Schamanismus bei den Germanen - Thomas Höffgen - E-Book

Schamanismus bei den Germanen E-Book

Thomas Höffgen

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Beschreibung

Mit diesem Buch liegt erstmals eine ganzheitliche Untersuchung vor, die die religiöse Weltanschauung der antiken Nord- und Mitteleuropäer – die Mythen und Rituale der Germanen – mit den schamanischen Traditionen steinzeitlicher Ur-Menschen und neuzeitlicher Naturvölker in Beziehung bringt. Im Mittelpunkt der nordischen Mythologie steht der Weltenbaum, das universelle Symbol des Schamanismus. Die germanischen Schamanen waren Zauberer und Hexen, Wahrsager und Seherinnen, Runenmeister und Nachtfahrende. Ihre Götter waren Götter der Ekstase. In archaischen Ritualen zogen „wilde Weiber“ und „wilde Männer“ durch die Urwälder ‚Germaniens‘. Thomas Höffgen, promovierter Germanist und Schamanismusforscher, führt in diesem Buch vor Augen, dass die germanische Kultur all das zu bieten hat, was man bei schamanisch strukturierten Völkern vorfindet: Ekstasetechniken und Jenseitsreisen, Zauberkünste und Zerstückelungen, Heilmagie und Liebeszauber, Trommelkult und Tierverwandlung, Rauschorgien und Götterpflanzen.

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Thomas Höffgen

Schamanismus bei den Germanen

Götter · Menschen · Tiere · Pflanzen

Edition Roter Drache

Im Mittelpunkt der germanischen Mythologie – im Zentrum des heiligen Haines – steht der Weltenbaum, das universelle Symbol des Schamanismus. In Sibirien gibt es ein Ritual, bei dem der Schamane auf eine Birke klettert, in die neun Einkerbungen geritzt sind, welche die neun Welten symbolisieren. Bei den Germanen ist es Wotan, der den Weltenbaum rituell erklettert, um die neun Welten zu erforschen. Rekonstruktion der Externsteiner Irminsul (mit neun Ästen).

1. Auflage März 2017

Copyright © 2016 by Edition Roter Drache

Edition Roter Drache – Holger Kliemannel, Haufeld 1,

07407 Remda-Teichel

[email protected]; www.roterdrache.org

Umschlag- und Buchgestaltung: Edition Roter Drache

© Foto des Runensteins: Sören Hallgren/ The Swedish History Museum

Lektorat: Sarah Bräunlich

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache und der Übersetzung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Ton- und Datenträger jeder Art und auszugsweisen Nachdrucks sind vorbehalten.

ISBN 978-3-964260-00-0

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Einleitung: Germanischer Schamanismus

Was ist Schamanismus?

Der „Schamane“

Steinzeit-Schamanismus

Heilige Ekstase

Hinter dem Schleier der Natur

Der Jhankri vom Himalaya

Der Weltenbaum

Yggdrasil

Die neun Welten

Kultbäume der Germanen

Odin erklettert den Schamanenbaum

Das Trommelpferd

Drei Götter der Ekstase

Wotan, der Zauberer

Thor, der Donnergott

Loki, der Listige

Balders Träume

Jenseitsreisen und Unterweltmythen

Das Grab der Prophetin

Hermod und Hel

Das „Draußensitzen“

Zauberkünste der Germanen

Die Magie der Runen

Geheimwissen vom Weltenbaum

Was sind Runen?

Das „Futhark“ ()

Runenlieder der Germanen

Zaubersprüche

Lösezauber

Knochenzauber

Neun-Kräuter-Zauber

Alptraumzauber

Flursegen der Frau Holle

Germanische Schamaninnen

Freyja Seiðkona

Weissagung der Völva

Der Zauberstab

Thorbjörg, die „kleine Völva“

Veleda, Albruna, Ganna

Die Hexe Waluburg

Tierverwandlungen

Das Geheimnis der Tiermenschen

Tiere der Germanen

Die Wilde Jagd

Berserker

Werwölfe

Der wilde Mann

Germanische Götterpflanzen

Pflanzen der Schamanen (Odins Äcker)

Der Met der Begeisterung

Fliegenpilz

Hexenpflanze Bilsenkraut

Die Magie der Mandragora

Entheogene Eiben

Der Autor

Literaturverzeichnis

Quellen

Forschung

Weitere Bücher

Anmerkungen

Vorwort

„Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah.“

Goethe: Erinnerung

Fragt man einen modernen Mitteleuropäer, was Schamanismus sei, verweist er sicher auf die indigenen Völker ferner Länder und ihre fremdartigen Kulte. Stellte man dieselbe Frage einem antiken Mitteleuropäer, vielleicht dem Vorfahren jenes modernen, dann würde dieser höchstwahrscheinlich antworten: „Wenn Sie was von unserm weisen Mann und Zauberer erfahren wollen – der wohnt gleich dahinten, in dem kleinen Haus am Waldrand“.

Schamanismus gilt als etwas Exotisches (altgr. exōtikós: „fremdländisch“): Der Begriff ruft Bilder wilder Eingeborener mit Fell und Federtracht hervor, die in den letzten Winkeln dieser Erde vormoderne Geisterrituale ausüben. Man denkt an Medizinmänner und -frauen, die Trommelkulte praktizieren und unterm Totempfahl in Trance fallen. Edle Wilde, die in den Phänomenen der Natur die Zukunft lesen und die Sprache der Tiere sprechen. Ur-Menschen, die am Gürtel ihres Lendenschurzes einen Lederbeutel tragen, in dem sich entheogene Naturdrogen befinden. Und diese Vorstellung ist mitunter vollkommen korrekt.

Doch sie ist nur die halbe Wahrheit, denn der Schamanismus ist – aus europäischer Perspektive – nicht nur ein exotisches, sondern auch ein einheimisches Phänomen: Auch die Europäer haben eine schamanische Tradition, haben schamanische Mythen und schamanische Kulte. Auch die Europäer haben eine schamanische Kulturgeschichte mitsamt Trancetechniken, Trommelritualen und Tierverwandlungen. Sie haben sie nur fast vergessen, verdrängt und sogar verteufelt. Wer denkt schon noch an Schamanismus, wenn er heute einen Weihnachtsbaum aufstellt, in den Mai tanzt, sich zu Karneval verkleidet oder auch nur jemandem „den Daumen drückt“? Modernes magisches Denken und Handeln, das in die Zeit der alten Europäer führt, als noch Wald den Kontinent bedeckte und vorchristliche Waldvölker in heiligen Hainen ihre heidnischen Naturgötter verehrten. Für diese Ur-Einwohner von Europa war der Schamanismus nicht exotisch, sondern genuin, ein fester Teil der täglichen Kultur und religiösen Praxis. Der Schamanismus war nicht fremd, sondern vertraut und ein wesentliches Element der europäischen Existenz und Lebenswirklichkeit. Daher rührt die Faszination, die exotische Kulturen auf uns ausüben, weil ihr Schamanismus uns so sehr an unsere eigene Kultur und Tradition erinnert, unser eigenes Schamanentum, das tief in unserem kulturellen Kollektivgedächtnis, in unserer Erinnerung, immer noch lebendig ist.

Wotan, der germanische Ur-Schamane, mit Zauberstab und Schlapphut, opferte sein Auge, um aus der heiligen Quelle der Erkenntnis zu trinken, die an den Wurzeln des Weltenbaums entspringt. Georg von Rosen, 1886.

Einleitung: Germanischer Schamanismus

In einer rustikalen Gaststube aus dem 19. Jahrhundert, die in dunkel-hölzernem Barock gehalten war, traf ich mich zu einem Abendessen mit dem Hochschullehrer Hasenfratz. Im Schein der Kerze offenbarte ich dem Schweizer Religionshistoriker die Idee, ein Buch zum Thema „Schamanismus bei den Germanen“ zu verfassen. Freilich ein schillerndes Thema. Der emeritierte Professor fand die Idee jedoch „höchst spannend“ und rezitierte mir sogleich den ersten Merseburger Zauberspruch in althochdeutscher Sprache – ich konterte mit dem zweiten. Hasenfratz sah mich scharf mit einem Auge an und sagte: „Natürlich macht ein solches Unterfangen Sinn. Denken Sie nur einmal an den Weltenbaum, den haben die Germanen ebenso wie alle zirkumpolaren schamanischen Kulturen. – Der Weltenbaum“, sagte Hasenfratz, zahlte das Essen und setzte im Hinausgehen seinen Hut auf, „könnte Sie tatsächlich zu den germanischen Schamanen führen“. Der Mann ließ mich verdutzt zurück, widersprachen seine Worte doch der wissenschaftlich etablierten Lehrmeinung, welche diesem Thema tendenziell mit Ablehnung entgegen tritt. Doch er machte mir auch Mut, meine langjährige Privatforschung, die zum Teil zu unorthodoxen Ergebnissen geführt hat, zu diesem kleinen Büchlein auszuarbeiten.

Tatsächlich ist das Thema „Schamanismus bei den Germanen“ bislang nur unzureichend diskutiert worden. Und die wenigen Untersuchungen, die sich damit befassen, sind gekennzeichnet durch eine geradezu hyperkritische Herangehensweise: Da ist von „Spuren“ und „schamanischen Überbleibseln“ die Rede sowie von Motiven, die „seltsam schamanisch“ sind (Eliade). Man spricht von „schamanistischen Zügen in der altisländischen Überlieferung“ (Buchholz) oder „Zügen des Schamanentums in der germanischen Überlieferung“ (Lichtenberger). Wissenschaftlicher Konsens sind nur mehr „Spuren schamanischer Praktiken“, „Formen des Schamanismus“ und „schamanoide“ Züge (Simek).

Doch sind es wirklich lediglich Spuren, Züge und Einzelheiten, die auf einen germanischen Schamanismus schließen lassen? Oder hat man bisher einfach noch nicht mehr als diese Spuren freigelegt und es außerdem versäumt, den Spuren auch ins Feld zu folgen? Erfüllt die Rede von den Einzelheiten nicht den Tatbestand der wielandschen Verwirrung, in welcher der vorsichtig-übervorsichtige Forscher nur mehr Bäume sieht, ohne sie als Teil des Waldes wahrzunehmen?

Sieht er nicht, dass es sich um Weltenbäume handelt?

In der schamanischen Kosmologie spielt der Weltenbaum eine Schlüsselrolle: Er ist Sinnbild für die axis mundi, die „Himmelsleiter“, die das Weltgefüge konstituiert und strukturiert. An seinem Stamm vermögen die Schamanen die drei Welten zu erklettern. Für den Schamanismus ist der Weltenbaum fundamental, und ohne Schamanismus macht ein Weltenbaum kaum Sinn. Dass ein solcher kosmischer Baum nun auch für die Germanen von zentraler Bedeutung war, lässt sich leichterdings belegen: In der nordischen Mythologie ist von einer Esche Yggdrasil die Rede, die das All verkörpert und in deren Schatten die Götter Rat halten. Äste, Stamm und Wurzeln dieses Baumes umfassen die drei Welten: Asgard, Midgard, Utgard. Von Odin, dem germanischen Ekstasegott, wird der Weltenbaum – eindeutig schamanisch – rituell erklettert.

Indes ist das doch keine Kleinigkeit, wenn im Mittelpunkt der germanischen Mythologie – im Zentrum des heiligen Haines – ein Weltenbaum gedeiht, also das Symbol des Schamanismus. Vielmehr lässt die exponierte Position des Baumes auf eine besondere, ja substanzielle Bedeutung des Schamanismus bei den Germanen schließen. Das ist zumindest eine ziemlich „heiße Spur“. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die germanische Religionskultur gerade doch und ganz grundsätzlich vom Schamanismus beherrscht und schamanisch strukturiert gewesen ist.

Das Gespräch mit Hasenfratz ließ mich an die Samí denken, jenes letzte indigene Volk Europas, das im zirkumpolaren Skandinavien („Lappland“) beheimatet ist. Wenngleich der Lebensraum der Samí sich über weite Teile Norwegens und Schwedens erstreckt, zählen sie doch nicht zu den Germanen; sie sprechen keine germanische, sondern eine uralische Sprache. Vermutlich wanderten die Samí kurz nach der letzten Eiszeit (ca. 10.000-5.000 v. u. Z.) aus dem nordwestlichen Sibirien nach Nordeuropa ein. Immerhin teilen sie mit den Sibiriern eine sehr spezielle Weltanschauung – den Schamanismus. Die alten Samí verehrten die Natur und gingen von der Allbeseelung des Kosmos aus sowie davon, dass ein Schamane – ein „Nojade“ – die Fähigkeit besitzt, mit dieser von Geistwesen belebten Umwelt in Kontakt zu treten. Das wichtigste Ritualgerät der samischen Nojaden war natürlich die Schamanentrommel (südsamisch: gievrie; nordsamisch: gobdas) mitsamt dem aus Rentiergeweih gefertigten Schlägel. Das Fell vieler dieser Trommeln ist bemalt mit Menschen, Tieren, Pflanzen, Wesen aus der Anderswelt und Ahnengeistern. Es handelt sich um eine Art mythische Weltkarte, die es dem Nojaden möglich macht, sich während seiner Jenseitsreise orientieren zu können. Im mythologischen Bewusstsein der Samí ist diese Schamanentrommel aus dem Holz des Weltenbaums gefertigt.

Die frühste schriftliche Quelle zu den Samí ist ausgerechnet die Germania (98 n. u. Z.) des antiken Historikers Tacitus, ein Buch, das als wichtigste Quelle zur Kultur und Religion der germanischen Stämme gehandelt wird. Dass die Samí gar keine Germanen sind, hat Tacitus zwar geahnt, doch führt er sie gleichwohl in seinem ethnographischen Bericht auf, weil sie der germanischen Kultur so nahestehen. Tatsächlich trieben Samí und Germanen einen regen Tauschhandel, und es ist durchaus naheliegend, dass sie sich auch geistig-kulturell austauschten. Sollte hier der missing link liegen, durch den sich der Schamanismus – als Phänomen zirkumpolarer Völker – in die germanische Kultur transferieren lässt? Bezeichnenderweise werden in der Chronicon Norvegicum (12. Jhd.), der ältesten schriftlichen Quelle zum Schamanismus bei den Samí, die magischen Tätigkeiten der Nojaden mit den altnordischen Worten gandr bzw. galdr beschrieben, Bezeichnungen, die gleichsam zur Beschreibung der Zauberkünste der Germanen dienten. Nicht unwahrscheinlich, dass nicht nur die Worte, sondern auch die Techniken sich überschneiden. Es gibt eine Samí-Gottheit mit dem Namen Horragalles (auch Thora Galles oder Thoron), die verblüffende Ähnlichkeiten aufweist mit dem germanischen Gott Thor/Donar: Beide gelten als Wetter- und Gewittergott und werden dargestellt mit einem Hammer, so auf einer Schamanentrommel aus dem 18. Jahrhundert, die in Lappland (Norwegen) gefunden wurde. Der Frau von Horragalles, Ravdna, sind die Beeren der Eberesche heilig. In der germanischen Edda ist wiederum die Rede davon, dass die Eberesche dem Thor geweiht ist (Skáldskaparmál 18).

Zudem gibt es den berühmten Runenstein von Möjbro (Schweden). Dieses rund zweieinhalb Meter hohe germanische Kultdenkmal aus der frühen Wikingerzeit (5.-7. Jhd.) stellt kunstvoll einen von zwei Hunden begleiteten Reiter dar, der angeblich ein Schwert und einen Rundschild in den Händen hält. Als ich den Stein zum ersten Mal sah, dachte ich jedoch: „Das ist ein germanischer Schamane, der mit einem Stöckel auf die Rahmentrommel schlägt. Er reitet auf dem Schamanenpferd und wird begleitet von den Höllenhunden, den Hütern der Schwelle. Das ist der Schamanengott Odin mit seinen Krafttieren, dem Pferd Sleipnir und den Wölfen Geri und Freki“. Tatsächlich erkennt man bei genauerer Betrachtung, dass der längliche Gegenstand des Reiters an der Oberspitze eine Rundung aufweist – schlecht für ein Schwert, typisch für den Schlägel.

Dass die germanische Mythologie und Religion fürwahr alles das zu bieten hat, was man bei schamanisch strukturierten Völkern findet – Ekstasegötter und Jenseitsreisen, Zauberkünste und Zerstückelungen, Heilmagie und Liebeszauber, Trommelkult und Tierverwandlungen, Rauschorgien und Zauberpflanzen – soll dem Leser im Folgenden vor Augen geführt werden.

Wotan reitet auf dem Schamanenpferd und schlägt die Trommel. Runenstein von Möjbro (Schweden), 5.-7. Jhd.(Rundata U 877)

Was ist Schamanismus?

Der „Schamane“

„Der Schamane ist ein Mensch mit großen magischen Kräften, der sich mithilfe von Tanz, Musik und Drogen in Rauschzustände versetzt, um Seelenreisen zu unternehmen und Verbindung mit den Verstorbenen und Geistern aufzunehmen. Die Schamanen wirken als Priester und Heiler“.1

Diese Definition der Duden-Redaktion klingt zunächst recht zutreffend, ist jedoch zugleich so vage formuliert, dass sich jeder darunter etwas anderes vorzustellen vermag. Tatsächlich besteht hinsichtlich der Frage, was Schamanismus ist, Uneinigkeit. Das liegt auch daran, dass der Begriff in akademischen Traktaten und esoterischen Romanen gleichermaßen anzutreffen ist – mit grundsätzlich differierender Konnotation. Während kritisch-rationale Wissenschaftler in der Regel davon reden, dass es gar nicht einen oder den Schamanismus gibt und ihren Gegenstand zuweilen weg-rationalisieren, sind sich viele Neo-Heiden sicher, dass der Schamanismus so etwas wie die Ur-Religion der Menschheit ist und verwechseln manchmal Evidenz und Einbildung. Während manche Ethnologen noch nie einen Schamanen live erlebt haben, halten einige moderne Ethnos sich gar selbst für authentische Schamanen.

Einen ersten Hinweis darauf, was Schamanismus ist, gibt die Etymologie des Wortes: „Schamane“ leitet sich vom sibirisch-tungusischen Wort šaman ab und heißt „der, der weiß“ bzw. „der erregt ist“ oder auch „weiser Mann“. Der Schamane ist also ein Mensch, der im Zustand der Erregung (Raserei, Ekstase) eine Art von Wissen oder Erkenntnis erfährt. Der Ursprung des Wortes šaman wiederum wird im Hunnisch-Ungarischen kám, „Wahrsager, Seher“, vermutet. Demnach ist der Schamane dazu in der Lage, das in der Erregung geschaute wahre Wissen mythisch mitzuteilen. Vielleicht hängt šaman auch mit dem Sanskrit-Wort cramana „Bettelmönch, Asket“ zusammen, was auf die Funktion des Schamanen als Mystiker und Magier sowie als praktischer Philosoph hindeutet.

Jedoch gilt es zu beachten, dass der Begriff „Schamane“ nicht zwingend eine Selbstbezeichnung derjenigen ist, die „schamanisch“ tätig sind, sondern nur bei ganz bestimmten Völkern Nord- und Mittelasiens verwendet wird. Vielmehr hat jede Kultur und Tradition – sogar unter verwandten Völkerschaften – ihren eigenen Begriff: Noch „im 19.-20. Jahrhundert gab es bei den Völkern Mittelasiens und Kasachstans keine einheitliche Bezeichnung für Schamanen“.2 Nicht der Begriff also, sondern das Phänomen „Schamanismus“ ist weltweit verbreitet – und zeitlos.

Steinzeit-Schamanismus

Der Schamanismus führt in die Ur-Geschichte der Menschheit, die Zeit der Jäger und Sammler, die Altsteinzeit. Das Jungpaläolithikum (40.000-10.000 v. u. Z.) gilt nicht nur als die Geburtsstunde des modernen Menschen (Homo sapiens sapiens) und als Blütezeit der bildenden Kunst, sondern auch als Hochphase des Schamanismus. Aus Mammut-Elfenbein gefertigte Figuren gelten als die ältesten Kunst- und Kulturwerke der Menschheit; ihr Bezug zum Schamanismus wird nicht bestritten. Hervorzuheben ist eine knapp 30 Zentimeter große Figur aus Mammut-Elfenbein, die bei archäologischen Ausgrabungen in einer Höhle der Schwäbischen Alb (Deutschland) gefunden wurde. Sie ist rund 35.000 Jahre alt und stellt einen menschlichen Körper mit dem Kopf und den Extremitäten eines Höhlenlöwen dar. Offensichtlich handelt es sich um einen in ein Tier verwandelten Schamanen. In die Geschichte eingegangen ist die Skulptur als der „Löwenmensch vom Hohlenstein“.3

Weltberühmt sind außerdem die Höhlenmalereien in Frankreich, die zoomorphe Mischgestalten abbilden, man denke an den Mann mit Hirschgeweih und Mann mit Stierhörnern und Mundbogen in der Grotte des Trois-Frères in Montesquie-Avantès:

Im Magdalénien von Mas d‘Azil aber tritt uns ein Mann mit Bärenkopf, in der Grotte von Espélugues bei Lourdes, ebenfalls in Südfrankreich, ein solcher mit Pferdekopf entgegen. Dies waren sicher Maskentänzer, die sich mit einem entsprechenden Fell und Kopf als Bär oder Pferd verkleidet vor einem geplanten Jagdzug auf diese Tiere Zauberkraft zu deren Erbeutung zu verschaffen versuchten.4

Tierverwandelte Ekstatiker begingen hier, im Bauch der Mutter Erde, schamanische Kulte: In der Brillenhöhle bei Blaubeuren (Schwäbische Alb) fand man bei Ausgrabungen einen fast 20.000 Jahre alten Trommelschlägel aus Rengeweih, der stark an diejenigen erinnert, die von den Samí-Schamanen verwendet werden.

Der vielleicht beeindruckendste Beleg für den mitteleuropäischen Schamanismus im Mesolithikum (ca. 10.000-5.000 v. u. Z.) ist die sogenannte „Bestattung von Bad Dürrenberg“, die älteste Bestattung in Sachsen-Anhalt (Deutschland). In dem rund 8.000 Jahre alten Grab fand man das Skelett einer (aufrecht sitzenden) Frau, die zwischen ihren Schenkeln einen Säugling hielt. Das Grab war rund 30 Zentimeter (!) hoch mit rotem Ocker befüllt. Roter Ocker oder „Rötel“ ist ein Zaubermittel, das weltweit in schamanischen Kulturen verwendet wurde und wird. Außerdem fand man über 100 Skelettreste von verschiedenen Säugetieren, über 120 Muschelstücke, unzählige Feuersteinfragmente und die Panzer von mindestens drei Sumpfschildkröten, ein Beil aus Hornblendschiefer mitsamt Fassung aus Hirschgeweih sowie rund 100 Schmuckstücke aus Tierzähnen und -hauern. Kurz, das Grab war voll mit schamanischen Ritualobjekten. Man fand auch die Fragmente einer kultischen Kopfbedeckung aus Schädelknochen mit dem Geweih von Rehen, welche überdeutlich an die Tracht sibirischer Schamanen erinnern. Gewiss waren dies die heiligen Requisiten, die der Schamanin von Bad Dürrenberg dabei halfen, sich in Trance zu versetzen und in ein Tier zu verwandeln.

Den Funden von der Schwäbischen Alb und aus Sachsen-Anhalt nach zu urteilen, mussten vielleicht gar nicht erst die Samí den Germanen den Schamanismus bringen. Warum sollte sich der Steinzeit-Schamanismus nicht bis in die Germanenzeit erhalten haben? Bekanntermaßen gab es auch bei den Germanen Menschen, die zu gewissen Zeiten Fell anlegten, Tiermasken trugen und sich mit Leder, Federn und Gehörn verkleideten – und rituell zum Tier wurden. Handelt es sich bei den germanischen Berserkern, Werwölfen und Geißmännlein nicht um die Urenkel dieser steinzeitlichen Tiermenschen?

Heilige Ekstase

Von der jüngeren Forschung wurde diese Definition übernommen:

Die wichtigste, schlechthin unabdingliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Séance aber war, daß der Schamane in Trance fiel, genauer: in Ekstase geriet, das heißt ganz Seele wurde und sich so vom Leib befreien und ins Jenseits begeben konnte. Dazu hatten Schamanen in aller Welt eine Fülle von ‚Techniken‘ entwickelt.6

Das altgriechische Wort ἔκστασις (ekstasis: „Ekstase“) bezeichnet das „Aus-sich-Heraustreten“, die „Begeisterung, Verzückung“. „Als Ekstase wird das in höchster Form von Erregung stattfindende ‚Heraustreten der Seele‘ aus den Körpergrenzen bezeichnet“.7

Ekstase ist ein Bewusstseinsphänomen, bei dem die Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich durchlässig sind und das mitunter als Verzückung, Rausch, Trance, Besessenheit, Enthusiasmus oder Begeisterung beschrieben wird. Psychische Zustände des Außersichseins können durch halluzinogene Stoffe, durch Drogen und Alkohol, aber auch durch asketische Übungen oder rituellen Tanz hervorgerufen werden. […] Berichte über ekstatische Erlebnisse handeln von Reisen in die Ferne, zu Göttern, Geistern und in den Himmel. Schamanen beziehen ihre Kraft und Erkenntnisse über medizinische Mittel häufig aus ekstatischen Reisen zu den Geistern, die für die Heilung der Menschen zuständig sind.8

Der Begriff „Ekstase“ ist insbesondere im Kontext der vorchristlichen Mysterien im antiken Griechenland gebräuchlich (Eleusis, Delphi, Dodona etc.). Ein bestes Beispiel für diese heidnischen Ekstasekulte der Hellenen sind die Dionysien, rituelle Festspiele und Verkleidungskulte zu Ehren des Rauschgottes Dionysos, die fest in der griechischen Kultur verwurzelt waren. In archaischer Zeit bestanden die Dionysien aus wilden Umzügen, bei denen die Teilnehmer unter Trommelrhythmen und Obertonmusik freudentaumelnd durch die Wälder brausten. Die weiblichen Kultanhängerinnen des Dionysos nennt man „Mänaden“; sie hüllen ihre nackte Haut in Hirschkalbfelle, werfen tanzend ihre Köpfe in den Nacken und empfinden keinen Schmerz – ihr Name deutet auf den Schamanismus (μανία [mania]: „Raserei“). Die männlichen Kultanhänger nennt man Satyrn; sie sind Mischwesen aus Mensch und Tier und transzendieren die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis – „Ekstase“ bedeutet immer auch „das Aus-der-Kultur-Heraustreten“. Die Dionysien dienten als eine Art „Ventil“ und Ausgleich zur gesellschaftlichen (apollinischen) Ordnung; sie waren die gezielt eingeleitete Erfahrung des ‚ganz Anderen‘. Zwar waren die griechischen Mänaden und Satyrn wohl keine Schamanen im engeren Sinne, doch lässt sich am Beispiel der archaischen Dionysien vorzüglich festmachen, wie eine schamanisch strukturierte Kultur aussehen kann.

Hinter dem Schleier der Natur

„Die gesellschaftliche Funktion des Schamanen war es, als Dolmetscher und Vermittler zwischen dem Menschen und den Mächten hinter dem Schleier der Natur zu wirken“9, schreibt Joseph Campbell. Hier gilt es zu beachten, dass der Schamanismus per defintionem in Kulturen vorkommt, die von einer Art Allbeseelung oder Alldurchgeisterung des Kosmos ausgehen (Animismus): Die ganze Natur wird als heilig und belebt empfunden, und mit allen Dingen lässt sich – im ekstatischen Bewusstsein – kommunizieren. Denn hinter (besser: in) der materiellen Welt existiert eine dem gewöhnlichen Bewusstsein verborgene Welt der Geister, in der gleichsam die metaphysischen Ursachen für die physischen Zustände und Ereignisse liegen. Als Meister der Ekstase ist es der Schamane, dessen Aufgabe es ist, mit den kosmischen Entitäten in Kontakt zu treten, um Einfluss auf die Wirklichkeit zu nehmen und für das Wohlergehen des Stammes zu sorgen. Ihrer Funktion entsprechend erscheinen ihm die Geister der Natur in personifizierter Form: als Mutter Erde, Herr der Tiere, Himmelsherrscher, Berg-, Baum- oder Flussgeist. In Trance verhandelt der Schamane mit den Geistern, einige sind persönliche Verbündete, andere gefährliche Feinde, und arrangiert sich mit ihnen, um die Heiligkeit und Harmonie des Kosmos zu erhalten.

Auch heute noch wird Schamanismus praktiziert, nämlich überall dort, wo Menschen noch in einer traditionellen, vermeintlich primitiven Kulturform leben. Das sind die letzten Winkel dieser Erde, in denen die Mechanismen der Zivilisierung noch nicht greifen konnten, im dichten Dschungel oder höchsten Hochgebirge. So haben die archaischen Ekstasetechniken im Regenwald von Südamerika bis heute eine enorme kulturelle Bedeutung, man denke an das stark psychoaktive „Nationalgetränk“ von Amazonien, Ayahuasca, mit dem dort jedes Kind vertraut ist: In nächtlichen Zeremonien singen die Ayahuasqueros (Ayahuasca-Schamanen) die Icaros genannten Heillieder, die sie von den Geistern selbst gelehrt bekamen und die die Ritualteilnehmer in eine Welt voll unfassbarer Visionen führen. Für den Schamanen ist diese Welt die wahre Wirklichkeit, in der die Alltagsrealität spirituell begründet liegt. Hier, hinter dem Schleier der Natur, behandelt er die Ursachen für Krankheiten und Not, weshalb man ihn auch Curandero („Heiler“) nennt.

Der Schamane, der hinter den Schleier der Natur blickt, ist ein praktischer Philosoph: Er unternimmt eine Seelenreise in die Welt der Ur-Ideen, der platonischen Ur-Bilder, von denen die materielle Welt bloß ein Abbild ist. Dort steht er in Kontakt mit den Dämonen wie schon der weise Sokrates. Die hellenischen Gelehrten hatten sogar einen philosophischen Fachbegriff für diese Sphäre hinter der Natur: „Metaphysik“ (metá „hinter, jenseits“ und phýsis: „Natur“).

Der Jhankri vom Himalaya

Auch auf dem „Dach der Welt“ – im Himalaya – ist der Schamanismus noch lebendig. In der Kosmologie der nepalesischen Schamanen, Jhankris, spielt der Weltenbaum eine zentrale Rolle und ist mit dem wichtigsten Ritualgerät verbunden: Der sogenannte Phurba ist ein dreiseitiger, zugespitzter Holzstab, der als „Geisterdolch“ fungiert, den der Schamane bei der Jenseitsreise in den Händen hält, um etwaige Dämonen in die Flucht zu schlagen. Der Phurba symbolisiert die Weltachse, mit seiner Hilfe manövriert sich der Jhankri durch die drei Welten. Deshalb findet sich der Phurba traditionell an der nepalesischen Schamanentrommel: Die beidseitig mit Fell bespannte Rahmentrommel wird im Sitzen gespielt, mit der einen Hand an einem Griff gehalten und mit der anderen mit einem Schlägel geschlagen – dieser „Griff“ ist der Geisterdolch, der Weltenbaum.

Vor ein paar Jahren hatte ich die Gelegenheit, der séance eines Himalaya-Schamanen vom Stamme der Tamang beizuwohnen, die m. E. mustergültig exemplifiziert, was man sich – zumindest äußerlich – unter der schamanischen Ekstase vorzustellen hat. Der Schamane trug die traditionelle weiße Tracht eines nepalesischen Jhankris, eine mit Pfauenfedern verzierte Kopfbedeckung und schwere Glockenketten um den Körper. Mantras murmelnd warf der Jhankri ein paar Reiskörner auf die Ritualwerkzeuge und Kultgegenstände, die vor ihm auf dem Boden ausgebreitet waren. Er schloss die Augen und begann rhythmisch auf die Trommel einzuschlagen – und zwar viel härter als ich es erwartet hatte. Aus den Mantras wurden lautstarke Gesänge und im Takt der Trommel bewegte sich der Jhankri (im Schneidersitz) heftig auf und ab. Der Schlagrhythmus mutierte immer mehr zu einem monotonen Trommelfeuer, das den verräucherten Raum dröhnend erfüllte wie ein tosendes Gewitter. Klirrender Lärm ging von den Ketten aus, die sich mit den heftigen Bewegungen des Schamanen syn-ästhetisch verbanden; die Gesänge klangen jetzt erhaben-hymnisch, gleichsam urtümlich-naturgewaltig. Das Szenario ließ mich unwillkürlich an die Wilde Jagd denken, jenen germanischen Geisterzug, der unter Peitschenknall und Hörnerblasen lautstark durch die nebeligen Rauhnachtstürme galoppiert. Immer fester schlug der Jhankri