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7., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage! Wie viel Schamanismus steckt im germanischen Heidentum? Sind es bloß Spuren, Züge und Einzelheiten? Oder handelt es sich gar um eine „Schamanenreligion“? Im Mittelpunkt der nordischen Mythologie steht der Weltenbaum, das universelle Symbol des Schamanismus. An seinem Stamm vermochten die germanischen Götter, Zauberer und Hexen durch die neun Welten zu reisen. Sie praktizierten Seiðr und verließen mit der Seele ihren Körper, sangen Varðlokkur und riefen ihre Krafttiere herbei oder begingen ein Útiseta und sprachen mit den Toten. Thomas Höffgen vergleicht die Mythen und Riten der Germanen mit den Techniken und Traditionen schamanischer Kulturen aus der ganzen Welt und führt vor Augen, dass der Schamanismus ein fundamentaler Bestandteil auch der alten nordischen Naturreligion war.
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Seitenzahl: 299
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Thomas Höffgen
Schamanismus bei den Germanen
Götter • Menschen • Tiere • Pflanzen
Edition Roter Drache
Im Mittelpunkt der germanischen Mythologie – im Zentrum des heiligen Haines – steht der Weltenbaum, das universelle Symbol des Schamanismus. In Sibirien gibt es ein Ritual, bei dem der Schamane auf eine Birke klettert, in die neun Einkerbungen geritzt sind, welche die neun Welten symbolisieren. Bei den Germanen ist es Wotan, der den Weltenbaum rituell erklettert, um die neun Welten zu erforschen. Rekonstruktion der Externsteiner Irminsul (mit neun Ästen).
7., vollständig überarbeitete underweiterte Auflage Dezember 2024.
Copyright © 2016, 2024 by Edition Roter Drache
Edition Roter Drache, Am Hügel 7, 59872 Meschede
[email protected]; www.roterdrache.org
Umschlag- und Buchgestaltung: Edition Roter Drache
© Foto des Runensteins auf dem Umschlag und im Buch: Sören Hallgren/ The Swedish History Museum
Sämtliche Bilder sind, soweit nicht anders angegeben, gemeinfrei.
Lektorat: Nicole Höffgen
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache und der Übersetzung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Ton- und Datenträger jeder Art und auszugsweisen Nachdrucks sind vorbehalten.
ISBN 997-8-396426-000-0
Cover
Titel
Impressum
Vorwort zur Neuausgabe
Einleitung: Germanischer Schamanismus
Was ist Schamanismus?
Der „Schamane“
Steinzeit-Schamanismus
Heilige Ekstase
Hinter dem Schleier der Natur
Der Jhakri vom Himalaya
Der Weltenbaum
Yggdrasil
Die neun Welten
Kultbäume der Germanen
Odin erklettert den Schamanenbaum
Das Trommelpferd
Drei Götter der Ekstase
Odin, der Zauberer
Thor, der Donnergott
Loki, der Listige
Balders Träume
Jenseitsreisen und Unterweltmythen
Das Grab der Prophetin
Hermod und Hel
Das „Draußensitzen“
Zauberdichtung der Germanen
Der Zauberer
Der Dichter
Die Magie der Runen
Geheimwissen vom Weltenbaum
Was sind Runen?
Das Ältere Futhark
Runenlieder der Germanen
Zaubersprüche
Der erste Merseburger Zauberspruch
Der zweite Merseburger Zauberspruch
Neun-Kräuter-Zauber
Zauber gegen Alben
Flursegen der Frau Holle
Germanische Schamaninnen
Freyja Seiðkona
Weissagung der Völva
Der Zauberstab
Thorbjörg, die „kleine Völva“
Veleda, Albruna, Ganna, Waluburg, Gambara
Walpurgisnacht und Hexensabbat
Tierverwandlungen
Das Geheimnis der Tiermenschen
Krafttiere der Germanen
Die Wilde Jagd
Berserker
Werwölfe
Der Wilde Mann
Germanische Götterpflanzen
Odins Äcker: Pflanzen der Schamanen
Das Rätsel um den Dichtermet
Der Fliegenpilz
Hexenpflanze Bilsenkraut
Die Magie der Mandragora
Entheogene Eiben
Schluss
Literaturverzeichnis
Der Autor
Seit dieses Buch zum ersten Mal erschienen ist, hat das „Nordische Schamanentum“ zunehmend an Popularität gewonnen. Das Interesse an paganer Naturspiritualität ist stark gewachsen und mit ihm das Bedürfnis nach erweitertem Wissen.
Für die neue Auflage dieses Buches habe ich daher nicht nur ein paar alte Fehler korrigiert, sondern auch zahlreiche Überarbeitungen, Ergänzungen und Erweiterungen vorgenommen, den Inhalt des Buches maßgeblich verbessert und vermehrt. Der etwas emphatische Ton der Erstfassung wurde zwar nicht eliminiert, aber durch etliche Verweise, Diskurse und Exkurse gewissermaßen eingehegt. Nicht zuletzt habe ich viele neue Vergleichsbeispiele aus schamanischen Kulturen aus aller Welt hinzugefügt.
Das ursprüngliche Anliegen des Sachbuches ist freilich dasselbe geblieben, nämlich den Leser in die faszinierende Welt des germanischen Schamanismus einzuführen.
Wotan, der germanische Ur-Schamane, mit Zauberstab und Schlapphut, opferte sein Auge, um aus der heiligen Quelle der Erkenntnis zu trinken, die an den Wurzeln des Weltenbaums entspringt. Georg von Rosen, 1886.
In einer rustikalen Gaststube aus dem 19. Jahrhundert, die in dunkel-hölzernem Barock gehalten war, traf ich mich zu einem Abendessen mit dem alten Hochschullehrer Hasenfratz. Im Schein der Kerze offenbarte ich dem Schweizer Religionshistoriker die Idee, ein Buch zum Thema „Schamanismus bei den Germanen“ zu verfassen. Freilich ein schillerndes Thema. Der emeritierte Professor fand die Idee jedoch „höchst spannend“ und rezitierte mir sogleich den ersten Merseburger Zauberspruch in althochdeutscher Sprache – ich konterte mit dem zweiten. Hasenfratz sah mich scharf mit einem Auge an und sagte: „Natürlich macht ein solches Unterfangen Sinn. Denken Sie nur einmal an den Weltenbaum, den haben die Germanen ebenso wie alle zirkumpolaren schamanischen Kulturen. – Der Weltenbaum“, sagte Hasenfratz und setzte im Hinausgehen seinen Hut auf, „könnte Sie tatsächlich zu den germanischen Schamanen führen“. Der Mann ließ mich verdutzt zurück, widersprachen seine Worte doch der wissenschaftlich etablierten Lehrmeinung, welche diesem Thema tendenziell mit Ablehnung entgegentritt. Doch er machte mir auch Mut, meine langjährige Privatforschung, die zum Teil zu unorthodoxen Ergebnissen geführt hat, zu diesem kleinen Büchlein auszuarbeiten.
Fast alle akademischen Untersuchungen, die sich mit dem Thema „Schamanismus bei den Germanen“ befassen, sind gekennzeichnet durch eine kritische, ja allzu kritische Herangehensweise: Da ist allenfalls von „schamanistischen Elementen“ (Ohlmarks) bzw. „Spuren“ und „schamanischen Überbleibseln“ die Rede sowie von Motiven, die zwar „seltsam schamanisch“ seien, aber „nicht Schamanismus im strengen Sinn“ (Eliade). Man spricht von „schamanistischen Zügen in der altisländischen Überlieferung“ (Buchholz) oder „Zügen des Schamanentums in der germanischen Überlieferung“ (Lichtenberger). Wissenschaftlicher Konsens sind nur mehr „Ähnlichkeiten“ und „Parallelen“ bzw. „Spuren schamanischer Praktiken“ sowie „schamanoide“ Züge (Simek). Aber sind es wirklich lediglich Spuren, Züge und Einzelheiten, die auf einen germanischen Schamanismus schließen lassen? Oder erfüllt die Rede von den Einzelheiten vielmehr den Tatbestand der wielandschen Verwirrung, in welcher der vorsichtig-übervorsichtige Forscher nur mehr Bäume sieht, ohne sie als Teil des Waldes wahrzunehmen? Sieht er nicht, dass es sich um Weltenbäume handelt?
In der schamanischen Kosmologie spielt der Weltenbaum eine Schlüsselrolle: Er ist Sinnbild für die axis mundi, die das Weltgefüge konstituiert und strukturiert („Weltachse“). An seinem Stamm vermögen die Schamanen die drei Welten zu erklettern. Für den Schamanismus ist der Weltenbaum fundamental, und ohne Schamanismus macht ein Weltenbaum kaum Sinn. Dass ein solcher kosmischer Baum nun auch für die Germanen von zentraler Bedeutung war, lässt sich leichterdings belegen: In der nordischen Mythologie ist von einer Esche Yggdrasil die Rede, die das All verkörpert und in deren Schatten die Götter alltäglich Rat halten. Äste, Stamm und Wurzeln dieses Baumes umfassen die drei Welten (Asgard, Midgard, Utgard) bzw. neun Welten (Asgard, Wanenheim, Lichtalbenheim; Midgard, Jötunheim, Muspellsheim; Schwarzalbenheim, Niflheim, Hel). Und von Odin, dem germanischen Ekstasegott, wird dieser Weltenbaum – eindeutig schamanisch – rituell erklettert.
Indes ist das doch keine Kleinigkeit, wenn im Mittelpunkt der germanischen Mythologie – im Zentrum des heiligen Haines – ein Weltenbaum gedeiht, also das Symbol des Schamanismus. Vielmehr lässt die exponierte Position des Baumes auf eine besondere, ja substanzielle Bedeutung des Schamanismus bei den Germanen schließen. Das ist zumindest eine ziemlich „heiße Spur“. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die germanische Religion gerade doch und ganz grundsätzlich vom Schamanismus beherrscht und schamanisch strukturiert gewesen ist.
Mitnichten soll hier das Verdienst all der genannten (und nicht genannten) Forscher geschmälert werden, zumal ihre Arbeiten dem vorliegenden Werk durchaus zugrunde liegen. Ganz im Gegenteil haben sie zuweilen regelrechte Pionierarbeit geleistet. Gerade der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade hat mit seinem Buch Schamanismus und archaische Ekstasetechnik (1951) ein Meisterwerk der Schamanismusforschung vorgelegt und darin bereits die Grundzüge des germanischen Schamanentums umrissen: „Gewisse Einzelheiten innerhalb der Religion und Mythologie der Germanen lassen sich mit Vorstellungen und Techniken des nordasiatischen Schamanismus vergleichen“.1 Dennoch lässt sich in so ziemlich allen akademischen Abhandlungen von damals bis heute feststellen, dass es durchaus gewisse Vorbehalte gibt, die Sache beim Namen zu nennen. Selbst der Ethnologe Hans Peter Duerr, dessen Arbeiten zum Hexen- und Schamanentum wohl zu den bedeutsamsten zählen dürften, nennt Odins rituelle Weltenbaumbesteigung „schamanenartig“ bzw. „schamanistisch“.2
Eine Ausnahme bilden etwa die alten Theorien des Mediävisten Karl Hauck seit den 1970er Jahren, in denen es vor allem um die Deutung von germanischen Brakteaten (Amuletten) ging: Hauck war davon überzeugt, dass die Bilder auf diesen Amuletten germanische Schamanen darstellen und einen schamanischen Kontext mit Seelenreisen, Tierverwandlungen und Hilfsgeistern offenbaren – er spricht gar von einer germanischen „Schamanenreligion“ bzw. einer „beachtlichen Ausbreitung des paganen Schamanismus“ und nennt „Odin-Wodan“ wörtlich einen „göttlichen Arzt und Schamanen“.3 Doch auch Hauck ruderte später zurück und konstatierte, dass der kulturübergreifende Ersatzbegriff Schamane „überflüssig“ sei und es stattdessen genüge, „schamanistische Züge der germanischen Religion“ zu beschreiben.4
Seitdem gab es zwar immer wieder zum Teil durchaus überzeugende Versuche, die These vom „germanischen Schamanentum“ wiederzubeleben, vor allem vonseiten der akademischen Archäologie (Hedeager, Solli, Price), aber auch der freien Ethnologie (Blain, Storl, Rätsch) und des modernen Schamanismus (Vömel, Baumgarten, Appel); es gibt sogar ein Scandinavian Center for Shamanic Studies (Høst, Horwitz, Waldebäck). Dennoch hat sich im Diskurs bis heute eindeutig die Ansicht durchgesetzt, dass es sich bei allen diesen Hinweisen und Überschneidungen eben um nicht mehr handelt als „Züge, Spuren, Einzelheiten“. Im Reallexikon der germanischen Altertumskunde heißt es zusammenfassend:
Daß sich in der nordischen Religion wie auch in den meisten anderen Spuren von Schamanismus finden, läßt sich übereinstimmend festhalten. […] Der springende Punkt ist, in welchem Ausmaß diese schamanistischen Züge als konstituierend für die religiöse Praxis und die religiöse Vorstellungswelt gelten können.5
Wotan reitet auf dem Schamanenpferd und schlägt die Trommel. Runenstein von Möjbro (Schweden), 5.-7. Jhd. (Rundata U 877)
Sinnfällig zu machen, dass diese „Spuren“ und „schamanistischen Züge“ sogar in sehr hohem Maße für die germanische Religion als „konstituierend“ gelten können, ist das Anliegen des vorliegenden Buches. Im Grunde soll hier der alte Faden wieder aufgegriffen und der Versuch gewagt werden, die germanische Religion fürwahr als eine Art „Schamanenreligion“ zu deuten. Eine Hauptarbeit besteht freilich darin, alle diese vielen kleinen „Spuren“ zu versammeln und anschaulich zu machen, um daraus ein größeres Gesamtbild zu schaffen. Außerdem sollen möglichst viele dieser „Elemente“ in direkten Vergleich mit schamanischen Motiven, Mythen oder Riten aus der ganzen Welt gestellt werden, um grundsätzliche Übereinstimmungen dingfest zu machen. Sinn der Sache ist es schließlich, die germanische Religion nicht mehr als „schamanistisch“ oder „seltsam schamanoid“ wahrzunehmen und für wahr zu nehmen, sondern als schlechthin „schamanisch“.
Das Gespräch mit Hasenfratz ließ mich auch an die Sámi denken, jenes letzte indigene Volk Europas, das im zirkumpolaren Skandinavien beheimatet ist, in „Lappland“ bzw. „Sápmi“. Wenngleich sich der Lebensraum der Sámi über weite Teile Norwegens und Schwedens erstreckt, zählen sie doch nicht zu den Germanen; sie sprechen keine germanische, sondern eine uralische Sprache. Vermutlich wanderten die Sámi kurz nach der letzten Eiszeit (ca. 10.000-5.000 v. u. Z.) aus dem nordwestlichen Sibirien nach Nordeuropa ein, von wo aus sie auch den Schamanismus mitbrachten. Die alten Sámi verehrten die Natur und gingen von der Allbeseelung des Kosmos aus sowie davon, dass ein Schamane – ein „Noaidi“ – die Fähigkeit besitzt, mit dieser von Geistwesen belebten Umwelt in Kontakt zu treten.6 Das wichtigste Ritualgerät der samischen Schamanen war natürlich die Trommel mitsamt dem aus Rentiergeweih gefertigten Schlägel. Das Fell vieler dieser Trommeln ist bemalt mit verschiedenen Formen und Figuren: Göttern, Menschen, Tieren und Pflanzen, Wesen aus der Anderswelt und Ahnengeistern (gemalt mit roter Farbe aus der Rinde des Erlenbaums). Es handelt sich um eine Art mythische Weltkarte, die es dem Schamanen möglich macht, sich während seiner Jenseitsreise orientieren zu können. Im mythologischen Bewusstsein der Sámi ist diese Schamanentrommel aus dem Holz des Weltenbaums gefertigt.
Die frühste schriftliche Quelle zu den Sámi ist ausgerechnet die Germania (98 n. u. Z.) des antiken Historikers Tacitus, ein Buch, das als wichtigste Quelle zur Kultur und Religion der altgermanischen Stämme gehandelt wird. Dass die Sámi gar keine Germanen sind, hat Tacitus zwar geahnt, doch führt er sie gleichwohl in seinem ethnographischen Bericht auf, weil sie der germanischen Kultur so nahestanden. Tatsächlich trieben Sámi und Germanen einen regen Tauschhandel, und es ist durchaus naheliegend, dass sie sich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geistig-kulturell austauschten. Sollte hier der missing link liegen, durch den sich der Schamanismus – als Phänomen zirkumpolarer Völker – in die germanische Kultur transferieren lässt?7
Bezeichnenderweise werden in der Chronicon Norvegicum (12. Jhd.), der ältesten schriftlichen Quelle zum Schamanismus bei den Sámi, die magischen Tätigkeiten der Noaiden mit den altnordischen Worten gandr bzw. galdr beschrieben, Bezeichnungen, die gleichsam zur Beschreibung der Zauberkünste der Germanen dienten. Nicht unwahrscheinlich, dass nicht nur die Worte, sondern auch die Techniken sich überschneiden. Schon im frühen 18. Jahrhundert verglich man das Schamanentum der Sámi mit den geheimen Runenzauberkünsten der Germanen.8 Nicht umsonst nennt man die samische Schamanentrommel auch „Runebomme“.9
Dann gibt es noch den berühmten Runenstein aus dem schwedischen Möjbro (vgl. das Cover zu diesem Buch): Dieses rund zweieinhalb Meter hohe germanische Kultdenkmal aus der Völkerwanderungs- bzw. frühen Vendelzeit stellt – unterhalb der eigentlichen Runeninschrift – kunstvoll einen von zwei Hunden begleiteten Reiter dar, der angeblich ein Schwert und einen Rundschild in den Händen hält. Als ich den Stein zum ersten Mal sah, dachte ich jedoch: „Das ist ein germanischer Schamane, der mit einem Stöckel auf die Rahmentrommel schlägt. Er reitet auf dem Schamanenpferd und wird begleitet von den Höllenhunden, den Hütern der Schwelle. Das ist der Schamanengott Odin mit seinen Krafttieren, dem Pferd Sleipnir und den Wölfen Geri und Freki“. Tatsächlich erkennt man bei genauerer Betrachtung, dass der längliche Gegenstand des Reiters an der Oberspitze eine Rundung aufweist – schlecht für ein Schwert, typisch für den Schlägel. Die Runeninschrift lautet frawaradaR anahahaislaginaR und konnte bislang nicht wirklich übersetzt werden. Allerdings scheint sie auf einen gewissen „Einäugigen“10 anzuspielen, also doch wohl auf Odin, den einäugigen Schamanengott der germanischen Mythologie.
Die Runenkunst trägt selbst ausgesprochen schamanischen Charakter.11 Immerhin wird sie von Odin im Rahmen seiner Weltenbaumbesteigung erlangt (Odins Runenlied). Die altnordischen Runenmeister ritzten ihre Runen in Ekstase (alu) und gaben sich selbst Tiernamen wie Rabe, Adler oder Wolf („Totemismus“). Wie Odin mussten sie einen geweihten Baum besteigen, den Weltenbaum, um die Runenkunst zu lernen und sich mit ihrem Kultgott mystisch zu vereinigen. In vielen Runeninschriften spricht der Gott persönlich, zum Beispiel auf dem Brakteaten von Nebenstedt (Deutschland) aus dem 6. Jahrhundert: „Ich, der Glanzäugige, weihe diese Runen“.12 Man hat daher sogar vermutet, dass zwischen dem Runenmeister und dem Runengott eine mystische Identität bestand: „Der Runenmagiker ist eine Inkarnation, eine Emanation des Gottes, ja man kann sagen, er ist der Gott selbst“.13 Freilich war in der Germanenzeit nicht jedermann ein Runenmeister (oder eine Runenmeisterin). Doch ist die Überlieferung eindeutig, dass der Runenzauber auch im gewöhnlichen Volk weit verbreitet war (Ynglingasaga 7), vielleicht vergleichbar mit dem von Eliade (und anderen) sogenannten „Hausschamanismus“ (bei den sibirischen Korjaken).14
Dass die germanische Mythologie und Religion fürwahr all das zu bieten hat, was man bei schamanisch strukturierten Völkern findet, soll dem Leser im Folgenden vor Augen geführt werden.
Im Mittelpunkt der germanischen Mythologie steht der Weltenbaum, der älteste und schönste aller Bäume, an dessen Stamm die Götter alltäglich Gericht halten. In der nordgermanischen Überlieferung trägt der Weltenbaum den Namen Yggdrasil und ist eine immergrüne Esche. Im ältesten Lied der Edda beschreibt eine Seherin (Schamanin) den Weltenbaum (Völuspá 19):
Eine Esche weiß ich stehen, sie heißt Yggdrasil,
Ein hoher Baum, überschüttet mit glänzendem Nass;
Von dort kommt der Tau, der in den Tälern niederfällt,
Sie steht immer grün über dem Urdbrunnen.
„Die Esche ist der größte und beste aller Bäume. Ihre Äste breiten sich über die ganze Welt aus und erstrecken sich über den Himmel“ (Gylfaginning 15). An den Wurzeln des Weltenbaumes sprudelt eine Quelle, der Urdbrunnen, der heilige Brunnen der Nornen; die Nornen sind drei Göttinnen, die das Schicksal der Welt aus Runen lesen und die Schicksalsfäden der Menschen weben; am Stamm des Weltenbaumes leben die Menschen, er ragt säulenartig hoch empor bis in den Götterhimmel; die Krone ist der Wohnsitz der Götter; ein Drache schlingt sich um die Wurzeln, vier Hirsche äsen an den Zweigen, ein Eichhörnchen flitzt entlang des Stammes und obenauf sitzt ein Adler.
Der Weltenbaum ist keine Fiktion, sondern ein philosophisches Gleichnis. Er ist ein Sinnbild für das harmonische Zusammenwirken aller Dinge und für die kosmische „All-Einheit“. Der Weltenbaum ist ein mikrokosmisches Abbild des Universums, in dem alles sinnvoll ineinandergreift und einen einheitlichen Organismus bildet. Alles steht in Beziehung zueinander, und aus dem Wechselspiel entsteht die Wirklichkeit. Er ist der Baum des Lebens und des Todes, der Baum der Erkenntnis und der Weisheit – der „Nabel der Welt“. Eliade nennt ihn den „Ausdruck der Heiligkeit, der Fruchtbarkeit und Ewigkeit der Welt“ sowie „der absoluten Realität“.51 Der Weltenbaum ist ein kosmisches Symbol und fungiert als eine „Weltachse“ (axis mundi), welche die Weltebenen miteinander verbindet: Er bildet „eine Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos“.52 Der Weltenbaum ist ein Symbol für die kosmische Ordnung, das in der Mythologie zahlloser Naturvölker angetroffen werden kann: Der Weltenbaum ist eine Art Archetyp, ein Ur-Bild. Er kommt überall vor, kulturübergreifend und zeitlos, vor allem aber bei schamanisch strukturierten Völkern. In Sibirien zum Beispiel erzählt man sich,
daß es einen Baum mit vielen Wipfeln gibt. Die Schamanen aus der ganzen Welt werden alle an diesem Baume aufgezogen. Je größer der Schamane nach Bedeutung und Kraft ist, um so höher liegt seine Seele auf dem Baum. Das heißt, die Seele liegt dort in verschiedener Höhe. Die Schamanen selbst sagen gewöhnlich, daß als Erzieher ein Rabe erscheint, der auf den Zweigen dieses Baumes sitzt und die Seele groß zieht.53
Eine andere Schamanengeschichte aus Sibirien besagt:
Im Himmel ist ein Baum mit Namen Yjyk-Mas. Sein Wipfel reicht bis in den neunten Himmel, seinen Umfang kann niemand feststellen. Von der Wurzel bis zur Spitze ist dieser Baum mit Auswüchsen bedeckt. Keine freien Zweige sind an ihm zu sehen. In diesen Auswüchsen werden die Schamanen geboren, die Schamaninnen und alle diejenigen, die mit Zauberei und Hexerei bekannt sind. Starke werden am Fuße des Stammes geboren, Schamanen mit voller Kraft entstehen an der Wurzel des Baumes in einem Auswuchs, der groß ist wie ein kleiner Grabhügel.54
Nun ist der Weltenbaum für den Schamanen aber nicht nur eine Metapher für die Harmonie des Kosmos, sondern auch – ganz praktisch – eine Verbindungsachse zwischen den Welten, an der er in das Reich der Götter, Geister und Dämonen klettert: „Weltachse und Weltbaum stellten, für Schamanen wie Geistmächte, eine ideale, weil die direkteste Verkehrsverbindung zwischen den Welten dar“.55 Im veränderten Bewusstseinszustand sieht der Schamane diese Achse, um an ihren Sprossen in die Anderswelt zu klettern und sich bei der Reise in das Jenseits zurechtzufinden. Der Weltenbaum wird auch Seelenranke genannt, weil der Schamane an ihr ins Wolkengeisterreich des Himmels fliegt. Der Weltenbaum ist gleichfalls die Liane, die der Schamane in den Händen hält, wenn er in das unterirdische Reich der Toten eintritt: „Mehrheitlich unterschied man nicht lediglich drei, sondern sieben oder neun Welten, also je drei bzw. vier in der Ober- und Unterwelt. In dem Falle besaß der Weltbaum entsprechend viele Zweigetagen“.56 Abzulehnen sind die Theorien, nach denen es sich beim Weltenbaum um ein christliches Symbol handelt.57
In der germanischen Mythologie heißt es übrigens, dass in der Krone des Weltenbaums eine „schwankende Himmelsstraße“ (bifröst