Waldesinnere, auf der Suche nach einem Unterschlupf.

Ich wate und wate, zittere dabei wie Espenlaub, und mein Körper aktiviert auch noch die letzte Schutzmaßnahme, damit mir etwas wärmer wird: Meine Zähne klappern laut und unkontrolliert. Dennoch schleicht sich die Kälte in meine Gliedmaßen, entzieht meinen Fingern jegliches Gefühl. Meine Nase pikst, als befänden sich darin keine feinen Härchen, sondern spitze Nadeln, Mini-Eiszapfen. Zudem werde ich beinahe meines Geruchssinns beraubt, und beim Atmen durch den Mund drohen meine spröden Lippen aufzuplatzen.

Wärmend reibe ich die Hände aneinander, führe sie zu meinem Mund und puste in die zu einer Schale geformten Handflächen. Der laue, feuchte Atem wird zu einer Nebelwolke und beschlägt die dunklen Brillengläser. Einen Wimpernschlag später bilden sich auf der glatten, spiegelnden Oberfläche kleine Wassertröpfchen, die sich zu einem Rinnsal formieren und, von der Schwerkraft angezogen, am unteren Brillenrand sammeln, dort zu Eiskristallen gefrieren.

Ich bin in einem verdammten Albtraum gefangen!

„Hilfe!“, brülle ich aus Leibeskräften gegen den durch die Äste tosenden Wind an, aber mein verzweifelter Ruf findet kein Gehör. Jeder tiefe Atemzug brennt in meiner Lunge und trotzdem starte ich noch einen Versuch: „Hilfe! Hört mich denn niemand?“ Ich lausche angestrengt, doch außer den Geräuschen einer unberechenbaren Natur – pfeifender Wind, knackende Äste, aufeinander reibende, klirrende Eisplatten, knirschender Schnee – umgibt mich nichts … gähnende Leere, keine Menschenseele. Selbst die Tiere haben sich in ihre Löcher, Höhlen, Nester zurückgezogen und halten Winterschlaf oder suchen Schutz vor Kälte und Sturm.

Je länger ich durch den kniehohen, weißen Bodenbelag stapfe, mich durch die dichten, aufwirbelnden Flocken kämpfe, die zwischen den Baumstämmen hindurchpreschen und mir ins Gesicht prasseln, meinem Kinn das Gefühl geben, als verdammtes Stecknadelkissen herhalten zu müssen, und je finsterer es um mich herum wird, umso mehr keimt Angst in mir auf, diese eisige Hölle nicht mehr lebend zu verlassen.

Verdammter Schneesturm!

Verdammte arktische Kälte!

Verfluchte Berge!

Unter der dicken Skijacke, die nicht die Wärme bietet, wie sie vom Hersteller angepriesen wurde, bricht mir der kalte Angstschweiß durch sämtliche Poren und droht mich nur noch mehr auszukühlen. Zudem spüre ich, wie eine körperliche und geistige Erschöpfung auf mich hereinstürzt. Mein Kampf, der Kälte zu trotzen, scheitert kläglich.

Am Ende meiner Kräfte lehne ich mich gegen einen Baumstamm. Meine müden Beine geben nach und ich sacke in die Hocke. Hoffnungslosigkeit treibt mir brennende Tränen in die Augen, die ich mühselig aus den Augenwinkeln presse und die bei der Berührung meiner Wangen zwickend zu Eis erstarren. Ich ziehe die Handschuhe aus, nehme meine Sonnenbrille ab, löse eine der gefrorenen Tränen ziepend von meiner Haut und führe sie mir auf der Spitze des Zeigefingers vor Augen. Ich sehe, wie sich flackerndes, warmes Licht darin spiegelt, bilde mir gar ein, ein wärmendes Kaminfeuer zu riechen. Mühsam blinzle ich gegen die Schneeflocken an, und tatsächlich erspähe ich eine bewohnte Berghütte, keine dreißig Schritte mehr von mir entfernt.

Ich schöpfe meine letzten Kraftreserven, rappele mich wieder auf die Beine und begebe mich auf die noch so kleine, lodernde Flamme im beschlagenen Fenster zu. Sie wächst wie auch die Hoffnung in mir.

Gleich! Gleich bin ich in Sicherheit … in der Wärme.

Mein Blick ist starr auf das durch die überbrückte Entfernung immer größer werdende glühende Holzscheit im Kamin gerichtet.

Das Ziel, die rettende Tür, schon beinahe in Griffnähe, gerate ich auf der festgetretenen und vom Schmelzwasser glasierten Schneedecke ins Schlittern. In meiner Not erfasse ich die Klinke und platze geradewegs mit der Tür ins Haus, lande auf allen vieren auf dem rauen, alten Holzboden. Mollige Wärme schlägt mir entgegen, bringt meine Haut zum Glühen, ebenso wie das irritierte Gesicht des Hausherrn meine Wangen in einem feurigen Rot erstrahlen lässt, als ich verschämt zu ihm aufsehe.

„So…so…sorry. I…ich fr…frie…re.“ Die klappernden Zähne lassen mich stottern. „B…b…bitte gew…währen Sie m…m…mir U…u…unterschl…upf.“

Sein Gesicht liegt halb im Schatten, die andere Hälfte spiegelt das flimmernde Muster des Feuers wider, welches ihm ein mysteriöses Aussehen verleiht, aber dennoch nicht viel von seinen Gesichtszügen preisgibt; einzig seine eisblauen Augen stechen hervor. In den frostigen Iriden flackert Mitleid auf und das kleine Ebenbild der Flamme, die im Kamin lodert.

Der gezwungene Gastgeber macht eine einladende Bewegung zum Cheminée, verschwindet aus meinem Blickfeld und schließt die offene Tür rasch hinter mir zu, damit die Wärme nicht entweichen kann.

Ich krieche über den unebenen, knarrenden Holzboden zum Feuer und lasse mich auf dem cremefarbenen gewobenen Teppich nieder, der sich unmittelbar davor befindet. Gierig strecke ich die Hände der wärmenden Quelle entgegen, setze sie der wohltuenden Hitze aus, die das lodernde Holzscheit ausstrahlt. Ich reibe meine Handteller immer wieder aneinander, puste hinein und führe die lauen Flächen zu meinen Wangen, um auch mein unterkühltes Gesicht zu temperieren. Doch das Schlottern nimmt kein Ende.

„Sie sind ja vollkommen durchgefroren; doch solange Sie in den kalten, durchnässten Sachen stecken, können Sie nicht auftauen … Erst mal müssen wir Sie davon befreien, damit die Hitze direkt an Ihren Körper gelangt …“

In meinem Sichtfeld erscheinen seine Filzpantoffeln. Mein Blick wandert seine ausgewaschene Jeans entlang hoch, gleitet über den schwarzen, gerippten Rollkragenpulli, welcher seinen athletischen Oberkörper und die breiten Schultern bedeckt, und zu guter Letzt, seiner Worte bewusst, sehe ich entgeistert in seine so vertraut wirkenden Augen.

„Das soll keine billige Anmache sein“, weiß er meinen bestürzten Gesichtsausdruck zu deuten und hebt entwaffnet die Hände.

Eigentlich klingt seine Erklärung plausibel, muss ich mir eingestehen.

Mühsam knie ich mich auf und lasse mich erschöpft zurück auf die Fersen sinken. Viele kleine, piksende Nadelspitzen bohren sich in meine Fingerkuppen, meine Handflächen brennen wie Feuer. Ich bin nicht in der Lage, den Zipper meiner Winterjacke zu fassen, geschweige denn die geschlossenen, halb gefrorenen Metallschnallen meiner Skischuhe zu öffnen. Meine Hilflosigkeit treibt mir die Tränen in die Augen.

„Ruhig Blut, Kleine“, dringt es vertraut an mein Ohr. Ich spüre prickelnde Wärme tief in meinem Unterleib aufkeimen, jedoch rührt sie nicht vom flackernden Cheminée-Feuer, sondern von seiner sanften, doch rauchigen Stimme, die mich beruhigend umgarnt.

Der junge Hüttenwart kniet sich vor mich hin, schält mich aus der beinahe starr gefrorenen Jacke, rupft mir die Mütze vom Kopf und entblößt mein langes, schwarzes, glänzendes Haar, das sich in seidenen Wellen über meine Schulter und meinen Rücken ergießt.

Sein schmaler Mund, von einem kurz gestutzten, dunklen Bart umrahmt, öffnet sich zu einem anerkennenden Raunen und nähert sich meinen vor Kälte kribbelnden Lippen. Sein warmer Atem umschmeichelt sie, prickelt auf meiner unterkühlten Haut rund um meinen Mund.

„Deine Lippen sind ganz blau, soll ich sie wärmen?“

War das jetzt eine Aufforderung zum Kuss? Seinem verschmitzten Grinsen nach zu urteilen, ja.

Wie hypnotisiert blicke ich auf den verlockenden Mund, der von feinen Fältchen umgeben ist, wenn seine Mundwinkel zucken, und verspüre tief in meinem Innern ein sehnsüchtiges Verlangen danach.

Nur sein Kuss, seine Nähe, seine Körperwärme können mir Linderung verschaffen!

Ich schließe ergeben die Augen, recke ihm mein Kinn entgegen, erteile ihm somit die stumme Einwilligung. Seine Hände umfassen mein Gesicht und er bläst seinen heißen Atem gegen meine Lippen, zeichnet ihre Konturen nach, verursacht ein aufregendes Kribbeln. Sein minziger Atem sickert in meine Mundhöhle und ich sauge ihn dürstend in mich auf. Plötzlich ist es die Zunge des Fremden, die die Prozedur wiederholt, dem angehauchten Pinselstrich seines Odems folgt, ehe sie sich zwischen meine Lippen drängt, die ausgekühlte Höhle durchforstet und ihr einheizt. Sie gleitet über die oberen Zähne, die wie Eiszapfen von der Decke ragen, und umkreist meine Zunge, hüllt sie in warmen Speichel, kitzelt sie wach, während sich seine weichen Lippen sachte auf meine pressen. Seine Sanftmut und seine Glut dringen tief in mein Innerstes, erwärmen mein Herz und erhitzen mich von innen. Die äußere Hülle, meine Haut, mein Körper, bleibt nach wie vor steif und gefroren und macht sich mit Beben und Zähneklappern bemerkbar. Unweigerlich gerät seine Zunge zwischen meine Zähne, was ihn, im wahrsten Sinne des Wortes, verbissen zurückweichen lässt.

„So…so…sorry“, stammle ich und lächle zerknirscht, bedauere zugleich den abrupten Verlust seiner Zärtlichkeit.

„Ich muss mich entschuldigen, denn ich hab mich dazu hinreißen lassen. Erst mal muss dir warm werden. Du musst zu Kräften kommen.“ Er bedenkt mich mit einem vielversprechenden Lächeln, das mich entzückt auf eine Fortsetzung hoffen lässt, und verliert keine Zeit mehr, mich aus den feuchtkalten Kleidern zu schälen. Als Erstes öffnet er den Klettverschluss und die vereisten Schnallen der Skischuhe und befreit meine eingepferchten Füße.

Ein genießerisches Stöhnen entweicht meiner Kehle, als ich die Zehen wieder uneingeschränkt bewegen kann, allerdings verursacht das Blut, das den Weg in die unterkühlten Spitzen findet, ein fieses Brennen, als wäre ich barfuß in einen Ameisenhaufen getreten. Mein Stöhnen geht in ein Jaulen über und ich lasse mich gequält zurück auf den Teppich sinken.

Der Fremde nestelt am Bund meiner Skihose, öffnet Knopf und Reißverschluss. Ich erleichtere ihm das Abstreifen, indem ich meinen Hintern anhebe. Dasselbe Schicksal blüht meiner Strumpfhose, was mir, oh Gott bewahre, die Schamesröte ins Gesicht treibt, weil sie meinen Modefauxpas von heute Morgen aufdeckt: einen rosa Hello-Kitty-Slip. Die zuckenden Mundwinkel meines Retters zeigen, wie viel Mühe es ihn kostet, nicht bis über beide Ohren zu grinsen.

Nach dieser kurzen, zum Schmunzeln verlockenden Ablenkung, fährt er zügig fort. Bald sitze ich nur noch in Slip und BH da. Erst hatte ich ja Bammel, mich auszuziehen, Furcht, mir wäre noch kälter zumute als zuvor, doch die warme Innenluft umschmeichelt meinen Körper sofort, zudem hüllt mich der Hausherr in eine flauschige Wolldecke. Ich kann es mir nicht verkneifen, daran zu riechen, und schlinge mir die Decke über Mund und Nase, inhaliere die Frühlingsfrische des Waschmittels, die Erinnerungen an zu Hause weckt und mir einen sehnsüchtigen Seufzer entringt, als Wehmut mein Herz erfasst.

Ein dunkles Räuspern holt mich ins Hier und Jetzt zurück. In meinem Augenwinkel erscheint eine fordernd dargestreckte Hand. Ich schlüpfe aus Slip und BH und reiche ihm die kühlen, feuchten Fetzen. Bibbernd kauere ich mich wieder zusammen, ziehe die Knie an, darauf bedacht, von Kopf bis Fuß alles, sogar den kleinen Zeh, unter der mollig warmen Decke verschwinden zu lassen.

Nachdem mein Gastgeber die kalten, durchnässten Sachen nahe am Kamin an einer improvisierten Wäscheleine aufgehängt hat, auch seinen Pulli, der wohl ebenfalls etwas Schmelzwasser abbekommen hat, gesellt er sich zu mir.

„Ich hab hier oben leider weder Strom noch Warmwasser, das ich dir auf die Schnelle als Tee oder Kaffee anbieten könnte, doch“, er zieht einen kleinen Edelstahl-Flachmann aus der hinteren Hosentasche, schraubt den Verschluss auf und führt das gluckernde Behältnis an meine Lippen, „Trink! Es wird dir Linderung verschaffen.“

Vorsichtig hebt er es an und ich erhasche einen Blick auf zwei auf den Kopf gestellte, große, geschwungene Lettern, die Initialen A. F., ehe die hochprozentige Flüssigkeit mit meinen Lippen in Berührung kommt, sich, wie’s mir scheint, bis in meine Eingeweide brennt und meiner Kehle ein milderndes „Aaah“ entringt, mich ordentlich durchschüttelt. Er hat nicht zu viel versprochen. Das alkoholische Getränk wärmt mich von innen, vielmehr aber benebelt es meinen Verstand. Ich werde meiner Vernunft beraubt und zunehmend enthemmter.

Das Augenmerk des jungen Hüttenwarts lenkt sich auf meine in einem sündigen Rot lackierten Zehennägel, als sich meine Füße näher ans Feuer wagen, nicht mehr von Nadeln gepeinigt werden und nach Wärme streben. Seine kräftigen Hände schließen sich um meine Fußgelenke, und er führt sie zu seinem Schritt. Ich spüre die zuckende Härte unter meinen Fußballen, fühle mich geschmeichelt, in ihm Lust zu erwecken.