Scarlett & Browne - Die Berüchtigten - Jonathan Stroud - E-Book

Scarlett & Browne - Die Berüchtigten E-Book

Jonathan Stroud

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Beschreibung

Ein unschlagbares Duo wird zur Legende

Albert und Scarlett sind nach ihren letzten Abenteuern wie geplant vor ihren Widersachern in den Norden Englands geflüchtet. Dort plündern sie mittlerweile als eingespieltes Duo die Häuser reicher Städter und teilen ihre Beute mit den Armen des Landes. Als sie den lukrativen Auftrag bekommen, eine Lieferung mit kostbaren Artefakten zu stehlen, sind sie begeistert. Doch bevor es dazu kommt, geraten sie in einen Hinterhalt ihrer alten Feinde und werden vor eine folgenschwere Wahl gestellt. Wenn sie gemeinsam diese Herausforderung bestehen wollen, muss Scarlett sich entscheiden, wofür sie eigentlich kämpfen möchte, und Albert seine besonderen Kräfte als Gabe akzeptieren.

Die rasanten Abenteuer zweier umwerfender Helden vom Meister der Fantasy – Lesevergnügen von der ersten bis zur letzten Seite garantiert!

Die Bände der »Scarlett & Browne«-Reihe:
Band 1: Scarlett & Browne – Die Outlaws
Band 2: Scarlett & Browne – Die Berüchtigten

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Seitenzahl: 511

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JONATHAN STROUD

Aus dem Englischen vonKatharina Orgaß und Gerald Jung

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Für Sam, Roy und Robin

© 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2022 Jonathan Stroud

Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel:

»The Notorious Scarlett & Browne«

bei Walker Books Ltd., London

Übersetzung: Katharina Orgaß & Gerald Jung

Umschlagkonzeption: semper smile, München

unter Verwendung der Abbildungen von © Shutterstock

(ilolab; Michal Sanca; Brocreative; Tintapix; Sergey Bitos;

HappyPictures; dwph; Phatthanit)

MP · Herstellung: UK

Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen

ISBN 978-3-641-26270-9V002www.cbj-verlag.de

Inhalt

I. Der Raubzug

II. Zum Wolfskopf

III. Die begrabene Stadt

IV. Die sonnenbeschienene Straße

V. High Noon

Kapitel 1

Als die Sonne an diesem Abend über den Aschefeldern unterging und die Glocken der Städte die Ausgangssperre einläuteten, trafen sich an einer Kreuzung drei Mörder. Sie hielten sich nicht lange mit Begrüßungen auf. Der jüngste kletterte auf den an solchen Wegstellen üblichen Turm, um die Umgebung zu sondieren, der älteste legte sich in einer Ruine auf die Lauer. Der dritte, seines Zeichens Anführer der Bande, schlenderte zu einem Steinquader hinüber, der zwischen wuchernden Salbeisträuchern und schwarzem Fingerhut am Straßenrand lag. Dort zündete er sich seine Pfeife an, machte es sich bequem und wartete auf die Reisenden, die da kommen würden.

Diese Kreuzung war eine gute Stelle für einen Hinterhalt. Genau deshalb hatten die Männer sie ausgesucht. Die eingestürzten Mauern des alten Wachhauses boten Deckung, und von dem noch einigermaßen erhaltenen Turm hatte man nach allen Richtungen freie Sicht. Hier war man noch nah genug an zwei der Städte, dass ausreichend Fußgängerverkehr herrschte, aber doch so weit entfernt, dass sich die Banditen unbehelligt von den Stadtwachen mit ihren Opfern würden »unterhalten« können. Außerdem gab es ganz in der Nähe eine Schlucht, in der man anschließend deren Körper entsorgen konnte.

Der Banditenhauptmann liebte seinen Beruf, und das Warten gehörte mit zum Vergnügen. Er verglich sich gern mit einem Angler, der am Flussufer saß, die Wasseroberfläche beobachtete und wusste, dass die fetten, glänzenden Forellen nicht weit sein konnten. Mit aufgeknöpftem Ledermantel streckte er ein Bein lang aus und zog an seiner Pfeife. Aus halbgeschlossenen Augen beobachtete er den zarten Rauchfaden, der sich himmelwärts kräuselte. Man musste nur Geduld haben … Die Fische kamen von ganz allein.

Und tatsächlich – schon stieß Lucas oben auf dem Turm einen leisen Pfiff aus. Der Anführer der Banditen spähte zur Brüstung empor, wo der Junge den Arm nach Osten ausstreckte. Die Straße aus Corby also. Vermutlich Händler, die sich beeilten, noch vor Anbruch der Dunkelheit Warwick zu erreichen. Der Anführer rieb sich das bärtige Kinn und warf einen flüchtigen Blick auf die Pistole in seinem Gürtel. Corby konnte Gewürze bedeuten, Pelze, Schmuck mit schwarzen Tektitsteinen … Die Ausbeute war so gut wie immer lohnend.

Wie mochten die Händler unterwegs sein? Zu Fuß? Oder per Lastwagen? Man hörte kein Motorengeräusch.

Der Anführer erhob sich gemächlich, nahm die Pfeife aus dem Mund und legte sie bis zu seiner Rückkehr auf den Steinquader. Dann stapfte er durchs Gestrüpp und baute sich am Straßenrand auf.

Die Aschefelder sahen im Abendlicht wie mit schwarzem Puderzucker bedeckt aus. Die Kiefern hinter den Ruinen warfen lange dünne Schatten, spitz wie Sargnägel. Der Schatten des Turms weiter östlich glich einem schwarzen Schrägstrich auf der rotbraunen Erde.

Und nun kamen zwei Fahrräder in Sicht und hielten auf die Kreuzung zu.

Der Banditenhauptmann hob leicht erstaunt die Augenbrauen. In den Sicherheitszonen waren Radfahrer nicht unüblich, aber die Straße von Corby her war lang und unwegsam und ihr Zustand hatte sich in der Regenzeit noch verschlechtert. Das erste Fahrrad wich gerade geschickt einem Schlagloch aus, das zweite wurde erst im letzten Augenblick herumgerissen, schwankte bedenklich, fing sich wieder und rollte weiter.

Beide Radfahrer waren mit Rucksäcken und anderen Gepäckstücken schwer beladen. Trotzdem erkannte der Banditenhauptmann sogar auf diese Entfernung, wie dünn sie waren. Sollten sie außerdem noch jung sein – umso besser. In Warwick gab es einen Sklavenmarkt, mit dessen Aufseher er auf gutem Fuß stand.

Er wartete ab, bis er die Räder schon deutlich scheppern hörte. Dann trat er ins ersterbende Tageslicht hinaus und baute sich breitbeinig mitten auf der Straße auf. Er schlug den Mantel zurück und hakte den Daumen so in den Gürtel, dass sich der Pistolengriff in seine Handfläche schmiegte.

Dann strich er seine glänzenden langen Haare zurück und hob die Hand.

Das erste Rad bremste so abrupt, dass am Vorderrad ein rötliches Aschewölkchen aufstieg. Das zweite Rad wäre beinahe von hinten kollidiert. Der Fahrer konnte gerade noch ausweichen und kam mit einem vorwurfsvollen Ausruf ebenfalls zum Stehen. Der Rucksack hing ihm schief wie ein betrunkener Affe auf dem Rücken.

Die beiden waren tatsächlich jung. Ein verdattert blinzelnder Junge mit schwarzen Haaren und ein Mädchen mit breitkrempigem Hut.

Der rote Staub um sie herum legte sich langsam wieder.

Solche Szenen mochte der Anführer am liebsten, weil sie so schön theatralisch waren. Zum einen er selbst, wie er die Straße versperrte. Und dann die bestürzten Gesichter, in denen allmählich Furcht aufdämmerte.

»Augenblickchen, verehrte Reisende!«, rief er. »Auf ein Wort!«

»Ein Bandit«, sagte der Junge.

»Echt jetzt?« Das Mädchen legte den Kopf schief. »Wär ich nicht drauf gekommen.«

Ihr Gesicht lag im Schatten, doch der Banditenhauptmann sah, dass sich unter dem schief sitzenden Hut rote Locken hervorringelten. Sie trug eine abgewetzte braune Lederjacke und eine dunkelblaue Jeans voller Ascheflecken. Über ihrem Rücken hing ein Gewehr, außerdem ein Rucksack, an dem diverse Bündel und Behältnisse baumelten. Unter der Jacke steckte in einem locker auf der Hüfte sitzenden Waffengurt eine Pistole.

»Nur ein kleiner Plausch«, fuhr der Anführer fort. »Auf mehr bin ich gar nicht aus. Wobei ich nicht unerwähnt lassen möchte, dass uns meine Leute im Blick haben. Sie sind bewaffnet. Deshalb muss ich euch höflich bitten, eure Waffen abzulegen und von euren Fahrrädern abzusteigen.«

Er wartete. Die beiden Radler rührten sich nicht.

»Hut«, sagte der Junge dann.

Das Mädchen hob langsam und lässig eine Hand, aber nicht, um die Pistole zu ziehen, wie der Banditenhauptmann erwartet hätte. Nein, sie nahm den Hut ab und hängte ihn an den Fahrradlenker. Dann richtete sie sich wieder im Sattel auf, einen Fuß auf dem Pedal, den anderen am Boden. Eine Mähne aus langen, roten, schweißverklebten Locken umgab ihr blasses, gelangweiltes Gesicht. Der Hauptmann schätzte sie auf nicht älter als siebzehn. Siebzehn und gesund. Sie am Leben zu lassen, würde sich lohnen.

Doch sie war bisher weder abgestiegen, noch hatte sie ihre Waffe abgelegt. Ebenso wenig wie der Junge. Der trug eine alte graue Milizjacke, die unförmig von seinen mageren Schultern hing. Dunkle Augen in einem schmalen Gesicht. Seine Züge hatten etwas Mädchenhaftes, und er sah den Banditenhauptmann unverwandt an. Vielleicht war er ein Einfaltspinsel, ein bisschen zurückgeblieben. Entscheidend war, dass er keine Waffe trug, weshalb ihn der Hauptmann nicht weiter beachtete.

Er wandte sich wieder dem Mädchen zu. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«

»Doch.« Sie klang erstaunlich gelassen. »Ich soll meine Waffen hergeben.«

»Dann bitte.«

»Wir würden lieber verhandeln.«

»Das verstehe ich gut.« Der Hauptmann lächelte freundlich und deutete schwungvoll auf die Ruinen. »Leider steht das nicht zur Debatte, Schätzchen. Ich würde dir raten zu tun, was ich sage. Da drüben verstecken sich fünf meiner Männer. Alles Meisterschützen. Und alle zielen auf dein Herz.«

Das Mädchen rümpfte missbilligend die Nase. Sie sah ihren Begleiter an. »Albert?«

»Zwei Männer«, entgegnete der Junge. »Einer auf dem Turm, der andere am Fenster der Ruine.«

»Waffen?«

»Pistolen.«

Die Miene des Anführers verfinsterte sich. »Schluss mit dem Gequatsche. Es sind fünf, und alle –«

Doch das Mädchen blickte zur Ruine hinüber.

»Weiter links und ein Stückchen höher«, sagte der Junge. »Ja, das ist er. Und der andere ist ganz oben.« Seltsamerweise richtete er dabei die dunklen Augen weder auf das Mädchen noch auf den Turm, sondern weiter auf den Banditenhauptmann.

»Ja, ich sehe beide«, bestätigte das Mädchen. »Welchen soll ich zuerst erledigen?«

»Den auf dem Turm. Er ist der Schnellere. Der Bursche unten taugt nichts.«

»Ey!«, kam es empört aus der Ruine.

»Meinst du den?«

»Er war mal ganz gut, aber er hat nicht mehr die Nerven dafür. Trinkt zu viel.«

Bevor der Anführer unter die Straßenräuber gegangen war, war er Kneipenwirt gewesen. Irgendwann war ihm sein Jähzorn zum Verhängnis geworden, und er hatte bei einem Streit jemanden umgebracht. Auch jetzt juckte es ihn in den Fingern, und er spürte, wie es immer heftiger in ihm brodelte, je mehr ihm die Unterhaltung entglitt. Allein der Anblick des Jungen mit seinem dümmlichen, ausdruckslosen Gesicht machte ihn wütend. Das und seine irritierend zutreffenden Bemerkungen. Der Banditenhauptmann hatte das unbehagliche Gefühl, dass ihm irgendetwas entging, und das machte ihn noch wütender. Wäre das Mädchen nicht gewesen und die Aussicht, auf der Auktion einen guten Preis für sie zu erzielen, hätte er längst die Pistole gezogen und die beiden über den Haufen geschossen.

»Wenn ich kurz unterbrechen darf«, wandte er sich wieder an das Mädchen, »wir waren uns doch einig, dass mehrere Schusswaffen auf euch gerichtet sind, oder nicht? Soll heißen, sobald du deine Waffe zückst, knallen wir euch ab. Wenn ihr weglaufen wollt – ebenso.«

»Wegfahren«, sagte der Junge.

»Wie bitte?«

»Wir laufen nicht, wir fahren. Wir sitzen ja auf Rädern.«

»Da hat er recht«, sagte das Mädchen.

»Ihr Götter über uns! Das spielt doch überhaupt keine Rolle!« Der Banditenhauptmann stampfte mit dem schweren Stiefel auf. »Ob ihr fahrt, lauft oder mit den Armen wedelt und davonfliegt wie zwei Spießvögel, das Ergebnis ist dasselbe.«

Ein Windstoß wehte dem Mädchen eine Locke in die Stirn. Sie strich sie zurück. Ihre grünen Augen waren hell und kalt wie Glas. Der Hauptmann hatte Schwierigkeiten, ihrem Blick standzuhalten. »Na schön«, sagte sie gedehnt, »regen Sie sich ab, Mister. Kein Grund, auszurasten. Angenommen, wir steigen ab und lassen unsere Waffen fallen – was passiert dann?«

Der Banditenhauptmann schnippte gereizt ein Ascheflöckchen von seiner eng sitzenden schwarzen Jeans. Es ärgerte ihn, dass er die Beherrschung verloren hatte. Lucas hatte es bestimmt mitbekommen und Ronan auch. Nachher würden sie ihn damit aufziehen. »Dazu kann ich nur sagen«, knurrte er, »dass wir Straßenräuber unseren eigenen Ehrenkodex haben. Wir durchsuchen euer Gepäck und erleichtern euch vielleicht um ein paar Kleinigkeiten, die uns besonders gefallen …« Er zuckte die Achseln. »Das ist schon alles.«

»Und dann?«

»Dann lassen wir euch laufen.«

»Albert?«

»Sie bringen uns um«, sagte der Junge.

Der Hauptmann machte große Augen. »Ich versichere euch –«

»Mich auf jeden Fall. Erst erschießen sie mich oder schneiden mir die Kehle durch, dann lande ich in einer Schlucht, wo mich die Wölfe fressen. Dich lassen sie am Leben, Scarlett. Verhökern dich vielleicht an die Sklavenhändler. Wenn du Glück hast.«

»Ach herrje.« Das Mädchen sah den Anführer mit ihren leuchtend grünen Augen an.

Als er merkte, dass sein eigener Blick mittlerweile hektisch hin und her huschte, stellte er sich noch breitbeiniger hin. »Dein Schicksal, wie es auch aussehen mag, liegt in unseren Händen«, sagte er mit rauer Stimme. »Wirf die Waffe weg und steig ab. Ich sag’s nicht noch mal.«

»Sehr schön«, sagte das Mädchen. »Das freut mich. Hier mein Gegenvorschlag. Es ist schon spät. Der Himmel färbt sich rot. Wir sind heute schon meilenweit durch schwieriges Gelände geradelt. In den Hügeln war eine Brücke eingestürzt und wir mussten durch einen reißenden Fluss waten. Wir hatten mit Aschewirbeln und Treibsand zu kämpfen, und ein Rudel gefleckter Hochlandkatzen hat uns ewig lang über die Hänge verfolgt. Dann hatte Albert auch noch einen Platten und ist in einen Sumpf geplumpst. Wir sind müde, unsere Hintern sind wundgescheuert und wir wollen in Warwick sein, ehe die Stadttore geschlossen werden. Wir haben dort morgen etwas zu erledigen. Wir können keinen Ärger mit euch ehrbaren Straßenräubern gebrauchen, und unsere Kugeln möchte ich auch nicht vergeuden. Also mach Platz und lass uns durch.«

Wieder hatte der Anführer das unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, dass die Dinge nicht ganz wie gewünscht liefen. Er stellte sich vor, wie Lucas mit schussbereiter Pistole hinter der Turmbrüstung kauerte und von dort oben alles mit kalten grauen Augen verfolgte. Wie er das Mädchen und die prallen Rucksäcke musterte und darauf wartete, dass das Geplänkel zu Ende ging. In letzter Zeit widersprach er dem Banditenhauptmann immer öfter und freute sich, wenn dieser schwächelte. Obendrein hielt sich der kleine Mistkerl für den besseren Schützen, und wohl auch für schlauer, was natürlich bloß die Arroganz der Jugend war …

»Er hört dir nicht zu, Scarlett«, sagte der Junge auf dem Fahrrad.

Das Mädchen nickte. »Sag mir Bescheid, wenn er wieder so weit ist.«

Der Hauptmann richtete sich hoch auf und schloss die Hand um den Pistolengriff.

»Letzte Chance«, sagte er.

»Gut erkannt«, bestätigte das Mädchen.

Normalerweise lief es so ab: Erst zog der Anführer seine Waffe, schoss und gab damit das Zeichen, dann eröffneten Lucas und Ronan das Sperrfeuer. Die Reisenden hatten keine Chance. Vor allem Lucas kam ihnen immer zuvor. Doch diesmal war der Hauptmann irgendwie verunsichert. Nichts lief wie gewohnt. Aus unerfindlichen Gründen zögerte er. Plötzlich musste er an seine Pfeife denken, die auf dem Steinquader auf ihn wartete.

»Du kannst jederzeit zu ihr, John«, sagte der dunkelhaarige Junge. »Der Tabak glimmt noch.«

Der Anführer riss die Augen auf. Er fühlte sich überfordert, die natürliche Ordnung der Dinge stand Kopf. Ein jäher Schreck durchfuhr ihn und gerann zu Angst – und Hass.

Das Lächeln des Jungen erlosch. Sein Blick wurde kummervoll.

Der Bandit sah erst ihn an und dann das Mädchen.

Das Mädchen sagte nichts.

Die drei standen einander auf der leeren Straße schweigend gegenüber.

»Jetzt«, sagte der Junge schließlich.

Drei Schüsse.

Dann war wieder alles still.

Was den Banditenhauptmann in seinen letzten Augenblicken am meisten ärgerte, was ihn wirklich in seiner Ehre kränkte, war, dass der Junge noch vor ihm selbst gewusst hatte, dass er gleich schießen würde.

Sein Leben lang hatte der Banditenhauptmann bei Panikanfällen oder Zornesausbrüchen wie eine Maschine reagiert. Wenn genug Knöpfe gedrückt wurden, handelte er. Nachgedacht hatte er immer erst hinterher.

Auch jetzt hatte er in seiner Angst und Verwirrung die Waffe gezogen, noch ehe ihm sein Verstand die Handlung befohlen hatte – und trotzdem hatte der Junge es vorhergesehen. Nicht nur das – es waren bereits zwei Schüsse abgefeuert worden, während er die Waffe noch hochgerissen hatte. Und keine der beiden Kugeln stammte von ihm. Ein dritter Schuss folgte – und auch der kam nicht von ihm.

Er konnte es nicht begreifen, genauso wenig wie den Umstand, dass sein Finger den Abzug nicht betätigen wollte … Er spürte mehr, als dass er es sah, wie die Pistole seiner gefühllosen Hand entglitt. Dann trafen seine Knie auf etwas Hartes und er merkte, dass er auf dem Boden kniete.

Unerklärlicherweise konnte er die Augen nicht bewegen. Aus dem Augenwinkel sah er eine schwarze Gestalt vom Turm stürzen. Der Anführer hörte den Aufprall, dann einen abgerissenen Schrei aus dem Fenster der Ruine.

Er sah direkt auf die Fahrräder, den Jungen und das Mädchen, die sich nicht von der Stelle gerührt hatten, er sah den Staub auf ihren Stiefeln, die Asche auf den Felgen der Räder. Das Mädchen schob die Pistole wieder in den Gürtel. Er konnte sich nicht mehr auf die beiden konzentrieren. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er seitlich auf der Straße lag, die Wange im Staub. Eigenartig, dass er von dem Übergang nichts mitbekommen hatte. Er hatte nicht gemerkt, dass er vornübergekippt war.

Der Geruch des Schießpulvers ließ ihn wieder an seine Pfeife denken.

Dann spürte, sah und roch er nichts mehr.

Kapitel 2

Es war Mitternacht im Städtchen Warwick. Sogar noch um diese Stunde stieg die verbliebene Hitze des Tages geisterhaft dampfend vom Straßenpflaster auf. Die Cafés auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes machten gerade zu. Die letzten Gäste blieben noch sitzen und beobachteten, wie die Sklavenmädchen den Abfall zwischen den leeren Buden zusammenfegten. Schwache Düfte hingen in der Luft. Vor dem Revier der Stadtwache erhellte der flackernde Schein der Feuerschalen die Plakate an der Steckbriefwand und ließ die Gesichter der Outlaws darauf fast lebendig erscheinen.

Hinter der Mauer zum Park des Glaubenshauses waren Glockenläuten und beschwörender Singsang zu vernehmen. Die Besucher der Abendandacht strömten durchs Tor auf den Platz hinaus und zerstreuten sich. Scarlett McCain saß etwas abseits an einem Tisch, trank einen Schluck Kaffee, rückte ihre getönte Brille zurecht und sah ihnen nach. Noch zehn Minuten. Alles lief wie am Schnürchen. In zehn Minuten wurde das Tor verriegelt, und der große Raubzug konnte beginnen.

Volle vier Tage hatten sie und Albert das Glaubenshaus observiert. Es war die älteste dieser Einrichtungen in ganz Mercia und für die Schätze berühmt, die in seinen Kellergewölben lagerten. Niemand hatte sie erkannt. Dank ihrer Tarnung war niemandem aufgefallen, dass sich zwei der berüchtigtsten Outlaws sämtlicher Sieben Königreiche in der Stadt aufhielten. Heute Abend trug Scarlett ein knielanges grünes Baumwollkleid, weiße Pumps nach der hiesigen Mercia-Mode sowie eine kinnlange blonde Perücke. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, eine Tasse Kaffee vor sich – und zu ihren Füßen einen großen Stoffbeutel voller Waffen. Mit ihrem eleganten, gepflegten Äußeren sah sie wie eine typische wohlhabende junge Dame aus Warwick aus. Niemand hätte bei ihrem Anblick an eine gewisse abgerissene rothaarige Kriminelle gedacht, deren Fahndungsplakat nur wenige Meter entfernt an der Mauer prangte. Scarlett fand das Kleid scheußlich und die Perücke juckte höllisch, aber beides hatte dafür gesorgt, dass sie vier Tage lang inkognito geblieben war.

Von den Passanten schnappte sie einzelne Gesprächsfetzen auf: Die Versorgungszüge hatten sich verspätet. Ein Konvoi auf der Großen Nordstraße war von Gezeichneten überfallen worden. Sie hatten mehrere Lastwagen umgestürzt, die Wachen getötet und die Waren gestohlen. Doch es gab auch gute Neuigkeiten. Morgen würden zwei Sklaven und ein religiöser Abweichler vor dem Glaubenshaus ausgepeitscht werden. Der Oberpate würde eine Rede halten, es würden Tee und Kuchen gereicht …

Als die Auspeitschung erwähnt wurde, verengten sich Scarletts Augen hinter der dunklen Brille, doch ihre Miene blieb unbewegt. Sie wartete. Jetzt schlug das zweiflügelige Tor zum Anwesen des Glaubenshauses scheppernd zu, die Riegel wurden für die Nacht vorgeschoben. Zwischen den sich entfernenden Gläubigen tauchte eine schlaksige Gestalt auf. Sie spazierte an den Schaufenstern entlang, als wollte sie die Auslagen betrachten. Dann schlenderte sie an Scarlett vorbei und verschwand in der schmalen Gasse neben der Mauer zum Glaubenshausgelände.

Scarlett trank ihren Kaffee aus, schob eine Pfundnote unter die Tasse, bückte sich nach dem Stoffbeutel und verließ den Marktplatz. Dann betrat auch sie die stille Gasse. Der Beutel war schwer, und sie ging in Gedanken noch einmal den Inhalt durch: ihr Waffengurt, ein kleiner Rucksack mit Schnur und Seilen, ein Brecheisen, Wattepfropfen, Dietriche, Taschenlampen … Ja, sie hatte alles dabei. Der Rest der Ausrüstung lag zusammen mit den Rädern in dem trockenen Flusslauf vor der Stadt versteckt. Sie hatten nichts vergessen. Jetzt galt es nur noch, die Sache cool und professionell durchziehen.

»Yo, Scarlett!«

Eine schlaksige Silhouette löste sich aus dem Schatten, und Scarlett wich erschrocken zurück. Auch Albert Browne hatte sich getarnt. Er war nach der einheimischen Warwicker Mode gekleidet: zerknitterter Leinenanzug, weißes Hemd, blaue Stoffschuhe. Keine Perücke, aber immerhin hatte er sich frisch gekämmt. In der Hand hatte er einen Packen Hochglanzbroschüren sowie eine klebrig aussehende Papiertüte.

»Überfall mich nicht so!«, schimpfte Scarlet. »Und brüll meinen Namen nicht durch die Gegend!« Sie drehte sich um, aber ringsum blieb es ruhig. »Alles in Ordnung? Anscheinend hast du den Abend überlebt.«

»Nicht nur überlebt.« Er lächelte so unschuldig wie immer. »Ich fand ihn sogar hochinteressant.«

»Das glaube ich. Wie ich sehe, haben sie dir einen Schwung religiöser Schriften in die Hand gedrückt. Was ist in der Tüte?«

»Zwei richtig große Rosinenbrötchen. Die wurden nach dem Gottesdienst verteilt. Eine nette Patin hat sie mir beim Rausgehen praktisch aufgedrängt. Willst du mal probieren? Schmecken total gut.«

»Nein danke. Hast du die Infos, die wir noch brauchen?«

»Ja. Ich musste eine Menge Gedanken auslesen, bis ich jemanden gefunden hatte, der das Geheimnis kannte.«

»Sehr gut. Und wo ist –«

»Offenbar hat nur die Hälfte aller Paten Zutritt zum Allerheiligsten«, redete Albert einfach weiter. »Nur die älteren wissen, wo die Geheimtür ist. Der betreffende Pate war ein kleiner, pickliger Typ, aber bis ich ihn entdeckt hatte, musste ich in den Pausen zwischen den Zeremonien mit allen anderen plaudern. Oh Mann, habe ich viele Gedanken gelesen – und literweise Tee getrunken. Deshalb habe ich jetzt auch ordentlich Druck auf der Blase, und von dem ganzen Weihrauch ist mir ein bisschen schwindlig. Ich musste ein Sikh-Ritual, ein muslimisches Salah, eine christliche Messe und eine hinduistische Puja über mich ergehen lassen. Ganz schön viel für einen Abend.« Er unterbrach sich. »Du siehst irgendwie ungeduldig aus.«

»Ich habe mich nur gefragt, ob du irgendwann zum Schluss kommst«, erwiderte Scarlett betont ruhig.

»Jetzt. Obwohl, warte – es gab noch einen animistischen Tanz. Der war super. Die Damen der Stadt haben tüchtig die Hüften geschwungen.«

Nach einem halben Jahr beherrschte Scarlett die Kunst der Geduld und Ausdauer, die Albert gegenüber nötig waren. Sie nahm die Sonnenbrille ab, rieb sich die Augen und unterdrückte den Drang, ihm eine runterzuhauen. »Albert. Wo befindet sich die Geheimtür zum Gewölbe?«

»Gleich in der Haupthalle. Hinter einem Vorhang.«

»Ist sie mit Sprengsätzen gesichert?«

»Ja.«

»Sonst noch was?«

»Nur, was wir schon wissen. Giftgas, Fallgruben …« Er zuckte die Achseln. »Ich habe alles bildlich vor mir, es dürfte also kein Problem sein. Ach ja, und ich konnte sogar einen Blick in das Gewölbe werfen. Gold, Juwelen, bündelweise Geld … Alles, was du gern magst.« Er zog ein Brötchen aus der Tüte und biss hinein. »Bleibt es bei unserem Plan?«

Scarlett spürte das altbekannte Kribbeln, die grimmige Vorfreude darauf, dass es gleich losging. »Klar bleibt es dabei. Sonst noch was?«

»Ja. Heute Nacht ist der Eingangsbereich mit zwei Wachen besetzt. Ein weiterer Pate patrouilliert im Park. Ich habe mich vorhin persönlich mit ihm unterhalten, und er hatte viel dazu zu sagen, wie ich mich in religiöser Hinsicht noch optimieren könnte. Er meinte, ich soll mir für den Anfang zwei Glaubensrichtungen aussuchen – zum Beispiel das Judentum und den Schintoismus – und ein Jahr lang ausprobieren, ob sie mir etwas geben. Anschließend kann ich darauf aufbauen und –«

Scarlett unterbrach ihn mit erhobener Hand. »Alles sehr spannend, aber mir geht es um ihn in seiner Wächterfunktion. Was kannst du mir darüber erzählen?«

Albert überlegte kauend. »Er ist groß und behaart und heißt Bert.«

»Irgendwelche wichtigen Infos?«

»Unter seinem Gewand trägt er eine Schusswaffe. Und ein Zeremonienschwert. Er hat eine Kampfausbildung. Und eine gewalttätige Vergangenheit. Ich habe seine Gedanken zwar nur ein paar Minuten gelesen, aber momentan interessiert er sich vor allem für Reiswein, Poker und die Mädchen im Viertel Kenilworth.« Versonnen setzte Albert hinzu: »Ehrlich gesagt fand ich ihn für einen Paten nicht besonders spirituell veranlagt.«

»Natürlich nicht!«, sagte Scarlett verächtlich. »Das sind sie alle nicht. Aber egal. Super gemacht, Albert. Jetzt können wir loslegen. Komm.«

Gemeinsam gingen sie tiefer in die Gasse hinein. Scarlett lief voraus, Albert folgte ihr und futterte dabei sein Rosinenbrötchen. Das Mondlicht fiel schräg über sie hinweg, versilberte die gegenüberliegende Wand, ließ aber ihre Seite der Gasse in schwärzester Dunkelheit. Scarletts Sinne waren hellwach. Sie war in Hochstimmung. Dafür lebte sie. Jetzt fühlte sie sich lebendig. Gerade jetzt nahm sie die sonst so eintönige Welt überdeutlich wahr. Die Schattenpfützen waren dunkler, der Mondschein gleißender, sie spürte jeden Millimeter ihrer Kleidung auf der Haut. Jedes Geräusch, jeder Geruch, sogar der Geschmack der Luft war mit Bedeutung aufgeladen. Jede Kleinigkeit konnte Gefahr oder Erfolg verheißen.

Scarlett hatte die Mauer um das Gelände im Voraus ausspioniert und einen Abschnitt entdeckt, wo der bröckelige Mörtel zwischen den Ziegeln vielversprechend aussah. Um die Stelle wiederzufinden, hatte sie ein Steinchen in den Rinnstein gelegt. Als sie dort ankamen, blieb sie stehen, sah sich um und horchte. Die Geräusche der Stadt waren leiser geworden, zumindest leiser als Alberts Mampfen. Mondlicht und Schatten. Sie öffnete den Stoffbeutel, holte den Pistolengurt heraus und schnallte ihn um. Zum ersten Mal seit vier Tagen hatte sie das Gefühl, vernünftig angezogen zu sein.

Sie legte die Hand auf die Mauer – und hielt inne.

»Kannst du ein bisschen leiser essen, Albert? Du machst einen Lärm wie ein Hochlandochse. Wenn du weiter so kaust und schmatzt, hetzt du uns noch die Miliz auf den Hals.«

»’tschuldigung. Das sind wohl die Nerven.«

»Quatsch. Wir haben schon sechs Banküberfälle zusammen durchgeführt. Das hier ist nichts anderes. Pack das Brötchen weg.«

»Ein bisschen anders ist es schon, Scarlett. Du kennst doch die Geschichten, die man sich über das Schatzgewölbe erzählt.«

»Ja, klar. Und ich halte sie alle für Humbug. Bis auf die Geschichten über die Berge von Gold.«

»Wenn du meinst …« Ein letztes geräuschvolles Schlucken. Die Broschüren fielen auf den Boden, Albert wischte sich die Hände am Leinenjackett ab. »So. Ich bin fertig.«

»Gut. Der kleine Rucksack ist im Beutel. Setz ihn auf und warte, bis du mich pfeifen hörst. Dann kommst du nach.«

Die Mauer war ungefähr vier Meter hoch. In elf Sekunden hatte Scarlett sie erklommen. Sie schwang ein Bein über die Mauerkrone, duckte sich und ließ den Blick über das Gelände gleiten. Der baumbestandene Park des Glaubenshauses bildete inmitten des Meeres der zahllosen Lichtpunkte der Neustadt ein großes schwarzes Rechteck. Nach Norden hin schimmerten die zerstörten Torbögen und Fachwerkhäuser der viel weitläufigeren Altstadt wie bleiche Knochen im Sternenlicht.

Im Nebengebäude hinter den Bäumen, wo der Schlafsaal untergebracht war, brannten ein, zwei Lichter. Die meisten Paten begaben sich um diese Zeit zur Ruhe. Das Glaubenshaus selbst war ein mondbeschienener grauer Klotz, der unter seinen Türmchen und Minaretten schlummerte. Noch nie hatten Räuber seinen Frieden gestört. Sogar die berühmt-berüchtigten Kriminellen der »Bruderschaft der Hand« – Scarletts ehemalige Arbeitgeber – hatten sich angeblich daran die Zähne ausgebissen. Der Ruf der Schatzkammer war, sowohl was das enthaltene Gold als auch die ausgeklügelten Sicherheitsvorkehrungen anging, bis in sämtliche Ecken der Königreiche vorgedrungen. Das Gewölbe galt als uneinnehmbar.

Aber nur, wenn man Albert Brownes außergewöhnliche Fähigkeiten nicht in Betracht zog, dachte Scarlett grinsend.

Sie stieß einen leisen Pfiff aus. Sogleich hörte sie es unter sich gewaltig schnaufen und ächzen. Ein nach Atem ringender Albert erschien und hievte sich auf die Mauer hoch. Nicht mal ein einarmiger Ertrinkender, der in ein Rettungsboot kletterte, hätte ein derartiges Theater veranstaltet.

»Was zum Teufel ist denn los?«, fragte Scarlett ärgerlich.

»Der viele Tee. Ich höre, wie er in meinem Bauch herumschwappt.«

»Raubzüge unternimmt man immer mit leerem Magen. Regel Nummer eins.«

Er kauerte sich linkisch neben sie. »Müssen wir da jetzt runterspringen? Ich glaube, dann platze ich.«

»Echt? Das würde ich gern mal sehen.« Scarlett drehte sich um und ließ sich geschickt von der Mauer herunter. Als ihre nackten Beine den kalten Stein streiften, zuckte sie zusammen. Tarnung hin oder her, Damenkleider waren keine geeignete Arbeitskluft. Sehnsüchtig dachte sie an ihre treue alte Lederjacke und die Jeans, die zusammen mit den Rädern außerhalb der Stadt versteckt waren.

Kurz blieb sie so hängen, dann ließ sie sich in die Dunkelheit hinabfallen. Es ging nicht tief hinunter, und sie landete auf weicher, trockener Erde. Ringsum duftete es intensiv nach Blumen. Sie stand auf und lauschte reglos dem eigenen Herzklopfen, kostete den Augenblick aus wie jedes Mal, wenn sie Feindesland betrat. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Geräusche von oben. Sie trat einen Schritt von der Mauer zurück. Erst war ein leises Quieken zu hören, dann ein kurzes Rascheln, und zu guter Letzt ein dumpfer Aufprall dort, wo sie eben noch gestanden hatte. Seufzend wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Pistolengurt zu. Alle Laschen und Zusatztaschen waren dort, wo sie hingehörten: Munition, Messer, Dietriche … Hinter sich hörte sie, wie sich Albert unbeholfen aufrappelte und Erde von seiner Kleidung und dem Rucksack klopfte.

Dann kam er zu ihr. »Der arme Anzug wird nie wieder derselbe sein.«

»Na und? Wir lassen uns sowieso nicht mehr in Warwick blicken.«

»Stimmt auch wieder. Das wäre unklug. Ein bisschen traurig macht es mich trotzdem.«

Scarlett huschte schon lautlos weiter, zwischen den Bäumen hindurch. Der helle Mond übergoss die Erde mit seinem silbernen Schein. »Traurig? Wieso?«

»Überall, wo wir unsere Raubzüge durchführen, ist es das Gleiche. Hier gibt es so viel aus alter Zeit zu entdecken … unheimliche Ruinen, sonderbare Bräuche … Und manche Leute sind richtig nett.«

Scarlett schnaubte verächtlich. Sie staunte immer wieder über Albert. Obwohl er jetzt schon ein halbes Jahr ein Leben als Outlaw führte, hatte er sich seine unverbesserlich positive Einstellung bewahrt. »Albert. Du hast die Steckbriefe doch gesehen. Wir sind die Staatsfeinde Nr. 1. Wenn sie uns schnappen und rauskriegen, wer wir sind, werden wir auf dem Marktplatz gehängt. Erst werden wir gefoltert und dann brutal hingerichtet. Alle wünschen uns den Tod.«

»Weiß ich ja … Trotzdem.«

»Es gibt kein trotzdem. Die Leute hier sind Städter. Sie sind grausam, rachsüchtig und hasserfüllt, wie oft muss ich dir das noch erklären? Und die Paten sind die Allerschlimmsten. Siehst du den Pfahl da drüben? Der sagt ja wohl alles.« Die Bäume lichteten sich, und sie blieb stehen. Ein Kiesweg und ein breiter, silbrig glänzender Rasenstreifen führten zum Glaubenshaus. Der Weg gabelte sich und lief um einen kreisrunden, tintenschwarzen Teich herum. Die Einfassung aus weißen Bodenfliesen symbolisierte den allumfassenden Kreis sämtlicher Glaubenshäuser, der jede zulässige Religion willkommen hieß. Es gab dort aber auch ein Podest, von dem ein schlanker Holzpfahl aufragte – der Schandpfahl. Scarletts Augen funkelten. Morgen würden die Paten hier drei weitere Opfer auspeitschen.

Doch mit etwas Glück hatten sie und Albert dann schon anderes zu bedenken.

Eine ganze Weile blieben sie reglos stehen und beobachteten den Park. Bei Raubzügen war von Eile immer abzuraten. Im Hauptgebäude selbst rührte sich nichts. Die imposante weiße Stuckfassade wies hier und da dem Alter geschuldete Narben und Flecken auf. Weil durch ein kleines Fenster über der Tür Licht fiel, konnte man die geschwungene Backsteintreppe erkennen, die zum Eingang hochführte.

Schließlich gingen sie weiter, hielten sich aber immer dicht bei den Bäumen.

»Du hast vorhin unsere Steckbriefe erwähnt«, ergriff Albert wieder das Wort. »Hast du sie dir mal angeschaut? So richtig, meine ich? Die Belohnung wurde auf 25.000 Pfund erhöht.«

»Hab ich gesehen.«

»Davor waren es 20.000 Pfund – für mich allein. Das bedeutet, dass du jetzt 5.000 Pfund wert bist, Scarlett. Glückwunsch.«

Er lächelte sie an und sie grinste zurück.

»Vergiss es. Wenn alles glatt läuft, sind wir nach heute Nacht noch sehr viel mehr wert … Wir müssen jetzt über die Wiese. Wir laufen direkt zur Tür, gehen rein und überwältigen die Wachen. Bist du so weit?«

»Ja.« Pause. »Obwohl … nicht ganz.« Albert räusperte sich. »Wie gesagt, der Tee …«

Scarlett verdrehte die Augen, aber es half nichts. Sonst würde er sich nicht konzentrieren können. »Bei Shiva! Meinetwegen, aber mach schnell. Nimm den nächsten Baum.«

Er eilte steifbeinig davon und Scarlett ließ den Blick abermals durch den Park schweifen. Das Mondlicht beschien den Schandpfahl, und ihr Blick kehrte unwillkürlich immer wieder dorthin zurück. Als sich eine Wolke vor den Mond schob, war der Pfahl nicht mehr zu sehen. Dafür erschien vor Scarletts innerem Auge ein anderes Bild. Sie sah drei andere Strafpfähle im Glanz goldenen Morgenlichts …

Sie blinzelte energisch und verscheuchte das Bild. Schritte im Gras: Albert kehrte aus dem Gebüsch zurück. – Bloß dass es nicht Albert war.

Es war ein Mann im langen schwarzen Gewand der Glaubenshaus-Paten, der mit langen Schritten um die Ecke des Gebäudes herumkam – untersetzt, breitschultrig und mit gerötetem Gesicht. Das nach hinten gegelte Haar reichte ihm bis über den weißen Stehkragen.

Scarlett und er erblickten einander gleichzeitig, doch Scarlett reagierte als Erste. Mit der Hand am Waffengurt machte sie einen Schritt auf den Mann zu. Doch auch der Wächter bewies Geistesgegenwart. Er zog den rechten Arm aus den Falten seines Gewands, in der Hand eine Pistole. Im selben Augenblick sauste aus Scarletts Richtung ein Messer durch die Luft. Der Knauf traf den Mann am Handgelenk, schlug ihm die Waffe weg.

Dabei bewegten sich beide weiter aufeinander zu. Die linke Hand des Paten kam zum Vorschein, mit einem langen Messer, das wie ein Vogelschnabel gebogen war. Er machte einen kleinen Satz und hieb nach Scarletts Arm. Sie duckte sich und die Klinge traf den Boden. Der Pate holte ein zweites Mal aus. Scarlett ließ sich zu Boden fallen, sodass die Klinge nur durch ihre wehenden Haare glitt wie ein Fisch durch Wasserpflanzen. Dann wirbelte sie auf die Hände gestützt einmal um die eigene Achse und trat den Mann kräftig vors Schienbein. Er stolperte zurück.

Im nächsten Augenblick war Scarlett wieder auf den Beinen. Der Pate fuchtelte wild mit seinem Säbelmesser, Scarlett wich wieder aus und trat noch einmal zu. Diesmal trafen ihre weißen Pumps die weiche, empfindliche Stelle, an der seine Hosenbeine zusammenliefen. Der Mann gab ein Geräusch von sich wie ein Ballon, aus dem man die Luft abließ. Er krümmte sich abrupt, und als er dabei den Kopf senkte, verpasste ihm Scarlett einen wohlgezielten Kinnhaken. Diesmal erinnerte das Geräusch an eine zerbrechende Eierschale, und der Pate schien plötzlich keinen Knochen mehr im Leib zu haben: Er kippte schlaff nach hinten um und blieb mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Rücken liegen.

Scarlett pustete sich die zerzausten roten Locken aus den Augen und richtete sich auf. Dann rieb sie ihre schmerzenden Fingerknöchel.

Albert kam hinter den Bäumen hervor und knöpfte sich den Hosenschlitz zu. »Uff! Jetzt geht’s mir schon viel besser. Ich bin richtig erleichtert.« Als er näher heran war, fragte er verdutzt: »Huch, wer ist das denn?«

»Woher soll ich das wissen?«, fauchte ihn Scarlett an. »Hieß er Bert? Oder Bill? Du hast ihn doch kennengelernt. Schnapp dir seine Beine. Wir müssen ihn irgendwo verstauen, wo ihn keiner sieht.«

Erfreulicherweise zögerte Albert nicht und stellte auch keine Fragen mehr, sondern tat einfach, was sie von ihm verlangte. Ein guter Auftakt für ihren Beutezug. Der Bewusstlose auf dem Boden hatte Albert wieder in die Spur gebracht. Es hatte ein halbes Jahr lang gedauert, ihm seine lebensgefährlichsten Schrulligkeiten auszutreiben, aber schließlich hatte Scarlett es doch geschafft. Wenn es drauf ankam, funktionierte er inzwischen fast so automatisch wie sie.

Sie fesselten den geknebelten und immer noch bewusstlosen Wächter an einen Baum. Dann kehrten sie zum Hauptgebäude zurück. In dem Raum über der Tür brannte immer noch Licht.

Die Nacht war totenstill. Das Haus und sein Inhalt warteten.

Albert ging zum Eingang und richtete kurz den Blick darauf. Dann drehte er sich zu Scarlett um und reckte wortlos erst zwei Finger und dann den Daumen.

Zwei Männer, wie vorhergesagt. Sie waren ahnungslos.

Scarlett nickte und zog die Pistole.

Dann ging auch sie zur Tür.

Kapitel 3

Alles in allem, fand Albert Browne, ließ sich sein Verbrecherleben gut an. Natürlich gab es auch Nachteile, aber das war in jedem Beruf so, und die Vorteile überwogen bei Weitem. Er war sich da recht sicher, weil er in ruhigeren Augenblicken – wenn er mal nicht verfolgt, gejagt oder beschossen wurde – die Pros und Kontras für sich aufgelistet hatte.

Die vier größten Nachteile waren:

Dass man ständig mit einem gewaltsamen Tod rechnen musste. Dass man immer wieder wüst beschimpft wurde. Dass man endlose Nächte in der Wildnis zubringen musste, wo einem Dornen in die empfindlichsten Körperteile pikten und Wölfe und Bären um die Schwefelkerzen herumschlichen. Dass ihn von Zeit zu Zeit Gewissensbisse plagten.

Heute Abend machte ihm Nummer vier wieder ein bisschen zu schaffen. Das lag an Bert, dem Paten. Noch vor einer Stunde hatte er sich nett mit ihm unterhalten, aber gerade eben hatte er ihn nun ohnmächtig und wehrlos an einen Baumstumpf gefesselt und mit einer seiner eigenen Socken geknebelt. Wobei der Bursche es bestimmt verdient hatte … und doch blieb ein gewisser Widerspruch.

Wenn Albert jetzt die beiden Wachen in ihren schwarzen Anzügen betrachtete, wie sie gefesselt und geknebelt in der Eingangshalle des Glaubenshauses lagen, erging es ihm ebenso. Scarlett schleifte sie gerade hinter den Empfangstresen, damit sie von der Tür aus nicht zu sehen waren. Wider Willen hatte Albert Mitleid mit ihnen, trotz ihrer wütend verdrehten Augen, den erstickten Flüchen und der offenen Feindseligkeit ihrer Gedanken. Er lächelte sie entschuldigend an und legte die Broschüren, die bei dem kurzen Kampf durcheinandergeraten waren, wieder ordentlich übereinander. Eigentlich wäre es viel schöner, wenn er und Scarlett Teil einer Gesellschaft wären, in der man sich mit solchen Leuten angeregt unterhalten könnte, statt hier hereinzuplatzen, sie k. o. zu schlagen und mit zwölf Metern erstklassigem Schlüpfergummi zu fesseln, den man am Vortag in einem Kurzwarengeschäft in Warwick erstanden hatte. Vielleicht wandelte sich die Welt ja eines Tages doch noch zum Guten. Albert hoffte es jedenfalls.

Bis dahin waren und blieben die vier größten Vorteile des ungebundenen Outlaw-Lebens folgende:

Dass er mit Scarlett zusammen war. Dass er frei war. Dass er gut in Form war (was nicht zuletzt an den unzähligen Verfolgungsjagden lag). Dass er die Sieben Königreiche bereisen, ihre wundersamen Sehenswürdigkeiten besichtigen, ihre Einwohner, Schönheiten und Geheimnisse kennenlernen und auf diese Weise den Wissensdurst stillen konnte, der seinem Wesen innewohnte.

Bei ihrer aktuellen Unternehmung war Punkt vier besonders zufriedenstellend ausgefallen. Sie hatten die Marschen und den weiten Himmel von Anglia hinter sich gelassen, das zerstörte Asphaltband der Großen Nordstraße überquert und waren durch die Hügel und Schluchten des Aschegürtels geradelt. Eindrucksvolle Karstlandschaften hatten ihren Weg gesäumt und sie zu guter Letzt in die faszinierende Stadt Warwick geführt.

Und jetzt erkundeten sie obendrein noch Warwicks berühmtes Glaubenshaus.

Scarlett hatte sich schon wieder in Bewegung gesetzt. Mit schimmernder blonder Perücke und sich unpassend von ihrem Kleid abhebendem Pistolen- und Einbrecherwerkzeuggürtel durchquerte sie den Raum mit langen Schritten. Albert lief eilig hinterher, vorbei an der mit Pennys gefüllten Spendenbox aus durchsichtigem Plastik, dem Broschürenständer, den großen Teespendern, den Reihen aus einfachen Holzstühlen … Er lächelte wehmütig. Es war noch nicht lange her, dass er als künftiger Gläubiger getarnt hier gestanden hatte … und jetzt kehrte er als Räuber wieder! Ja, es war auch diese Abwechslung, die er an seinem neuen Leben schätzte. Keine ihrer Unternehmungen glich dem anderen.

Vor der Tür am anderen Ende des Raums blieb Scarlett stehen und horchte. Albert schob seinen Rucksack zurecht und drehte sich noch einmal nach den beiden verschnürten Männern um. »Glaubst du, es geht ihnen gut?«

»Ich habe ihnen keine Kissen untergeschoben, aber ich schätze, sie kriegen genug Luft.« Scarlett stieß die Tür mit der Stiefelspitze auf. »Schau mich nicht so an, Albert. Bis jetzt habe ich noch niemanden erschossen. Freu dich lieber.«

»Das ist ein Grund zur Freude, stimmt.« Er überprüfte den Raum hinter der Tür. Alles war ruhig.

»Überhaupt finde ich, dass ich mich momentan ganz schön zurückhalte. Von den Banditen gestern abgesehen, habe ich niemanden mehr abgeknallt, seit …« Scarlett krauste die Stirn und überlegte angestrengt.

»Seit fast einer Woche. Der Posten an der Grenze zu Mercia, schon vergessen?«

»Der zählt nicht. Dem habe ich nur in den Arm geschossen. Warum wollte er uns auch unbedingt aufhalten, als wir vorbeigeradelt sind?« Sie schlüpfte durch die Tür. »Wohin jetzt?«

»Saal 2. Auf der anderen Seite des Atriums. Aber was den Grenzposten angeht … Ein schlichtes Verzieh dich! hätte es bestimmt auch getan.«

»Hab ich davor ja ausprobiert.«

Der Hauptraum des Glaubenshauses war ein kühler, schummriger Saal mit Wänden aus poliertem Stein und rauen Ziegeln, getaucht in gedämpfte elektrische Beleuchtung. Die Vorhänge waren in Grau und Gold gehalten. Es roch betäubend nach Weihrauch. Durch beige gestrichene Türen auf beiden Seiten ging es in die Gebetsräume, an der hinteren Wand befand sich ein bogenförmiger Durchgang mit einem Vorhang. Darauf hielten sie ohne Zögern zu.

In dem halben Jahr an Scarletts Seite hatte Albert gelernt, zielgerichtet und effizient vorzugehen. Er hatte noch viel mehr von ihr gelernt – manches davon war sogar legal. Er wusste nun, wie man einen sicheren Lagerplatz fand, wie man über offenem Feuer kochte, wie man Fallen für Wiesel und Schlammratten aufstellte und wie man Riesenmaulwürfe davon abhielt, dass sie nachts unter den Schlafsäcken zum Vorschein kamen. Er kannte die sechs nützlichsten Verwendungen für gegabelte Äste, konnte Kaninchen häuten und entbeinen und wusste, wie man wieder aus Tektitgestein-Feldern herausfand, in denen jeder Kompass versagte und einem pausenlos der Schädel dröhnte. Er konnte Flüssigkeit aus einer Flaschenkürbispflanze zapfen, konnte sich in schwarzem Sumpfland bewegen und sogar ohne feuerfestes Schuhwerk ein Brandgebiet durchqueren. Er hatte Tauschhandel mit Vagabunden getrieben, sein Brot mit Dieben und Aussätzigen geteilt und an den sonderbaren Zeremonien religiöser Eiferer aller Art teilgenommen. Er war in den Lastwagenkolonnen mitgefahren, die die Große Nordstraße bezwangen, und auf Barken, die vor der Küste Anglias kreuzten. Er hatte die Eisenhügel aus der Ferne gesehen und ihr magnetisches Pulsieren bis ins Mark gespürt. Kurzum, er hatte endlich ein bisschen gelebt, und seine entbehrungsreiche Kindheit im Gefängnis von Stonemoor schien Ewigkeiten her zu sein.

Es verstand sich von selbst, dass ihm Scarlett noch andere Fertigkeiten beigebracht hatte, die ihm bei ihren Unternehmungen zugutekamen. Wie man Schlösser knackte, widerspenstige Fenster öffnete und Türen aufbrach, außerdem kleine Tricks und Kniffe mit Messern und Brecheisen, mit denen man sich Zugriff auf den Inhalt von Safes, Aktenschränken und Schreibtischschubladen verschaffte …

Albert war darin gewiss noch kein Meister, aber solange er sie beide dank dieser Lektionen nicht mehr in zusätzliche Gefahr brachte, war er doch auf einem guten Weg.

Sie blieben vor dem Durchgang stehen. Der dahinter liegende Saal 2 war ein stiller, halbdunkler Raum mit violetten Vorhängen. Scarlett lauschte wieder. »Und hier soll die Geheimtür sein?«, fragte sie leise. »Hinter den Vorhängen oder wo?«

»Wenn sich der Picklige nicht geirrt hat, ja.«

»Pickel hin oder her, er wird ja wohl Bescheid wissen. Lauern da drin noch mehr Wächterpaten?«

»Wahrscheinlich.«

»Fallen?«

»Garantiert. Hier fangen die richtigen Sicherheitsvorkehrungen an.«

Drinnen im Saal war der Weihrauchgeruch noch stärker. Mehrere Reihen niedriger Hocker waren um ein leeres Halbrund aufgestellt. Hier wurden die religiösen Zeremonien abgehalten. Auf einer Infotafel waren diejenigen aufgelistet, an denen Albert zu früherer Stunde teilgenommen hatte. Es war nicht das erste Glaubenshaus, in das er mit Scarlett einbrach, und allmählich erschloss sich ihm das Konzept – die Mischung aus Theatralik und Alltäglichem. Doch vor allem herrschte hier Ordnung, ganz gleich, welche Gottheit man verehrte. Das sah man jedem Raum an, den sorgsam arrangierten Vorhängen und Kerzen, dem Gold und dem Glanz, der Heimeligkeit, den bequemen Sesseln und den Teespendern im Vestibül. Hier ließ es sich gut plaudern, es war einladend, man war von schönen Dingen umgeben und die Außenwelt wurde ausgesperrt. Es gab keine Fenster, die auf die krasse Realität hinausblickten – auf die Ruinen des alten Teils von Warwick oder (noch schlimmer) die von Raubtieren heimgesuchten Hügel dahinter. Was es jedoch gab, waren raffinierte Hinweise auf das Allmächtige: Durchgänge, hinter denen tiefste Dunkelheit herrschte, gemalte Sternenhimmel jenseits hoher Fenster, schmale, in Halbdunkel getauchte Wandnischen mit Statuen von Göttern und Heiligen. Alles war mit Bedacht entworfen, um ein Haus der Mysterien und Schatten zu erschaffen, und –

»Albert.«

»Ja, Scarlett?«

»Ich hab dich was gefragt.«

»Wirklich? Was denn?«

»Konzentrier dich gefälligst! Wir sind nicht zum Spaß hier! Ich will wissen, wo die Geheimtür ist.«

»Hinter dem linken Vorhang. Pass auf die Hebel auf.« Albert zog wieder seinen Rucksack zurecht. Er drückte, aber es war seine Aufgabe, ihn zu tragen. Scarlett trug dafür das Werkzeug und die Waffen.

Sie schob den Vorhang beiseite. Ein schmaler Türrahmen kam zum Vorschein, außerdem drei kurze Plastikhebel, die aus der Wand ragten. Scarlett sah Albert fragend an.

»Der rechte. Die beiden anderen bringen uns einen qualvollen Tod.«

»Äh … okay. Hochschieben oder runterdrücken?«

»Hochschieben. Die Tür geht nach innen auf, glaube ich.«

»Ist jemand dahinter?«

Albert konzentrierte sich, öffnete sich der Dunkelheit und der Stille. »Nein.«

»Gut.« Ohne Zögern schob sie den Hebel hoch, und tatsächlich schwang die Tür nach innen auf, allerdings schneller, als Albert erwartet hatte. Der Gang zum Allerheiligsten des Glaubenshauses von Warwick erstreckte sich vor ihnen. Er war stockdunkel. Nur ganz hinten brannte eine Lampe.

Scarlett und Albert standen da und spähten hinein. Wenn es stimmte, worüber in den Sieben Königreichen getuschelt wurde, wenn die erstaunlichen Bilder, die Albert aus den Gedanken der Paten ausgelesen hatte, nicht trogen, warteten dort hinten unermessliche Schätze.

Es war ein äußerst einladender Gang.

Keiner von beiden rührte sich vom Fleck.

»Tja, es scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte Albert schließlich.

Scarlett musterte misstrauisch die ferne Lampe mit ihrem kleinen Heiligenschein aus goldenem Licht. »Ja, oder? Das finde ich gerade verdächtig. Kam dieser Flur nicht in den Gedanken vor, die du gelesen hast?«

Albert überlegte. Die geistigen Bilder, die er den Paten stibitzt hatte, leuchteten matt vor ihm auf wie Bruchstücke eines Traums. »Nicht direkt. Irgendwo gibt es Falltürsteine, so viel steht fest, aber ich konnte nicht rausbekommen, wo genau. Ich habe eine Menge indirekte Fragen hinsichtlich der Sicherheitsvorkehrungen gestellt, aber die meisten Paten waren zu sehr damit beschäftigt, mir ihre Broschüren aufzudrängen. Immerhin kenne ich den Weg zur Schatzkammer. Am Ende des Flurs geht es erst nach rechts und dann immer geradeaus.«

»Eins nach dem anderen.« Scarlett nahm ihre Taschenlampe vom Gürtel und richtete den Lichtkegel auf den Boden. Die Fliesen waren groß, grau und rechteckig und jeweils so breit wie der ganze Gang. Jede fünfte hatte eine etwas andere Farbe, war etwas heller als die übrigen. Scarlett zog die Nase kraus. »Manche Fliesen sehen nicht so abgetreten aus wie die anderen.«

Albert nickte. »Eher eingestaubt und unbenutzt.«

»Stimmt. Und so soll es auch bleiben.«

Sie gingen langsam und stiegen über jede fünfte Fliese hinweg. Wie immer war Scarlett ruhig, entschlossen und unaufgeregt. Sie ließ die Taschenlampe systematisch kreisen, hielt nach Unregelmäßigkeiten an den Wänden oder der Decke Ausschau, doch der Putz war überall schmucklos und glatt. Jedes Mal, wenn sie stehen blieb, drehte sich Albert nach der offenen Tür hinter ihnen um. Zwischen den Vorhängen war immer noch ein schmaler Streifen von Saal 2 zu erkennen, ein dunkelgrauer Raum, leer und still. Albert wurde klar, dass er ihn nicht mochte.

»Wir hätten die Tür hinter uns zumachen sollen«, sagte er.

»Nein. Vielleicht müssen wir schnell fliehen …« Scarlett packte ihn am Arm. »Pass doch auf!«

Albert bekam einen Schreck, als sein Blick auf die harmlose helle Fliese fiel, auf die er beinahe getreten wäre, und ihm kamen gewisse unerfreuliche Gerüchte über das Glaubenshaus in den Sinn.

»Was glaubst du denn, was darunter ist, Scarlett?«

»Unter den Falltürsteinen?« Sie drehte sich grinsend nach ihm um, während sie weiterging. »Jedenfalls keine menschenfressenden Riesenfrösche, falls du dir deswegen Sorgen machst.«

»Du glaubst den Gerüchten nicht? Aha. Warum nicht?«

»Wegen der Logistik. Wie soll das gehen, eine Horde Monsterfrösche unter dem Fußboden einzusperren? Womit füttert man die Biester? Wie verhindert man, dass sie sich gegenseitig auffressen?« Sie zuckte die schmalen Schultern. »Glaub mir, das ist alles Unsinn. Wobei wir es wohl nie erfahren werden, weil wir nämlich nicht auf gewisse Fliesen treten … Und was haben wir hier?«

Sie hatten das Ende des Flurs fast erreicht. Auf beiden Seiten befanden sich geschlossene Rundbogentüren. Vor ihnen schimmerte die Lampe verführerisch auf einem erhöhten Wandvorsprung.

Darunter stand ein hölzernes Lesepult, auf dem ein Buch lag. Albert blieb stehen. Bei seiner Erkundigung nach den Sicherheitsvorkehrungen hatten ihm die Gedanken eines Paten ebendieses Bild gezeigt.

»Das ist eins ihrer heiligen Bücher«, sagte er. »Der Einband besteht aus der Haut von Gezeichneten, der Rücken ist mit Edelsteinen besetzt. Sieht verlockend aus, ist aber eine Falle.« Sein Blick wanderte nach oben zur Decke. »Da, über der Tür! Siehst du das kleine Rohr? Da strömt Gas heraus, wenn wir das Buch hochnehmen.«

Scarlett grinste ihn wieder an. »Gut gemacht. Hätte ich übersehen. Mach mal Räuberleiter, aber guck nicht hin. Dieses blöde Kleid ist echt nicht klettertauglich.«

Sie öffnete eine Tasche an ihrem Gürtel und holte die Watte heraus, die sie für solche Zwecke eingesteckt hatten. Dann stieg sie auf Alberts verschränkte Hände und kletterte von dort aus erst auf das Lesepult und dann auf den Wandvorsprung. Sie beugte sich vor, verstopfte das Rohr mit einem Wattepfropf und hüpfte gelenkig wieder herunter.

Albert hatte währenddessen gehorsam in den langen, leeren Gang geblickt. Niemand kam. »Und was machen wir mit dem Buch?«, fragte er.

»Das nehmen wir mit. Joe kann die Edelsteine bestimmt gut verkaufen.« Als Scarlett das Buch hochhob, war ein leises Klicken zu hören, sonst geschah nichts. Sie reichte es an Albert weiter, der es in seinem Rucksack verstaute. »Und jetzt gehen wir nach rechts«, sagte sie dann. »Ist jemand hinter dieser Tür?«

Er konzentrierte sich wieder darauf, fremde Gedanken zu empfangen. »Nein.«

»Sehr gut.«

Scarlett öffnete die Tür. Dahinter tat sich ein großer Raum auf, den flackerndes elektrisches Licht erleuchtete. Es führten mehrere Türen hinein, dazwischen standen Glasvitrinen an den Wänden. Hübsche Tischchen und bequeme Sessel waren in der Mitte aufgestellt. Die Vitrinen enthielten die üblichen Glaubenshaus-Schaustücke – Gegenstände, die noch aus der Epoche der Grenzkriege stammten: Waffen, mit denen die Pioniere damals auf die Gezeichneten geschossen hatten, Dokumente, die den Einwohnern von Warwick die Erlaubnis erteilten, die Ruinen wieder zu besiedeln und neue Felder anzulegen. Auch Fotos waren ausgestellt: von den allerersten Paten mit ihren buschigen Schnurrbärten, von hingerichteten Abweichlern auf dem Marktplatz, sogar von den ersten fahrenden Glaubenshäusern, deren Paten die Botschaft von Hoffnung und spiritueller Verbundenheit in den weit auseinanderliegenden Städten verbreitet hatten. Damals war ein Glaubenshaus nicht mehr als ein Holzkarren mit einem Zeltaufbau gewesen, den man über eine einfache Leiter betrat. Albert versuchte sich vorzustellen, wie die Paten damit durch die Wildnis gerumpelt waren, immer auf der Hut vor Gefahren. Wie hatten sie sich geschützt? Aber vielleicht hatte es damals noch nicht so viele Gezeichnete gegeben.

Wie jedes Mal angesichts solcher Artefakte konnte er sich nicht von den Vitrinen losreißen, wie jedes Mal hätte er gern länger davor verweilt und sich die Fotos gründlicher angeschaut. Aber das ging natürlich nicht. Scarlett stand schon mitten im Raum und wartete.

»Kommst du endlich?«, blaffte sie ihn an. »Du bist echt wie ein alter Opa, der die schöne Aussicht bewundert. Ich will in die Schatzkammer!«

»Findest du so was denn nicht spannend?« Als Albert über die weichen Teppiche zu ihr lief, verursachten seine Turnschuhe kaum ein Geräusch. »So viel Geschichte! Das ganze Haus ist voll davon!«

»Mich interessiert nur, dass es voller Gold ist«, gab Scarlett prompt zurück.

Was ihre Gedanken eindeutig bestätigten. Albert gab sich schon aus reiner Höflichkeit große Mühe, sie zu ignorieren, sah aber zwangsläufig die Bilder, die in Scarletts Kopf herumschwirrten – von Truhen randvoll mit Münzen, von bergeweise Silber- und Goldbarren …

Jetzt, wo die Beute so nah war, wuchs ihre Gier und rang mit ihrer nüchternen Zielstrebigkeit.

»Ganz so hoch türmen sich die Schätze auch wieder nicht«, sagte Albert.

»Liest du etwa meine Gedanken?«, fragte sie ärgerlich.

Er hob abwehrend die Hände. »Selbst wenn – ich kann nichts dafür. Bei der Arbeit trägst du ja deinen Hut nicht. Außerdem kann man deine Gedanken nicht übersehen. Sie sind so grell und bunt, als hättest du sie mit blinkenden Lichterketten umwickelt. Auf jeden Fall entsprechen sie nicht dem, was die Paten in ihren Schatzkammern sehen, mehr sage ich ja gar nicht.«

»Schon gut. Reg dich ab. Und wo ist die Schatzkammer?«

»Hinter der Tür da vorn.«

»Okay. Pass auf die große helle Fliese hier auf. Nicht drauftreten.«

Sie gingen um die Fliese herum und näherten sich der Tür. Scarlett legte die Hand auf die Klinke und strich sich mit der anderen Hand die Haare aus dem Gesicht. »Nicht abgeschlossen. Jemand dahinter?«

Albert konzentrierte sich. »Nein.«

»Gut.«

Sie öffnete die Tür.

Dahinter stand ein großer, glatzköpfiger Mann in dunklem Anzug. Er hatte ein langes, schmales Messer in der Hand.

Ohne einen Laut von sich zu geben, stürzte er sich auf Scarlett und zielte mit der Waffe direkt auf ihr Herz.

Kapitel 4

Albert riss den Mund zu einem Entsetzensschrei auf, doch der Luxus eines Lauts war ihm nicht vergönnt. Stattdessen wurde er unsanft von Scarlett nach hinten geschubst, als sie dem Messer um Haaresbreite auswich. Er schwankte, machte einen Schritt zurück – und trat mit vollem Gewicht auf die helle Bodenfliese. Die Fliese löste sich mit einem Klick und kippte um einen Drehpunkt in der Mitte schräg nach unten weg. Unter Albert tat sich ein gähnender Abgrund auf.

Scarlett duckte sich, entkam dem nächsten wilden Hieb des Paten nur knapp, gleichzeitig schoss ihr Arm nach hinten und sie packte Albert am Handgelenk. Breitbeinig fing sie sein Gewicht ab, und statt vollends in die Fallgrube zu stürzen, landete Albert bäuchlings auf deren Kante, seine freie Hand verzweifelt nach mehr Halt suchend und seine Beine ins Leere strampelnd.

Von unten wehte ein kalter Luftzug herauf, und er hörte ein dumpfes Gurgeln und Platschen, als etwas eilig angeschwommen kam.

Der Wächterpate stach erneut zu und Scarlett wich zurück. Dabei ließ sie den Arm sinken und Albert rutschte ein Stück tiefer. Panisch klammerte er sich am Rand der Öffnung fest. Dicht unter ihm prallte etwas Feuchtes gegen Stein, gefolgt von einem lauten Aufklatschen, als sei etwas Großes zurück ins Wasser gefallen. Etwas streifte seinen Schuh. Ein leises Scharren und Kratzen, dann erneut das Platschen.

Scarlett zerrte so lange an seiner Hand, bis sein Oberkörper wieder über dem Rand der Fallgrube lag. Dann ließ sie ihn los und widmete sich voll und ganz ihrem Gegner. Albert stemmte sich mühsam auf den Ellbogen hoch und ließ sich nach vorn auf den Fliesenboden fallen. Dann hievte er sich Stück für Stück weiter. Als er sich auf den Knien aufrichten konnte, drehte er sich um und spähte in die Öffnung. Aus der Tiefe glotzten ihn mehrere bleiche Glupschaugenpaare an. Anschließend schwenkte die Kippfliese wieder in ihre ursprüngliche Stellung zurück.

Albert kam mit weichen Knien auf die Beine. Im selben Augenblick hörte er einen Aufschrei, einen dumpfen Schlag und das Klirren von Metall auf Stein. Als er den Kopf wandte, sah er gerade noch das schlanke Messer auf den Fliesen austrudeln. Der Wächterpate lag mit verdrehten Gliedmaßen am Boden. Scarlett stand in der Tür zur Schatzkammer und hielt sich den Kopf.

Albert wurde es ganz anders. »Scarlett! Alles in Ordnung?«

»Klar doch.« Sie war nicht mal außer Atem, klang nur leicht genervt. Ihre Perücke war verrutscht und am Scheitel fehlte ein großes Stück. »So ein Mist«, schimpfte sie. »Das Ding ist hin. Joe wird ganz schön meckern. Er hat ewig gebraucht, um die Perücke aufzutreiben. Wenn wir eine neue beschaffen müssen, rastet er aus.« Sie riss sich die traurigen blonden Überreste vom Kopf und schleuderte sie weg. Die langen roten Locken fielen ihr ungehindert ins Gesicht.

Albert atmete tief durch. »Aber du bist nicht verletzt, oder?«

»Quatsch. Was ist denn mit dir los? Du zitterst ja.«

»Nichts. Gar nichts. Mir geht’s gut.«

»Was ist da unten?«

Er sah sie an. »Wasser. Und irgendwas Hüpfendes mit Glupschaugen.«

»Oh.« Sie machte eine kurze Pause. Dann rieb sie sich energisch die Hände. »Siehst du? Darum lassen wir die hellen Fliesen aus. Darum passen wir auf, wo wir hintreten. Apropos – was war mit dem Typen?« Sie verpasste dem reglosen Paten einen Tritt. »Wieso hast du ihn vorhin nicht wahrgenommen?«

»Tut mir furchtbar leid, Scarlett. Aber die Tür hat Eisenbeschläge – da. Du weißt doch, dass Eisen meine Gabe blockiert.« Das bohrende Leuchten in ihren Augen erlosch sofort. Das gehörte zu Scarletts zahlreichen Vorzügen: Sie hielt sich nicht lange mit Nebensächlichkeiten auf. Er hatte ihr eine Erklärung geliefert, und damit war die Sache erledigt. Sie gab sich zufrieden und ging zur Tagesordnung über.

Er stieg über das ausgestreckte Bein des Wächterpaten. Dass Scarlett in so jungen Jahren schon derartige Fähigkeiten erworben hatte, faszinierte ihn immer wieder. Irgendwer musste ihr das alles beigebracht haben, aber darüber sprach sie nie, verbarg es wie die meisten Details aus ihrer Vergangenheit. Wobei es nicht besonders tief unter der Oberfläche lag. Doch Albert versuchte nicht, es zu lesen. Sie war seine Freundin.

»Er ist nicht tot, oder?«, fragte er.

»Nö.« Sie kniete sich hin und zog dem Mann einen Schlüsselbund aus der Gürteltasche. »Aber wenn er wieder zu sich kommt, dürfte er tierische Kopfschmerzen haben. Geschieht ihm ganz recht. Er wollte uns dran hindern, dort reinzukommen.«

Albert blickte über ihre Schulter durch die offen stehende Tür. Sie hatte ein Guckloch, durch das der Pate sie offenbar beobachtet hatte. Auch dahinter brannte mattes elektrisches Licht, und überall standen Metallregale und Tische. Und auf den Tischen: Kisten, stapelweise Kisten – und hier und da glitzerte es golden. Der Raum kam ihm bekannt vor – er hatte schon in den Gedanken der Paten einen flüchtigen Blick darauf erhascht. Wie immer, wenn die geborgten Erinnerungen anderer Menschen plötzlich vor seinen Augen Wirklichkeit wurden, kam er sich wie ein Eindringling vor, wie jemand, der sich vorübergehend ein fremdes Leben aneignete. Was nicht unbedingt unangenehm war.

Doch Scarlett war ihm wieder mal ein Stück voraus. Mit energischen Schritten, so wie immer auf ihren Beutezügen, betrat sie die Schatzkammer. Forsch, ruhig, hundertprozentig konzentriert … jederzeit darauf gefasst, dass etwas sie ansprang, und zu hundert Prozent auf das gerichtet, was gerade vor ihr lag. Albert hatte längst begriffen, dass »zurück« jene Richtung war, die Scarlett am wenigsten leiden konnte. Als würde sie von etwas Grässlichem verfolgt. Sie wusste, dass es da war und sie ihm nicht entfliehen konnte, doch sie ließ nicht zu, dass es sie einholte.

Sie hantierte geschickt mit dem Schlüsselbund, öffnete Geldkassetten, klappte Deckel auf, lief zwischen den Regalen hin und her. »In diesem Gebäude halten sich bestimmt noch mehr Paten auf, von denen wir nichts gewusst haben«, sagte sie. »In zehn Minuten müssen wir wieder weg sein. Los jetzt, die Säcke!«

Albert fischte die beiden Jutesäcke heraus und warf Scarlett einen davon zu. Den eigenen hielt er auf und begab sich zu dem nächstbesten Regal. Ja, hier lagerte das ganze Zeug, für das sich seine Partnerin so begeisterte: Geldbündel, Münzen und Edelsteine. Gold- und Silberbarren, kleine Statuen und andere Luxusgüter, mit denen jeweils einige der darauf spezialisierten Städte handelten. Die in den Glaubenshäusern gehorteten Reichtümer überstiegen die Vorstellungskraft eines jeden gewöhnlichen Bürgers. Weil die Paten aber so barbarisch mit allen umgingen, die andere Überzeugungen hegten oder nicht ihren genetischen Anforderungen entsprachen, hatte Albert keine Bedenken, so viel zusammenzuraffen, wie er nur konnte.

Als er eben nach dem ersten Geldbündel greifen wollte, fiel ihm etwas noch Interessanteres ins Auge. Auf einem sonst leeren Regal stand ein durchsichtiger Plastikbehälter, ungefähr so lang wie sein Unterarm. Darin lag auf einem rosafarbenen Satinkissen ein undefinierbarer, geschwärzter und verrosteter Metallgegenstand. Mehrere Plastikdrähte ragten daraus hervor, außerdem ein langes, dünnes Röhrchen sowie etwas, das wie ein kleiner Haken aussah. Albert wusste, dass manche Gegenstände der alten Zeit aus überfluteten oder versunkenen Städten im Ödland geborgen wurden. So etwas hatte er schon immer mal sehen wollen. Ein eigentümlicher Geruch stieg ihm in die Nase: zugleich stechend, säuerlich und muffig. So roch Verlorengegangenes und Wiedergefundenes. So roch die Vergangenheit … Er beugte sich neugierig über den Behälter.

»Hör auf zu träumen, Albert!« Sein Kopf schoss in die Höhe. Scarlett stand ein paar Meter von ihm entfernt und funkelte ihn strafend an. Ihr Sack war schon halb voll.

»Entschuldigung.«

»Dein Mund steht so weit offen wie dieser Sack. Was hast du schon eingepackt?«

»Äh … nichts.«

»Nichts? Bei Shiva! Wie oft haben wir das schon besprochen? Nachher kannst du so lange idiotisch ins Leere glotzen, wie du Lust hast. Aber jetzt ist noch nicht nachher, klar?

»Klar.«

»Dann reiß dich zusammen. Du kennst die Reihenfolge: erst Scheine, dann Münzen, dann Gold, das man einschmelzen kann. Erst danach Edelsteine. Und wenn dann noch Platz ist, Schmuck, den Joe verticken kann.«

»Ja, Scarlett.«

Sie ging schon weiter. »Prima. Du machst dich gut. Aber wir müssen hier fertig werden und abhauen. Und vergiss nicht zu horchen – oder was immer du da auch anstellst, wenn deine Gabe zum Einsatz kommt.«