Bartimäus - Die Pforte des Magiers - Jonathan Stroud - E-Book

Bartimäus - Die Pforte des Magiers E-Book

Jonathan Stroud

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Beschreibung

Bartimäus – Das große Finale des brillanten Fantasy-Abenteuers.

2000 Jahre sind vergangen, seit Bartimäus auf der Höhe seiner Macht war. Heute, gefangen in der Welt der Magier, spürt er seine Kräfte schwinden. Doch noch will Nathanael ihn nicht aus seinen Diensten entlassen. Als Informationsminister ist er auf Bartimäus’ Dienste angewiesen. Kein leichter Job, denn es herrscht Aufruhr im britischen Weltreich.

Die Widerständlerin Kitty Jones eignet sich unterdessen geheimes Wissen über Magie und Dämonen an. Sie will erreichen, dass der ewige Kampf zwischen Dschinn und Menschen beendet wird. Doch dazu muss sie das Geheimnis um Bartimäus’ Vergangenheit lüften.

Doch dann wird London von einer bislang unbekannten Macht angegriffen und Nathanael, Kitty und Bartimäus müssen der größten Gefahr in der Geschichte der Zauberei entgegentreten. Und das Schlimmste: Sie müssen zusammenarbeiten …

Band 1 nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2005

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Seitenzahl: 719

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Jonathan Stroud

Bartimäus – Die Pforte des Magiers

Band 3

Roman

Aus dem Englischen von Katharina Orgaß und Gerald Jung

Copyright

Die englische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel "The Bartinaeus Trilogy – Ptolemy's Gate" bei Random House Children's Books, London

erscheinen in der Verlagsgruppe Random House

Copyright © 2006 für die deutschsprachige Ausgabe cbj, München

Copyright © 2005 Jonathan Stroud

Umschlaggestaltung: Klaus Renner

Umschlagabbildung: David Wyatt

ISBN 978-3-894-80168-7

Inhaltsverzeichnis

HauptpersonenTeil EinsAlexandria, 125 v. Chr.123 4 Teil Zwei Alexandria, 126 v. Chr. 5 6 7 8 9 10 11 12 Teil Drei Alexandria, 125 v. Chr. 13 14 15 16 17 18 19 20 21 Teil Vier Alexandria, 124 v. Chr. 22 23 24 25 26 27 28 29 30 Teil Fünf Alexandria, 124 v. Chr. 31 32 33 34 35 36 37 38 Fußnoten Danksagung Über das Buch Über den AutorCopyright

Hauptpersonen

Zauberer

Mr Rupert Devereaux  Premierminister Großbritanniens und des britischen Weltreichs sowie amtierender Polizeichef

Mr Carl Mortensen Kriegsminister

Miss Helen Malbindi Außenministerin

Miss Jessica Whitwell Sicherheitsministerin

Mr Bruce Collins Innenminister

Mr John Mandrake Informationsminister

Miss Jane Farrar Stellvertretende Polizeichefin

Mr Quentin Makepeace  Bühnenautor, Verfasser des Theaterstücks »Petticoats und Pistolen« und anderer Werke

Mr Harold Button  Zauberer, Gelehrter und Büchersammler

Mr Sholto Pinn  Geschäftsmann, Inhaber von Pinns Neue Ausstattungen auf der Piccadilly Street

Mr Clive Jenkins  Zauberer der Zweiten Stufe, Abteilung für Innere Angelegenheiten

Miss Rebecca Piper  Persönliche Assistentin von Mr Mandrake, Informationsminister

Gewöhnliche

Miss Kitty Jones  Auszubildende und Aushilfskellnerin

Mr Clem Hopkins  Reisender und Gelehrter

Mr Nicholas Drew  Politischer Agitator

Mr George Fox  Inhaber der Kneipe »Zum Frosch« in Chiswick

Miss Rosanna Lutyens  Privatlehrerin

Geister

Bartimäus  Dschinn, in Mr Mandrakes Diensten

Ascobol, Cormocodran Höhere Dschinn, in  Mwamba, Hodge  Mr Mandrakes Diensten

Purip, Fritang  Niedere Dschinn, in Mr Mandrakes Diensten

Teil Eins

Alexandria, 125 v. Chr.

Um Mitternacht ließen sich die Assassinen von der Palastmauer fallen, vier flüchtige schwarze Schemen vor einer dunklen Fläche. Obwohl sie aus großer Höhe auf hartem Boden landeten, machten sie nicht mehr Lärm als versprengte Regentropfen. Drei Sekunden verharrten sie geduckt und hoben witternd die Nasen, dann huschten sie durch die nächtlichen Gärten mit ihren Tamarisken und Dattelpalmen hin zu jenem Gebäude, wo der Junge friedlich schlummerte. Ein angeketteter Schimpanse regte sich im Schlaf, draußen in der Wüste heulten die Schakale.

Sie trippelten auf Zehenspitzen durch das hohe, feuchte Gras und hinterließen keine Spuren. Die flatternden Gewänder verwandelten ihre Schatten in huschende Gespenster. Sieht jemand etwas? Nur sich leise im Wind wiegende Blätter. Hört jemand etwas? Nur den sanft seufzenden Wind in den Palmkronen. Keine Regung, kein Laut. Der Krokodildschinn, der den heiligen Weiher bewachte, merkte nichts, obwohl sie kaum eine Schuppenbreite an seinem Schwanz vorbeischlichen. Nicht übel – für Menschen.

Die Hitze des Tages war verflogen, die Nachtluft war kühl. Über dem Palast stand ein kalter runder Mond und bemalte Dächer und Höfe mit einer satten Silberschicht.1

Jenseits der Mauer hörte man die große Stadt raunen: Karrenräder rollten über Lehmstraßen, Gelächter klang aus dem Vergnügungsviertel am Hafen herüber, Wellen schwappten an die Kaimauer. In den Fenstern schienen Lampen, in den Feuerstellen auf den Dächern glomm die Glut und vom Turm an der Hafeneinfahrt sandte das große Leuchtfeuer seine Botschaft übers Meer und sein Widerschein irrlichterte auf den Wellen.

Die Wachtposten vertrieben sich die Zeit mit Glücksspielen. Die Dienerschaft schlief in den Säulengängen auf Binsenlagern. Die Palasttore waren mit dreifachen Riegeln gesichert, ein jeder mehr als mannsdick. Niemand wachte über die Gartenanlagen, wo auf vier Paar leisen Sohlen der Tod herannahte, lautlos wie ein Skorpion.

Das Fenster des Jungen war im ersten Stock des Palastes. Vier Gestalten gingen darunter in die Hocke. Auf ein Zeichen des Anführers schob sich einer nach dem anderen an das Mauerwerk, kletterten sie einer nach dem anderen mithilfe der Fingerspitzen und der Nägel ihrer großen Zehen daran empor.2 Auf diese Weise hatten sie zwischen Massilia und Hadramaut Marmorsäulen und gefrorene Wasserfälle erklommen, die grob behauenen Steinquader waren für sie ein Kinderspiel. Immer höher kletterten sie, wie Fledermäuse an einer Höhlenwand. In den Zähnen hielten sie etwas Blinkendes.

Der erste Assassine erreichte das Fenstersims, schwang sich geschmeidig wie eine Raubkatze hinauf und spähte in das Schlafgemach.

Mondlicht fiel durchs Fenster und erleuchtete das Lager wie am helllichten Tag. Der Junge schlief wie ein Toter. Sein dunkles Haar floss über die Kissen, sein blasser Hals schimmerte auf dem Seidenstoff wie die Kehle eines Opferlamms.

Der Assassine nahm den Dolch aus den Zähnen. Er sah sich gründlich um, taxierte die Größe des Schlafgemachs und hielt nach einem Hinterhalt Ausschau. Der Raum war groß und dämmrig, die Einrichtung karg. Die Decke ruhte auf drei Säulen. Gegenüber war eine von innen verriegelte Teakholztür, an der Wand stand eine offene, mit Kleidung halb gefüllte Truhe. Sonst gab es noch einen reich geschnitzten Sessel, über dessen Lehne nachlässig ein Umhang geworfen war, ein paar achtlos auf den Boden fallen gelassene Sandalen und ein mit Wasser gefülltes Onyxbecken. Ein Hauch von Parfüm lag in der Luft. Der Assassine, der solche Wohlgerüche als dekadent und verderbt verachtete, rümpfte die Nase.3

Er kniff die Augen zusammen, drehte den Dolch um und hielt ihn mit Daumen und Zeigefinger an der glänzenden Spitze. Die Klinge zitterte einmal, zweimal. Er schätzte die Entfernung ab – weder in Karthago noch im alten Kolchis und auch sonst nirgends hatte er sein Ziel verfehlt, hatte jedes Mal auf Anhieb die Kehle getroffen.

Eine fast unmerkliche Drehung des Handgelenks und der Dolch flog in silbrigem Bogen durch die Luft, bohrte sich fast lautlos zwei Fingerbreit neben dem Hals des Kindes bis zum Heft ins Kissen.

Der Assassine hielt verdutzt inne und blieb auf dem Sims hocken. Die Zickzacknarben auf seinem Handrücken wiesen ihn als Meister des Geheimbundes aus. Als solcher durfte er sein Ziel niemals verfehlen. Es war ein punktgenauer Wurf gewesen, präzise berechnet, trotzdem hatte er nicht getroffen. Hatte sich das Opfer eine Winzigkeit geregt? Ausgeschlossen – der Junge schlief tief und fest. Der Assassine zog noch einen Dolch aus dem Gewand.4 Abermals zielte er sorgfältig (er war sich seiner Brüder bewusst, die hinter und unter ihm an der Mauer hingen, und spürte ihre drängende Ungeduld). Ein Schlenker aus dem Handgelenk, ein Aufblinken…

Auch dieser Dolch landete im Kissen, diesmal zwei Fingerbreit auf der anderen Seite des prinzlichen Halses. Der Junge mochte träumen, denn seine Lippen umspielte ein leises Lächeln.

Hinter seinem schwarzen Schleier verzog der Assassine ärgerlich das Gesicht. Dann holte er einen zu einem festen Strick gedrehten Stoffstreifen hervor. Sieben Jahre war es nun her, dass ihm der Alte den ersten Mordauftrag erteilt hatte, und noch nie war seine Garrotte gerissen, noch nie hatten ihn seine Hände im Stich gelassen.5 Geräuschlos wie ein Leopard glitt er ins Zimmer und über den mondbeschienenen Boden.

Der zugedeckte Junge murmelte etwas und regte sich ein wenig. Der Assassine verharrte auf halbem Weg wie ein schwarzes Standbild.

Hinter ihm krochen zwei seiner Gefährten aufs Fenstersims und beobachteten ihn.

Der Junge seufzte leise und verstummte. Jetzt lag er mit dem Gesicht nach oben in den Kissen, auf beiden Seiten von einem Dolchknauf eingerahmt.

Sieben Sekunden verstrichen. Der Assassine setzte sich wieder in Bewegung, schlich um das Bett herum, bis er hinter dem Kopfende stand, und schlang sich die Enden des Stricks um die Hände. Er beugte sich rasch vor, legte dem Schlafenden die Garrotte um den Hals…

Der Junge schlug die Augen auf. Er langte über seinen Kopf, packte den Assassinen beim Handgelenk und schleuderte ihn wie eine Puppe mit dem Kopf voran an die Wand, wo sein Genick wie ein Schilfrohr abknickte. Der Junge schlug die seidene Decke zurück, sprang aus dem Bett und spähte zum Fenster hinüber.

Die beiden anderen Assassinen, deren Silhouetten sich auf dem Fenstersims vor dem Mond abzeichneten, zischten wie Felsenpythons. Der Tod ihres Gefährten kränkte sie in ihrer Berufsehre. Der eine zog ein hohles Knöchelchen hervor, saugte aus seiner Zahnlücke ein hauchzartes, giftgefülltes Kügelchen, setzte das Röhrchen an die Lippen, richtete es aufs Herz des Kindes und pustete. Das Kügelchen sauste durchs Zimmer.

Der Junge wich ihm aus und das Kügelchen zerplatzte an einer Säule, benetzte sie mit seinem flüssigen Inhalt. Eine grüne Dampfwolke stieg auf.

Die beiden Assassinen sprangen ins Zimmer, einer nach links, der andere nach rechts. Sie hielten Krummsäbel und ließen sie in verschlungenen Bahnen über den Köpfen kreisen. Mit dunklen Augen sahen sie sich suchend um.

Der Junge war fort, das Schlafgemach leer. Das grüne Gift rann zischend die Säule herunter und verätzte den Stein.

Nicht ein einziges Mal in sieben Jahren war den Assassinen zwischen Antiochien und Pergamon ein Opfer entwischt.6 Sie ließen die Arme sinken, bewegten sich behutsam, lauschten angestrengt, prüften die Luft auf Angstgeruch.

Hinter der Mittelsäule raschelte es so leise, als hätte sich eine Maus im Stroh erschreckt. Die Männer wechselten einen Blick, dann schoben sie sich Zoll um Zoll, Zehenspitze um Zehenspitze mit erhobenen Krummsäbeln voran. Der eine ging rechts herum, an seinem erschlafften Kameraden vorbei, der andere ging links herum und wich dem vergoldeten Sessel mit dem Königsumhang aus. Wie Geister glitten sie an den Wänden entlang und näherten sich der Säule von beiden Seiten.

Dort rührte sich etwas – ein Junge verbarg sich dahinter. Beide Assassinen hatten ihn gesehen. Beide stürzten mit gezücktem Säbel vor, der eine von links, der andere von rechts, beide schlugen blitzschnell zu wie Gottesanbeterinnen.

Ein zweifacher röchelnder, jäh verstummender Schrei. Hinter der Säule taumelte ein Knäuel aus Armen und Beinen hervor – die beiden Assassinen, eng umschlungen, einer auf des anderen Säbel gespießt. Sie kippten vornüber, zuckten noch einmal und rührten sich nicht mehr.

Stille. Das Fenstersims war leer, nur das Mondlicht spielte darauf. Eine Wolke schob sich vor die helle runde Scheibe und verdunkelte die am Boden liegenden Leichname. Das Leuchtfeuer am Hafen sandte seinen schwachen roten Schein gen Himmel. Alles war ruhig. Die Wolke trieb aufs Meer hinaus, das Licht kehrte zurück. Hinter der Säule trat auf bloßen Sohlen der Junge hervor, seine Haltung war angespannt, als fühlte er sich bedrängt. Er schlich zum Fenster. Langsam, ganz langsam, näher, noch näher… Er blickte über die Gärten, die Bäume und Wachtürme. Das Mondlicht zeichnete das Fenstersims nach und man sah jede Unebenheit. Der Junge beugte sich vor, spähte in den Hof unter dem Fenster. Er reckte den schlanken weißen Hals…

Nichts. Der Hof war leer. Die steile Mauer unter dem Sims ebenfalls, die einzelnen Quader waren gut zu unterscheiden. Der Junge lauschte der Stille. Er trommelte mit den Fingern auf das Sims, zuckte die Achseln und wandte sich wieder nach dem Zimmer um.

Da ließ sich der vierte Assassine, der wie eine schwarze Spinne am Fenstersturz gehangen hatte, hinter ihm herabfallen. Der Aufprall war nicht lauter als eine in den Schnee fallende Feder, aber der Junge hörte es trotzdem. Er fuhr herum, ein Dolch blitzte auf, stieß zu, wurde im letzten Augenblick abgelenkt, die Klinge klirrte gegen Stein. Ein eiserner Griff schloss sich um den Hals des Jungen, jemand trat ihm die Beine weg. Er stürzte schwer zu Boden. Der Assassine lag mit seinem ganzen Gewicht auf ihm, hielt seine Hände mit den Knien fest. Der Junge konnte sich nicht bewegen.

Der Dolch stieß herab. Diesmal traf er.

So war es zu guter Letzt doch noch gelungen. Der Assassine kauerte auf dem Jungen und stieß erleichtert den angehaltenen Atem aus – zum ersten Mal, seit seine Brüder das Zeitliche gesegnet hatten. Er hockte sich auf die Fersen, ließ den Dolch los und rutschte von den Händen des Jungen. Dann verneigte er sich in traditioneller Ehrerbietung vor seinem Opfer.

Worauf der Junge die Hand ausstreckte und sich den Dolch aus der Brust zog. Der Assassine hielt verdutzt inne.

»Leider kein Silber«, sagte der Junge. »Pech gehabt.« Er hob die Hand.

Eine Detonation erschütterte das Schlafgemach. Grüne Funken sprühten aus dem Fenster.

Der Junge stand auf und ließ den Dolch auf sein Lager fallen. Er richtete seinen Lendenschurz, pustete sich ein paar Rußflocken von den Armen und hustete vernehmlich.

Ein leises Scharren. Der vergoldete Sessel rückte herum, der Umhang über der Lehne wurde zurückgeschlagen. Zwischen den Sesselbeinen kam noch ein Junge hervor, dem ersten zum Verwechseln ähnlich, nur nach den vielen Stunden, die er in seinem Versteck verbracht hatte, ein wenig zerzaust und rot im Gesicht.

Schwer atmend stand er vor den toten Assassinen. Dann blickte er an die Zimmerdecke, wo sich der rußige Umriss eines erschrocken wirkenden Mannes abzeichnete.

Der Junge sah zu seinem Doppelgänger hinüber. Ich legte ironisch die Hand zum Gruß an die Stirn.

Ptolemäus strich sich das dunkle Haar aus dem Gesicht und verneigte sich.

»Danke, Rekhyt«, sagte er.

1

Die Zeiten ändern sich. Einstmals, lang ist’s her, konnte mir keiner das Wasser reichen. Da fegte ich auf einem Wolkenstreif durch die Lüfte und entfesselte im Vorüberfliegen ausgewachsene Sandstürme. Ich spaltete Gebirge, errichtete Burgen auf gläsernen Säulen, fällte ganze Wälder mit einem Atemhauch. Ich stampfte Tempel aus dem Erdboden und führte Heere gegen die Legionen der Toten in die Schlacht, auf dass die Harfenspieler aller Herren Länder in die Saiten griffen, um mich zu preisen, und die Chronisten meine Heldentaten mit ehrfürchtiger Feder niederschrieben. O ja! Ich war Bartimäus – schnell wie ein Gepard, stark wie ein Elefantenbulle, todbringend wie eine Kobra!

Aber das war einmal.

Und jetzt… Jetzt gerade eben lag ich mitten in der Nacht mitten auf der Straße platt auf dem Rücken und wurde immer platter. Wie das? Weil ein Gebäude auf mir drauflag. Ganz schön schwer, das Ding. Ich nahm alle Kraft zusammen, doch wie sehr ich mich auch anstrengte, es rührte und rückte sich nicht.

An sich braucht es einem nicht peinlich zu sein, wenn man Mühe hat, ein Gebäude von sich runterzuwälzen, das auf einen drauffällt. So etwas widerfuhr mir nicht zum ersten Mal und gehörte letztlich zum Beruf.1 Es ist jedoch wesentlich erträglicher, wenn das betreffende Bauwerk groß und prächtig ist. In diesem Fall jedoch war das Bauwerk, das jemand von seinem Fundament gerupft und von hoch oben auf mich fallen gelassen hatte, weder prächtig noch groß. Es war weder eine Tempelmauer noch ein Granitobelisk und auch nicht das Marmordach eines Kaiserpalastes.

Nein. Das blöde Ding, das mich wie einen aufgespießten Schmetterling am Boden festnagelte, stammte aus dem 20. Jahrhundert und diente einem ganz speziellen Zweck.

Ach, was soll’s – es war ein Klohäuschen. Ein ziemlich großes zwar, aber trotzdem. Ich war jedenfalls froh, dass in diesem Augenblick weder Harfenspieler noch Chronisten des Weges kamen.

Zu meiner Ehrenrettung möchte ich anmerken, dass mein Klohäuschen Betonwände und ein schweres Eisendach hatte, dessen peinigende Aura meine ohnehin ermatteten Kräfte zusätzlich schwächte. Außerdem war es innen drin garantiert mit diversen Leitungen, Wassertanks und klotzigen Armaturen ausgestattet. Dessen ungeachtet war es für einen Dschinn meines Formats eine ziemlich schlappe Leistung, sich von dergleichen platt drücken zu lassen. Offen gestanden machte mir die erlittene Demütigung mehr zu schaffen als das auf mir lastende Gewicht.

Um mich herum tröpfelte Wasser aus den geknickten und geborstenen Rohren melancholisch in den Rinnstein. Nur mein Kopf schaute noch unter dem Beton hervor, sonst war ich darunter begraben.2

So weit die Nachteile meiner Lage. Der Vorteil war, dass sie mich daran hinderte, mich wieder in die Schlacht zu stürzen, die immer noch in der Vorortstraße tobte.

Es war eine ziemlich diskrete Schlacht, vor allem auf der ersten Ebene. Dort war kaum etwas davon zu merken. In den Häusern brannte kein Licht, die Straßenlaternen waren miteinander verknotet, die ganze Straße war schwarz wie chinesische Tusche. Am Himmel funkelten vereinzelte Sterne. Ein-, zweimal leuchteten verwischte blaugrüne Lichter auf und verloschen wieder, wie ferne Unterwasserdetonationen.

Auf der zweiten Ebene ging es schon turbulenter zu, dort sah man zwei Vogelschwärme unter wüstem Einsatz von Flügeln, Schnäbeln, Klauen und Schwänzen miteinander zanken. Derart flegelhaftes Benehmen wäre schon bei Möwen und anderem unbedeutendem Federvieh tadelnswert gewesen, die Tatsache, dass es sich hier um Adler handelte, war umso erschütternder.

Auf den höheren Ebenen verzichtete man vollends auf die Vogelgestalt, dort konnte man die wahren Erscheinungsformen der kämpfenden Dschinn begutachten.3 Aus meinem Blickwinkel wimmelte und wuselte es am Nachthimmel nur so von aufeinander prallenden Gestalten, verschwommenen Umrissen und verdächtiger Betriebsamkeit.

Sämtliche Gebote der Fairness waren außer Kraft. Ich beobachtete, wie jemand seinem Gegner das stachelbewehrte Knie schwungvoll in den Magen rammte, worauf dieser schwer angeschlagen hinter einen Schornstein trudelte. Abscheulich! Wäre ich daran beteiligt gewesen, ich hätte mich nie zu so etwas hinreißen lassen.4

Aber ich war nicht daran beteiligt. Man hatte mich ja aus dem Verkehr gezogen.

Hätte ein Afrit oder Marid mir das angetan, hätte ich noch damit leben können, aber dem war leider nicht so. Ich hatte mich von einer Dschinnijah der dritten Kategorie überwältigen lassen, so einer, wie ich sie sonst in die Westentasche stecke und nach dem Abendessen in der Pfeife rauche. Von dort, wo ich lag, konnte ich sie beobachten. Ihre weibliche Anmut wurde allerdings von ihrem Schweinskopf und dem langen Schürhaken, den sie schwenkte, einigermaßen beeinträchtigt. Sie stand auf einem Briefkasten und hieb mit solchem Elan um sich, dass die Regierungstruppen, denen auch ich offiziell angehörte, zurückwichen und sie nicht weiter behelligten. Sie war ein echtes Prachtexemplar und hatte, nach ihrem Kimono zu urteilen, geraume Zeit in Japan verbracht. Ich gestehe, dass ich mich von ihrer harmlosen Erscheinungsform hatte täuschen lassen und mich ohne einen Schutzschild an sie herangewagt hatte. Ehe ich mich’s versah, hörte ich es durchdringend quieken, etwas kam auf mich zugeflogen und rums! – schon lag ich rücklings auf der Straße, unfähig, mich aus eigener Kraft zu befreien.

Wie dem auch sei, meine Truppen gewannen nach und nach die Oberhand. Es war ein erhebender Anblick! Dort schritt Cormocodran einher, brach eine Straßenlaterne ab wie einen morschen Ast und drosch damit um sich, drüben wütete Hodge und feuerte eine Salve Giftpfeile nach der anderen ab. Der Feind geriet ins Wanken und nahm immer verzagtere Erscheinungsformen an. Etliche große Insekten summten an mir vorbei, ein paar panisch flackernde Irrlichter und diverse Ratten auf der Suche nach dem nächsten Loch, nur die Schweinefrau beharrte unbeirrt auf ihrer Gestalt. Meine Kameraden unternahmen einen Ausfall. Ein Käfer schmierte in einer Rauchspirale ab, ein Irrlicht wurde von einer Doppeldetonation zerfetzt. Der Feind ergriff die Flucht, das kapierte sogar die Schweinedame. Sie hüpfte graziös auf einen Vorbau, von dort mit einem Salto aufs Dach und war weg. Die siegreichen Dschinn nahmen unverzüglich die Verfolgung auf.

Auf der Straße kehrte Ruhe ein. Wasser tröpfelte an meinen Ohren vorbei. Vom Haarknoten bis zu den Zehen war meine Substanz wund und zerschunden. Ich seufzte schwer.

»Ach herrje«, kicherte jemand, »wen haben wir denn da? Eine Jungfrau in Nöten!«

Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich in dieser Nacht, um mich von den ganzen Zentauren und Unholden abzuheben, eine menschliche Erscheinungsform gewählt hatte, und zwar die eines jungen Mädchens: schlank, langes dunkles Haar, waches Gesicht. Ohne konkretes Vorbild natürlich.

Der Sprecher schlenderte um mein Klohäuschen herum, blieb stehen und feilte sich an einem schartigen Rohr den Fingernagel. Er hielt nicht viel von dezenten Erscheinungen, sondern gab wie üblich den einäugigen Riesen mit wulstigen Muskeln und langem, zu einer komplizierten, etwas weibischen Haartracht geflochtenem Blondhaar. Er trug einen formlosen blaugrauen Kittel, der sogar in einem mittelalterlichen Fischerdorf als scheußlich gegolten hätte.

»Eine holde Maid, zu zart, sich zu befreien.« Der Zyklop überprüfte kritisch seine anderen Fingernägel, fand den einen etwas zu lang, biss ihn kurzerhand mit kleinen, scharfen Zähnen ab und schmirgelte ihn an der Waschbetonwand des Klohäuschens rund.

»Könntest du mir mal eben aufhelfen?«, bat ich ihn.

Der Zyklop wandte sich nach der leeren Straße um. »An deiner Stelle wär ich vorsichtig, Süße«, sagte er dann und lehnte sich lässig an das Klohäuschen, wodurch es noch schwerer wurde. »Heute Nacht ist übles Gesindel unterwegs. Dschinn, Foliot und Kobolde, die einem böse Streiche spielen.«

»Ach nee, Ascobol«, fauchte ich. »Du weißt sehr gut, dass ich es bin.«

Der Zyklop klimperte mit dem dick geschminkten Auge. »Bartimäus?«, fragte er verwundert. »Ja, ist es denn die Möglichkeit? Nein, der berühmte Bartimäus würde sich doch niemals in eine solche Zwangslage bringen lassen! Bestimmt bist du bloß ein frecher Kobold oder Mauler, der seine Stimme verstellt und… Aber nein – ich habe mich geirrt! Du bist es tatsächlich.« Er zog theatralisch die Augenbraue hoch und rief fassungslos: »Nein, so etwas! Dass es mit dem edlen Bartimäus so weit gekommen ist! Da wird dein Herr aber bitter enttäuscht sein.«

Ich bot alle mir verbliebene Würde auf. »Herren sind genauso vergänglich wie Kränkungen. Ich kann warten.«

»Gewiss, gewiss.« Ascobol schwang die affenartigen Arme und vollführte eine kleine Pirouette. »Recht so, Bartimäus! Dich lässt es kalt, wie tief du gesunken bist. Es stört dich nicht, dass deine besten Jahre um sind und dass du inzwischen so entbehrlich bist wie ein Irrlicht!5 Dir ist es gleich, ob dir unser Herr morgen befiehlt, sein Schlafzimmer zu wischen, oder ob du ungehindert deiner Wege gehen kannst. Wir sollten uns alle ein Beispiel an dir nehmen.«

Ich zeigte lächelnd die weißen Zähne. »Nicht ich bin tief gesunken, Ascobol, sondern meine Widersacher. Ich habe gegen Faquarl von Sparta gekämpft, gegen Tlaloc von Tollan, gegen den schlauen Tchue aus der Kalahari – unsere Zwistigkeiten haben die Erde gespalten und Flüsse umgelenkt und ich lebe immer noch. Und mit wem habe ich es diesmal zu tun? Mit einem x-beinigen Zyklopen im Röckchen. Mit so was werde ich im Handumdrehen fertig, wenn ich mich erst wieder rühren kann.«

Der Zyklop zuckte zusammen, als hätte ihn etwas gestochen. »Welch schreckliche Drohung! Du solltest dich was schämen. Stehen wir etwa nicht auf derselben Seite? Du hast gewiss deine Gründe, den Ausgang der Schlacht unter dieser Bedürfnisanstalt abzuwarten. Als höflicher Dschinn möchte ich dir nicht zu nahe treten, aber wo bleibt deine übliche Liebenswürdigkeit?«

»Zwei Jahre ununterbrochener Knechtschaft haben meine Liebenswürdigkeit aufgezehrt«, entgegnete ich. »Ich bin ausgelaugt und reizbar und meine Substanz juckt wie verrückt. Das macht mich unberechenbar, wie du gleich erleben wirst. Zum allerletzten Mal, Ascobol: Heb das Ding von mir runter!«

Er schmollte noch ein Weilchen, aber meine klare Ansage verfehlte ihre Wirkung nicht. Mit einem Achselzucken lupfte der Zyklop das Klohäuschen und schleuderte es auf die andere Straßenseite, dass es nur so schepperte. Das reichlich zerknitterte Mädchen rappelte sich auf.

»Na endlich«, sagte ich. »Hat ja ganz schön gedauert.«

Der Zyklop schnippte sich ein Schuttbröckchen vom Kittel. »’tschuldige, ich musste vorher noch eben eine Schlacht gewinnen. Aber jetzt ist ja alles wieder in Ordnung. Unser Herr und Meister wird erfreut sein – zumindest was meinen Einsatz betrifft.« Er bedachte mich mit einem scheelen Blick.

Jetzt, da ich wieder auf den Beinen war, hatte ich keine Lust mehr, mich mit ihm zu kabbeln. Ich ließ den Blick über die umliegenden Häuser schweifen. Die Verwüstung hielt sich in Grenzen. Ein paar eingedrückte Dächer, zerbrochene Fenster – wie beabsichtigt war das Scharmützel unauffällig verlaufen. »Was waren das überhaupt für welche? Franzosen?«

Der Zyklop zuckte die Achseln, was angesichts seiner Halslosigkeit durchaus anerkennenswert war. »Kann sein, vielleicht aber auch Tschechen oder Spanier. Wer weiß das schon. Heutzutage hacken die doch alle auf uns rum. Tja, die Zeit drängt, ich mach mich mal an die Verfolgung. Bleib du ruhig hier, Bartimäus, und widme dich deinen Wehwehchen. Versuch’s doch mal mit Pfefferminztee oder einem Kamillenfußbad, das ist bei alten Leutchen sehr beliebt. Adieu!«

Der Zyklop schürzte den Kittel und schwang sich schwerfällig in die Lüfte. Flügel sprossen ihm aus dem Rücken und er entfernte sich mit kräftig pflügenden Schwingenschlägen. Er besaß die Grazie eines fliegenden Aktenschranks, aber wenigstens hatte er noch genug Kraft zum Fliegen. Ich nicht. Jedenfalls nicht ohne eine kleine Verschnaufpause.

Das dunkelhaarige Mädchen schleppte sich zu einem zerschmetterten Schornstein im nächstbesten Garten. Schnaufend und schwerfällig wie ein Greis nahm es darauf Platz und stützte den Kopf in die Hände. Dann schloss es die Augen.

Nur ein kurzes Päuschen. Allerhöchstens fünf Minuten.

Stunden vergingen, der Morgen dämmerte. Die Sterne am Himmel erloschen.

2

Wie er es sich seit einigen Monaten angewöhnt hatte, nahm der große Zauberer John Mandrake sein Frühstück im Salon ein, im Korbsessel gleich am Fenster. Die schweren Vorhänge waren nachlässig zurückgezogen, der Himmel vor dem Fenster war bleigrau, zähe Nebelschwaden wanden sich durchs Geäst der Bäume auf dem Platz.

Das runde Tischchen aus libanesischem Zedernholz verströmte einen angenehmen Duft, wenn es von der Sonne erwärmt wurde, aber an diesem Morgen war die Platte dunkel und kalt. Mandrake goss sich Kaffee ein, hob die silberne Servierglocke vom Teller und machte sich über Curryrührei mit Speck her. In einem Ständer hinter dem Toast und der Stachelbeerkonfitüre warteten eine säuberlich gefaltete Zeitung und ein Brief mit blutrotem Siegel. Mandrake führte mit der linken Hand die Kaffeetasse zum Mund und schlug mit der rechten die Zeitung auf. Nach einem Blick auf die Titelseite brummte er etwas Abfälliges und griff nach dem Brief. Der Postständer hatte einen Haken, woran ein elfenbeinerner Brieföffner hing. Mandrake legte die Gabel weg, schlitzte den Umschlag geschickt auf und zog einen gefalteten Bogen Büttenpapier heraus. Er las sich das Schreiben gründlich und mit gefurchter Stirn durch, faltete es wieder zusammen, steckte es in den Umschlag zurück, seufzte und widmete sich weiter seinem Frühstück.

Es klopfte. Den Mund voll Speck, nuschelte Mandrake: »Herein.« Die Tür öffnete sich leise und eine junge, schlanke Frau mit einer Aktentasche unterm Arm trat ein.

Sie blieb unschlüssig stehen. »Tut mir Leid, Sir«, sagte sie, »bin ich zu früh?«

»Ach was, Piper, überhaupt nicht.« Mandrake winkte sie heran und deutete auf den Sessel gegenüber. »Haben Sie schon gefrühstückt?«

»Jawohl, Sir.« Die junge Frau setzte sich. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm und eine gestärkte weiße Bluse. Das glatte braune Haar war straff aus dem Gesicht gekämmt und im Nacken aufgesteckt. Die Aktentasche behielt sie auf dem Schoß.

Mandrake spießte einen Happen Rührei auf. »Entschuldigen Sie, dass ich weiteresse, aber ich war wegen der jüngsten Vorfälle bis drei Uhr nachts auf den Beinen. Diesmal war Kent betroffen.«

Miss Piper nickte. »Ich habe schon davon gehört, Sir. Im Ministerium wurde eine interne Mitteilung herumgeschickt. Hatten Sie Erfolg?«

»Ja, zumindest laut meiner Kugel. Ich habe einen Trupp Dämonen hingeschickt. Aber darüber wissen wir bald mehr. Was haben Sie heute Schönes für mich?«

Die junge Frau öffnete die Aktentasche und entnahm ihr etliche Schriftstücke. »Die Vorschläge der Staatssekretäre für die Werbekampagnen in den Außenbezirken zum Gegenzeichnen, ein paar neue Plakatentwürfe…«

»Zeigen Sie her.« Der Zauberer trank einen Schluck Kaffee und streckte die Hand aus. »Ist das alles?«

»Hier wäre noch das Protokoll der letzten Kabinettssitzung.«

»Das lese ich später. Erst die Plakate.« Er überflog das oberste Blatt. »›Diene deinem Land und du kommst in der Welt herum‹, was soll das denn heißen? Klingt eher nach Reiseprospekt als nach Rekrutierung. Viel zu schwammig. Aber reden Sie ruhig weiter, Piper, ich höre Ihnen zu.«

»Die neuesten Berichte von der amerikanischen Front sind eingetroffen, Sir. Ich habe sie vorsortiert. Die Belagerung von Boston gibt bestimmt einen guten Artikel ab.«

»Wir müssen natürlich den Schwerpunkt auf den mutigen Vorstoß legen, nicht auf die peinliche Niederlage.« Der Zauberer balancierte die Schriftstücke auf dem Knie und bestrich einen Toast mit Stachelbeerkonfitüre. »Na schön, ich versuche nachher, ein paar Zeilen dazu aufzusetzen. Aber das hier, das kommt sehr gut: ›Verteidige das Vaterland und du kommst groß raus.‹ Ausgezeichnet. Der Bauernbursch hier sieht schön männlich aus, aber wie wär’s, wenn wir im Hintergrund noch seine Familie aufbauen, sagen wir mal, die Eltern und die kleine Schwester, die schutzbedürftig und bewundernd zu ihm aufblicken? Damit spielen wir die Heimatkarte voll aus.«

Miss Piper nickte eifrig. »Und seine Frau mit dazu, Sir.«

»Lieber nicht. Wir wollen die Junggesellen ansprechen. Die Ehefrauen machen immer den meisten Ärger, wenn die Männer nicht mehr heimkommen.« Er biss knirschend in den Toast. »Sonst noch was?«

»Eine Nachricht von Mr Makepeace, Sir. Kam per Kobold. Er lässt fragen, ob Sie heute Vormittag bei ihm vorbeischauen können.«

»Geht nicht. Zu viel zu tun. Ein andermal.«

»Der Kobold hatte noch diesen Handzettel dabei.« Miss Piper hielt ein fliederfarbenes Blatt hoch und verzog das Gesicht. »Am Wochenende wird sein neuestes Stück uraufgeführt. ›Von Wapping nach Westminster‹ heißt es. Es geht um den ruhmreichen Aufstieg unseres Premierministers. Wird bestimmt ein unvergesslicher Abend.«

Mandrake ächzte bloß. »Schön wär’s. Werfen Sie’s in den Papierkorb. Wir haben Besseres zu tun, als über Theaterstücke zu plaudern. Noch was?«

»Mr Devereaux hat auch ein Schreiben herumgeschickt, Sir. Wegen der ›unruhigen Zeiten‹ hat er die kostbarsten Schätze der Regierung im Gewölbe von Whitehall unter Sonderbewachung gestellt. Dort sollen sie so lange bleiben, bis Mr Devereaux etwas anderes anordnet.«

Mandrake blickte stirnrunzelnd auf. »Schätze? Welche denn?«

»Das steht hier nicht. Ich nehme an, es handelt sich…«

»Wahrscheinlich der Stab und das Amulett und die anderen hochmagischen Artefakte.« Mandrake pfiff durch die Zähne. »Ich halte das für unsinnig, Piper. Ich fände es sinnvoller, die Sachen einzusetzen.«

»Ganz recht, Sir. Hier ist noch etwas von Mr Devereaux.« Sie holte ein längliches Paket aus ihrer Aktentasche.

Der Zauberer musterte es missbilligend. »Hoffentlich nicht wieder eine Toga.«

»Eine Maske, Sir. Für das Fest heute Abend.«

Mit einem unwilligen Ausruf zeigte der Zauberer auf den Brief im Postständer. »Die Einladung ist schon gekommen. Es ist nicht zu fassen! Der Krieg läuft schief, das ganze Reich steht auf der Kippe und unser Premierminister hat nur Theaterstücke und Kostümfeste im Kopf. Na, meinetwegen. Legen Sie die Maske zu dem ganzen Schriftkram, ich nehme sie nachher mit. Die Plakatentwürfe sehen ja ganz anständig aus.« Er gab ihr die Unterlagen zurück. »Könnten ein bisschen schmissiger sein.« Er überlegte kurz und nickte. »Haben Sie etwas zu schreiben? Wie wär’s mit ›Kämpfe auch du für Freiheit und Britentum‹? Totaler Stuss, klingt aber griffig.«

Miss Piper ließ den Vorschlag auf sich wirken. »Ich finde es durchaus tiefsinnig, Sir.«

»Ausgezeichnet. Dann schlucken es die Gewöhnlichen bestimmt auch.« Der Zauberer stand auf, tupfte sich mit der Serviette den Mund und warf sie aufs Tablett. »Wollen doch mal sehen, wie die Dämonen vorankommen. Bitte sehr, Piper – nach Ihnen.«

Was großäugige Bewunderung für ihren Vorgesetzten betraf, war Miss Piper keineswegs die Einzige unter den weiblichen Vertretern der herrschenden Klasse. John Mandrake war ein attraktiver junger Mann und eine Aura von Macht umgab ihn so lieblich und betäubend wie der Duft von Geißblatt an einem lauen Abend. Er war mittelgroß, schlank und für rasches, entschlossenes Handeln bekannt. In seinem schmalen, blassen Gesicht spiegelte sich ein faszinierender Widerspruch, denn zum einen war er ausgesprochen jung – gerade mal siebzehn –, zum anderen strahlte er Erfahrung und Autorität aus. Er hatte dunkle, wache, ernste Augen und auf der Stirn schon die ersten Falten.

Früher hatte sein übermäßiges Selbstbewusstsein seine sonstigen Fähigkeiten bedenklich übertrumpft, inzwischen hatte er sich sicheres Auftreten und eine gewisse Umgänglichkeit angeeignet. Er war gegenüber Gleichgestellten wie Untergebenen unterschiedslos höflich und zuvorkommend, wenngleich etwas zurückhaltend, als quälte ihn ein heimlicher Kummer. Verglichen mit den geschmacklosen Vorlieben und Verschrobenheiten seiner Ministerkollegen, verlieh ihm diese unterschwellige Distanziertheit einen gewissen Stil, der ihn umso anziehender machte.

Mandrake trug das dunkle Haar soldatisch kurz – eine ganz bewusste Neuerung zu Ehren der Männer und Frauen an der Front. Die Geste hatte die gewünschte Wirkung erzielt, denn inländische Geheimagenten hatten festgestellt, dass er bei den Gewöhnlichen der beliebteste Zauberer war. Deshalb hatten viele andere Zauberer seine Frisur übernommen und auch seine dunklen Anzüge hatten eine kurzlebige Modewelle ausgelöst. Die Schlipse und Einstecktücher blieben mittlerweile im Schrank, stattdessen ließ Mandrake lässig den obersten Hemdenknopf offen.

Bei seinen Konkurrenten galt er als überragend, geradezu gefährlich begabt, entsprechend hatten sie auf seine Beförderung zum Informationsminister reagiert. Aber bis jetzt war noch jedes Attentat auf ihn fehlgeschlagen: Dschinn verschwanden spurlos, Sprengladungen gingen nach hinten los, Bannsprüche verpufften. Als es Mandrake irgendwann zu viel wurde, forderte er seine Gegner öffentlich auf, sich zu offenbaren und zum magischen Duell anzutreten. Niemand leistete dieser Aufforderung Folge, worauf der junge Minister an Ansehen noch gewann.

Mandrake wohnte in einer von mehreren vornehmen Stadtvillen an einem hübschen, großzügig angelegten Platz in der Innenstadt, einen knappen Kilometer von Whitehall und weit genug vom Fluss entfernt, um im Sommer dessen Gestank zu entgehen. Der Platz war mit Birken bestanden, dazwischen schlängelten sich schattige Wege und in der Mitte war eine freie Rasenfläche. Er war ruhig und kaum belebt, stand aber dennoch unter ständiger Beobachtung. Tagsüber gingen grau uniformierte Polizisten dort Streife, nachts flogen Dämonen in Gestalt von Eulen und Ziegenmelkern lautlos von Baum zu Baum.

Diese Sicherheitsvorkehrungen waren den Bewohnern der umliegenden Häuser geschuldet, denn einige der bedeutendsten Zauberer Londons hatten sich hier niedergelassen. Auf der Südseite wohnte Mr Collins, den man kürzlich zum Innenminister ernannt hatte, in einer cremefarbenen Villa mit falschen Säulen und drallen Karyatiden. Auf der nordwestlichen Seite prangte der protzige Wohnsitz von Mr Mortensen, dem Kriegsminister, mit seinem goldenen Kuppeldach.

John Mandrake residierte nicht ganz so pompös. Das schmale vierstöckige, sonnengelb gestrichene Gebäude hatte eine weiße Marmorvortreppe und weiße Läden vor den hohen Fenstern. Die Räume waren schlicht möbliert und mit geschmackvoll gemusterten Tapeten und Perserteppichen ausgestattet. Der Minister prahlte nicht mit seinem hohen Rang. Nur wenige Kunstgegenstände zierten die Empfangsräume und er beschäftigte lediglich zwei menschliche Hausangestellte. Sein Schlafzimmer war im dritten Stock, ein schmuckloser, weiß getünchter Raum gleich neben der Bibliothek. Zu diesen privaten Gemächern hatten Besucher keinen Zutritt.

Ein Stockwerk tiefer führte ein kahler, dunkel vertäfelter Korridor zu Mr Mandrakes Arbeitszimmer. Hier erledigte er den Großteil seines Tagewerks.

Noch kauend ging Mandrake den Flur entlang, Miss Piper trippelte hinterdrein. Die wuchtige Messingtür war mit einer abgrundhässlichen Fratze verziert. Wulstige Brauen hingen über die Augen, Nase und Kinn sprangen vor wie bei einem Nussknacker. Der Zauberer blieb verärgert stehen.

»Hab ich dir nicht gesagt, du sollst das lassen?«, blaffte er.

Der verkniffene Mund öffnete sich empört, sodass Kinn und Nase einander berührten. »Was denn?«

»Diese scheußliche Erscheinungsform. Ich habe eben erst gefrühstückt.«

Eine Augenbraue hob sich und der Augapfel rollte schmatzend herum. Die Fratze setzte eine gekränkte Unschuldsmiene auf. »’tschuldigung, Kumpel, ich tu bloß meine Pflicht.«

»Es ist deine Pflicht, jeden zu töten, der unbefugt mein Arbeitszimmer betreten will, nicht mehr und nicht weniger.«

Der Türwächter überlegte. »Stimmt. Aber ich setze auf Abschreckung, das finde ich ästhetischer als Bestrafung.«

Mandrake schnaubte verächtlich. »Von irgendwelchen Eindringlingen abgesehen, erschrickt sich unsere Miss Piper noch mal zu Tode.«

Das Gesicht wackelte heftig hin und her, wobei die Nase bedenklich schlackerte. »Mitnichten. Wenn sie allein kommt, halte ich mich zurück. Das nackte Grauen hebe ich mir für jene auf, deren Absichten ich für moralisch verwerflich halte.«

»Mich hast du aber eben genauso angeglotzt!«

»Ja und?«

Mandrake holte tief Luft, fuhr sich mit der Hand über die Augen und vollführte eine knappe Gebärde. Die Fratze verschwamm und war nur noch als schwacher Umriss zu erkennen, die Tür schwang auf. In stolzer Haltung bedeutete der große Zauberer Miss Piper, als Erste einzutreten, dann betrat auch er sein Arbeitszimmer.

Der Raum gab sich betont nüchtern – hoch, hell, weiß gestrichen. Die beiden Fenster blickten auf den Platz, die Einrichtung war rein zweckmäßig. An jenem Morgen verdeckten dicke Wolken die Sonne, weshalb Mandrake beim Hereinkommen das Deckenlicht anschaltete. Eine ganze Wand war mit Bücherregalen zugestellt, die gegenüberliegende Wand war leer, abgesehen von einer riesigen Pinnwand voller Merkzettel und Zeichnungen. In die glatten dunklen Dielen waren fünf Kreise geritzt, jeder mit einem Pentagramm, Runen, Kerzen und Räuchergefäßen versehen. Vier davon hatten den üblichen Umfang, der fünfte, am Fenster, war erheblich größer und enthielt einen wuchtigen Schreibtisch, einen Aktenschrank und ein paar Stühle. Dieser Hauptkreis war mit den kleineren Bannkreisen mittels sorgfältig gemalter Linien und Runenzeilen verbunden. Mandrake und Miss Piper gingen quer durchs Zimmer, setzten sich an den Schreibtisch und breiteten ihre Unterlagen aus.

Mandrake räusperte sich. »Dann wollen wir mal. Fangen wir mit den Rapporten an, Miss Piper. Wenn Sie bitte den Präsenzindikator aktivieren wollen.«

Miss Piper sprach eine kurze Formel. Sogleich flammten die Kerzen um zwei der kleineren Kreise auf und Rauchwölkchen stiegen zur Decke empor. Die Kräuter in den Räuchergefäßen verschoben sich. Bei den beiden anderen Kreisen tat sich nichts.

»Purip und Fritang«, verkündete Miss Piper.

Der Zauberer nickte. »Erst Purip.« Er sprach einen nachdrücklichen Befehl. Die Kerzen um das ganz linke Pentagramm loderten auf und mit Übelkeit erregendem Wabern erschien ein respektabler Herr in Schlips und Anzug. Er grüßte mit knappem Nicken zum Schreibtisch hinüber.

»Helfen Sie mir auf die Sprünge«, bat Mandrake.

Miss Piper warf einen Blick in ihre Unterlagen. »Purip sollte die Reaktionen auf unsere Kriegsbroschüren und sonstige Propaganda beobachten, die Stimmungslage der Gewöhnlichen.«

»Sehr schön. Was hast du herausgefunden, Purip? Sprich.«

Der Dämon verbeugte sich. »Da gibt’s nicht viel Neues zu berichten. Die Leute sind wie die Rindviecher am Gangesufer, halb verhungert, aber geduldig, weder Veränderungen noch eigenständiges Denken gewohnt. Trotzdem macht ihnen der Krieg zu schaffen und sie werden offenbar allmählich unzufrieden. Sie lesen Ihre Broschüren, wie sie auch die Zeitung lesen, aber ohne innere Anteilnahme. Die Lektüre befriedigt sie nicht.«

Der Zauberer schaute finster drein. »Woran machst du ihre Unzufriedenheit fest?«

»Zum Beispiel an den absichtlich ausdruckslosen Mienen, wenn Ihre Polizeibeamten auftauchen. An den verbitterten Blicken, wenn sie an den Rekrutierungsständen vorbeikommen. Ihre Unzufriedenheit wächst im gleichen Maß wie die Blumenberge vor den Türen der trauernden Hinterbliebenen. Die meisten würden sich nicht offen dazu bekennen, aber ihr Zorn auf den Krieg und die Regierung nimmt immer mehr zu.«

»Damit kann ich nichts anfangen. Das ist nichts Greifbares.«

Der Dämon zuckte lächelnd die Schultern. »Ein Aufstand ist nun mal nichts Greifbares – jedenfalls zu Anfang nicht. Noch ahnen die Gewöhnlichen selbst kaum etwas davon, aber ein aufrührerischer Geist erfüllt jeden Atemzug, den sie im Schlaf tun, und jeden Schluck, den sie trinken.«

»Verschon mich mit deinen Orakeln und geh wieder an die Arbeit.« Der Zauberer schnippte mit den Fingern, der Dämon entschwand durch die Zimmerdecke. Mandrake schüttelte den Kopf. »Wertloses Blabla. Mal sehen, was uns Fritang anzubieten hat.«

Beim nächsten Befehl erwachte der zweite Kreis zum Leben. Ein anderer Dämon erschien in einer Räucherwolke, ein untersetzter Herr mit rundem roten Gesicht und bekümmerter Miene. »Na endlich!«, rief er. »Ich bin außer mir! Ich habe furchtbare Neuigkeiten!«

Mandrake und Fritang waren alte Bekannte. »Soweit ich weiß«, entgegnete der Zauberer bedächtig, »warst du am Hafen im Einsatz und hast nach feindlichen Agenten Ausschau gehalten. Haben deine Neuigkeiten etwas damit zu tun?«

Schweigen. »Indirekt schon«, erwiderte der Dämon dann.

Mandrake seufzte. »Schieß los.«

»Ich wollte eben an die Arbeit gehen«, begann Fritang, »als, mich schaudert immer noch!, meine Tarnung aufflog. Hier mein Rapport: Ich hatte gerade einen Weinladen unter die Lupe genommen. Beim Verlassen desselben wurde ich von einer Horde Straßenkinder umzingelt, von denen mir manche kaum bis zum Knie reichten. Ich war als Lakai getarnt und erledigte meinen Auftrag absolut diskret, hatte weder Lärm gemacht noch mich irgendwie auffällig gebärdet. Trotzdem haben mich die Blagen erkannt und ich wurde zur Zielscheibe von fünfzehn rohen Eiern, die meisten davon mit gehöriger Wucht geworfen.«

»Wie sah deine Tarnung denn aus? Vielleicht war sie schon Provokation genug.«

»Haargenau wie Ihr mich hier seht. Grauhaarig, gediegen, grundehrlich, ein wahrer Ausbund an Tugend.«

»Offenbar hatten es die Lümmel darauf angelegt, solchen Leuten aufzulauern. Du hast einfach Pech gehabt.«

Fritang riss die Augen auf, seine Nasenflügel bebten. »Nein, es steckt mehr dahinter! Sie haben gewusst, wer ich in Wirklichkeit bin!«

»Ein Dämon?« Mandrake wischte sich skeptisch ein Stäubchen vom Ärmel. »Wie kommst du darauf?«

»Sie haben die ganze Zeit geleiert: ›Fort mit dir, hässlicher Dämon, mit deinem räudigen gelben Kamm.‹«

»Ach ja? Das ist in der Tat verdächtig.« Der Zauberer musterte Fritang kritisch durch seine Linsen. »Und wo ist der gelbe Kamm? Ich kann keinen erkennen.«

Der Dämon zeigte auf eine Stelle über seinem Kopf. »Weil Ihr die sechste und siebte Ebene nicht sehen könnt. Dort offenbart sich mein Kamm, leuchtend gelb wie Löwenzahn. Ich möchte allerdings anmerken, dass er keineswegs räudig aussieht, obwohl ihm die Knechtschaft ein bisschen zugesetzt hat.«

»Auf der sechsten und siebten Ebene… Du bist ganz sicher, dass du deine Tarnung nicht doch einen Augenblick lang aufgegeben hast? Ja, ja, schon gut«– Mandrake hob hastig die Hand, als der Dämon zu energischem Protest ansetzte –»du hast bestimmt Recht und ich danke dir für die Auskünfte. Nach diesem Eiertrauma willst du dich sicher ein wenig ausruhen. Hinfort! Du bist entlassen.«

Mit einem Freudenschrei versank Fritang strudelnd im Boden, als würde er in einen gurgelnden Abfluss gesogen. Mandrake und Miss Piper wechselten einen Blick.

»Schon wieder«, sagte Miss Piper. »Und schon wieder Kinder.«

»Mhm.« Der Zauberer lehnte sich zurück und räkelte sich. »Sehen Sie doch bitte mal in den Akten nach, ob Sie irgendwo die aktuellen Zahlen finden. Ich muss die Dämonen aus Kent zurückholen.«

Er setzte sich wieder richtig hin, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und rezitierte gedämpft eine Beschwörungsformel. Miss Piper stand auf und ging am inneren Rand des Bannkreises entlang zum Aktenschrank. Sie zog die oberste Schublade auf und entnahm ihr einen dicken gelben Hefter. Als sie wieder auf ihrem Platz saß, streifte sie das Gummiband ab und blätterte den Hefter mit flinken Fingern durch. Die Beschwörung endete mit einem Schwall von Jasmin- und Kletterrosenduft. Im ganz rechten Pentagramm erschien eine ungeschlachte Gestalt, ein Riese mit blonden Zöpfen und einem einzigen Glotzauge. Miss Piper las unbeirrt weiter.

Der Riese vollführte eine tiefe, komplizierte Verbeugung. »Herr, ich grüße Euch mit dem Blut Eurer Feinde, mit ihrem Heulen und Zähneklappern! Der Sieg ist unser!«

Mandrake hob die Augenbraue. »Ihr habt sie verjagt?«

Der Zyklop nickte. »Sie flohen wie Mäuse vor einem Löwenrudel. Ein paar sogar im wahrsten Sinne des Wortes.«

»Nun, das war zu erwarten. Habt ihr auch Gefangene gemacht?«

»Wir haben sie scharenweise niedergemetzelt. Ihr hättet sie quieken hören sollen! Als sie die Flucht ergriffen, bebte unter ihren Hufen die Erde.«

»Schön. Ihr habt also keinen Einzigen gefangen genommen. Dabei hatte ich dir und den anderen das ausdrücklich befohlen.« Mandrake trommelte auf den Schreibtisch. »Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie das nächste Mal zuschlagen. Wer hat sie beauftragt? Prag? Paris? Amerika? Ohne Gefangene lässt sich das unmöglich feststellen. Wir sind keinen Schritt weiter.«

Der Zyklop salutierte schneidig. »Wohlan, ich habe meine Pflicht getan. Ich bin froh, dass ich Euch zur Zufriedenheit dienen konnte.« Er unterbrach sich. »Ihr seid in Gedanken, o Herr?«

Der Zauberer nickte. »Ich überlege gerade, ob ich dir den Stichel oder eher die Unsanfte Umarmung verpasse, Ascobol. Hast du irgendeine Vorliebe?«

»So grausam könnt Ihr nicht sein, Herr!« Der Zyklop befingerte bebend seinen Blondzopf. »Sucht die Schuld bei Bartimäus, nicht bei mir! Er hat sich wie üblich kaum an den Kampfhandlungen beteiligt, der erstbeste Gegner hat ihn außer Gefecht gesetzt. Ich wurde sogar von seinem inständigen Flehen, ihn unter einem Kieselstein hervorzuziehen, an der Verfolgung des Feindes gehindert. Er ist schwächlich wie eine Kaulquappe und hinterhältig obendrein. Er verdient den Stichel, nicht ich.«

»Und wo ist Bartimäus jetzt?«

Der Zyklop zog einen Flunsch. »Keine Ahnung. Vielleicht hat er inzwischen vor lauter Erschöpfung sein Leben ausgehaucht. An der Verfolgung der feindlichen Truppen hat er jedenfalls nicht teilgenommen.«

Der Zauberer seufzte schwer. »Hebe dich hinweg, Ascobol.« Er wedelte ungeduldig mit der Hand. Die schmeichelnden Dankesbezeigungen des Riesen verstummten unvermittelt, als er in einem Flammenstoß verschwand. Mandrake wandte sich seiner Assistentin zu. »Was gefunden, Piper?«

Sie nickte. »Hier haben wir sämtliche von Unbefugten enttarnten Dämonen des letzten halben Jahres. Insgesamt zweiundvierzig… nein, mit diesem Mal sind es dreiundvierzig. Was ihre Natur betrifft, lässt sich daraus keine Gesetzmäßigkeit herleiten. Es handelt sich um Afriten, Dschinn, Kobolde und Stechlinge. Wenn man dagegen die beteiligten Gewöhnlichen betrachtet…« Sie schaute wieder in die Akte. »Die meisten sind Kinder und davon sind wiederum die meisten noch sehr jung. In dreißig Fällen waren die Betreffenden unter achtzehn. Das macht wie viel? Siebzig Prozent oder so. Davon wiederum war über die Hälfte unter zwölf.« Sie blickte auf. »Sie kommen schon so zur Welt. Mit der Fähigkeit, zu sehen.«

»Und wer weiß, womit sonst noch.« Mandrake schwenkte auf seinem Drehsessel herum und betrachtete über die kahlen grauen Baumkronen hinweg den Platz. Immer noch waberte Morgennebel zwischen den Zweigen und entzog die Rasenfläche den Blicken. »Na schön«, sagte der Zauberer, »das reicht erst mal. Es ist gleich neun und ich habe noch einiges zu erledigen. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Piper. Wir sehen uns dann nachher im Ministerium, und lassen Sie sich bloß nicht von meinem Türwächter dumm kommen, wenn Sie rausgehen.«

Als seine Assistentin gegangen war, blieb der Zauberer eine Weile reglos sitzen, klopfte nur immer wieder die Fingerkuppen aneinander. Schließlich beugte er sich vor, zog eine Schublade auf, holte ein kleines Stoffbündel heraus und legte es vor sich auf den Tisch. Er schlug den Stoff auseinander und betrachtete die vom häufigen Gebrauch matt schimmernde Bronzescheibe.

Mandrake blickte in den Zauberspiegel und erweckte ihn zum Leben. Etwas regte sich darin.

»Hol mir Bartimäus«, befahl er.

3

Bei Tagesanbruch kehrten die ersten Bürger in ihren Vorort zurück. Zögernd und ängstlich tappten sie wie Blinde durch die Straßen und begutachteten die Schäden an ihren Häusern, Läden und Gärten. Ein paar Nachtpolizisten begleiteten sie und fuchtelten wichtigtuerisch mit Infernostäben und anderen Waffen herum, obwohl längst nichts mehr zu befürchten war.

Ich hatte keine Lust, das Weite zu suchen. Ich wirkte einen Tarnzauber um den abgebrochenen Schornstein, auf dem ich saß, damit mich die Menschen nicht sahen, und beobachtete verdrossen, wie sie umhertaperten.

Die paar Stunden Verschnaufpause hatten nicht groß geholfen. Wie auch? Geschlagene zwei Jahre hatte man mir nicht gestattet, diese verfluchte Welt zu verlassen, geschlagene zwei Jahre hatte ich diese hirnlose Menschenherde ununterbrochen ertragen müssen. Da war ein Nickerchen auf einem Schornstein nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich musste dringend heim.

Sonst war es aus mit mir.

Uns Geistern ist es zwar prinzipiell möglich, unbestimmte Zeit auf der Erde zu verweilen, und viele von uns sind dann und wann gezwungen, ihren Aufenthalt über Gebühr zu verlängern, was meistens daran liegt, dass sie von ihren grausamen Herren in verstöpselte Flaschen, verschlossene Sandelholzkästchen oder andere Behältnisse gesperrt wurden.1 So grausam eine solche Bestrafung auch ist, sie hat immerhin den Vorteil, dass man seine Ruhe hat. Man wird nicht andauernd beschworen und muss irgendetwas tun, sodass die ohnehin angeschlagene Substanz nicht unmittelbar leidet. Die größte Gefahr dabei ist die tödliche Langeweile, die den Betreffenden in den Wahnsinn treiben kann.2

Meine momentane Zwangslage war das genaue Gegenteil. Mir war die Bequemlichkeit einer gemütlichen Wunderlampe oder eines Amuletts nicht vergönnt, o nein, ich musste tagein, tagaus als Dschinn für alle Fälle durch die Straßen streifen, mich verstecken, ducken, in Gefahr begeben und meiner Haut wehren. Was mir von Tag zu Tag weniger gelingen wollte.

Denn ich war nicht mehr der unerschrockene Bartimäus von einst. Meine Substanz war vom verderblichen Einfluss dieser Welt zermürbt, mein Bewusstsein von Schmerzen getrübt. Ich wurde immer langsamer und schwächer, konnte meinen Pflichten kaum noch nachkommen. Ich hatte Schwierigkeiten, die Gestalt zu wechseln. In der Schlacht war ich nur noch zu läppischen und lahmen Angriffen imstande – meine Detonationen hatten die Explosivkraft von lauwarmer Limonade, meine Schüttelkrämpfe waren wabblig wie Götterspeise. Meine Kräfte hatten mich verlassen. Wo ich früher bei einem Scharmützel wie dem gestrigen der Schweinedame das Klohäuschen postwendend zurückgepfeffert und noch eine Telefonzelle und eine Bushaltestelle draufgepackt hätte, konnte ich mich heutzutage solcher Attacken nicht mehr erwehren. Ich war kraftlos wie ein neugeborenes Kätzchen. Zwar ging ich nicht gleich drauf, wenn ich die eine oder andere öffentliche Bedürfnisanstalt in die Visage bekam, aber ich war schon so tief gesunken, dass ich einen Schnösel wie Ascobol um einen Gefallen bitten musste, einen Trottel bar jeglicher nennenswerter Großtaten.3 Wenn ich irgendwann das Pech hatte, auf einen Gegner mit einem Fünkchen Macht zu treffen, war ich erledigt.

ENDE DER LESEPROBE