12,99 €
Der atemberaubende Abschluss der phänomenalen Trilogie des Bestsellerautors von »Lockwood & Co.«
Albert und Scarlett rauben sich nun schon eine ganze Zeit lang quer durch die Sieben Königreiche des geplagten Englands, ohne geschnappt zu werden. Auf ihrem Weg gewinnen sie nach und nach Verbündete, die ihnen helfen wollen, die Schreckensherrschaft der Glaubenshäuser zu beenden. Doch das ist nicht die einzige gewaltige Aufgabe, die sie sich vorgenommen haben. Sie wollen auch noch versuchen, Scarletts verschollenen Bruder zu finden. Aber wie groß ist die Chance, dass ein kleiner Junge in einer Welt voller wilder Bestien und grausamer Eiferer überlebt hat?
Das abschließende Abenteuer dieser zwei umwerfenden Helden vom Meister der Fantasy – rasantes Lesevergnügen garantiert!
Die Scarlett-&-Browne-Reihe:
Scarlett & Browne – Die Outlaws (Band 1)
Scarlett & Browne – Die Berüchtigten (Band 2)
Scarlett & Browne – Die Legendären (Band 3)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 520
Veröffentlichungsjahr: 2025
JONATHAN STROUD
Aus dem Englischen vonAlexander Wagner
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Für Liz, mutig, schön, inspirierend, und für Colin, Max und Jake in Liebe
© 2025 der deutschsprachigen Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
www.cbj-verlag.de
© 2025 Jonathan Stroud
Die englische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel:
»The Legendary Scarlett & Browne«
bei Walker Books Ltd., London
Übersetzung: Alexander Wagner
Lektorat: Lektorat Stenger & Rode GbR
Umschlagkonzeption: Semper smile, München
unter Verwendung der Motive von © Shutterstock (Besov Dmitry; faestock; Images By Kenny; HappyPictures; PeopleImages.com – Yuri A)
MP · Herstellung: AnG
Satz und Reproduktion: Uhl + Massopust GmbH, Aalen
ISBN 978-3-641-33177-1V001
Inhalt
I. Die Suchenden
II. Erinnerungen eines Kindes
III. Verloren und Verlassen
IV. Enden
An diesem Nachmittag eskortierte man den Barbier und Wundarzt Harold O’Shaughnessy wegen seiner jüngsten Frevel gegen die Glaubenshäuser zur Stadt hinaus. Es war ein perfekter Tag für eine Hinrichtung. Eine frische Brise ließ die Wimpel auf der Palisadenmauer flattern. Die Frühlingssonne beschien die Baumwipfel. Der Himmel war taubenblau. Wie O’Shaughnessy zu seinem Kerkermeister bemerkte, hätte es schlimmer kommen können. Zumindest würde er nicht im Regen gefressen werden.
Auf der Brücke, die über den Burggraben führte, hatte sich eine bunte Schar Schaulustiger versammelt. Einige tranken Bier, andere schlürften Kaffee; alle aßen von dem Obstkuchen, den die Frauengilde von Yeovil zu diesem Anlass gespendet hatte. Die amtliche Zeremonie dauerte nicht lange. O’Shaughnessy wurde mit den Stangen der Gerechtigkeit gestoßen und von den Stadtältesten verflucht. Seine Kleidung wurde mit gelber Farbe beschmiert, die für moralische Verwerflichkeit stand, und mit Fleischpaste bestrichen, um die wilden Tiere anzulocken. Dann musste er sich auf den Verbannungsstein vor dem Tor stellen, während der Oberste Pate das abschließende Urteil verkündete.
»Wegen wiederholter Respektlosigkeit, beleidigender Äußerungen, Auflehnung gegen die moralischen Regeln der Gesellschaft, der Weigerung, sich an den Pflichten der Glaubenshäuser zu beteiligen, und wegen allgemeiner Verleumdung und Korruption der Jugend wird Harold O’Shaughnessy hiermit zu drei Nächten in Ketten auf der Lichtung im Fernen Forst verurteilt. Wenn er nach drei Nächten noch am Leben ist, gilt seine Seele als gereinigt, und wir werden ihn mit offenen Armen wieder aufnehmen.«
Der Oberste Pate kam zum Ende; es raschelte kurz, als er sein Manuskript zusammenfaltete. Der Barbier auf seinem Stein starrte teilnahmslos in den Himmel, während die Menge unten überrascht auf ihrem Kuchen kaute. Drei Nächte? Drei Nächte im Forst?
Eines war sicher. Die Glaubenshäuser wollten ihn wirklich loswerden.
Ein Trommelwirbel ertönte, als ein Junge die Tomtom schlug, die mit der Haut eines Gezeichneten bespannt war. Die Gruppe, die den Verurteilten im Forst in Ketten legen sollte, wurde vom Paten angeführt, gefolgt vom Trommler und vier Milizionären, die den Verurteilten eskortierten. O’Shaughnessy, ein kleiner, elegant gekleideter Mann mit olivfarbener Haut und einem gepflegten schwarzen Bart, lächelte und nickte im Vorbeigehen seinen Nachbarn zu. Er war entschlossen, eine gute Figur abzugeben. Als Letzter folgte der Sergeant der Eisenpfähle, dessen blutroter Bowlerhut in der Sonne glänzte.
Die Prozession überquerte die Brücke und bog in einen Feldweg ein, der durch eine frisch glänzende Wiese führte. Bald erhob sich vor ihnen ein dichter Wald. Der Weg führte zwischen den Bäumen hindurch und die Luft wurde schwer vom harzigen Geruch der Kiefern. Der Forst war dunkel und feucht. Die Trommel schlug leiser, und die Milizionäre zückten ihre Pistolen. Der Schritt des Barbiers stockte. Sie mussten ihn antreiben, indem sie an seinen Fesseln zerrten.
Schließlich erreichten sie den Rand der Sicherheitszone, wo der Weg auf einer sonnigen Lichtung endete. Hier standen zwei mannshohe, mit Ketten versehene Eisenpfähle auf einer Steinplattform. Die Lichtung war mit niedrigem Gestrüpp bewachsen, aus dem schwarze Felsen ragten. Es war ein bedrückender und sehr stiller Ort. Der Wald wirkte auf ihn bedrohlich wie die Fänge eines Tellereisens.
Der Pate gab seine Befehle, und die Milizionäre führten den Verurteilten zum nächstgelegenen Pfahl. O’Shaughnessy wollte ein Gespräch mit den Männern beginnen, die alle Freunde oder Nachbarn waren, aber sie ignorierten ihn. Warum sollten sie auch mit ihm reden? Für sie, wie für die meisten Menschen Yeovils, war er bereits tot. Ebenso gut hätte man mit einem Geist sprechen können.
Wenig später war die Arbeit getan. O’Shaughnessy war an seinen Pfahl gekettet. Die Männer standen dicht gedrängt auf dem Weg und starrten in den Wald. Die Wipfel der Bäume waren rosa gefleckt. Die Sonne ging gerade unter.
Jetzt trat der Sergeant der Eisenpfähle näher, um die Ketten zu überprüfen.
O’Shaughnessy hatte auf diesen Moment gewartet. »Jim«, flüsterte er. »Jim.«
Der Sergeant fuhr mit seinen großen Händen an den Kettengliedern entlang und überprüfte ihren Sitz. Er blickte nicht auf.
»Jim«, wiederholte O’Shaughnessy. »Um der alten Zeiten willen. Mach sie mir etwas lockerer.«
Der Sergeant warf einen Blick zu dem Paten hinüber, der sie genau beobachtete, wobei das Licht der untergehenden Sonne auf seiner Brille glitzerte und seinen sandfarbenen Haarschopf erleuchtete. Der Sergeant räusperte sich. »Das geht nicht«, sagte er.
»Dann lass mir eine Waffe da.«
»Du weißt, dass ich das nicht darf.«
»Ein Messer. Eine Pistole. Irgendetwas.«
»Tut mir leid, Harold.«
Schweigen trat ein.
»Nun«, sagte der Barbier. »Ich schätze, wir sehen uns in drei Tagen wieder.«
Der Sergeant seufzte. »Harry«, flüsterte er, »ich gebe dir höchstens ein paar Stunden.«
O’Shaughnessy behielt seine unbekümmerte, herausfordernde Haltung bei, bis die Gruppe die Lichtung verlassen hatte. Als die Trommel verhallt war, ließ er die Schultern sinken. Er rutschte nach unten in die Hocke, die Ketten klirrten auf der Plattform. Ein paar Stunden? Er konnte von Glück sagen, wenn er überhaupt das schaffte.
Trotzdem gab es vielleicht eine Chance. Es hieß, dass Wanderer die Wälder durchstreiften. Banditen zum Beispiel oder andere Outlaws. Diese Leute könnten die Pfähle aufsuchen, um zwischen den Knochen zu stöbern. Vielleicht käme tatsächlich jemand vorbei! Jemand, den er überreden könnte, ihn zu befreien! Dieser Hoffnungsschimmer ließ O’Shaughnessys Herz höherschlagen.
Aber erst einmal musste er die Nacht überstehen.
Es war still auf der Lichtung. Frösche quakten in einem unsichtbaren Tümpel. Das Blätterdach war von einem letzten sanften Schimmer erhellt, aber weiter unten, zwischen den Bäumen, war es düster und dämmrig.
Der Barbier fixierte eine Stelle auf der anderen Seite der Lichtung. Dort kreuzte eine halb umgestürzte Kiefer den Stamm einer anderen und bildete eine Art Durchgang. Die Öffnung war nicht schwärzer als der übrige Forst … Trotzdem fiel es ihm schwer, den Blick abzuwenden.
Die Zeit verging. Das Tageslicht schwand. Am Rand der Lichtung flatterte ein Schwarm schwarzer Vögel auf. Sie kreisten kurz über dem Waldrand und verschwanden dann aus seinem Blickfeld. Ein kalt strahlender Mond erhob sich über den Baumwipfeln, scharf wie ein Krummsäbel.
O’Shaughnessy wurde bewusst, dass sich die Stille plötzlich verändert hatte.
Was war anders? Er lauschte angespannt. Die Frösche waren verstummt. Die Vögel waren verschwunden. Im schräg einfallenden Mondlicht schwebten Staub und Sporen vorbei. Hinter den glitzernden Pfählen schlängelte sich der Weg nach Yeovil wie ein weißer Saum durch die Dunkelheit.
Seine Haut kribbelte. Er starrte auf das schwarze Loch in den Bäumen.
Nein, alles war in Ordnung. Da war nichts zu sehen.
Aber was war da hinter ihm? Mit einem Ruck richtete er sich auf und kämpfte gegen das Gewicht der Ketten an. Er streckte den Hals, machte mühsame kleine Schrittchen und drehte sich um den Pfahl. Die Ketten rasselten und knirschten. Eigentlich hatte er nicht so einen Lärm machen wollen, aber er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass der Tod sich lautlos hinter seinem Rücken anschlich.
Jetzt blickte er zur anderen Seite der Lichtung. Was war dort? Eine Wand aus schwarzen Kiefern. Felsen, die vom Mondlicht angestrahlt wurden. Heidekraut. Sterne.
Sonst nichts.
Der Barbier atmete erleichtert aus.
Mit rasselnden Ketten schlurfte er zurück in seine Ausgangsposition. Er hatte sich einmal im Kreis gedreht und blickte wieder auf das Loch in den Bäumen.
Drei große weiße Gestalten standen dort.
Für einen Moment war O’Shaughnessy wie erstarrt. Dann wurde ihm schlagartig klar, wie sein Leben enden würde. Verzweifelt riss er an seinen Fesseln und presste sich gegen den Pfahl, als könnte er seinen Körper mit der schieren Kraft der Verzweiflung hindurchdrücken. Die Ketten rasselten, seine Muskeln spannten sich, seine Gelenke knackten und knirschten. Doch die eisernen Fesseln gaben nicht nach.
Noch bewegten sich die Gestalten nicht. Sie wirkten irgendwie grobkörnig, unscharf und erschreckend dünn. Ihre Arme waren angewinkelt, ihre Finger lang und gekrümmt.
Der Barbier stieß unwillkürlich einen leisen Schrei aus. Als hätten sie auf dieses Signal gewartet, bewegten sich die Erscheinungen langsam vorwärts, glitten zwischen Felsen und Gestrüpp hindurch.
O’Shaughnessy stemmte sich gegen den Pfahl, seine Handgelenke verdrehten sich in den metallenen Fesseln. Die Gestalten kamen näher. Er sah ihre herabhängenden Arme, ihre gebeugten Rücken, die grauweißen Einbuchtungen ihrer Bäuche … Jetzt witterten sie ihn! Jetzt rannten sie! Sie hüpften und sprangen zwischen den Büschen hindurch, aber sie gaben keinen Laut von sich.
O’Shaughnessys Glieder fühlten sich an wie Pudding. Er hatte keine Kraft mehr. Er sah, wie der erste Gezeichnete auf die Plattform sprang. Das Wesen legte den Kopf schief und musterte ihn. Das Mondlicht schimmerte auf seiner toten, weißen Haut. Pupillenlose Augen funkelten, er hörte Zähne knirschen. Es setzte zum Sprung an.
Ein Schuss zerriss die Stille. Der Barbier zuckte zusammen. Die Kreatur taumelte und starrte auf ein dunkles Loch in der Mitte seiner Brust. Es krallte nach dem Loch, als wolle es einen Fleck wegwischen. Ein weiterer Schuss krachte. Der Gezeichnete schrie auf, fiel von der Plattform und wand sich abscheulich zuckend im Gestrüpp.
Der Barbier blickte auf. In einiger Entfernung erhob sich ein schwarzer, vom Mond beleuchteter Felsen.
Darauf stand ein Mädchen.
Sie war bleich wie ein der Erde entstiegener Geist – ein Geist mit einem qualmenden Revolver in der Hand. In der anderen hielt sie ein Messer. Unter einem breitkrempigen Hut lugten wirre Haarsträhnen hervor. Ihr langer Ledermantel schwang hin und her, als sie noch zweimal auf das Ding am Boden feuerte, und dann je einmal auf die beiden anderen. Der zweite Gezeichnete sank auf die Knie und sprang wieder hoch; der dritte heulte wütend auf und blieb stehen.
Die Waffe war leer. Die junge Frau fluchte, steckte sie in den Gürtel und blies sich die Haare aus dem Gesicht. Abwehrbereit hob sie das Messer, als sich die Kreaturen von zwei Seiten näherten.
Ein fröhliches Pfeifen ertönte in der Dunkelheit. Die Gezeichneten hielten inne, sie und der Barbier drehten die Köpfe. Noch eine Gestalt näherte sich! Diesmal war es ein Junge, schlank und zierlich, nicht größer als das Mädchen. Er kletterte über das Gestrüpp auf die andere Seite der Plattform. Er wirkte zerzaust und außer Atem.
Das Mädchen starrte ihn an. »Wurde aber auch Zeit!«
»Tut mir leid, Scarlett.«
»Ich habe es hier mit einer Horde Gezeichneter zu tun.«
»Ich sehe nur zwei.«
»Einen habe ich erschossen, bevor du aufgetaucht bist. Hoffentlich hast du eine gute Ausrede.«
»Klar. Ich bin mit der Hose in Brombeerenranken hängen geblieben und … Oh, Moment …«
Ein Gezeichneter hatte auf den Hacken kehrtgemacht und stürzte sich auf ihn. Der Junge hob eine Hand: Das Wesen stoppte schlagartig mitten in der Luft. Dann wurde es zum Erstaunen des Barbiers nach oben geschleudert, in die Richtung, die der Junge mit seiner Hand lässig angedeutet hatte. Die Kreatur streckte alle viere von sich und fletschte die Zähne. Ihr Gesicht verzerrte sich, als sie über die Lichtung und den Wald gewirbelt wurde. Sie wurde kleiner, kleiner … und war im Nu verschwunden.
»Du bist also mit der Hose in Brombeerenranken hängen geblieben?« Das Mädchen fixierte den letzten Gezeichneten, der nach einigem Zögern wieder auf sie zukrabbelte.
»Stimmt. Ich musste mich losreißen.« Der Junge sprang von der Plattform. »Schau, der Riss hier. Das Loch ist riesig.«
»Nein danke, ich verzichte lieber.« Das Mädchen duckte sich, als sich das Wesen auf sie warf. Sie wich den fuchtelnden Klauen aus und riss ihr Messer nach oben, als das Wesen über sie hinwegsegelte. Die Kreatur stürzte ins Heidekraut, rappelte sich wieder hoch und stieß ein durchdringendes Kreischen aus. Der Junge hob eine Hand: Das Wesen wurde rückwärts über die Lichtung katapultiert und prallte gegen einen entfernten Baum. Das Kreischen verstummte abrupt.
Das Mädchen richtete sich auf. »Es ging um Leben und Tod, Albert. Ich hatte keine Patronen mehr.«
»Ach, du hättest es schon geschafft.«
»Sie hätten mir den Kopf abgerissen und ihn als Fußball benutzt. Das ist nicht dasselbe.«
»Wahrscheinlich nicht.« Der Junge kratzte sich den schwarzen Haarschopf. »Na, Hauptsache es gab ein Happy End. Dein Kopf ist noch dran. Und es gibt drei Gezeichnete weniger auf der Welt.« Er grinste den Barbier an, der in seinen Ketten zusammenzuckte. »Und den Bärtigen haben wir auch noch gerettet.«
»Yep.« Das Mädchen lud ihre Waffe. »In welcher Verfassung ist er?«
»Mittelmäßig bis gut.«
»Wurde er angeknabbert?«
»Kommt drauf an, wie viele Beine er ursprünglich hatte. Alles in Ordnung, Kumpel?«
Harry O’Shaughnessy öffnete den Mund, aber es kam nur ein röchelndes Stöhnen heraus. Er zitterte und starrte wie betäubt auf seine Retter. Der Junge trug eine alte Milizjacke, dunkle Jeans und weiße Turnschuhe, die ihm etwas zu groß waren. Er wirkte unscheinbar, als könnte ihn ein stämmigeres Kleinkind umwerfen.
O’Shaughnessy erinnerte sich an die Gezeichneten, die in Richtung Mond geflogen waren.
»Das ist der Schock«, beruhigte ihn der Junge. »Das vergeht. Lass uns nach den Ketten sehen.«
Er trat an den Pfahl. Der Barbier keuchte verängstigt und kniff die Augen zusammen. Hinter ihm knackte Metall und etwas krachte laut. Als er die Augen öffnete und den Hals reckte, war die Kette in Stücke gerissen und der Eisenpfahl lag in einiger Entfernung im Heidekraut. Der Junge schaute auf die Uhr.
»Wir sollten uns beeilen, Scarlett. Wir sind spät dran und ich habe Hunger.«
»Du hast immer Hunger …« Das Mädchen schien in Gedanken versunken. Mit schmutzigen Fingern klopfte sie auf einen zylinderförmigen Lederbehälter, der um ihren Hals hing. Sie blickte zu O’Shaughnessy auf, der sich schwankend aufrichtete. »Hey. Du. Kurze Frage. Habe ich vorhin geflucht?«
»Was?«
»Während des Kampfes mit den Monstern. Habe ich da geflucht? Ich kann mich nicht erinnern.«
»Ich glaube, das hast du.«
»Verdammter Mist. Na ja, es war Alberts Schuld, weil er nicht schnell genug aufgetaucht ist. Eigentlich sollte er dafür bezahlen.« Sie zog zwei Münzen aus ihrer Manteltasche und steckte sie in einen Schlitz des Behälters. »Wie auch immer, das ist erledigt. Alles klar, Albert. Gehen wir.«
O’Shaughnessy hatte etwas weniger Angst vor den Neuankömmlingen als vor den Gezeichneten, aber es war ein knappes Rennen. Aber als der Junge auf das Mädchen zuging, wurde ihm mit einem Mal klar, dass sie ihn gleich verlassen würden.
Er räusperte sich laut. »Entschuldigung.«
Der Junge drehte sich um. »Ja?«
»Ihr wollt doch nicht … Also, ihr habt mir das Leben gerettet. Ich stehe für immer in eurer Schuld.«
»Stimmt. Aber mach dir keinen Kopf deswegen.«
Irgendwo hatte das Mädchen einen Rucksack hervorgeholt, der mit Schläuchen und Flaschen bepackt war. »Wiedersehen.«
»Nein! Wartet – ich will mitkommen! Bitte! Ich kann nicht allein im Wald bleiben!«
»Warum nicht? Wir haben die Gezeichneten getötet.«
»Ja, aber es gibt noch andere Wesen im Wald! Schattenfüchse und gierige Wölfe! Hüpfende Spinnen! Schlangen und Blutottern! Menschenfressende Bären!«
»Zecken«, sagte das Mädchen.
»Wie bitte?«
»Du hast die riesigen Zecken vergessen. Die sitzen auf den Bäumen und springen dir auf den Kopf, wenn du vorbeigehst.«
Der Junge nickte. »Ehe du dich versiehst, haben sie dir einen Arm ausgesaugt. Der baumelt dann schlaff und wabbelig wie ein leerer Ärmel herab. Das ist schlimmer als jeder Bär.«
Eine Pause entstand. O’Shaughnessy starrte sie an. »Richtig, es gibt also auch Zecken. Was ich damit sagen will, ist erstens: Der Forst ist übel. Und zweitens: Wenn ich hierbleibe, werde ich sterben.«
Das Mädchen betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn. Mit einem ärgerlichen Seufzer kam sie näher. Aus der Nähe bemerkte der Barbier neue Details: Sie trug einen Wollpullover unter dem Mantel, abgewetzte Jeans und Stiefel; sie roch nach Schießpulver und nach Wildnis. Unter dem Schatten ihres Hutes leuchteten helle Augen. »Wie heißt du?«, fragte sie. »Warum haben sie dich hier angekettet?«
»Ich heiße Harold O’Shaughnessy. Warum ich so grausam ausgesetzt wurde, ist eine lange und traurige Geschichte, die …«
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Was meinst du, Albert?«
Der Junge musterte O’Shaughnessy einige Sekunden lang mit seinen großen dunklen Augen. »Er ist ein Barbier«, sagte er, »der nebenbei gelegentlich als Wundarzt praktiziert. Er ist ein Freidenker, der die Paten beleidigt hat, nicht an der Messe teilnahm und allen vorgeschriebenen Riten abschwor. Er verbrachte seine Zeit in Teehäusern, diskutierte mit der Jugend von Yeovil über Philosophie, stellte die Moral der Glaubenshäuser infrage und machte unfreundliche Bemerkungen über die Integrität der Miliz. Er wurde dazu getrieben …« Der Junge brach abrupt ab. »Ah.«
»Weiter«, sagte das Mädchen.
»Der Verlust seiner Frau und seiner Tochter haben ihn dazu getrieben. Seine Frau ist bei der Geburt gestorben. Das Kind kam mit einer Behinderung zur Welt und wurde ihm kurz nach der Geburt von den Paten genommen.«
Stille auf der Lichtung. Der Barbier starrte den Jungen an.
»Ich kann Gedanken lesen«, sagte der Junge. »Neben einigen anderen Dingen.«
O’Shaughnessy nickte nur stumm. Ihm fehlten schlicht die Worte.
Das Mädchen wischte sich die Nase am Jackenärmel ab. Umständlich zog sie einen Kaugummi aus der Tasche, wickelte ihn aus und steckte ihn sich in den Mund. Eine Weile kaute sie nachdenklich. »Okay, Harold O’Shaughnessy«, sagte sie schließlich. »Du kannst mit uns kommen. Wir sind auf dem Weg in die Wildnis, wo wir uns mit ein paar Gefährten für eine Mission zusammenschließen. Dann entscheiden wir, was wir mit dir machen. Aber ich warne dich, es ist kein einfacher Weg. Und wir sind schnell unterwegs. Wenn du also nicht mithalten kannst …« Sie zuckte mit den Schultern, stieg über einen Gezeichneten und marschierte über die Lichtung davon.
O’Shaughnessy sah ihr nach. Sein Unterkiefer hing schlaff herab.
»Keine Sorge«, sagte der Junge, »das Gleiche hat sie mal zu mir gesagt. Wir folgen ihr besser, sonst werden wir zurückgelassen. Aber ich sehe, du hast noch eine Frage.«
»Habe ich das?«
»Du willst unsere Namen wissen.«
»Oh ja.« O’Shaughnessy fühlte sich plötzlich schrecklich müde. »Ja, das stimmt …«
»Und ich verrate sie dir gern. Vielleicht hast du schon von uns gehört«, sagte der Junge lächelnd. »Wir sind hier in der Gegend ziemlich bekannt.«
»Die berüchtigten Scarlett und Browne«, las die Dame laut vor. »Gesucht wegen Diebstahl, Mord, Sklavenraub und anderer Vergehen in ganz Mercia und Wessex.« Sie rückte ihre Brille zurecht und schüttelte entsetzt den Kopf. »Die Anstifter der Unruhen in Milton Keynes … Die beiden vom Hohen Rat am meisten gesuchten Verbrecher … 50 000 Pfund Belohnung für Hinweise, die zu ihrer Ergreifung und Hinrichtung führen … Gütiger Himmel! Was für zwei abscheuliche Gestalten! Lasst uns zu den Göttern beten, dass sie niemals nach Sherborne kommen.«
»Das wollen wir nicht hoffen«, sagte Scarlett McCain.
Sie standen neben der Anschlagtafel in der Mitte des Marktplatzes von Sherborne. Der Himmel über dem Glaubenshaus war grau, aber im Süden lugte die Sonne hervor, und davor spannte sich ein Regenbogen, blass wie eine alte Narbe. Die Marktstände hatten bereits geschlossen. Bei den Sklavenkäfigen tropfte Wasser vom Wellblechdach. Die letzten der aus Cornwall stammenden Gefangenen kauerten im hinteren Teil der Verschläge, fast außer Sichtweite. Auf einem Tisch vor den Käfigen würfelten die Wachen mit den Milizionären. Frauen führten ihre Hunde unter den Linden aus, Kinder spielten mit Reifen. Es war ein ruhiger Nachmittag.
Die Dame war groß, hatte langes dunkles Haar und wirkte sehr geschäftig. Sie trug eine Jeansjacke über einem grünen Kleid und eine Leinentasche. Auf ihrem Weg über den Platz war sie vor der Anschlagtafel stehen geblieben, wo Scarlett gerade wartete. Dort hingen Berichte über die jüngsten Unruhen im Osten, Listen mit neuen Gesetzen und Ausgangssperren, Werbung für Kricketveranstaltungen, Handarbeitszirkel und Sklavenauktionen – sowie Scarlett und Brownes aktuellstes Fahndungsplakat.
Die Frau beugte sich näher und runzelte die Stirn.
»Schau dir ihre Gesichter an!« sagte sie. »Abscheulich! Vor allem dieses ist besonders ekelhaft.«
Scarlett rückte ihre Sonnenbrille zurecht. »Ja? Welches meinen Sie?«
»Diese rothaarige Hexe!« Sie tippte auf die Abbildung. »Schau dir die gefletschten Zähne an, die höhnische Grimasse und die bösen Kulleraugen! Kaum zu glauben, dass sie eine Frau ist, geschweige denn ein Mensch. Mal sehen …« Sie schwieg einen Moment und las dann vor: »›Scarlett McCain, alias Jenny Blackwood, alias Jane Oakley … berühmte Revolverheldin, Trickbetrügerin und Meisterin der Verkleidung …‹ Das mag glauben, wer will! Wahrscheinlich kauert sie gerade unter einem Busch und kämpft gegen ein Rudel Schlammratten, während sie zu pinkeln versucht. Das Leben einer Banditin ist hart – es ist nicht glamourös! Keine Sorge, mein Mädchen, Miss McCain wird bald am Galgen baumeln … Aber ich sehe, du zitterst! Erschreckt dich das hässliche Bild? Willst du dich setzen?«
»Oh – nein, danke«, sagte Scarlett. »Der Korb ist nur etwas schwer.«
Sie lächelte so unschuldig, wie sie nur konnte. Ihr Outfit sollte genau diese Eigenschaft ausstrahlen: Sie trug eine lockige braune Perücke, ein knielanges Kleid, kornblumenblau mit weißem Saum, und Schnallenschuhe im Wessex-Stil. Der Korb in ihren Händen war mit Blumen gefüllt und in der Tat schwer, wenn auch nicht deswegen.
Zum ersten Mal sah die Dame Scarlett richtig an. »Für wen sind diese Blumen, meine Liebe?«, fragte sie. »Sie sind nicht gut geschnitten.« Mit plötzlichem Interesse runzelte sie die Stirn. »Arbeitest du für die Kitcheners? Karen Kitchener würde ein solches Arrangement nicht gutheißen.«
»Ich arbeite im eigenen Auftrag«, antwortete Scarlett. Sie blickte auf ihre Uhr.
»Und wer bist du? Ich dachte, ich kenne alle hier in Sherborne.«
»Ich wohne in den Hütten hinter den Ruinen. Ich komme nicht oft in die Stadt.«
»Verstehe. Hinter der Palisade? Da muss man aufpassen, dass einen die Kannibalen nicht erwischen. Ich habe gehört, dass sie wieder auf dem Vormarsch sind …« Die Frau wandte sich ab. »Es war nett, mit dir zu plaudern. Ich gehe jetzt besser. Ich muss noch zur Bank, bevor sie schließt.«
Scarlett lächelte. »Ich komme mit. Ich habe auch gleich einen Termin in der Bank.«
Sie machten sich auf den Weg über den Platz, vorbei an den Sklavenkäfigen, den herumlungernden Wachen und Milizionären, vorbei an den Pfählen, an denen eine zerlumpte Frau einsam kniete, noch nass vom letzten Regen. In einem Café an der Ecke saß ein adrett gekleideter Mann mit gepflegtem schwarzem Bart einer sehr kleinen Frau gegenüber. Beide lasen Zeitung. Ganz in der Nähe, unter den schattigen Linden, spielte ein alter Mann mit seiner kleinen Enkelin Boule. Das Klappern der Holzkugeln drang bis zu Scarlett, aber sie schenkte weder Joe noch Ettie, weder Harold O’Shaughnessy noch Sal Qin Aufmerksamkeit – und sie sah sich auch nicht zu ihnen um, als sie den Platz verließ.
Scarletts Begleiterin war recht gesprächig. Schon nach wenigen Metern hatte sie ihr anvertraut, dass sie Mrs Felicity Carmichael heiß, dass ihr die Ladies’ Style Boutique gehöre, dass sie zwei Kindersklavinnen beschäftigte und eine weitere kaufen wolle. Kürzlich war jedoch eine Lieferung von Farbstoffen durch die Unruhen in den östlichen Städten aufgehalten worden. Ohne sie konnte sie ihre berühmte Lippenstiftserie nicht herstellen. Kelp-Grün und Lava-Schwarz waren bereits aufgebraucht, und auch die Cochenille, die von den Riesenkäfern in den Wüsten Mercias stammte, war fast erschöpft. Das alles machte Mrs Carmichael große Sorgen, und die Tatsache, dass Banditen in der Nähe waren, machte die Sache noch schlimmer. Scarlett, die neben ihr herging, nickte und bedauerte sie angemessen.
Sherborne war eine blühende Stadt. Die Unruhen hatten sie noch nicht erreicht. Die Gebäude in der Hauptstraße waren aus robustem weißem Stein, die Bürgersteige mit Kübeln voller Sommerblumen geschmückt. Die Menschen saßen an Cafétischen unter gestreiften Markisen. Über jedem Geschäft prangten gravierte Metallschilder, die auf die jeweilige Branche hinwiesen: eine Flasche für den Winzer, ein Briefumschlag für die Post, Teetassen für die Cafés, eine Kuh für den Metzger … Für die Gemeindebank Sherbornes mit ihrem weiß getünchten Säulenvorbau und dem eleganten schwarzen Geländer warb eine riesige Silbermünze.
Gemeinsam stiegen sie die Stufen hinauf, stießen die verspiegelte Tür auf und betraten den Eingangsbereich der Bank. Drinnen war es warm und dämmrig. Die Jalousien waren gegen die tief stehende Sonne zugezogen, schwaches Licht fiel hindurch und warf goldene Streifen auf den Parkettboden. Es roch nach Tinte, Papier und Karbolseife, eine Uhr tickte. Auf der anderen Seite des Raumes arbeitete eine stämmige, dunkelhaarige Frau – die Managerin – schweigend an einem Schreibtisch. Der Wächter an der Tür warf einen kurzen Blick auf Scarlett und ihren Korb, als sie eintraten.
Am Hauptschalter wartete eine Schlange von sechs Leuten darauf, von dem jungen Kassierer bedient zu werden. Wie Scarlett vermutet hatte, war der junge Mann gerade von Albert in Beschlag genommen, der ein gestreiftes Wessex-Jackett trug und viele interessierte Fragen zur Neueröffnung eines Kontos stellte.
»Ich möchte mich sicher fühlen. Ich hoffe, dass die Sicherheitsvorkehrungen in dieser Bank gut sind.«
»Wir haben sehr gute Sicherheitsvorkehrungen, Sir. Leider darf ich nicht ins Detail gehen …«
Mrs Carmichael eilte zum Ende der Schlange. Im letzten Moment blickte sie sich fragend um.
Scarlett machte eine großzügige Geste. »Nein, nein, bitte – nach Ihnen.«
»Du bist ein sehr höfliches und zuvorkommendes Mädchen.«
»Nun«, sagte Scarlett, »manchmal bin ich das.«
Sie nahm ihren Platz in der Schlange ein und warf einen Blick auf die Uhr. Noch dreißig Sekunden … Sie spähte zu dem Wachmann. Er war ein kräftiger junger Mann mit einem breiten Hals und einem Schweinsgesicht. Sein Hemd war weit aufgeknöpft und seine Hose zerknittert. Am Gürtel trug er eine Pistole und einen Schlagstock. Seine Augen waren glasig, sein Mund stand offen, seine Gedanken waren offensichtlich woanders. Er wippte auf seinen abgenutzten schwarzen Schuhen und sehnte offenkundig das Ende seiner Schicht herbei.
Tatsächlich würde sie früher als erwartet enden.
Scarlett machte sich bereit. Sie atmete tief durch. Drei … zwei … eins …
Am Schalter drehte sich Albert um. »Okay, Scarlett. Ich bin fertig.«
»Gut.« Scarlett griff in den Korb und ließ ihn fallen. Bunte Blumen wurden auf dem Boden verstreut. Sie hielt eine Pistole in der Hand. »Das ist ein Überfall«, sagte sie. »Wenn jemand nur einen Mucks macht, ballere ich ihn durch die Wand.«
Diese Worte richtete sie nicht nur an den Wachmann, der nach seiner Waffe griff, sondern auch an die Kunden, die sich erschrocken umdrehten, nach Luft schnappten und aufkreischten. Mrs Carmichaels Schrei war der schrillste von allen. Der Wachmann erstarrte, die Pistole halb aus dem Halfter gezogen. Scarlett winkte ihn zu sich.
»Wirf die Waffe weg, mein Freund. Jetzt sofort – und ohne plötzliche Bewegungen.«
Der Wachmann zögerte, dann zog er die Waffe locker zwischen Zeigefinger und Daumen hervor.
Am Ende der Schlange stieß Mrs Carmichael einen empörten Schrei aus. »Du wirst ihr doch nicht gehorchen«, rief sie. »Sie ist doch nur eine gewöhnliche Blumenverkäuferin! Zeig etwas Mut, Bill! Wofür bezahlen wir dich?«
»Töte sie!«, rief eine alte Frau in der Schlange. »Erschieß sie!«
Der Wachmann schluckte. Seine Augen huschten hin und her. Die Pistole baumelte in seiner Hand.
»So gewöhnlich bin ich nicht, Mrs Carmichael …« Scarlett setzte die Sonnenbrille ab, zog die Perücke herunter und schüttelte ihr langes rotes Haar. Sie grinste wölfisch. »Erkennen Sie mich jetzt?«
»Nein.«
»Beim Großonkel Allahs – Sie sind ja blinder als ein Goldfisch. Scarlett McCain! Von dem Plakat! Über das wir vor nicht einmal zehn Minuten gesprochen haben. Mein Kollege hier ist der berüchtigte Albert Browne.«
Totenstille herrschte im Foyer. Die Pistole baumelte. Plötzlich ließ der Wachmann sie mit einem Klirren zu Boden fallen. Mrs Carmichael und ein oder zwei andere Kunden stöhnten auf.
»Gut.« Scarlett nickte knapp. »Jetzt können wir uns alle entspannen.«
Sie ging rückwärts und behielt dabei alle im Auge. Im Nu war sie an der Tür, drehte den Schlüssel und schloss sie alle ein. Dann zum Fenster: Mit einem Ruck schlossen sich die Jalousien und sperrten den Tag aus. Graugoldener Dunst füllte das Foyer. Albert am Schalter war jetzt nur noch ein Schatten. Der Kassierer und die Kunden standen wie versteinert da.
»Schon besser«, sagte Scarlett. »Wenn alle ruhig bleiben, sollte es nicht lange dauern. Albert, ich übergebe an dich.«
»Danke, Scarlett.« Albert stützte einen Arm lässig auf den Tresen. »Meine Damen und Herren, seien Sie versichert, dass wir Ihnen nichts Böses wollen. Wir haben nur vor, den unterirdischen Tresorraum auszurauben, zu dem man hinter der Täfelung dieser Wand gelangt. Wenn Sanjay, der Kassierer, mir den Schlüssel für den Tresorraum gibt, können wir den Job erledigen und verschwinden.«
Von ihrem Stuhl in der Ecke stieß die Bankdirektorin einen wütenden Schrei aus. »Dafür werdet ihr hängen! Die Miliz …«
»Ist gerade nicht da.«
»Der Hohe Rat …«
»Ist noch weiter weg.«
»Wir werden euch nicht helfen! Wir werden euch nichts verraten!«
»Das habt ihr aber schon. Ich habe während unseres Gesprächs Sanjays Gedanken gelesen.« Albert nickte dem schmalen bebrillten Burschen, der unglücklich auf der anderen Seite des Schalters stand, freundlich zu. »Sanjay hat den Schlüssel für den Tresor in der Tasche. Die Geheimtür ist hinter dieser Täfelung. Der Code für ihr Schloss ist 7334. Wir müssen den Griff nach rechts drehen – wenn wir ihn nach links drehen, wird ein Nebelsprayer an der Decke ausgelöst. Der Tresorraum liegt eine Treppe tiefer und ist von einer Falle geschützt … die Sanjay leider gerade scharf gemacht hat, indem er einen Knopf auf dem Boden gedrückt hat.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Sanjay! Ich bin enttäuscht von dir.«
Scarlett brauchte das Gesicht des Kassierers nicht zu studieren, um zu wissen, dass Albert die Wahrheit sagte. So war es immer. »Was für eine Falle?«, fragte sie.
»Irgendein Stein löst sie aus. Sanjay hat keine Ahnung, was er bewirkt. Er hat die Falle noch nie in Aktion erlebt.« Er warf der Managerin einen Blick zu. »Mira dort auch nicht. Sie hofft aber, dass wir beide sterben.«
»Heute nicht, fürchte ich.« Scarlett bückte sich zu ihrem Korb und holte zwei Rucksäcke heraus. »In Ordnung. Ich werde mich um den Tresorraum kümmern. Der Kassierer kommt mit und zeigt mir den Weg. Albert – du hältst hier die Stellung.«
»Kein Problem. Sanjay, bitte gib den Code ein, wenn es dir nichts ausmacht …«
Die nächsten Schritte bestätigten Alberts Aussagen. Das Schloss wurde gefunden, der Code eingegeben und der Griff gedreht. Das Wandpaneel schwang auf und gab den Blick frei auf eine schmale Tür und eine Treppe, die steil nach unten führte. Mit zitternden Händen fischte der Kassierer den Schlüssel aus seiner Hosentasche.
Das alles geschah unter den entsetzten Blicken der Kunden. Die meisten schwiegen. Mrs Carmichael schien vor Schreck fast in Ohnmacht zu fallen. Nur eine alte Frau am Anfang der Schlange machte eine Ausnahme. Sie war sehr klein und rundlich wie ein Fass, mit einem glänzenden schwarzen Kleid, einem grauen Schal und einem faltigen Gesicht, das wie ein zusammengedrückter Schwamm aussah. Sie konnte sich kaum beherrschen, hüpfte von einem Fuß auf den anderen und fuchtelte mit ihrem Stock vor Scarletts Nase herum.
»Das ist eine Schande!«, rief sie. »Wir werden dich lebendig im Verbrecheranger begraben!«
»Das haben sie schon versucht. Hat bisher nicht funktioniert. Also halt die Klappe!«
»Ich werde nicht still sein! Wie kannst du es wagen, uns mit dieser perversen Kreatur, die Gedanken lesen kann, alleinzulassen!«
Scarlett drängte sich an ihr vorbei und schob den Kassierer zur Treppe. »Albert, es wird nur zehn Minuten dauern, nicht länger. Dann …«
»Du lässt uns also mit einem Gezeichneten allein!« Die Augen der alten Frau funkelten, ihre vorstehenden Zähne und ihre Lippen waren voller Speichel. Sie stieß Albert mit ihrem Stock. »Die Glaubenshäuser hätten sich längst um ihn kümmern müssen! Man hätte ihn gleich nach seiner Geburt zu den Eisernen Pfählen bringen sollen!«
Scarlett blieb abrupt stehen.
Während ihrer gesamten Karriere war Scarlett stolz darauf gewesen, dass sie bei jedem Raub völlig ruhig geblieben war. Emotionen waren nie von Vorteil – sie führten immer zu Fehleinschätzungen. Doch jetzt spürte sie, wie Blut in ihre Wangen schoss und kalte Wut in ihr aufstieg. Langsam drehte sie sich um, blickte zu der alten Frau zurück und spannte demonstrativ die Waffe.
Sie spürte Alberts Hand auf ihrem Arm.
»Bitte, Scarlett«, sagte er. »Das ist nicht wichtig. Wirf ihr einfach einen grimmigen Blick zu, so wie du es immer tust. Wir sind hinter dem Inhalt des Tresors her, vergiss das nicht. Nur das zählt.«
»Ja … ja, natürlich. Du hast recht.« Der Moment war vorbei, sie blinzelte den alten Schmerz weg. Sie reichte Albert den Revolver. »Du nimmst besser den hier. Stell dich hier hin und richte ihn auf sie. Dann musst du nicht … du weißt schon, dein anderes Ding machen.«
»Natürlich.« Albert nahm eine extravagante, breitbeinige Haltung vor dem Schalter ein, die Waffe im Anschlag. »Alle bleiben, wo sie sind! Keiner rührt sich! Ich bin in den Sieben Königreichen als Meisterschütze bekannt, also passt auf!«
Scarlett betrachtete ihn. Vermutlich gab es Wolfsjungen in den Wäldern, die besser mit Waffen umgehen konnten als Albert. Sie schaute sich nach der Managerin, dem Wachmann und den Kunden um – alle waren still, blass und rührten sich nicht. Im Raum knisterte es vor Spannung. Wie hoch standen die Chancen, dass alle noch am selben Ort waren, wenn sie zurückkam? Wie wahrscheinlich war es, dass alle noch lebten? Sie seufzte. »Höchstens zehn Minuten, Albert«, sagte sie. »Mehr brauche ich nicht. Meinst du, du kannst alles ruhig und unter Kontrolle halten?«
»Oh, sicher. Überhaupt kein Problem.«
»Okay, dann.« Scarlett machte dem Kassierer ein Zeichen, vorauszugehen. Ohne zurückzublicken, schritt sie durch die Tür und die geheime Treppe hinunter.
Wenn sie einmal von bösartigen alten Damen absah, genoss Scarlett solche Banküberfälle. Da waren zum einen die Tat selbst und die Genugtuung, Beute zu machen. Sie mochte auch die Zusammenarbeit mit Albert – die Kombination ihrer Fähigkeiten und ihr spielerisches Überwinden von Hindernissen. Und dann war da noch die Befriedigung, den Städtern die Stirn zu bieten. In Sherborne war die Scheinheiligkeit dieser Städter im Nebeneinander von Sklavenkäfigen, Cafésonnenschirmen und hübschen Blumendekorationen wieder einmal deutlich geworden. Ja, es gab so viele Gründe, sie zu verachten! Und das berührte kaum die oberste Schicht dessen, was diese Leute ihr angetan hatten.
Im Treppenhaus war es kühl. Die Stufen waren aus nacktem Beton. Die Leuchtstoffröhren an der Decke summten leise. Der junge Kassierer stieg mit steifen Beinen voran, Scarlett folgte direkt hinter ihm.
Am Fuß der Treppe befand sich ein Abstellraum mit Besen, Schrubbern, Eimern und ein paar alten Stühlen. Dahinter erstreckte sich im Halbdunkel ein leerer, unscheinbarer Flur. In etwa fünfzehn Metern Entfernung befand sich die massive Metalltür zum Tresorraum. Eine Gefahr war nicht zu erkennen.
Der Kassierer machte eine ausladende Geste. »Da ist er. Du hast den Schlüssel, unser Reichtum steht dir zur Verfügung. Viel Spaß. Ich warte hier bei den Schrubbern.«
Scarlett spähte mit zusammengekniffenen Augen in den Flur. »Tut mir leid, du kommst mit. Für die nächsten Minuten werden wir wie siamesische Zwillinge sein.«
»Du willst doch nicht, dass ich dir in die Quere komme?«
»Damit kann ich leben. Wo ist die Falle?«
»Ich habe sie noch nie gesehen.«
»Danach habe ich auch nicht gefragt. Du weißt, wo der Schalter ist. Also musst du auch wissen, was zu tun ist, um sie unschädlich zu machen.«
»Ich weiß es wirklich nicht!« Dem jungen Mann lief der Schweiß über die Schläfen. Sein Hemd war nass unter den Achseln. »Der Gang sieht genauso aus wie immer. Verschone mich! Wenn ich da runtergehe, werde ich sicher sterben!«
Scarlett nahm einen Besen und brach den Stiel ab. »Nicht, wenn du mit mir kommst.«
Sie machten sich auf den Weg zum Tresorraum, Scarlett mit geradem Rücken und wachsam, der Junge geduckt an ihrer Seite. Die Wände und die Decke waren aus glatten Betonplatten. Hin und wieder blieb Scarlett stehen und klopfte mit dem Besen vorsichtig auf den Boden, aber sie entdeckte nichts Verdächtiges.
Langsam näherten sie sich der Tür zum Tresorraum. In ihrer Mitte befand sich ein Gitter, durch das man das Gewölbe im Inneren schemenhaft erkennen konnte. Die Betonplatten im Bereich der Tür waren alle glatt und unversehrt.
Scarlett hielt inne und sah sich um.
»Vielleicht gibt es gar keine Falle«, schlug der Kassierer nach einer Pause vor. »Möglicherweise ist sie kaputt.«
»Vielleicht«, sagte Scarlett. »Oder …«
Sie deutete zur Decke. Ein oder zwei Meter von der Tür entfernt befand sich ein etwas breiterer Spalt zwischen den Deckenplatten. Sie hielt den Kassierer am Kragen fest, streckte den Besen aus und stieß gegen die Bodenplatte direkt darunter. Ein Klicken, ein Kettenrasseln. Eine breite Metallklinge stürzte von der Decke, hackte den Besen entzwei und schlug funkensprühend auf dem Boden auf.
»Siehst du? War doch nicht so schlimm.« Scarlett klopfte dem Kassierer auf die zitternde Schulter. Sie warf den Rest des Besens weg, trat über die Klinge und machte sich ans Öffnen der Tür.
Der Tresorraum entpuppte sich als unscheinbare quadratische Zelle. Auf allen vier Seiten reichten Regale vom Boden bis zur Decke. Darauf lagerten Kisten mit Banknoten, Tabletts mit Goldbarren und Stapel von ledergebundenen Büchern. Scarlett betrachtete sie eingehend. Der Kassierer trat neben sie. Sein Schrecken hatte sich gelegt, sein Gesichtsausdruck war jetzt eine törichte Mischung aus Ehrfurcht und Erwartung.
Scarlett starrte ihn an. »Was?«
Der Junge räusperte sich. »Es ist nur … Ich weiß, ich sollte das nicht sagen, weil Sie uns ausrauben und so, aber … Ich hab Ihre Flugschriften gelesen … und, na ja, was Sie mit dem Besen gemacht haben … Ich hätte nie gedacht, dass die schreckliche Scarlett McCain mir das Leben retten würde.«
»Freut mich, dass du beeindruckt warst. In diesem Tresor befindet sich auch das Stadtarchiv?«
»Ja, hier lagern alle Geschäfte ihre Bücher – und ihr Vermögen! Schauen Sie, da ist das Geld! Da ist das Gold! Wollen Sie das alles mitnehmen?«
»Ich nehme die Banknoten.« Scarlett hielt ihm einen der beiden Rucksäcke hin. »Mach den für mich voll, ja?« Sie ging auf die andere Seite und begann, die Bücherstapel zu durchwühlen.
»Wie Sie meinen, Miss Scarlett!« Der Kassierer begann, den Rucksack zu füllen. »Wenn Sie noch mehr wollen, da ist noch ein Beutel mit Juwelen im Eckregal. Sie gehören den Paten des Glaubenshauses, die, unter uns gesagt, bei Weitem nicht so heilig sind wie …«
»Eigentlich«, sagte Scarlett, »will ich die Aufzeichnungen über die Sklavenkäfige von Sherborne: ihre Einkäufe, ihre Verkäufe. Weißt du wo die sind?«
»Die beiden großen Bände auf dem unteren Regal, glaube ich. Aber warum …«
»Gibt es auch lokale Geschichtsbücher oder Atlanten? Irgendwelche alten Chroniken aus der Zeit des Grenzkrieges?«
Der Junge sah sie ausdruckslos an. »Nein. Nur Hauptbücher. Warum sollte eine Banditin wie Sie …?«
»Halt die Klappe und mach mit den Banknoten weiter.« Während er gehorchte, fand Scarlett die Sklavenbücher, überprüfte sie kurz und steckte sie in ihren Rucksack. »Gut. Jetzt setz dich auf die Kiste, Sanjay … Nimm die Hände auf den Rücken. Ich werde dich fesseln.«
Der Junge gehorchte. »Ich muss sagen, Sie sehen viel jünger aus als auf Ihren Plakaten. Ich hätte nie gedacht, dass ich Ihnen mal in Wirklichkeit begegne.«
»Ja, und ich wette, du hättest auch nicht gedacht, dass ich dich in einen Tresor sperren würde. Aber das tue ich. Also … Jetzt hab etwas Geduld. Bald wird dich jemand rausholen.«
Der Kassierer gaffte sie immer noch mit demselben halb bewundernden Blick an. Scarlett verdrehte die Augen. Sie schloss die Tür und verriegelte sie. Dann legte sie den Schlüssel auf den Boden des Korridors, warf sich die beiden Rucksäcke über die Schulter, stieg über die Falle und huschte zurück zur Treppe.
Oben im Foyer fand sie Albert immer noch träge an den Tresen gelehnt vor. Er stand genau da, wo sie ihn zurückgelassen hatte, den Revolver in der Hand. Aber er war allein. Stühle, Schreibtische und Pinnwände lagen verstreut herum. Die Tür stand einen Spalt offen. In der Fensterfront war ein großes Loch, die zerbrochenen Jalousien schaukelten sanft davor. Ein bizarres Spiel aus Sonnenlicht und Schatten breitete sich auf dem Parkettboden aus.
Scarlett blieb stehen und starrte ihn an.
»Zehn Minuten«, sagte sie.
»Ich weiß, Scarlett. Es tut mir leid.«
»Ich war zehn Minuten weg.« Sie sah auf ihre Uhr. »Nein, nicht einmal zehn! Acht Minuten und sechsunddreißig Sekunden! Und das ist das Ergebnis.«
»Tut mir leid, Scarlett.«
»Ich wette, du hast die Waffe nicht mal abgefeuert.«
»Nein, habe ich tatsächlich nicht.«
»Wer ist durch das Fenster geflogen? Doch nicht Mrs Carmichael?«
»Die alte Frau. Sie ist mit einem Messer auf mich losgegangen.«
»Um Shivas willen. Was ist mit den anderen?«
»Nun, sie haben mich auch irgendwie in die Enge getrieben. Es war deine Freundin aus dem Strumpfladen, sie und die Filialleiterin. Sie waren die Rädelsführerinnen. Ich durchschaute ihre Absicht, aber ich wollte niemanden umbringen. Also habe ich versucht, sie zu warnen, indem ich die Sachen ein bisschen herumgeschoben habe. Das hat sie noch mehr in Panik versetzt. Die Leute rannten hin und her, und ich warf immer mehr Sachen nach ihnen … Es wurde ein bisschen chaotisch. Am Ende türmte die ganze Bande aus der Tür.«
»Bis auf die alte Dame.«
»Die habe ich mit dem Hintern voran aus dem Fenster gepfeffert, ja.«
»Na ja, sie hatte es verdient. Und wir hatten ja sowieso vor, sie jetzt Alarm schlagen zu lassen.«
Scarlett durchquerte den Raum. Sie hielt sich von der Tür fern und trat an das zerbrochene Fenster, hob eine der herunterbaumelnden Jalousien und spähte auf die Straße hinaus.
Der Alarm musste ausgelöst worden sein. Die Tische des Cafés waren verlassen, die Gäste verschwunden. Ein leichter Wind blähte die Markisen. Die metallenen Ladenschilder schwangen in ihren Scharnieren. Niemand war zu sehen, aber Scarlett spürte, dass sich hinter den Vorhängen und ein oder zwei dunklen Schaufenstern etwas tat. Sie entdeckte auch jemanden, der sich auf dem Dach des Cafés duckte.
Sie ließ die Jalousie herunter. »Sie kommen.«
Albert nickte; er hatte wie üblich diesen leicht verschwommenen Blick, wenn er die Gedanken der Leute aus der Ferne studierte. »Die Typen gegenüber sind nur Ladenbesitzer, die sich als Helden aufspielen. Aber die Miliz ist auf dem Weg und bringt Sklavenhändler vom Platz als Verstärkung mit. Bald wird die Bank umstellt sein. Wie lange sollen wir noch warten?«
»Wir haben Joe gesagt, dass er eine Viertelstunde Zeit hat. Hier ist dein Rucksack. Kann ich meine Waffe wiederhaben?«
Er warf sie ihr zu. Scarlett überprüfte die Patronen und steckte sie in den Stoffgürtel ihres Kleides. Sie ließ sich an der Wand nieder. Albert bemerkte den Spazierstock der alten Frau, der zwischen den verstreuten Blumen auf dem Boden lag. Vorsichtig hob er ihn auf, rückte einen umgestürzten Stuhl zurecht und machte es sich bequem. »Gab es unten Probleme?«, fragte er.
»Nur, dass der Kassierer eigentlich ganz froh war, dass ich ihn ausgeraubt habe. Ehrlich gesagt fand ich das ein bisschen unheimlich.«
Albert verschränkte die Arme und starrte an die Decke. »So ist das eben, wenn man berühmt ist. Habe ich dir schon erzählt, dass ich in Yeovil ein Puppentheaterstück im Straßentheater gesehen habe? Darin ging es auch um uns.«
»Ich hoffe, es war schmeichelhaft.«
»Kommt drauf an, wie man es sieht. Ich war eine schelmische, gut aussehende Puppe, ganz in Schwarz gekleidet, die viele dunkle und ungewöhnliche Tricks draufhatte. Du dagegen warst eine Art schreiender Derwisch mit einer wilden Frisur und einer unwahrscheinlichen Anzahl von Waffen, die an deinen Hüften hingen, und bei der kleinsten Provokation bist du herumgewirbelt und hast auf alles geballert, was sich bewegte. Immer wieder hast du auf deine eigenen Füße oder durch meine Hose geschossen und so meine bösen Pläne durchkreuzt. Im Grunde warst du ein echter Comedy-Knaller, während ich eher ein charismatischer Böser war.« Albert kratzte sich an der Nase. »Trotzdem hat dich das Publikum geliebt, also hast du definitiv den Vogel abgeschossen.«
»Das klingt nicht wirklich so. Vermutlich haben wir ein schlechtes Ende genommen.«
»Oh ja. Wir sind beide auf schreckliche Weise ums Leben gekommen. Bei einer Schießerei nach einem Banküberfall, um genau zu sein.«
Scarlett schnaubte. Erneut hob sie die Jalousie an. Inzwischen ragten zwei Gewehrläufe über die Brüstung des Cafés, vier weitere blitzen auf den nahen Dächern. Männer mit Bowlerhüten eilten die Straße hinauf und suchten Schutz hinter dem Briefkasten, dem Bushäuschen und den Tischen des Cafés. Scarlett sah die roten Hüte der Milizionäre und die grünen Hüte der Sklavenwächter. Ein großer Milizionär mit golden umrandetem Bowler hockte direkt gegenüber hinter einigen Blumenkübeln und gab den anderen eindringliche Handzeichen. Man musste anerkennen, dass sie die Bank professionell umstellt hatten. Sobald Scarlett und Albert die Bank verlassen würden, würden sie von oben, von den Seiten und von vorne mit Kugeln eingedeckt werden.
Albert … Scarlett blickte zu ihrem Partner zurück. Da stand er. Albert Browne. Ein blasser, schmaler Junge in einer übergroßen Jacke, beleuchtet vom gestreiften Sonnenlicht, sanft auf den hinteren Stuhlbeinen schaukelnd.
Seine Augen waren geschlossen, er sah aus, als würde er schlafen. Obwohl sie schon viel mit ihm erlebt hatte, war es immer noch schwer zu glauben, wozu er fähig war.
»Es ist viel los da draußen«, sagte sie. »Was meinst du, wie es bei Joe und Sal läuft?«
»Sie werden bald bereit sein.«
»Ja. Harold hilft ihnen. Er wird die Sache beschleunigen. Alles in Ordnung?«
Albert schlug ein Auge auf. »Bei mir? Alles bestens.«
Sie deutete in die Halle. »Ich meine, dieser Scheiß hier drin. Hat er dich erschöpft?«
»Ach, ein bisschen Energie habe ich schon noch. Und wer weiß, vielleicht ist dieser Haufen da draußen ja vernünftig …«
Albert erhob sich von seinem Stuhl. Mit dem Stock in der Hand ging er zur Tür. Als er dicht davorstand, stieß er sie mit dem Stock an, sodass sie sich einen Spaltbreit öffnete. Sofort explodierten Schüsse und ein wilder Kugelhagel traf die Tür, den Stock, die Treppe und die Veranda. Albert sprang zurück. Holzsplitter flogen umher. Die Spitze des Stockes wurde zerfetzt und die Tür durch das Sperrfeuer weit aufgerissen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Teile der Decke fielen herab und zerschellten auf den Fliesen.
Albert hielt den zerborstenen, rauchenden Stock hoch. »Vielleicht auch nicht.«
Scarlett runzelte die Stirn. Sie trat nah an die Jalousie heran. »Hey!«
Von der Straße kam keine Antwort. Irgendwo in der Ferne weinte ein Kind, vielleicht von den Schüssen erschreckt. Die Männer reagierten nicht. Nur die bunten Krempen ihrer Bowler wippten über ihren Verstecken. Ihr Anführer gab ihnen ein Zeichen, sich nicht zu rühren.
»Hey!«, rief Scarlett erneut. »Ich meine den stämmigen Milizenführer, der hinter den Blumen hockt! Mit dem lächerlichen goldenen Hut und Walrossschnurrbart. Mit dir rede ich.«
Der Mann rührte sich. Eine Nase lugte hervor. »Meinst du mich?«
»Wer passt sonst noch auf diese Beschreibung? Hör zu! Ich will verhandeln!«
Der Anführer ließ seinen Kopf noch ein wenig weiter herausragen. »Hier wird nicht verhandelt! Ihr seid vollständig umzingelt. Werft eure Waffen weg und kommt raus!«
»Das werde ich mit Sicherheit nicht tun. Ihr würdet uns durchlöchern wie ein Sieb.«
»Daran hättest du denken sollen, bevor du uns ausraubst!«, rief der Mann. »Und bevor ihr Mrs Partridge-Maltravers aus dem Fenster geworfen habt! Sieh dir nur die beiden Dellen an, wo sie gelandet ist!«
»Wir haben sie freundlich gewarnt«, rief Scarlett. »Es ist ihre eigene Schuld. Warum kommen wir nicht zur Sache? Ihr habt hier ein hübsches Städtchen. Ihr wollt doch nicht, dass hier alles in Unordnung gerät. Also werft eure Waffen weg, lasst uns gehen und wir vergessen die Sache.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ihr wisst, wer wir sind.«
Schweigen. Das Kind weinte noch immer in der Ferne. Ein Fenster schlug zu, das Geräusch verstummte.
Der Milizenführer stand reglos hinter dem Blumenkübel.
Schließlich sprach er mit tiefer Stimme. »Ich habe die Flugschriften gelesen. Ich kenne die Geschichten.«
»Gut.«
»Aber wir können euch nicht einfach gehen lassen. Es gibt ein Edikt des Glaubenshauses gegen euch! Jeder, der euch hilft, wird für eure Verbrechen belangt.«
»Dann ignoriert die Glaubenshäuser!«, rief Scarlett. »Milton Keynes ist weit weg. Wer kümmert sich um den Rat? Sie werden es nie erfahren.«
»Unsere Paten werden es ihnen nur allzu bald mitteilen«, erwiderte der Anführer der Miliz. »Der Hohe Rat wird uns an eurer Stelle hängen.«
Scarlett lachte. »Ja, denn ihr seid genauso Sklaven wie die Gefangenen, die in den Käfigen auf dem Platz hocken. Der Hohe Rat ist die Ursache all eurer Probleme. Er ist grausam und unmenschlich, wie deine letzte Aussage beweist! Warum wehrt ihr euch nicht gegen seine Gesetze, wie es andere Städte getan haben? Schmeißt die Paten raus! Zerstört die Glaubenshäuser! Lasst das Volk von Wessex einen besseren Weg wählen!«
Das Echo ihrer Stimme verhallte. Hinter den Kübeln war ein gedämpftes Gespräch zu hören. Kurz darauf tauchte die Nase des Anführers wieder auf. »Eure Argumente sind ja schön und gut«, rief er, »aber meine Männer haben mich an den Kern des Problems erinnert. Nämlich, dass ihr unseren Besitz raubt. Auch in anderen Städten gab es Aufstände, die aber schnell niedergeschlagen wurden. Und es heißt, dass eine Spezialeinheit vom Glaubenshaus in den Westen kommt, um auch in unserem Bezirk für Ordnung zu sorgen. Deshalb werden räuberische Banditen wie ihr bald zur Rechenschaft gezogen – und wir auch, wenn wir euch nicht das Handwerk legen. Zum letzten Mal: Wirst du dich ergeben? Wie lautet die Antwort?«
Scarlett presste den Mund dicht ans Fenster. »Die Antwort lautet, dass Albert und ich in dreißig Sekunden ausbrechen. Ihr könnt entweder versuchen, uns aufzuhalten, oder uns ungestört abziehen lassen. Es ist Zeit, sich zu entscheiden.«
Sie wartete. Plötzlich krachten Schüsse. Das Fenster zerbarst, Scarlett sprang in Deckung. Glasscherben prallten gegen die Jalousie, die zersplitterte und wild schwankte.
Die Schüsse ebbten ab. Scarlett rappelte sich vom Boden hoch. »Das hätte besser laufen können.«
»Du hast es wenigstens versucht«, sagte Albert. »Und der Milizchef hat es auf seine Weise auch versucht. Das sage ich dir ja immer. Die meisten Städter sind gar nicht so anders als wir.«
Scarlett warf ihm einen Blick zu. Es war ein echtes Wunder: Albert sah immer das Beste in den Menschen, selbst wenn sie ihn mit Kugeln durchlöchern wollten. Sein ganzes Leben lang hatte sich die Welt brutal an ihm gerieben und versucht, ihn zu brechen. Und was war geschehen? Seine Unschuld wurde durch diese Reibung poliert – bis sie glänzte. Stattdessen war es die harte, grausame Welt um ihn herum, die sich abgenutzt hatte.
Apropos … Sie hob den Revolver und ließ ihn um ihren Zeigfinger wirbeln.
»Bist du bereit?«, fragte sie.
Er nickte. Sein halbes Lächeln verschwand. Sein Blick war plötzlich abwesend.
Scarlett stellte sich neben ihn. Sie zogen die Riemen ihrer Rucksäcke fest und atmeten noch einmal tief durch. Dann duckten sie sich durch die zerstörte Tür und traten auf die Veranda.
Es war, wie sie vorausgesagt hatte. Sie standen mitten in einem Kugelregen. Er fegte in Böen und Stößen heran, unaufhörlich und ohrenbetäubend, von den Dächern, aus den Fenstern und Schaufenstern, hinter der Bushaltestelle, dem Fahrradständer und unter den Tischen der Cafés hervor. Er kam in vernichtenden, pulsierenden Wellen. Ihre Ohren klingelten von dem Lärm. Glas zersprang, Querschläger sirrten zwischen den Säulen umher. Steinsplitter spritzten von der Veranda, Staub stieg auf, vermischte sich mit dem Pulverdampf und verdunkelte die Straße. In Sekundenschnelle war Sherborne verschwunden. Scarlett war in einer riesigen, von Menschenhand geschaffenen Wolke untergetaucht.
Sie wartete mit gesenktem Kopf und zusammengekniffenen Augen.
Sie wartete …
Ein Gewehr nach dem anderen verstummte. Das Echo verhallte. Auch die Männer würden warten, den sich auflösenden Qualm beobachten, in der Hoffnung, Albert und Scarlett zusammengesunken auf dem Boden liegen zu sehen.
So würde es nicht funktionieren. Die Bewohner von Sherborne verfügten über eine enorme Feuerkraft, waren gut aufgestellt und zahlenmäßig überlegen. Aber das bedeutete nicht, dass sie eine Chance hatten.
Die Wolke lichtete sich. Als sie sich verzogen hatte, stand Scarlett immer noch auf der Treppe und Albert schweigend neben ihr. Ihre Köpfe waren gesenkt. Keine der Kugeln hatte sie getroffen: Alles, was in ihre Nähe kam, war abgelenkt worden. Die Wand hinter ihnen war vollkommen durchlöchert.
Einen Moment lang rührte sich niemand.
Dann hoben Scarlett und Albert die Köpfe. Albert winkte mit der Hand.
Und die Straße erwachte zum Leben.
Die Tische des Cafés auf der anderen Straßenseite flogen durch die Luft. Wie Frisbees segelten sie in alle Richtungen, ihre karierten Tischdecken wurden unsanft weggerissen. Männer rannten in Deckung und ließen ihre Waffen liegen. Die Tische prallten wie Flipperkugeln zwischen den Ladenfronten hin und her, zertrümmerten Fenster, warfen Karren um, knickten Pfosten und Säulen. Ein unnatürlicher Wind fegte durch die Straße, riss die metallenen Ladenschilder ab und schleuderte sie hoch über die Stadt. Die Kuh vom Metzger, die Flasche vom Winzer, das Kleid von Mrs Carmichaels Damenboutique, die Münze der Bank – sie alle schwirrten auf und ab wie verrückte Vögel. Sie glitzerten in der Sonne und stürzten sich auf die Milizionäre auf den Dächern, die um ihr Leben sprangen und sich in die Markisen der Geschäfte darunter stürzten. Währenddessen kippten die Blumenkübel zur Seite und rollten über den Bürgersteig. Der Anführer der Miliz war ohne Deckung: Er rannte im Zickzack davon, während ein Kübel hinter ihm herrumpelte.
Scarlett war einmal an der Südostküste gewesen; sie hatte die Brandgebiete auf der anderen Seite des Meeres gesehen. Dort an der Küste, wo die Hitze der Brände auf die kältere Luft traf, hatte man Häuser in den Wolken taumeln sehen – Häuser, Leichen, Maschinenteile, die wie Bruchstücke im Wind trieben … Wenn Scarlett jetzt auf Albert blickte, der inmitten seines selbst gemachten Sturms stand, überkam sie dasselbe Gefühl wie damals. Sie wurde sich ihrer eigenen Kleinheit bewusst, ihrer Bedeutungslosigkeit im Angesicht der Zerstörung.
Seite an Seite stiegen sie die Stufen vor der Bank hinunter und wandten sich nach rechts. Über ihnen kreischten und surrten die Ladenschilder durch den Himmel. Tische drehten sich, Kübel zerbrachen. Panik und Verwirrung herrschten. Nur an einer Stelle nicht: Als Scarlett zurückblickte, sah sie eine schlanke, zierliche Person in einem schwarzen Kapuzenpullover, die mitten auf der Straße auf sie zukam. Schilder flogen in die eine Richtung, eine Gruppe panischer Sklavenhändler rannte in die andere … Die Gestalt in Schwarz ignorierte all das, hielt den gleichen geraden Kurs und kam stetig hinter ihnen her. Scarlett runzelte die Stirn und starrte zurück … doch in diesem Moment stürzte eine Ladenfront auf die Straße und die Gestalt war nicht mehr zu sehen.
Alberts Finger bewegten sich wieder. Mit beängstigender Geschwindigkeit schossen die Schilder nach unten, prallten gegen Mauern und schlugen tief in den Asphalt der Straße ein. Die Miliz zerstreute sich, als die metallene Kuh auf sie zuraste. Der Anführer hechtete beiseite, überschlug sich, als die Kuh in ein Schaufenster krachte und sich in Frauenstrümpfen verfing. Der Wind legte sich, Tischdecken und Markisen schwebten sanft vom Himmel herab. Der Anführer der Miliz hob den Kopf. Das Hinterteil der Kuh ragte über ihm auf wie das Heck eines sinkenden Schiffes. Aus den Haufen von Ziegeln und Balken drang das Stöhnen der verschütteten Sklavenwächter, die sich zu befreien versuchten.
Scarlett und Albert verließen Sherborne durch das Haupttor. Auf dem Weg zu den Feldern fragte sich Scarlett, was die Stadtbewohner wohl sagen würden, wenn sie zum Platz zurückhumpelten und herausfanden, dass der Banküberfall nicht der einzige Raub an diesem Nachmittag gewesen war – während alle bei der Bank waren, hatte man die Sklavenkäfige aufgebrochen und die Gefangenen waren wie vom Erdboden verschluckt …
Wenigstens hatten Sanjay und die anderen nun etwas zu erzählen. Die beiden Outlaws hatten einen coolen Eindruck hinterlassen, als sie aus der Stadt geschlendert waren. Scarlett fand, es war ein Bild für die Holzschnittkünstler. Eines für die Fahndungsplakate. Vielleicht auch eines für die Verfasser von Flugschriften, wenn die Geschichte die Runde machen sollte.
Es war eine Schande, dass es so enden musste, mit so viel Blutvergießen und Chaos. Albert Browne hatte keine wirkliche Freude daran: weder an der Entfesselung der Gewalt noch an der Panik der Stadtbewohner. Und auch nicht an dem Trümmerfeld, das er hinterlassen hatte. Sicher, es war eine erfolgreiche Operation gewesen. Aber wie nach jedem Überfall fühlte er sich unwohl.
Zum Teil war es die körperliche Erschöpfung. Der Aufbruch aus Sherborne hatte ihm viel abverlangt. Inzwischen waren sie eine Stunde lang unter den Bäumen stetig bergauf marschiert. Endlich, tief in der Wildnis, wo sich ein Bach durch die Schatten schlängelte, verlangte er nach einer Rast. Scarlett entledigte sich ihres Rucksacks und ließ sich auf einen Felsen sinken. Albert hockte sich auf einen Stein am Flussufer, streckte die Beine aus und wartete darauf, dass die Konsequenzen seiner Taten ihn heimsuchten.
Ja, die Nachbeben kamen in Wellen. Seine Knochen schmerzten. Seine Muskeln zitterten. Seine Finger kribbelten und seine Ohren rauschten seit dem Moment, als er seine Kraft entfesselt hatte. Wenn er die Augen zusammenkniff, sah er noch immer die Energiewirbel, die er in der Luft über der Hauptstraße entfesselt hatte. Er sah die Gegenstände, die er in die Luft geschleudert hatte, und hörte die Geräusche ihres Aufpralls auf dem Boden. Er beugte sich vor, stützte den Kopf in die Hände und wartete darauf, dass die Übelkeit nachließ.
Sie verging, so wie üblich. Als er die Augen öffnete, war der Wald von goldenen Lichtstreifen durchzogen. Die untergehende Sonne tauchte die Lichtung in einen warmen Glanz. Das einzige Geräusch war der Bach, der über die Felsen plätscherte und ein tiefes, rundes Becken füllte.
Das Wasser des Beckens war klar und im schrägen Licht der Sonne konnte man die Steine auf dem Grund deutlich erkennen. Wie schön sie waren, mit ihrer glatten Oberfläche und den verschiedenen Blau- und Grüntönen. Albert hatte das Gefühl, dass ein staubiger Outlaw in Versuchung geraten könnte, sich auszuziehen und zu baden, seine Hose auf einen Busch zu werfen und nackt in der Tiefe zu plantschen. Das wäre ein Fehler gewesen. Erstens hätte Scarlett ihn vermutlich erschossen. Zweitens lagen auf dem Grund mehrere große, fleischfressende Fische, die mit ihren spiegelglatten Flanken schwer zu erkennen waren und die mit blitzenden Zähnen und vorquellenden Augen nach oben glotzten und nur darauf lauerten, dass etwas die Wasseroberfläche durchbrach.
Albert starrte ins Wasser. Die Fische starrten zurück.
»Fühlst du dich schlapp?« Scarlett hockte im Schneidersitz auf ihrem Felsblock, neben sich eine Flasche Wasser und eine Tüte Dörrfleisch. Sie hatte ihre Fluchkasse aus dem Rucksack genommen und sich um den Hals gehängt. Ihr zerknitterter breitkrempiger Hut saß wieder auf ihrem Kopf. Staub von der Schießerei bedeckte ihr Kleid, aber sonst wirkte sie so strahlend wie beim Betreten der Bank. Ein staubiges, in Leder gebundenes Buch lag aufgeschlagen auf ihrem Schoß.
»Es geht mir gut«, sagte Albert.
»Wirklich? Du siehst aber schrecklich aus.«
»Danke.« Er lächelte sie an. »Bist du nicht ein bisschen zu hart?«
»Nein. Ich bin nur nett. Du siehst aus wie ein Stück Otterfell, das die Flut angeschwemmt hat. War das der letzte Kampf auf der Straße? Für deine Verhältnisse war das doch ziemlich zahm.«
»Genau das macht mich so müde. Das ist die Herausforderung. Kann ich bitte etwas Wasser haben?« Er fing die Flasche unbeholfen auf und setzte sich aufrecht hin, um zu trinken. Es war kühl und gut. Sein Kopf wurde klarer, auch wenn er wusste, dass die Müdigkeit noch Tage anhalten würde. »Ich habe versucht, niemanden zu verletzen«, sagte er. »Das Problem ist, dass die Stadtbewohner immer wild durcheinanderrennen. Wenn dann Sachen herumfliegen und ich in der Luft die Flugbahn korrigieren muss …«
»Entspann dich«, sagte Scarlett. »Ich bin sicher, du hast niemanden erschlagen … Und wenn doch? Du hast ihre Sklavenkäfige gesehen, du hast die Kinder gesehen, die sie dort eingesperrt haben …«
»Ja. Ich schätze schon.«
»Du weißt, dass ich recht habe. Iss ein Stück Dörrfleisch. Dann geht es dir gleich besser.«
Sie warf ihm den Beutel zu. Er aß und trank; sie teilten einen Moment des Schweigens. Dann wandte Scarlett ihre Aufmerksamkeit wieder dem Buch zu. Albert beobachtete, wie sie die Seiten umblätterte. Er studierte die Konturen ihres Gesichts und das rubinrote Sonnenlicht, das in ihrem Haar schimmerte.
»Du hast also die Hauptbücher?«, fragte er.
»Zwei davon.«
»Reichen sie weit genug zurück?«