Scham - Jennifer Jacquet - E-Book

Scham E-Book

Jennifer Jacquet

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Beschreibung

+++ Schämt euch – und verändert die Welt! +++ Wieder mit Plastiktüten nach Hause gekommen? Das Billig-T-Shirt aus dem Discounter war einfach zu günstig? Schon wieder Essensreste weggeworfen? – Es gibt viele Gründe, sich zu schämen. Und ebenso viele Gründe, endlich etwas zu ändern. Die Umweltwissenschaftlerin Jennifer Jacquet untersucht, inwiefern das Schamgefühl unser gesellschaftliches Miteinander bestimmt. Spannend und leicht verständlich erklärt sie die Ursprünge und die Evolution dieses für uns alle prägenden Gefühls. Sie macht deutlich, wie wichtig es ist, dass wir uns schämen – denn mit der Scham kommt die Erkenntnis. So entsteht ein brillanter Gegenentwurf zu allen bisherigen Einschätzungen dieses uralten Begleiters: Jacquet zeigt, wie wir über das Schamgefühl gesteuert werden und es als politisches Werkzeug für eine bessere Welt benutzen können. Ein äußerst kluges und provozierendes Buch einer der interessantesten jungen Wissenschaftlerinnen unserer Zeit.

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Seitenzahl: 258

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Jennifer Jacquet

Scham

Die politische Kraft eines unterschätzten Gefühls

Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer

FISCHER E-Books

Inhalt

Scham. Das Gefühl, das [...]1 Was ist Scham?2 Scham und Schuld3 Das schlechte Gewissen4 Schamloses Verhalten5 Scham und Normen6 Sieben Wege zur effektiven Beschämung7 Der virtuelle Pranger8 Scham in der Aufmerksamkeitsökonomie9 Reaktionen auf die Beschämung10 Das rechte MaßAnhang – Der SchampfahlDank

Scham. Das Gefühl, das die Menschheit retten wird.

Bühnenfassung von Andrej Tarkowskis ›Solaris‹ (1972)

 

Scham ist was für Weicheier.

Baron Edward von Kloberg III, amerikanischer Lobbyist (1942–2005)

1 Was ist Scham?

Das moralische Gewissen des Menschen ist der Fluch, den er von den Göttern anzunehmen hatte, damit er von ihnen das Recht bekam, zu träumen.

William Faulkner, Interview im Paris Review

Im Jahr 1987 betrat der damals 30 Jahre alte Sam LaBudde das Büro des Earth Island Institute in San Francisco, weil er etwas gegen die Abholzung der Regenwälder unternehmen wollte. Als er wieder herauskam, machte er sich auf den Weg nach Mexiko, um Spion zu werden. Im Vorzimmer des Earth Island Institute hatte er einen Artikel über den Thunfischfang gelesen, dem jährlich Abermillionen Delphine zum Opfer fallen. Thunfische werden mit sogenannten Ringwadennetzen gefangen, die um einen Schwarm herum ausgelegt und dann zugezogen werden; beim Einholen des Netzes ertrinken gleichzeitig viele Delphine oder werden erdrückt. Es war ein aufrüttelnder Artikel, doch er war nicht mit Bildern dokumentiert. Statt den Regenwald zu retten, überredete LaBudde daher die Mitarbeiter des Earth Island Institute, ihm eine Videokamera zu leihen. Dann heuerte er auf einem Fischerboot an, um Aufnahmen von der Delphinschlächterei zu sammeln.

LaBudde wurde erst Matrose, dann Koch an Bord eines Fischerboots, das im mexikanischen Hafen Ensenada stationiert war und unter der Flagge von Panama operierte. Unter großem persönlichen Risiko füllte er mehrere Videokassetten mit Aufnahmen von sterbenden und verendeten Delphinen in Thunfischnetzen. Mit diesem Material startete das Institut in den Vereinigten Staaten eine Fernsehkampagne. Tageszeitungen und Zeitschriften griffen das Thema auf, und Kenneth Brower schrieb eine dreiteilige Artikelserie in der Zeitschrift Atlantic Monthly. Die Kampagne sollte die Täter beschämen und in der Öffentlichkeit bloßstellen. Ziel war die Thunfischindustrie, insbesondere die drei größten Unternehmen StarKist, Bumble Bee und Chicken of the Sea.

Damals schenkte mir meine Mutter ein Buch mit dem Titel 50 einfache Dinge, die Kinder tun können, um die Erde zu retten. Wie in dem Buch empfohlen, schrieb ich einen Brief an das Earth Island Institute, und einige Wochen später fand ich in unserem Briefkasten in Ohio Post aus San Francisco. Im Umschlag steckte unter anderem ein erschütterndes Schwarzweißfoto eines toten Delphins, das LaBudde auf einem Fischerboot aufgenommen hatte. Das Material des Earth Island Institute beschämte die Thunfischindustrie, doch in mir weckte es Schuldgefühle. Mein Gewissen sagte mir, dass das, was da mit den Delphinen passierte, falsch sein musste (das Schicksal der Thunfische übersah ich dabei geflissentlich). Schuld ist ein Gefühl, dessen Auslöser und Publikum wir selbst sind, es ist ein Gefühl des Unbehagens, das nach einem Ausgleich strebt. Als ich das Bild sah, spürte ich zum ersten Mal im Leben Mitgefühl mit einem Lebewesen, dem ich nie begegnet war und das ich nur aus Tierbüchern kannte, und zum ersten und nicht zum letzten Mal fühlte ich mich schuldig für etwas, das ich gegessen hatte.

Ich musste etwas unternehmen. Mit meinen damals neun Jahren lernte ich etwas kennen, das in den achtziger Jahren zum neuen Initiationsritual werden sollte: Ich wollte meine Schuld als Verbraucher sühnen. Ich forderte meine Mutter auf, keinen Thunfisch mehr zu kaufen, und damit war ich nicht die Einzige. Die Bilder der verendeten Delphine hatten Menschen in aller Welt schockiert und empört; sie provozierten einen großen Thunfischboykott und zwangen die Thunfischunternehmen, ihr Fangprotokoll zu ändern. Anthony O’Reilly, Vorstandsvorsitzender der Heinz Company, zu der auch StarKist gehört, sagte: »Ich wäre ein schlechter Chef, wenn ich unseren Kunden nicht zuhören würde.« Aufgrund der großen Sympathie, die Kinder damals für Flipper hegten, und aufgrund der schrecklichen Szenen in dem LaBudde-Film begann ein gut organisiertes Trommelfeuer der Kritik, die das zunehmende Gefühl der Schulkinder vermittelte, dass die bisherigen Fischereimethoden nicht mehr hinnehmbar waren.

Diese Kinder und ihre Eltern waren erleichtert, als das Umweltsiegel »delphinfrei« eingeführt wurde. Wir fühlten uns besser und aßen wieder Thunfisch. Ein Jahrzehnt lang dachte ich nicht mehr an das Thunfischproblem oder das Umweltsiegel. Aber als ich mich wieder damit beschäftigte, musste ich feststellen, dass wir hereingelegt worden waren.

Das Etikett »delphinfrei«, das im Jahr 1990 vorgestellt wurde, war nur eines von vielen neuen Marktinstrumenten zur Rettung der Welt. Im gleichen Jahr verabschiedete die amerikanische Regierung Gesetze zur Zertifizierung von biologischer Ernährung (obwohl das erste Biosiegel bereits 1973 im kalifornischen Santa Cruz aufgelegt worden war). Im Jahr 1993 wurde nach jahrelangen Diskussionen um die Zertifizierung der nachhaltigen Forstwirtschaft der internationale Forest Stewardship Council (FSC) gegründet. Der Marine Stewardship Council begann 1997 mit der Zertifizierung nachhaltiger Fischereipraktiken, und im selben Jahr wurde Fairtrade International gegründet. Weitere Umweltsiegel folgten.

Vor dieser Zertifizierungswelle war es den Enthüllungskampagnen und Boykotten immer darum gegangen, Unternehmen oder ganze Branchen zu umfassenden Änderungen zu zwingen. Aktivisten wie César Chávez, der den Landarbeiterstreik und den Traubenboykott der sechziger Jahre organisierte, hätten sich nicht damit zufriedengegeben, wenn die Hersteller ein Etikett mit der Aufschrift »Gepflückt von Landarbeitern, die einen Mindestlohn verdienen« auf ihre Weintrauben geklebt hätten. Ihnen ging es nicht darum, das Gewissen einiger besorgter Verbraucher zu beschwichtigen, sondern um die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und eines einklagbaren Arbeitsschutzes für sämtliche Landarbeiter. Auch bei der Aufdeckung der Hygieneskandale in der Fleischindustrie Anfang des 20. Jahrhunderts ging es nicht um die Entwicklung eines Gütesiegels, das verunsicherten Verbrauchern den Kauf von unbedenklichen Fleischprodukten zusichern sollte, sondern um die Verbesserung der Hygienestandards im ganzen Land.

Aber spätestens seit den achtziger Jahren zielten Initiativen immer weniger auf eine Veränderung der Produktionsbedingungen und immer mehr auf eine Veränderung des Konsumverhaltens. Auf den ersten Blick wirkt diese Strategie durchaus sinnvoll, vor allem in einer Marktwirtschaft: Wenn sich die Nachfrage verändert, dann muss das Angebot darauf reagieren. Während der sechs Jahre, in denen ich Wirtschaftswissenschaften studierte, wurde ich immer wieder daran erinnert, dass sich die beiden Größen in der Bilanz die Waage halten. In der Amtszeit von Präsident Ronald Reagan, in der sich das politische Klima immer entschiedener gegen staatliche Regulierung wandte, sahen selbst Umweltschützer den Geldbeutel der Verbraucher als den besten Hebel, um Unternehmen zu einer Änderung ihres Verhaltens zu zwingen. Damit behielten die Verbraucher ihre »Entscheidungsfreiheit« (der Schlachtruf des neoliberalen Wirtschaftswissenschaftlers und kapitalistischen Vordenkers Milton Friedman) und konnten gegebenenfalls ihr Gewissen durch eine Änderung ihres Konsumverhaltens beruhigen.

Mit dieser Verschiebung von den Produktionsbedingungen zum Verbraucherverhalten ging es bei der Lösung von Gesellschafts- und Umweltproblemen immer weniger darum, das Fehlverhalten von Unternehmen zu enthüllen und diese an den Pranger zu stellen, und immer mehr darum, die Schuldgefühle der Verbraucher zu wecken. Umweltsiegel wurden immer beliebter, und dahinter verbarg sich die unausgesprochene Behauptung, dass die Verantwortung in erster Linie bei jedem einzelnen Verbraucher selbst liegt und nicht bei der Politik und der Gesellschaft. Das Zertifikat wusch außerdem von jeder Scham rein und zielte auf das Schuldgefühl als wichtigsten Motor für Veränderung. Über das Schuldgefühl ließen sich Einzelpersonen motivieren, und nur diese, denn Unternehmen oder Branchen wie die Thunfischindustrie haben kein Gewissen und können sich nicht schuldig fühlen. Es ging also nicht mehr um die Reform ganzer Branchen, sondern um das gute Gewissen eines bestimmten Kundensegments.

Bedauerlicherweise lassen sich jedoch Probleme wie der Einsatz von Insektenvernichtungsmitteln, die Ausbeutung von Arbeitnehmern und die Verwendung von Schleppnetzen nicht durch die Konsumentscheidungen einzelner Verbraucher lösen. Wenn mein Obst nicht mit Insektiziden behandelt wurde, das der anderen aber schon, dann gelangen diese Gifte trotzdem ins Grundwasser. Wenn ich delphinfreien Thunfisch verzehre und die anderen nicht, dann müssen nach wie vor Delphine verenden. Wenn ich nicht mehr ins Flugzeug steige und alle anderen weiterfliegen, dann nimmt der Ausstoß von Kohlendioxid trotzdem weiter zu.

Probleme, die kollektives Handeln erfordern, lassen sich nicht lösen, indem man auf die Psyche und damit das Verhalten von Einzelnen einwirkt. Die Lösung dieser Probleme erfordert große und oftmals strukturelle Veränderungen. Im Falle des Ozonlochs hätte es nicht ausgereicht, wenn einzelne Verbraucher die Auswirkungen von FCKW verstanden, sich schuldig gefühlt und deshalb keine FCKW-haltigen Produkte mehr gekauft hätten, denn sie wären eine kleine Minderheit geblieben. Um das Ozonloch zu bekämpfen, musste die Produktion von FCKW vollständig eingestellt werden.

Heute wird bei vielen aktuellen gesellschaftlichen Problemen, vor allem auf den Gebieten Arbeit und Umweltschutz, an unser Schuldgefühl appelliert. Wir werden aufgefordert, als Verbraucher zu handeln (und nicht als Bürger oder Aktivisten) – dies aber nicht einmal als organisierte Verbrauchergruppen, die großflächige Boykotte organisieren, sondern als einzelne Konsumenten, die allein mit ihrem Gewissen vor dem Supermarktregal ihre Entscheidungen treffen. Die Macht des Schuldgefühls ist nicht nur stark begrenzt, Unternehmen schlachten es obendrein auch noch aus und machen Gewinne, indem sie Nischenprodukte und -dienstleistungen anbieten, die unser Gewissen beruhigen sollen. Aber Probleme von gesellschaftlicher Tragweite lassen sich nicht auf der Ebene der individuellen Entscheidung lösen. In der Vergangenheit reichte es zum Beispiel auch nicht aus, dass Gegner der Sklaverei selbst keine Sklaven besaßen – sie mussten gemeinsam dafür sorgen, dass niemand mehr Sklaven besitzen konnte.

Naiv wie ich und viele andere damals waren, ließen wir uns von unseren Schuldgefühlen überwältigen. Wir Kinder wollten nicht nur unser Gewissen beruhigen – wir wollten die Delphine retten. Das Delphinfrei-Logo allein konnte den Schutz der Delphine nicht gewährleisten (wenn dieses Siegel tatsächlich etwas bewirkt haben sollte, dann vor allem weil es den Anstoß für Gesetze gab, nicht weil es das Verbraucherverhalten beeinflusst oder gar Wunder bewirkt hätte), und wir hätten uns nicht damit zufriedengeben sollen, dass sich nur die Produkte in unserem Einkaufswagen an die neuen Regeln hielten. Es hätte uns stören sollen, dass der größte Teil der Branche die Hände in den Schoß legte. Wenn wir uns nicht von Logos, Siegeln und umweltbewussten Supermärkten hätten beschwichtigen lassen, dann hätte sich unser Zorn vielleicht nicht gelegt. Bei der Abschlachtung der Delphine und bei so vielen anderen Problemen hätten wir die Auseinandersetzung mit den tatsächlich Verantwortlichen suchen müssen, und zwar nicht nur als schuldbewusste Verbraucher, sondern so wie Sam LaBudde: indem wir sie selbst weiter beschämten.

 

Dieses Buch untersucht die Ursprünge und die Zukunft der Scham. Es geht der Frage nach, wie sich die öffentliche Bloßstellung und Beschämung eines Übeltäters – ein Instrument, gegen das vermutlich viele von uns Vorbehalte haben – wiederbeleben und auf neue Weise einsetzen lässt. Wir untersuchen Scham und Schuld als gesellschaftliche Instrumente der Bestrafung und sehen uns ihre Funktionsweise an. Wir gehen der Frage nach, warum die Schuld heute Aufgaben übernehmen soll, denen sie gar nicht gewachsen ist, und warum sie zum Beispiel kollektive Probleme wie die Überfischung und den Klimawandel lösen soll, die eigentlich die Angelegenheit von Unternehmen und Regierungen sind. Dabei werden wir feststellen, dass Scham in engem Zusammenhang mit Normen steht und dass sich diese Normen ständig verändern. Wir werden uns konkrete Fälle ansehen, in denen Scham ein deutlich wirkungsvolleres Instrument ist als Schuld und in denen der Wert und Zweck der Scham erkennbar wird. Und schließlich gehen wir der Frage nach, wie sich die Scham in einer immer stärker vernetzten und abgelenkten Welt effektiv einsetzen und zu einem wertvollen politischen Instrument machen lässt.

Was bedeutet Scham?

Das Wesen der Beschämung liegt in der Enthüllung und Bloßstellung. Das Gefühl, schutzlos den Blicken anderer ausgeliefert zu sein, ist eines der entscheidenden Elemente der Scham und stellt eine enge Beziehung zwischen Scham und Ansehen her.[1] Um Scham zu empfinden, ist ein Publikum nötig, auch wenn dieses Publikum lediglich im eigenen Kopf existiert. Scham ist zwar auch ein persönliches Gefühl, das jeder Einzelne erleben kann, doch in diesem Buch geht es nicht um das Gefühlschaos, in das Sie gestürzt werden, wenn Ihr Vater ein aufblasbares Sofa mit nach Hause bringt (ich spreche aus leidvoller Erfahrung), sondern um das Gefühl, das Sie empfinden, wenn eine Freundin dieses Sofa sieht. In diesem Buch geht es also um die Scham, die mit der Zurkenntnisnahme eines Regelverstoßes durch eine Öffentlichkeit einhergeht. Das heißt, es geht eher um den öffentlichen Akt der Beschämung als um das private Gefühl der Scham.

Scham kann als leidvoll empfunden werden, zu großem Stress führen und die Betroffenen zum Rückzug aus der Gesellschaft veranlassen. Scham kann sogar so wehtun, dass sie einem Menschen körperlich das Herz bricht.[2] Aber Scham kann sich auch positiv auf das Verhalten auswirken. Bei einer Befragung unter 915 erwachsenen US-Bürgern konnte sich etwa die Hälfte daran erinnern, sich während eines Arztbesuchs geschämt zu haben, zum Beispiel weil sie rauchten oder Übergewicht hatten. Von denjenigen, die zugaben, Scham empfunden zu haben, mied die Hälfte künftige Arztbesuche oder belog die Mediziner, um einen neuerlichen Moment der Scham zu vermeiden, doch die andere Hälfte erklärte, den Ärzten dankbar zu sein, und ein Drittel der Befragten gab sogar an, ihr Verhalten deshalb verändert zu haben.[3]

Es gibt natürlich auch Menschen, die sich nicht einmal für die schrecklichsten Verbrechen schämen. (Als Reginald Brooks 2011 in Ohio auf dem elektrischen Stuhl saß, weil er 29 Jahre zuvor seine drei Söhne im Schlaf ermordet hatte, zeigte er seiner Exfrau und der Mutter dieser Kinder, die der Hinrichtung, durch eine Glasscheibe von ihr abgetrennt, beiwohnte, mit beiden gefesselten Händen den Mittelfinger.) Andere Menschen werden selbst bei Kleinigkeiten von einem lähmenden Schamgefühl erfasst. (Der Schriftsteller Jonathan Franzen erklärte eine zehn Jahre lang anhaltende Schreibblockade mit seiner Scham über seine erste Ehe, seiner mangelnden sexuellen Erfahrung und seiner generellen Naivität; schon bei annähernd autobiographischen Sätzen habe er »das Bedürfnis verspürt, mich zu duschen«.[4]) Im Idealfall bewirkt das Schamgefühl eine Korrektur des Verhaltens und verringert das Risiko einer härteren Bestrafung: Man hält sich an ein erwartetes Verhalten, oder man muss die Konsequenzen tragen. Oft wird das Schamgefühl schon durch die Furcht vor der Bloßstellung ausgelöst.

Scham vs. Schuld

Im Gegensatz zur Scham, die den Einzelnen an den Maßstäben der Gruppe misst, veranlasst das Schuldgefühl den Einzelnen, sich an seinen eigenen Maßstäben zu messen. Kulturen, die das Individuum über das Kollektiv stellen, bevorzugen Schuld gegenüber Scham, denn Scham bedeutet, sich Gedanken um die Gruppe zu machen. Schuld gilt als Grundlage des Gewissens. Sie bedarf lediglich einer nagenden inneren Stimme, die uns daran erinnert, wie schlecht wir uns fühlen, wenn wir Gewalt ausüben, stehlen oder lügen.

Die Anthropologinnen Ruth Benedict und Margaret Mead waren die ersten, die zwischen Schuld- und Schamkulturen unterschieden. Ihrer Ansicht nach fielen westliche Gesellschaften in die erste und östliche in die zweite Kategorie. Benedict schrieb ihr Buch Chrysantheme und Schwert (1946) über die japanische Kultur, ohne das Land je besucht zu haben, und behauptete, in Japan sei die Scham das wichtigste Instrument der gesellschaftlichen Kontrolle. Auch China wurde später den Schamkulturen zugerechnet, weil dort die »Wahrung des Gesichts« eine bedeutende Rolle spielte.

Im Westen reden wir uns jedoch mit einer gewissen Selbstgefälligkeit ein, wir hätten die Fesseln der Scham abgelegt. Es gibt Gründe für die Annahme, dass dies zumindest teilweise richtig sein könnte, und einer dieser Gründe hat mit unserer Selbstwahrnehmung zu tun. Westliche Kulturen sind stärker individualisiert, ihre Angehörigen nehmen sich selbst als unabhängige und eigenständige Menschen wahr, die sich vor allem an ihrem inneren Kompass orientieren; Angehörige östlicher Kulturen sehen sich dagegen eher in Beziehung zu anderen. Außerdem kennen westliche Kulturen keine festgefügten Hierarchien mehr; in vorgeschichtlicher Zeit gab es diese vermutlich, und man könnte argumentieren, dass sie in östlichen Kulturen noch stärker ausgeprägt sind, wie Ruth Benedict und Daniel Fessler behaupten. (Im Westen wird Scham allerdings oft mit Armut assoziiert, die wiederum für eine untergeordnete gesellschaftliche Stellung steht.) Die Weltanschauungen westlicher Gesellschaften dulden außerdem eine größere Bandbreite von Verhaltensweisen, weshalb wir uns vermutlich seltener einig sind, welches Verhalten beschämend ist und welches nicht. Viele westliche Länder haben zudem Schandstrafen abgeschafft. Vermutlich ist es uns allen lieber, in einer Gesellschaft ohne Narrenkappen und Pranger zu leben. Daher ist die Versuchung groß, die Scham lediglich als Überbleibsel aus schwierigeren Zeiten zu sehen, in denen Menschen dieses Gefühl noch nötig hatten.

Doch zu Recht erinnert uns der Schriftsteller Salman Rushdie: »Scham, werter Leser, ist nicht das alleinige Vorrecht des Ostens.« Als Papst Benedikt XVI. nach zahlreichen Missbrauchsskandalen innerhalb der katholischen Kirche im Jahr 2008 in die Vereinigten Staaten reiste, bekannte er, dass er »zutiefst beschämt« sei. Nachdem Bernie Madoff 2009 für den größten Betrugsskandal in der Geschichte der Wall Street zu 150 Jahren Haft verurteilt worden war, gab er zu Protokoll, er bedauere sein Verhalten zutiefst und sei »beschämt«. Und nachdem der Rapper Kanye West bei den MTV Music Awards der Sängerin Taylor Swift, Siegerin in der Kategorie »best female video« das Mikrofon abgenommen und lautstark erklärt hatte, dass Beyoncé eine würdigere Siegerin gewesen wäre und mit »Single Ladies« eines der besten Musikvideos aller Zeiten gedreht habe, behauptete er später, sich für seine Aktion zu schämen. Empfanden diese Menschen wirklich ein Schuldgefühl? Schwer zu sagen. Schämten sie sich? Auch das ließe sich nur feststellen, wenn man in diesem Moment ihren körperlichen Stress gemessen hätte. Aber zumindest können wir sagen, dass sie uns diesen Eindruck vermitteln wollten.

Scham, Schuld und Strafe

Der Akt der Beschämung, der das Gefühl der Scham auslöst, ist eine Form der Bestrafung, und wie jede Strafe dient sie der Durchsetzung von gesellschaftlichen Normen. Strafe besteht darin, einem Missetäter Leben, Freiheit, körperliche Unversehrtheit, Ressourcen, Ansehen oder eine Kombination davon zu nehmen, und die Beschämung zielt auf das Ansehen. Die Bestrafung kann aktiv erfolgen, das heißt, dem Bestraften wird durch Todesstrafe, Gefängnis, Folter, Geldbuße oder Pranger etwas genommen. Andere Strafen erfolgen passiv, das heißt, dem Bestraften wird zum Beispiel durch Ächtung oder Meidung etwas vorenthalten. In einer Umfrage unter 2000 amerikanischen Bürgern gaben zwei Drittel der Befragten zu, jemanden in ihrer Umgebung mit Schweigen gestraft zu haben, und drei Viertel erklärten, selbst schon Opfer dieser Schweigestrafe geworden zu sein.

Menschen haben im Lauf der Geschichte komplexe gewaltlose Formen der Bestrafung erfunden. Charles Darwin beschrieb beispielsweise südamerikanische Völker, für die langes Haar »als Zeichen der Schönheit derart geschätzt war, dass dessen Abschneiden die schwerste Strafe darstellte«. Es gibt die Maßnahme der Einzelhaft, die in amerikanischen Gefängnissen Jahrzehnte dauern kann. Wenn ich mich als Kind mit meinem Bruder stritt, griff meine Mutter zu einer gewaltlosen, aber sehr schmerzhaften Form der Züchtigung, indem sie uns auf die Treppe setzte und uns zwang, uns zwanzig Minuten lang umarmt zu halten. Beschämung kann zwar sehr gewalttätig sein, wird aber heute meist in ihrer gewaltfreien Form angewendet. Dabei bedeutet Beschämung in diesem Buch die Bloßstellung (oder deren Androhung) vor einer Gruppe. So gewaltlos diese Bestrafung sein mag, so schmerzhaft kann sie sein.

Die Bestrafung kann von den Opfern vorgenommen werden, von Dritten oder von den Tätern selbst (Schuldgefühle sind eine Form der Selbstbestrafung). Im Allgemeinen ist die Bestrafung für die Bestrafenden mit gewissen Kosten verbunden, zum Beispiel weil ihre Durchführung Energie kostet oder weil sie Rache provozieren kann. Je gefährlicher oder riskanter die Bestrafung, umso kostspieliger ist sie. Irgendwann in der fernen Vergangenheit haben wir gelernt, dass anstelle des gewalttätigen Ausschlusses des Bestraften aus der Gruppe schon eine Beschämung ausreichen kann. Diese war eine weniger kostspielige Form der Strafe, die trotzdem Wirkung zeigte, weil sie das Ansehen des Bestraften vor der Gruppe beschädigte und weitere negative Konsequenzen haben konnte, etwa wenn andere Angehörige der Gruppe in Zukunft nicht mehr mit dem Bestraften kooperieren wollten. Beschämung und Ächtung sind somit eng verbunden, doch die Beschämung ist weniger kostspielig. Und im Gegensatz zur Transparenz, die alle exponiert, ist von der Beschämung nur ein Teil der Gruppe betroffen.

Wie kam es, dass der Mensch die Beschämung als Form der Bestrafung entdeckte? Wie viele andere Herdentiere konnten die ersten Menschen nur mit eigenen Augen beobachten, ob die verschiedenen Gruppenangehörigen mit ihrem Verhalten dem Wohl der Gruppe dienten oder schadeten. Als die Verbände größer und die Fragen der Kooperation immer wichtiger wurden, lernte das menschliche Gehirn, einen besseren Überblick über die vielen Regeln und Menschen zu behalten. Nach Ansicht des Anthropologen Robin Dunbar könnte die Notwendigkeit, mit einer wachsenden Zahl von Sozialbeziehungen umzugehen und einander im Auge zu behalten, der Grund gewesen sein, warum der Mensch das Sprechen lernte. Dank der Sprache müssen wir das Sozialverhalten eines anderen nicht mehr selbst beobachten, um etwas darüber in Erfahrung zu bringen. Seither können wir das Ansehen anderer Gruppenangehöriger mittels Klatsch beeinflussen, der die Entwicklung eines Systems des Ansehens und der Beschämung ermöglicht. (Möglicherweise sind wir Menschen in dieser Hinsicht nicht einmalig – Wissenschaftler vermuten, dass zum Beispiel Sperlingspapageien einander am Ruf erkennen und in ihren eigenen Rufen Zustimmung oder Ablehnung für andere zum Ausdruck bringen.[5]) Das bedeutete auch, dass sich mehr Menschen mit dem Verhalten eines Missetäters befassten, denn das Verhalten wurde nicht mehr nur beobachtet, sondern über den Klatsch weitergetragen. Missetäter konnten für ihr Verhalten vor der Gruppe beschämt werden, ohne selbst anwesend zu sein.

Negativer Klatsch – eine Unterkategorie der Beschämung – ist ein erster Schutz gegen Missetäter und war in der menschlichen Frühgeschichte vermutlich genauso wichtig wie heute. Anthropologen stellten fest, dass die menschliche Konversation zu zwei Dritteln aus Klatsch über andere besteht: Polly Wiessner beobachtete dies bei den !Kung-Buschmännern in Botswana,[6] und Robin Dunbar stellte fest, dass der Klatschanteil in der Mensa einer britischen Universität nicht geringer war.[7] Nur zehn Prozent des Klatsches, den Wiessner hörte, ließ sich als Lob bezeichnen, die übrigen 90 Prozent waren Kritik, oft in Form von Witzen, Spott und Imitation. Der Missetäter (in den meisten Fällen ein »er«) und seine nahen Verwandten befanden sich oft in Hörweite, was die Vermutung nahelegt, dass die Klatschbasen mit ihren verbalen Bloßstellungen Einfluss auf sein Verhalten nehmen wollten. Mit negativem Klatsch verbindet sich oft die Hoffnung, er möge direkt oder indirekt zum Missetäter selbst vordringen und andere beeinflussen, sich ihm gegenüber nicht kooperativ zu verhalten.

Die gesprochene Sprache war lediglich das erste Medium zur Verbreitung des Klatsches. Die nächste Revolution auf dem Gebiet der Kommunikation war die Erfindung der Schrift. Seither gab es nach Ansicht des Internetwissenschaftlers Clay Shirky fünf große Entwicklungssprünge in der Kommunikationstechnologie: die Druckerpresse mit beweglichen Lettern, Telegraphen und Telefone, Geräte zur Aufzeichnung von Ton und Bild, Sendegeräte und schließlich die digitalen Technologien wie das Internet. Mit jeder Veränderung der Kommunikation verändern sich auch die Formen der Beschämung. Zuerst wurde der Klatsch nur zwischen Menschen ausgetauscht, die sich an demselben Ort aufhielten; heute verbreitet er sich per Print- und Digitalmedien, Telefon, Fernsehen und Cyberspace rund um die Welt.

Digitale Technologien haben den Klatsch billiger gemacht und gleichzeitig seine Reichweite und Verbreitungsgeschwindigkeit erhöht. (Heute müssen wir nicht einmal sämtliche unserer Bekannten einzeln anrufen, denn mit einem einzigen Tweet erreichen wir Tausende.) Daher glauben einige Menschen, dass die neuen digitalen Technologien unsere Kultur auf ähnliche Weise verändern werden wie einst die Sprache. Damit könnten Bloßstellungen im öffentlichen Leben eine wichtigere Rolle spielen denn je, zumal dieses Instrument heute nicht mehr nur noch Meinungsführern und staatlichen Einrichtungen zur Verfügung steht, sondern zunehmend in die Hand der Bürger übergeht. Deshalb müssen wir uns der Macht der Scham und unserer Verantwortung stärker bewusst werden.

Greifen wir willkürlich eines von zahllosen Beispielen heraus. Als die Brustkrebsstiftung ›Susan G. Komen for the Cure‹ im Jahr 2012 ankündigte, der Organisation Planned Parenthood Zuwendungen in Höhe von 650000 Dollar für Untersuchungen und Vorsorge zu streichen, brach in den sozialen Medien ein Sturm der Entrüstung über die Stiftung herein. (Da Planned Parenthood legale Abtreibungen anbietet, vermuteten viele politische Motive hinter der Entscheidung.) In den nächsten drei Tagen beobachteten Meinungsforscher des Pew Centre die Meldungen auf dem Nachrichtendienst Twitter und zählten 253465 Kommentare zu der Entscheidung der Brustkrebsstiftung: 17 Prozent waren positiv, 19 Prozent neutral und 64 Prozent kritisierten den Schritt. Als die New York Times und die Washington Post drei Tage später über den Schritt berichteten, stieg die Zahl der Kommentare an einem einzigen Tag auf 215383 (das entspricht 2,5 Tweets pro Sekunde), und wieder waren die meisten davon negativ. Noch am selben Abend revidierte die Stiftung ihre Entscheidung. In den folgenden zwei Tagen blieb der Anteil der negativen Tweets bei 64 Prozent, doch die Zahl ging um 85 Prozent zurück. Selbst im Internet ist Klatsch also überwiegend negativ; als milde Form der Beschämung soll er andere dazu bringen, im Einklang mit den Interessen der Gruppe zu handeln (wer immer die Gruppe sein mag).

Aufgrund der Beschämung im Internet beschloss die Brustkrebsstiftung, Planned Parenthood weiter zu unterstützen, und dies ist nur eines von vielen Beispielen für die Macht des Klatsches. In der New York Times konnte man 2012 nachlesen, dass sich Studenten während der für Exzesse legendären Osterferien in den letzten Jahren gesitteter verhielten, weil sie Angst hatten, mögliches Fehlverhalten könne gefilmt und im Internet verewigt werden. Kollegen berichten, mit dem Aufstieg der sozialen Medien sei die Zahl der Techtelmechtel bei Auslandsexkursionen geringer geworden, weil die Studenten befürchteten, dass ihre besseren Hälften im Internet belastende Bilder entdecken könnten. Doch die Beschämungen im Internet wecken auch die Sorge, dass das Instrument für triviale Zwecke missbraucht, dass es in unangemessener Weise verwendet, dass nicht ein Missstand, sondern eine Person an den Pranger gestellt und dabei die Menschenwürde verletzt werden könnte.

Wie Scham wirkt

Im Jahr 2010 führte ich zusammen mit drei Kollegen – den Mathematikbiologen Christoph Hauert und Arne Traulsen sowie dem Evolutionsbiologen Manfred Milinski – Experimente durch, um herauszufinden, ob die Furcht vor Scham oder die Hoffnung auf Anerkennung die Kooperationsbereitschaft fördert. Gruppen von je sechs Studenten der University of British Columbia nahmen an einem Gemeinwohl-Experiment teil, bei dem sie zwischen ihrem Eigeninteresse und dem Wohl der Gruppe abwägen mussten. Zu Beginn des Experiments erhielt jeder Teilnehmer 12 Dollar; das Spiel dauerte zwölf Runden, und in jeder Runde mussten sich die Teilnehmer entscheiden, ob sie einen Dollar in den gemeinsamen Topf geben wollten oder nicht. Der Betrag im gemeinsamen Topf wurde verdoppelt und dann zu gleichen Teilen an alle sechs Teilnehmer ausgeschüttet, also auch an diejenigen Teilnehmer, die nichts beigetragen hatten. Das Experiment stellt ein Dilemma dar, das die Studenten aus Gruppenprojekten kannten: Es besteht immer ein gewisser Anreiz, sich auf der Arbeit der anderen auszuruhen, aber wenn niemand etwas tut, bekommen alle eine schlechte Note. In unserem Experiment würde jeder von dem gemeinsamen Topf profitieren, aber niemand war gezwungen, etwas beizusteuern.

In Gemeinwohl-Experimenten leisten die Teilnehmer in der Regel zu Beginn hohe Beiträge, um dann immer weniger zu geben. Meist haben sie am Ende weniger Geld in der Tasche, als möglich gewesen wäre, wenn alle mitgespielt hätten. (In unserem Experiment hätte jeder Mitspieler 24 Dollar verdienen können, aber von den 60 Teilnehmern ging nur ein einziger mit mehr als 24 Dollar nach Hause, während die übrigen 59 am Ende weniger in der Tasche hatten.) Experimente wie diese sind natürlich unter gewissen Einschränkungen zu betrachten – zum Beispiel bekommen die Teilnehmer zu Beginn eine bestimmte Summe und gehen mit diesem Geld vermutlich anders um, als wenn es ihr eigenes wäre; der Betrag ist in der Regel überschaubar und stellt kein großes Risiko dar; und die Studenten bringen alle mehr oder weniger denselben kulturellen Hintergrund mit. Andererseits haben wir in diesen Experimenten die Möglichkeit, die Bedingungen zu kontrollieren und sicherzustellen, dass die Teilnehmer das Experiment ähnlich erleben, so dass wir uns auf die relevanten Variablen konzentrieren können, in unserem Fall Anerkennung und Scham.

In unserem Versuchsaufbau erhielt jeder Teilnehmer einen Decknamen und konnte auf einem Bildschirm beobachten, welcher Deckname wie viel in den gemeinsamen Topf zahlte, aber weder wir noch die Teilnehmer wussten, wer sich hinter welchem Alias verbarg. Nun spielten wir das Spiel in drei verschiedene Varianten durch: Scham, Anerkennung und Kontrolle. In der Scham-Variante sagten wir den Teilnehmern zu Beginn, dass nach zehn Runden die zwei Geizigsten vortreten und unter den Augen der Mitspieler ihren Namen auf eine Tafel schreiben mussten, unter der Überschrift »Ich habe am wenigsten gegeben«. In der Anerkennungs-Variante durften die beiden großzügigsten Teilnehmer ihren Namen unter die Überschrift »Ich habe am meisten gegeben« setzen. Die Teilnehmer kannten die Regeln zu Beginn und hatten einen Einfluss darauf, ob sie schließlich zu den Großzügigsten beziehungsweise Geizigsten gehörten. Die Angehörigen einer Gruppe kamen alle aus demselben Kurs, und das Experiment fand zu Semesterbeginn statt, das heißt, es konnte sich für den Rest des Semesters auf das Ansehen auswirken. In der Kontrollgruppe sollten alle Teilnehmer unabhängig von ihrem Geiz oder ihrer Großzügigkeit anonym bleiben. (Aus meiner Sicht überprüfte das Kontrollexperiment das Schuldgefühl, denn die Teilnehmer trafen ihre Entscheidungen ausgehend von ihrer inneren Stimme und nicht von dem Urteil der Gruppe beziehungsweise dessen Auswirkungen auf den eigenen Ruf.)

Nach dem Experiment sollten die Teilnehmer erklären, welche Überlegungen sie ihren Entscheidungen zugrunde gelegt hatten. Sie antworteten zum Beispiel: »Ich habe gerade so viel gegeben, dass ich nicht als der Geizigste dastehe.« Oder: »Ich wollte nicht zu den Geizigsten gehören, deswegen habe ich versucht, die letzten beiden Plätze zu vermeiden und gleichzeitig meinen Gewinn zu maximieren.« Oder: »In Runde fünf oder sechs hat sich meine Strategie verändert, und ich habe mir die anderen Mitspieler angeschaut, um nicht auf den letzten zwei Plätzen zu landen.« (Allerdings waren nicht alle Entscheidungen vernünftig. Einige Teilnehmer berichteten beispielsweise: »Ich habe eine Münze geworfen. Bei Zahl habe ich gesetzt, bei Kopf nicht.« Oder sie gaben an: »In geraden Runden habe ich in den Topf gezahlt und bei meiner Glückszahl sieben.«)

Andere Experimente überprüften die Auswirkungen der vollständigen Transparenz (das heißt, die Spieler sahen bei allen Transaktionen die realen Namen ihrer Mitspieler) und stellten ebenfalls eine verbesserte Kooperationsbereitschaft fest. In unserem Experiment machten wir nur eine Minderheit öffentlich und fanden heraus, dass die meisten Teilnehmer auf die drohende Scham reagierten und sie durch großzügiges Verhalten abzuwenden versuchten. Im Durchschnitt waren die Teilnehmer in den Scham- und Anerkennungs-Varianten des Experiments um 50 Prozent großzügiger als in den anonymen Kontrollgruppen. Wir sind offenbar bereit, zu zahlen, um Scham abzuwenden oder Anerkennung zu erringen.[8]

Aber wenn Transparenz und Anerkennung denselben Zweck erfüllen, warum sollten wir uns dann mit der Beschämung beschäftigen? Transparenz ist demokratischer, doch im letzten Kapitel werden wir uns Gründe ansehen, warum eine Politik der Beschämung wirkungsvoller sein und mehr Schutz bedeuten kann. Die Anerkennung ist eine weniger schmerzhafte und weniger unangenehme Strategie, und in unserem Experiment, in dem der Einsatz für das Gemeinwohl freiwillig war, förderte sie die Kooperationsbereitschaft. Doch der Nachteil der Anerkennung liegt in der Freiwilligkeit selbst – nicht jeder hat ein Interesse daran, vor seinen Mitmenschen gut dazustehen. Andererseits versuchen die meisten von uns, Schamgefühle abzuwenden und ihr Gesicht zu wahren. Außerdem bereiten uns gerade die am wenigsten kooperativen Menschen oft die größten Probleme.