Schärfer als Wasabi - Verena Rank - E-Book

Schärfer als Wasabi E-Book

Verena Rank

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Beschreibung

Sportstudent Nick ist sexy und ehrgeizig. Er genießt die ungeteilte Aufmerksamkeit der Freunde in seiner Wohngemeinschaft und in der Uni. Als der attraktive Halbjapaner Katsuro in die WG einzieht, ist Ärger vorprogrammiert. Der neue Mitbewohner scheint in allem perfekt zu sein: Er hat den Schwarzgurt in Karate, ist klug und höflich und zu allem Übel verliebt sich Nicks beste Freundin Vanessa in ihn. Alle finden Katsuro toll - bis auf Nick. Die beiden geraten immer heftiger aneinander, doch streiten ist gar nicht so einfach, wenn die Luft vor Spannung geradezu knistert und plötzlich ungeahnte Gefühle ins Spiel kommen ...

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Seitenzahl: 341

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Schärfer als Wasabi

Verena Rank

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2011

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: M. Hanke

Motive:

Körper: muthmedia – fotolia.com

Hintergrund: DiAmOnDaGgEr – fotolia.com

Drache: Pachanga – fotolia.com

Giraffe: Stephi – fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-934442-73-3 (print)

ISBN 978-3-943678-71-0 (epub)

Dieser Roman ist Fiktion. Orte und Personen sind frei erfunden.

Für meine lieben Freunde auf der Insel, besonders für Shaynie, die schon so ungeduldig auf die Jungs gewartet hat!

Eins

Er stand wieder auf dieser großen Wiese. Kein Baum oder Strauch weit und breit, kein Haus. Nur dieses scheinbar grenzenlose Grün. Eine leichte Brise streichelte sein Gesicht und spielte in seinem Haar. Der Himmel war so strahlend blau, dass seine Augen brannten, als er hinaufblickte.

„Nick, komm her mein Schatz!“ Die Stimme seiner Mutter ließ ihn zusammenzucken, ruckartig wandte er sich um. Sie lächelte und streckte die Arme nach ihm aus, doch ihre Gestalt wirkte irgendwie verschwommen. Er kannte diese Situation, hatte sie schon so oft durchlebt, doch nichts davon war echt. In Wirklichkeit hatte ihm seine Mutter nie solche Wärme und Zuneigung entgegengebracht, oder ihn gar 'Schatz'genannt. Er musste weg hier, bevor sein Vater wieder auftauchte. Sein Vater, den er nie kennengelernt hatte. Er würde ihm erneut Vorwürfe machen. Klar, es war ja auch alles seine Schuld. Nick war zwar noch ein Baby gewesen, aber wegen ihm war er gegangen.

Sein Vater tauchte stets aus dem Nichts auf, die Arme vor der Brust verschränkt. Er rief ihn mit einer tiefen Stimme, die hart und bedrohlich klang. Nick konnte sein Gesicht nicht erkennen, es war verwaschen, als trübe ein Tränenschleier seinen Blick.

„Du bist im Weg, Kleiner. Ich hab es dir schon so oft gesagt.“ Der sich wiederholende Vorwurf lastete schwer auf Nicks Seele. Er schluckte den schmerzhaften Knoten hinunter, der sich in seiner Kehle bildete, und wandte sich an seine Mutter. Obwohl er sie nicht genau erkennen konnte, wusste er, dass ihr Lachen zu Eis gefroren war. Nick ertrug ihre Ablehnung keine Sekunde länger. Er öffnete den Mund, um zu schreien, als er ein durchdringendes Klopfen hörte.

„Nick, steh auf, du bist wieder viel zu spät dran!“

Zurück in der Realität fand sich Nick in seinem Bett wieder, zwischen zerwühlten Laken und Kissen. Er setzte sich ruckartig auf und atmete schwer. Beinahe jede Nacht verfolgte ihn immer wieder derselbe Traum!

Vanessa, seine Mitbewohnerin, hämmerte mit der Faust gegen seine Zimmertür. „In einer halben Stunde muss ich in der Klinik sein! Wenn du mitfahren willst, solltest du dich beeilen!“

Nick rieb sich mit den Handflächen über das Gesicht und stöhnte auf.

„Ja, ja. Ich bin wach!“ Noch etwas benommen schlüpfte er aus dem Bett und stellte seine Füße auf den kühlen Parkettboden. „Ich komme gleich.“

***

Zwei Minuten später betrat Nick die Wohnküche, wo es bereits nach Kaffee duftete. Der Traum lag ihm noch schwer im Magen, dennoch ließ er sich nichts anmerken und gab sich cool wie immer. Vanessa stand bereits fertig angezogen an der Arbeitsplatte und goss Milch in ihre Cornflakes. Das kastanienbraune, glatte Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der den Stoff ihrer weißen Bluse streifte. Ein Blick auf ihren hübschen Hintern, der in einer engen Jeans verpackt war, verbesserte Nicks Laune schlagartig. Das Einzige, das störte, waren ihre rosa Plüschschlappen in Schweinchenform. Immer steckten ihre Füße in diesen grässlichen Dingern, wenn sie zuhause war. Er grinste bei dem Gedanken, sie würde vergessen, die Hausschuhe auszuziehen und damit zur Arbeit fahren. Aus dem Radio schmetterte irgendeine Schnulze, die sie leise mitsummte, zur Begleitung gluckerte die Kaffeemaschine.

Nick strich sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht, doch sofort fielen ihm die widerspenstigen Strähnen wieder in die Augen.

„Morgen, Süße.“

„Guten Morgen, Nick.“ Vanessa warf ihm einen Blick über die Schulter zu. Ihre braunen Rehaugen blieben zwei, drei Sekunden an seinem nackten Oberkörper hängen und wanderten dann hinunter zu seinen hellblau karierten Boxershorts.

Er lachte leise. „Warum begießt du denn die Arbeitsplatte mit Milch? Bringt dich mein Anblick so durcheinander?“, fragte er mit einem überheblichen Grinsen im Gesicht.

Vanessa fluchte, setzte die Milchtüte ab und schnappte sich einen Lappen von der Spüle, um die Sauerei zu beseitigen. Ihre Wangen hatten einen leichten Rotton angenommen.

„Verdammt noch mal, Nick! Kannst du dir morgens nicht ein Mal etwas anziehen?“ Sie schüttelte den Kopf, sodass ihr Pferdeschwanz wild hin und her schwang, und schaltete die Kaffeemaschine aus. Nick zuckte unschuldig mit den Schultern, tappte barfuß zum Tisch und setzte sich.

„Warum? Dir gefällt doch, was du siehst, oder?“ Er gähnte herzhaft und lachte in sich hinein. Er fand es süß, dass er Vanessa nach all der Zeit immer noch nervös machen konnte. War sie doch sonst in allem was sie tat unglaublich beherrscht und diszipliniert. Manchmal wirkte sie beinahe zu ernst und erwachsen mit ihren vierundzwanzig Jahren.

Vanessa verdrehte die Augen, nahm ein paar leere Tassen aus dem Oberschrank und stellte sie zusammen mit der Kaffeekanne auf den Tisch. Dann ließ sie sich ihm gegenüber nieder, schenkte ihm eine Tasse voll und schob sie über die Tischplatte.

„Du bist ein unverbesserlicher, arroganter Schnösel!“, erwiderte sie streng, dann wurde ihr Gesichtsausdruck etwas weicher, fast liebevoll. „Sei froh, dass ich dich so gern hab. Aber wann wirst du endlich mal erwachsen?“

„Tja, wie wäre es denn mit einem heißen Date, bei dem Sie mir demonstrieren, was genau für Sie erwachsen sein heißt, Frau Doktor?“, fragte Nick, wobei er das Wort „Doktor“ absichtlich betonte und dabei mit den Augenbrauen wackelte. „Das könnte sehr lehrreich werden.“

Vanessa war Krankenschwester, er neckte sie manchmal, indem er sie zur Frau Doktor machte. In ihrer weißen Kleidung sah sie echt scharf aus. Sie lachte auf, neigte sich vor und strich Nick eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Da kannst du warten, bis du schwarz wirst, Don Juan. Ich bin mir sicher, es finden sich genügend kleine Mädchen, die mit dir um die Häuser ziehen und Doktor spielen wollen. Ich bin zu alt für so etwas.“

Vanessa ließ ihn regelmäßig abblitzen. Vielleicht kannten sie sich einfach schon zu gut, im Laufe der Zeit war sie wie eine große Schwester für ihn geworden. Dennoch nagte es an seinem Ego, dass sie ihm nicht einmal eine klitzekleine Chance gab. Nick schüttelte lachend den Kopf, schnappte sich den Zucker und ließ ihn langsam in den Kaffee rieseln.

„Du bist nur vier Jahre älter als ich, Süße. Außerdem stehe ich auf reifere Frauen“, antwortete er und blickte ihr absichtlich tiefer in die Augen als nötig war. Insgeheim fuhr sie doch auf ihn ab – sie wusste es nur noch nicht. Vanessa wollte gerade etwas erwidern, als Robert in lila Shorts in die Küche marschierte. Nick starrte ungläubig auf Spongebob, der auf der Vorderseite abgebildet war, stöhnte theatralisch auf und hielt sich eine Hand vor die Augen. Vanessa seufzte resigniert und beugte sich so tief über ihren Kaffee, dass Nick befürchtete, sie wolle sich darin ertränken.

„Wenn Mike jetzt auch noch in Unterhosen hereinspaziert, ziehe ich aus, ich schwör’s euch. Könnt ihr nicht einmal etwas Rücksicht auf mich nehmen?“, klang es dumpf aus der Kaffeetasse. Robert zuckte entschuldigend die Achseln. Er besaß die Angewohnheit, sich erst nach dem Frühstück anzuziehen, da er Angst hatte, sich mit Kaffee oder Marmelade zu bekleckern. Nick warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Oh Mann, Robert! Willst du, dass ich Augenkrebs bekomme? Was soll diese schwule Unterhose und was hat Spongebob auf deinem Schwanz zu suchen?“

Vanessa stieß einen erstickten Laut aus, während sich Robert unbeeindruckt setzte. Sein langes, feuerrotes Haar, das noch feucht vom Duschen war, streifte die Tischplatte, als er sich vorneigte, um eine Tasse zu nehmen.

„Kann ja nicht jeder so perfekt sein wie du, Sonnenschein“, stichelte er grinsend zurück. „Unsereiner muss sich schon etwas Besonderes einfallen lassen, um einmal so im Mittelpunkt zu stehen.“

„Neidisch, Sommersprosse?“, entgegnete Nick herausfordernd. „Mit deiner Unterwäsche kannst du höchstens die alten Weiber im Krankenhaus bezirzen, die gehen bestimmt ab wie Raketen.“

„Nick!“ Vanessa verschluckte sich an ihrem Kaffee und schüttelte den Kopf. „Zumindest trägt Robert ein T-Shirt … im Gegensatz zu dir.“ Sie wusste, dass Robert und Nick sich nicht wirklich zankten, aber manchmal nahm sie alles viel zu ernst. Robert arbeitete im Krankenhaus als Pfleger auf derselben chirurgischen Station wie Vanessa. Durch sie hatte er vor einem Jahr das Zimmer in der WG bekommen.

Nick zuckte mit den Schultern und seufzte. „Wie dem auch sei – ich würde liebend gern über Spongebob quatschen, aber ich muss mir noch schnell die Haare waschen. Wartet auf mich, okay?“

Vanessa erhob sich und räumte ihre Tasse weg.

„Wenn du in zehn Minuten nicht da bist, fahren wir, das ist mein Ernst. Ich nehme dich gerne im Auto mit, wenn ich Tagschicht habe, aber dann musst du zeitig aufstehen und nicht wie eine Diva stundenlang im Bad stehen.“

„Ja, ja. Ich beeile mich. Versprochen.“ Nick stand auf und bemerkte Roberts Blick, als er den Raum verließ. Starrte er ihm schon wieder auf den Hintern, oder bildete er sich das nur ein? Aus Robert wurde er nicht schlau. In der WG war er aufgeschlossen und durch seine ruhige, freundliche Art ein angenehmer Zeitgenosse, doch aus seinem Privatleben wusste niemand mehr, als dass seine Eltern irgendwo in München lebten und er einen Halbbruder hatte. Keiner in der Wohngemeinschaft kannte seine Familie, bei der er seine freien Tage verbrachte. Robert erzählte kaum etwas von sich oder seiner Vergangenheit, so sehr er auch mit Fragen gelöchert wurde. Aber bei Nick ahnte ja auch niemand, was er in Wahrheit für eine kaputte Beziehung zu seiner Mutter hatte. Er spielte ihnen eine heile Welt vor, die zu seinem perfekten Image passte. Nicht einmal Mike, sein bester Freund wusste, was wirklich in ihm vorging.

***

Gerade als Nick ins Bad wollte, kam Mike aus seinem Zimmer nebenan. Er gähnte und rieb sich die Augen.

„Morgen, Mike.“ Nick deutete auf die schwarze Unterhose seines besten Freundes. „Ich an deiner Stelle würde mir lieber etwas anziehen, Vanessa ist heute nicht gut auf Unterwäsche zu sprechen“, warnte er ihn vor und setzte dabei eine betont ernste Miene auf.

„Hä? Wie meinst du das?“ Mike fuhr sich mit der Rechten durch sein verstrubbeltes, kurzes Haar und warf einen prüfenden Blick an sich hinunter.

„Schau dir Roberts Shorts an und du verstehst, was ich meine“, gluckste Nick und zeigte auf die Badezimmertür. „Macht es dir was aus, wenn ich vor dir schnell unter die Dusche springe? Ich bin scheißspät dran, Vanessa killt mich, wenn ich nicht in zehn Minuten in ihrem Auto sitze.“

„Zehn Minuten?!“ Mike sah auf seine Armbanduhr und schüttelte lachend den Kopf. „Kauf dir schon mal die U-Bahn Tickets, Kumpel. Du kriegst es wohl nie auf die Reihe, pünktlich aufzustehen, oder?“

„Du hast ja auch gut reden mit deinem Job. Wenn ich erst um neun anfangen und dann nur ein paar Anzeigen aufnehmen und in den Computer tippen müsste ...“

„Dann würdest du erst um halb neun aufstehen und auch nicht fertig werden“, beendete Mike Nicks Satz. „Mach du nur dein Studium, Sportskanone, damit wenigstens aus dir etwas Anständiges wird. Na gut, ich hol meine Jeans und du beeilst dich lieber.“ Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Badezimmertür.

„Okay, danke.“

Sie grinsten sich verschwörerisch an, bevor Nick eilig ins Badezimmer huschte. Er war froh, dass Mike heute offensichtlich gut drauf war. Seit ihn seine Freundin vor ein paar Wochen wegen eines anderen Kerls hatte sitzen lassen, barg jeder Tag mit ihm eine neue Überraschung. Wenn er arbeiten musste, ging es noch einigermaßen. An den Wochenenden jedoch betrank er sich regelmäßig, war immer häufiger in Schlägereien verwickelt und kam erst nach Hause, wenn es bereits hell wurde. Die Trennung hatte Mike völlig aus der Bahn geworfen. Er konnte froh sein, dass sein Chef zugleich ein guter Freund war und Verständnis für Mikes Zustand zeigte. Nick rief sich den letzten Samstag in Erinnerung, als er ihn sturzbesoffen aus einem Club herauszerren musste und mitten in eine Schlägerei geraten war. Der Bluterguss an seinem Arm schmerzte immer noch, aber Mike war sein bester Freund. Er machte sich Sorgen um ihn, doch der Sturkopf ließ sich nicht helfen. Die Einzige, auf die er manchmal hörte, war Vanessa. Mit ihrer ruhigen und zugleich bestimmenden Art hatte sie ihn schon in manchen Situationen zur Vernunft bringen können, in denen Robert und Nick völlig überfordert waren. Sie waren schon ein merkwürdiger Haufen, aber die WG war Nicks Familie, und er konnte sich ein Leben ohne Mike, Vanessa und Robert nicht mehr vorstellen.

***

Nick stieg aus der Dusche, trocknete sich ab und blickte in den Spiegel. Kritisch betrachtete er seinen Bizeps und die Brust- und Bauchmuskeln, die sich deutlich abzeichneten. Das waren die angenehmen Nebeneffekte eines Sportstudiums.

Als es energisch an der Tür klopfte, fuhr er zusammen.

„Nick, bist du endlich fertig? Wir fahren jetzt!“

„Ich komme gleich!“

„Aber ich sagte doch …“

Das laute Föhngeräusch verschluckte den Rest von Vanessas Worten. Als Nicks Haare trocken waren, raffte er sie im Nacken und wickelte ein Gummiband darum, die etwas kürzeren Strähnen an den Seiten klemmte er sich locker hinters Ohr. Nicks Spiegelbild musterte ihn mit einem zufriedenen Grinsen. Dank Bleaching waren seine Zähne weiß, wie die von Dr. Best. Er schlüpfte in seine Jeans und zog ein schwarzes Hemd über, bevor er einen Blick auf seine Armbanduhr warf.

„Oh oh … Scheiße!“ Nick riss die Tür zum Bad auf und nahm den Teppich aus dem Flur ein Stück mit, als er in die Küche schlitterte. Außer Mike, der am Tisch saß und in seinem Kaffee rührte, war niemand mehr da. Er musterte Nick und rollte mit den Augen.

„Du lernst es wohl nie.“

„Verflucht! Oh Mann, manchmal geht mir ihre Überpünktlichkeit tierisch auf den Sack!“ Nick surfte auf dem Teppich zurück in den Flur. „Bis später!“ Er riss seinen Anorak vom Haken der Garderobe und warf die Tür hinter sich zu. Es regnete. Perfekt! Nick verzog das Gesicht und stieß einen Fluch aus. Der Oktoberwind schlug ihm feucht und kalt entgegen, sein Atem stieg in kleinen Dunstwölkchen vor seinem Gesicht auf. Bis er bei der U-Bahn war, würde er aussehen wie eine nasse Ratte.

Zwei Sekunden später schloss er die Tür wieder auf und rannte wie ein Irrer in sein Zimmer, um seine vergessene Tasche zu holen.

„Wegen fünf Minuten hätten sie wirklich noch warten können! Jetzt komme ich zu spät und meine Haarwäsche war auch für’n Arsch!“

Nick hörte Mike noch glucksen, bevor er die Tür zuschlug. Vanessa besaß als Einzige in der WG ein Auto und jeder genoss es, von ihr mitgenommen zu werden.

***

Der Vortrag über Sportphysiologie hatte bereits begonnen, als Nick abgehetzt die Uni erreichte. Als die Tür zum Hörsaal lauter als beabsichtigt hinter ihm zufiel, richteten sich sämtliche Augenpaare auf ihn. Für gewöhnlich genoss er ja Aufmerksamkeit, aber hier im Saal und mit nassen Haaren, die ihm teilweise im Gesicht klebten, war ihm das megapeinlich. Mit heißen Ohren eilte Nick die Stufen hinauf und hielt Ausschau nach einem freien Platz. Er entdeckte Tom, einen seiner Kommilitonen und setzte sich rasch neben ihn. Tom warf ihm einen amüsierten Blick zu und schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.

Nick war so aufgekratzt und genervt, dass er froh war, sich im anschließenden aktiven Sportunterricht austoben zu können. Nach zwei Stunden Basketball war er ein ganz anderer Mensch. Nick brauchte den Sport wie die Luft zum Atmen. Er wollte seine Muskeln spüren, schwitzen, bis ihm der Schweiß aus allen Poren schoss und seinen Puls in die Höhe treiben, bis ihm die Brust zu bersten drohte. Sport war sein Leben und dieses Studium war immer sein Wunschtraum gewesen. Mitten im dritten Semester war er sich zwar noch nicht ganz sicher, in welche Richtung er sich später spezialisieren wollte, aber auf jeden Fall sollte es ein Beruf sein, in dem er nicht den ganzen Tag an einem Schreibtisch sitzen musste. Sportlehrer auf einem Mädchengymnasium zum Beispiel wäre vermutlich nicht der schlechteste Job auf dieser Welt, doch wenn er tatsächlich auf Lehramt studieren wollte, würde er sich bald entscheiden müssen.

***

Nach einer ausgiebigen Dusche betrat Nick mit Tom die Mensa, um eine Kleinigkeit zu essen, bevor es in die zweite Halbzeit ging.

Es dauerte nicht lange, da schwebte Jessy mit ihrer Freundin Alexandra an ihren Tisch und ließ sich dicht neben Nick nieder. Jessys Schultern berührten seinen Oberarm, sie klimperte mit ihren langen, blau bemalten Wimpern. Er sah ihr an, dass sie scharf auf ihn war, und genoss die Aufmerksamkeit.

„Hi Nick“, hauchte sie, während sie sich so weit nach vorne neigte, dass ihre großen Brüste fast aus dem Dekolleté sprangen. Nick fragte sich immer wieder, wie sie mit diesen Medizinbällen Sport studieren konnte. Ein aufdringlicher, blumiger Parfümduft wehte zu ihm herüber, als sie ihr langes Haar zurückwarf. „Alles in Ordnung, Süßer?“, fragte sie, während sie die blonde Mähne zusammenraffte und ein Gummiband darum wickelte.

Nick starrte sie einen Moment an und überlegte, ob er sie mal wieder vögeln sollte. Die Frau war unersättlich und besaß die Ausdauer einer professionellen Dressurreiterin. Ihre nackten, üppigen Brüste tauchten vor seinem geistigen Auge auf – auf und ab wippend, direkt vor seinem Gesicht.

Jessy schnippte mit den Fingern vor Nicks Nase, ihre pink lackierten Nägel erinnerten ihn daran, wie zerkratzt sein Rücken nach ihrem letzten Techtelmechtel gewesen war. „Gott, siehst du süß aus, wenn du träumst. Sind es unanständige Träume?“ Ihr schrilles Lachen holte ihn endgültig zurück in die Realität. Er zuckte mit den Schultern und warf ihr seinen geübten Sexy-Nick-Blick zu.

„Wer weiß ...“, antwortete er geheimnisvoll, während er ihr zuzwinkerte. Sie tauschte einen Blick mit ihrer Freundin, worauf sie kicherten wie kleine Mädchen. Alexandras Wangen waren leicht gerötet, während sie Nick interessiert in Augenschein nahm. Er warf ihr eindeutige Blicke zu und war froh, dass er sofort für klare Verhältnisse zwischen Jessy und sich gesorgt hatte. Sie war gottseidank auch keines von den Mädels, die einem nach einer gemeinsamen Nacht nicht mehr von der Pelle rückten und meinten, Besitzansprüche geltend machen zu müssen. Sie war manchmal etwas aufdringlich und anstrengend, aber im Bett war sie eine Granate und sie gab ihm das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

***

Nick hasste den Montag, denn dieser Tag war der anstrengendste und längste in der Woche. Er jobbte neben der Uni in einem Fitnessstudio, um sich seinen Lebensunterhalt und das Studium leisten zu können. Nick bezog zwar BAföG, doch um über die Runden zu kommen, ging es nicht ohne Job. Von seiner Mutter konnte er keine finanzielle Hilfe erwarten, die steckte ihr Geld lieber in ihren jungen Liebhaber.

***

Es war bereits dunkel, als Nick entnervt und abgehetzt aus der U-Bahn stieg. Der Regen war stärker geworden. Er wollte nur noch nach Hause und bequeme Klamotten anziehen. Nick hielt sich die Tasche über den Kopf, damit seine Haare nicht wieder nass wurden, sah sich kurz um und hetzte über die Straße. Im nächsten Moment vernahm er das Quietschen von Reifen und starrte in zwei Scheinwerfer, die knapp vor ihm zum Stehen kamen. Vor Schreck ließ er seine Tasche fallen, sprang zur Seite und blickte sich mit rasendem Herzschlag nach dem Wagen um. Eine dunkelhaarige Frau saß am Steuer, ihr Gesicht konnte er nicht genau erkennen. Die Beifahrertür öffnete sich und ein junger Mann stieg aus.

„Sag mal, geht’s noch? Rot heißt stehen bleiben, schon mal etwas davon gehört?“ Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben, seine dunklen Augen fixierten Nick hektisch. Nick war für einige Sekunden wie gelähmt, sein Puls raste. Der junge Mann kam ein Stück näher und hob schimpfend Nicks Tasche auf. Als er Nick jedoch direkt ansah, verstummte er und sein Blick wurde etwas weicher. „Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er in ruhigerem Ton, während er ihm die Tasche reichte. In diesem Moment erwachte Nick aus seiner Starre, Wut stieg in ihm auf. Wie redete der Kerl eigentlich mit ihm? Er riss ihm die Tasche aus der Hand und funkelte ihn böse an.

„Reg dich ab, Mann! Ihr hättet auch besser aufpassen können!“

Zwei

Katsuro nahm seine Reisetasche und den Rucksack von der Rückbank, schlug die Wagentür zu und eilte zur Fahrerseite, um sich zu verabschieden. Seine Mutter wirkte etwas blass um die Nase, als sie ausstieg.

„Ist wirklich alles in Ordnung, Mama?“

„Ja, ich bin nur erschrocken, als der junge Mann wie aus dem Nichts auftauchte. Ist ja zum Glück nichts passiert.“

„Er war selbst schuld. Schließlich hatte dieser Idiot rot.“

Sie zuckte mit den Schultern, Regen tropfte ihr von den Haaren ins Gesicht. Auch wenn sie es zu verbergen versuchte, in ihren braunen Augen konnte Katsuro ihre Besorgnis ablesen.

„Na? Aufgeregt?“, fragte sie leise.

Er schüttelte den Kopf. „Quatsch. Ein Tag wie jeder andere.“

Sie lachte und zwinkerte ihm aufmunternd zu. Er konnte ihr nichts vormachen, schließlich war sie seine Mutter und kannte ihn besser als jeder andere Mensch.

„Du wirst dich schnell eingewöhnen und Anschluss finden. Vanessa scheint eine nette, junge Frau zu sein. Ich bin gespannt, was du uns am Wochenende zu erzählen hast.“

Katsuro zwang sich zu einem Lächeln. „Ja, ich auch. Hier ist alles so anders als in Tokio. Sehr gewöhnungsbedürftig.“

Sie hob die Hand und strich ihm eine feuchte Strähne aus der Stirn. Ihre Hand war warm und vertraut.

„So fremd wird das alles gar nicht für dich sein – du warst doch schon so oft in Deutschland. Und jetzt rein mit dir, du wirst ja ganz nass.“

„Danke fürs Fahren, Mama. Wir sehen uns am Samstag, okay?“

„Wir sind zu Hause, wenn du kommst.“ Sie umarmten sich, und seine Mutter küsste ihn auf die Wange, bevor sie sich in den Wagen zurück setzte und den Motor anließ.

„Sayonára, Katsuro. Bis in ein paar Tagen!“

„Sayonára!“ Er schlug die Tür zu und wartete, bis sie vorne an der Ampel abbog, dann wandte er sich um und blickte an der weißen Fassade des fünfstöckigen Gebäudes hinauf, in dem er ab heute wohnen würde. Der Regen prasselte unaufhörlich auf sein Gesicht nieder und lief ihm am Hals entlang in den Kragen seiner Jacke. Wenn man aus einer Metropole wie Tokio kam, erschienen einem die Häuser hier teilweise wie Streichholzschachteln. Den Rucksack über der Schulter und die Reisetasche in der Rechten ging er auf die gläserne Eingangstür zu und suchte nach dem richtigen Klingelschild.

***

Im zweiten Stock erwartete ihn eine junge, dunkelhaarige Frau bereits in der offen stehenden Tür. Vanessa. Er hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Irgendwie … blonder. Warum waren deutsche Mädchen in seiner Vorstellung fast immer blond? Vanessa war sehr hübsch. Sie hatten ein paar Mal miteinander gemailt und telefoniert, nachdem er sich auf die Anzeige wegen der WG gemeldet hatte.

„Katsuro?“

„Hi, du musst Vanessa sein.Schön, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen.“ Katsuro streckte ihr die Hand entgegen und deutete eine leichte Verbeugung an, wie er es von zuhause gewöhnt war.

„Herzlich willkommen, Katsuro.“ Sie machte keine Anstalten, seine Hand wieder loszulassen, sondern starrte ihn stattdessen verzückt an.

„Ähm … darf ich reinkommen?“, fragte er nach einer Weile freundlich, woraufhin ihr Blick wieder nüchtern wurde und sie endlich den Griff löste.

„Oh ja, natürlich, entschuldige. Du bist ja ganz nass.“ Sie trat zur Seite und machte eine einladende Geste, als ein junger Mann hinter ihm den Hausflur entlang gehetzt kam. Dank des blauen Anoraks und seines blonden Zopfes erkannte Katsuro in ihm den Verrückten von vorhin wieder. Er hatte rosige Wangen von der Kälte und sein weizenblondes Haar hing ihm nass ins Gesicht.

***

Nick stockte der Atem und seine Schritte wurden langsamer, als er der Kerl von vorhin im Türrahmen stehen sah. Einen winzigen Moment dachte er, er wäre wegen des Unfalls hier, doch dann sah er die Reisetasche, die neben ihm auf dem Boden stand. Der Typ blickte ihn überrascht an, sagte jedoch nichts. Jetzt im grellen Licht des Hausflurs erkannte Nick die markanten Züge seines Gesichts besser. Seine dunklen Augen hatten die Form von Mandeln, sein Haar war tiefschwarz. Vanessa hatte erwähnt, dass ihr neuer Mitbewohner Halbjapaner war und aus Tokio kam. Hoffentlich hielt er die Klappe wegen vorhin! Nick war jetzt schon sicher, dass er ihn nicht mögen würde.

„Hallo Nick, du kommst gerade rechtzeitig!“ Vanessa winkte ihm.

„Vielen Dank fürs Warten heute Morgen!“, antwortete er bissig und warf dem Fremden einen feindseligen Blick zu. Vanessa ignorierte seinen Tonfall. Ihre Wangen waren gerötet, sie zupfte nervös am Kragen ihrer Bluse.

„Darf ich dir Katsuro vorstellen? Ich hab dir ja schon von ihm erzählt, er studiert genau wie du Sport.“

„Freut mich, Nick.“ Katsuro streckte die Hand zum Gruß aus. Er tat so, als hätten sie sich noch nie gesehen, doch sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Er hielt ihn wohl für den größten Trottel auf Erden. Was bildete sich dieser Idiot überhaupt ein? Nick sah ihn ein, zwei Sekunden abschätzend an und reichte ihm dann widerwillig die Hand.

„Hi“, entgegnete er frostig. Seine Stimmung war auf dem Nullpunkt. „Entschuldigt, aber ich bin müde und bis auf die Haut durchnässt. Ich glaube, ich lass mir erstmal ein heißes Bad ein.“

Nick entnahm Vanessas Blick, dass sie ihn in diesem Moment am liebsten erwürgt hätte, doch Katsuro gegenüber ließ sie es sich nicht anmerken.

„Ja mach das“, antwortete sie knapp, bevor sie sich wieder an Katsuro wandte.

„Komm, ich geb’ dir erstmal ein Handtuch zum Abtrocknen und dann zeig ich dir dein Zimmer, damit du deine Sachen abstellen kannst.“

***

Katsuro blickte Nick irritiert nach, als dieser sich ohne ein weiteres Wort zurückzog. Er zog seine Schuhe aus und hängte seine Jacke an die Garderobe im Eingangsbereich.

„Wir müssen durch das Wohnzimmer.“ Vanessa deutete ihm mit einem Kopfnicken an, dass er ihr folgen sollte. Sie betraten einen gemütlichen, hellen Raum, der direkt mit der Küche verbunden war. Ein junger Mann mit blasser Haut und roten, langen Haaren stand vom Sofa auf und kam auf sie zu.

„Robert, das ist Katsuro, unser neuer Mitbewohner.“

„Hallo Katsuro. Ich hoffe, du wirst dich bei uns wohlfühlen“, begrüßte Robert ihn freundlich, während er Katsuro die Hand reichte. Er war ausgesprochen hübsch für einen Mann, was sicher an seinen eher androgynen Gesichtszügen lag. Die vielen winzigen Sommersprossen auf seiner Nase machten ihn noch sympathischer – im Gegensatz zu diesem blonden Racheengel von eben.

Wenn der immer so drauf war …

***

„Jetzt fehlt eigentlich nur noch Mike, dann sind wir komplett.“ Vanessa reichte ihm ein Handtuch und zeigte auf eine von zwei Türen. „Das rechte Zimmer ist deines, in dem daneben wohnt Nick. Stell erstmal deine Sachen ab und sieh dich um, nachher können wir zusammen essen.“ Katsuro nahm das Handtuch dankend entgegen und trocknete sich die Haare ab. Vanessa öffnete die Tür zu einem teilweise möblierten Raum. „Das Bett und den Schrank hat unsere ehemalige Mitbewohnerin da gelassen. Du kannst die Möbel natürlich rauswerfen und etwas Eigenes kaufen, aber ich finde sie eigentlich ganz schön.“

Das Bett bestand aus einem einfachen, schwarzen Metallgestell, der dreitürige Schrank hatte schwarze Sprossen und in der Mitte einen Spiegel. Katsuro schlang sich das Handtuch um den Nacken.

„Ich finde die Möbel auch in Ordnung. Nächstes Wochenende werde ich meinen Schreibtisch und ein Bücherregal herbringen lassen, mehr brauche ich erstmal nicht.“

„Klar, mach das.“ Vanessa legte eine Hand auf seinen Arm. „Ich lass dich mal alleine, dann kannst du in Ruhe deinen Schrank einräumen und so. Das Bett hab ich dir frisch überzogen.“

„Das ist nett von dir, Vanessa. Bettwäsche hab ich völlig vergessen.“

Sie lachte auf. „Kein Problem, wir haben ja genügend da. Es gibt gleich Abendbrot, okay?“

„Ja, bis gleich.“ Katsuro lächelte Vanessa an. Wieder wurden ihre Wangen rot, als sie seinem Blick begegnete. Als wäre ihr dies bewusst geworden, wandte sie sich rasch ab und verließ das Zimmer. Katsuro setzte sich auf das Bett und sah sich um. Das war also nun sein neues Zuhause – zumindest unter der Woche. Na ja, seine persönlichen Sachen würden das Ganze schon wohnlicher werden lassen. Das Wichtigste war erstmal, dass er sich hier wohlfühlte und mit seinen Mitbewohnern verstand. Vanessa war sehr nett und bei Robert hatte er auch ein gutes Gefühl. Mike kannte er noch nicht und Nick konnte er überhaupt nicht einschätzen. Katsuro konnte ja verstehen, dass er sich wahrscheinlich schämte, wegen des „Beinahe-Unfalls“ vorhin, aber das war doch kein Grund, so unfreundlich und genervt zu sein.

Er räumte seine Klamotten in den Kleiderschrank, packte seine Tasche für den ersten Tag an der Uni und ging dann wieder hinüber in das Wohnzimmer. Vanessa und Robert deckten gerade den Tisch, als Nick in einer Jogginghose und einem eng anliegenden, grauen T-Shirt den Raum betrat. Sein Haar war offen und noch feucht. Man sah sofort, dass er Sportler war, kein Gramm Fett war neben den Muskeln auszumachen, breite Schultern und eine schmale Taille betonten seinen trainierten Körper. Er war sehr attraktiv, sein Gesicht war ebenmäßig und gepflegt. Es war kaum zu glauben, dass dieser Traum von einem Kerl so mies gelaunt sein konnte.

„Komm, setz dich zu uns, Katsuro.“ Vanessa deutete auf einen Stuhl und lächelte ihm freundlich zu. Sie und Robert setzten sich neben Katsuro, doch Nick würdigte ihn keines Blickes und nahm stumm gegenüber Platz.

***

Während Vanessa Katsuro in die WG-Regeln einweihte und ihm erklärte, wer wie was bezahlt, einkauft und den Haushalt führt, trank Nick sein Mineralwasser und beobachtete den neuen Mitbewohner über den Rand seines Glases hinweg. Er brauchte nicht lange überlegen, warum Vanessa so nervös war. Der Kerl sah unverschämt gut aus, ein Grund mehr, ihn nicht zu mögen. Katsuro löste Wut und schlechte Laune in ihm aus, er konnte nichts dagegen machen.

Vanessa reichte Katsuro den Brotkorb.

„Warum seid ihr nach Deutschland gezogen, Katsuro? Und was machst du sonst so, außer dem Studium?“

Katsuro nahm sich ein Brötchen und nickte ihr dankbar zu. Sein Grinsen offenbarte zwei makellose, weiße Zahnreihen. Vanessa lächelte zurück, ihre Wangen färbten sich dunkelrot. Hey, das waren Nicks rote Wangen!

„Ja, also ich bin mit meinen Eltern und meiner jüngeren Schwester vor drei Wochen aus Tokio nach Rosenheim gezogen, weil mein Vater zusammen mit meinem Onkel dort eine Schule für Karate leiten wird. Die Schule gehörte meinem deutschen Großvater, der vor drei Monaten überraschend verstorben ist.“

„Oh, das tut mir leid“, sagte Vanessa betroffen. Einen Moment glaubte Nick, sie würde Katsuro an ihre Brust reißen und tröstend über sein Haar streicheln.

„Mein Onkel bat meinen Vater, ihm zu helfen, da er alleine mit der Schule überfordert wäre.“ Katsuros Blick wanderte über die neugierigen Gesichter und blieb an Nick hängen. Die dunklen Mandelaugen durchbohrten ihn förmlich. Nick zog die Brauen zusammen und schickte ihm seinen Todesblick, doch es schien ihn nicht zu beeindrucken. Der Typ kapierte offenbar nicht, dass er nervte.

„Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Japaner. Meine Schwester und ich waren schon häufiger in Deutschland zu Besuch, trotzdem ist vieles noch sehr ungewohnt für mich.“

„Das glaube ich dir.“ Vanessa lächelte ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Bewunderung an. In den letzten zwanzig Minuten hatte sie mehr gelächelt als sonst in einem halben Jahr.

„Mein Vater leitet seit Jahren Karate-Lehrgänge in ganz Europa – viele davon in Deutschland“, fuhr Katsuro fort. „Unsere gesamte Familie übt diesen Sport schon seit mehreren Generationen aus.“ Katsuro machte eine kurze Pause, es herrschte völlige Stille am Tisch, jeder lauschte gebannt seinem Gesäusel.

„Hast du den schwarzen Gürtel?“, wollte Robert plötzlich wissen. Der Glanz in seinen Augen und das zunehmende Interesse seiner Freunde störten Nick gewaltig. Außerdem sprach Robert doch sonst auch nur das Nötigste.

„Den Schwarzgurt. Ja, den habe ich, seit ich elf bin.“ Karate Tiger nickte, während er Butter auf sein Brot schmierte. Warum machte das nicht Vanessa für ihn?

Vanessa seufzte entzückt, Robert nickte anerkennend. Langsam wurde Nick richtig sauer. Er riss sich seit Monaten den Arsch bei sämtlichen Sportkursen auf und spielte im Basketball alle an die Wand – hatte er je ein Referat darüber halten dürfen? Dieser Vollidiot war gerade mal zwei Stunden hier und machte mit seinem Karatescheiß einen riesigen Aufstand. Gleich würde er noch eine Vorstellung geben. Nick hasste Kampfsport plötzlich und bereute es, sich in diesem Semester für einen Selbstverteidigungskurs angemeldet zu haben. Er merkte, wie albern das war, aber sein Ärger überwog in diesem Moment.

Robert räusperte sich. „Das hört sich sehr interessant an. Vielleicht könntest du uns ja mal etwas zeigen?“

Nick ballte die Fäuste unter der Tischplatte und biss sich auf die Zunge, um seinen Wutausbruch möglichst lange hinauszuzögern.

„Man hört kaum einen Akzent, Katsuro. Bemerkenswert“, setzte Vanessa beeindruckt fort.

„Danke. Na ja, meine Mutter hat darauf bestanden, dass wir zweisprachig aufwachsen.“

Nick kochte mittlerweile. Er hätte gerade einen akuten Erstickungsanfall oder sonst etwas erleiden können, niemand am Tisch hätte es bemerkt.

Im Flur wurde die Wohnungstür aufgeschlossen, einen Augenblick später betrat Mike das Wohnzimmer. Er sah blass und abgehetzt aus, dunkle Ränder zeichneten sich unter seinen Augen ab.

„Hi Leute. Oh Mann, was für ein Scheißtag heute. Ich bin fix und alle.“ Als er näher trat, fiel sein Blick auf Katsuro. „Oh hey, unser neuer Mitbewohner, oder?“

„Ja Mike, das ist Katsuro.“ Vanessa erhob sich, um einen Teller und ein Glas aus dem Schrank zu holen. „Wir hatten keine Ahnung, wann du heute nach Hause kommst.“

Mike trat näher und reichte Katsuro die Hand.

„Freut mich. Du kommst aus Japan, richtig?“

Katsuro nickte. „Ja, aus Tokio. Ich habe dort mein Sportstudium begonnen und werde hier in München damit weitermachen.“

Mike deutete mit dem Kinn auf Nick. „Da kann dir unser Sonnenschein bestimmt etwas unter die Arme greifen, er studiert auch Sport.“

Nick klappte den Mund auf, beinahe wäre ihm die Essiggurke entwischt, auf der er gerade lustlos herumkaute. Warum musste Mike das ausgerechnet jetzt erwähnen? Er kaute aggressiv weiter, während er seinem besten Freund einen finsteren Blick zuwarf. Mike hob fragend die Augenbrauen und setzte sich. Vanessa reichte ihm ein Glas und deutete auf den Teller, doch Mike schüttelte den Kopf.

„Danke, ich hab keinen Hunger.“

In letzter Zeit fiel auf, dass Mike kaum noch etwas aß. Er hatte an Gewicht verloren, wirkte ausgemergelt und blass. Nick wusste, dass er momentan aus Kummer mehr Alkohol trank als sonst. In letzter Zeit kam es immer häufiger vor, dass er sogar nach der Arbeit noch in eine Kneipe ging, um sich zu besaufen. Nick lehnte sich unauffällig zu ihm hinüber, indem er sich etwas Brot nahm, konnte aber keinen Alkoholgeruch feststellen.

„Mike, du musst doch mal etwas essen.“ Vanessa neigte sich vor und musterte ihn forschend. „Du siehst gar nicht gut aus. Alles in Ordnung?“

Mike starrte abwesend auf die Tischplatte. Als ihn Vanessa erneut ansprach, zuckte er zusammen.

„Was? Ja, ja … Klar ist alles in Ordnung. Ich muss nur kurz ...“ Plötzlich sprang er so ruckartig auf, dass er fast den Stuhl umwarf. „Ich hab ganz vergessen ...“ Mike eilte fluchtartig aus dem Wohnzimmer, kurz darauf hörte man eine Tür zuschlagen. Vanessa schüttelte den Kopf.

„Also ich mache mir wirklich Sorgen um ihn. Er hat das mit Julia immer noch nicht verkraftet. Hoffentlich macht er keinen Blödsinn.“

„Das Ganze ist erst ein paar Wochen her. Lass ihm doch ein bisschen Zeit“, warf Nick ein, während sich sein Blick mit dem von Karate-Tiger kreuzte. Dieser glotzte, als würde er nur Bahnhof verstehen.

Mike hatte seine große Liebe Julia in flagranti mit einem anderen erwischt. Diese dumme Kuh hatte es mitten am Tag hier in der WG mit einem Kerl getrieben, weil sie Mike auf der Arbeit glaubte. Der war jedoch früher nach Hause gekommen und völlig ausgetickt. Er hatte den Typen nackt aus dem Bett gezerrt und wie wild auf ihn eingeprügelt. Robert und Nick, die in diesem Moment nach Hause gekommen waren, hatten das Schlimmste verhindern können. Julia hatte ihre Sachen gepackt, hysterisch herumgekreischt und Mike als das größte Arschloch auf Erden beschimpft. Danach war sie zusammen mit diesem Typen abgehauen und wurde nie mehr gesehen. Nick hatte sie von Anfang an nicht gemocht, sie für oberflächlich und dumm gehalten. Aber Mike war verrückt nach ihr und regelrecht blind vor Liebe gewesen.

„Mike hat großen Liebeskummer … ihm geht’s nicht so gut im Moment“, klärte Vanessa Katsuro auf. Nick verzog die Mundwinkel. Was ging das diesen Idioten an?

„Das tut mir leid.“ Katsuro blickte sichtlich betroffen in die Runde. Verständnisvoll war er also auch noch, dieser Mister Perfect. Nick kämpfte gegen den Drang an, Karate-Tiger die Faust in den Magen rammen zu wollen. Vanessa versuchte ein paar Mal das Thema zu wechseln, aber es wollte kein richtiges Gespräch entstehen. Eine ganze Weile aßen sie stumm weiter, wechselten nur die nötigsten Worte. Bei jedem kleinsten Geräusch zuckte Vanessa zusammen und blickte erwartungsvoll zur Wohnzimmertür. Sie machte sich immer um alles und jeden Sorgen. Schließlich hielt es Nick nicht mehr aus und erhob sich.

„Ich sehe mal nach ihm, wenn dich das beruhigt, Vanessa. Aber da ist bestimmt nichts.“

***

In letzter Zeit waren Mikes Stimmungsschwankungen kaum noch auszuhalten. Nick klopfte an seiner Zimmertür, aber es kam keine Antwort. Er hörte etwas poltern und rascheln, dann näherten sich Schritte. Als Mike die Tür aufriss, blickte er Nick mit leeren Augen an und schien etwas neben sich zu stehen.

„Wo bist du denn immer? Was ist nur los mit dir?“, fragte Nick kopfschüttelnd. Mike strich sich fahrig durch das Haar, sein rechter Fuß wippte nervös auf und ab.

„Mach dir nicht ins Hemd, Alter. Bist du mein Babysitter, oder was?“ Er rollte mit den Augen und zuckte mit den Schultern. „Langsam komme ich mir von euch richtig kontrolliert vor – das nervt!“

Nick verschränkte die Arme vor der Brust. „Du benimmst dich momentan auch, als müsstest du kontrolliert werden, Mike. Ich weiß ja, dass es eine schwere Zeit für dich ist, seit Julia ...“

„Ach hör doch auf! Nichts weißt du!“ In Mikes Augen flackerte Zorn auf, er wich einen Schritt zurück. „Und erwähne nie wieder ihren Namen!“

Einen Moment dachte Nick, er würde ihm die Tür vor der Nase zuschlagen. „Könnt ihr mich nicht einfach mal in Ruhe lassen? Ich misch mich ja auch nicht ständig in eure Privatangelegenheiten!“

„Entschuldige, dass wir uns als deine Freunde Sorgen machen“, antwortete Nick gereizt, worauf Mike besänftigend die Hände hob.

„Sorry, war nicht so gemeint. Aber mir geht’s gut … ehrlich.“ Er lächelte gequält. „Ich glaube, jetzt hab ich doch ein bisschen Hunger.“ Mike schloss die Tür hinter sich und wollte zurück ins Wohnzimmer, doch Nick hielt ihn am Arm zurück.

„Was hältst du eigentlich von unserem Neuzugang?“

Mike zuckte mit den Schultern, er schien gar nicht richtig zuzuhören.

„Keine Ahnung. Warum?“

Nick deutete mit einem Kopfnicken grimmig in Richtung Wohnzimmer. „Wenn du mich fragst, ist er ein Arschloch. Der kommt sich doch Gott weiß wie geil vor.“ Er schnaubte abfällig. „Macht Karate – und hat den Schwarzen Gurt – blah, blah, blah. Vanessa benimmt sich wie ein Groupie.“

Mike grunzte. „Hört sich an, als wärst du eifersüchtig, Sonnenschein. Der macht dir aber auch ordentlich Konkurrenz in der Schönheitsskala, pass bloß auf.“

„Jetzt fängst du auch noch an“, brummte Nick und biss die Zähne aufeinander. „Was findet ihr nur alle an dem? Wirst sehen, der bringt nur Ärger.“

Mike schüttelte den Kopf und schob Nick vor sich durch den Flur. „Wie kommst du denn auf diesen Quatsch? Jetzt warte doch mal ab, wir müssen ihn doch erst richtig kennenlernen.“

„Danke, das, was ich von ihm kenne, reicht mir schon.“

***

„Geht es dir gut, Mike?“ Vanessa sah ihn fragend an, als sie zurück ins Wohnzimmer kamen.

„Ja klar. Ich werde jetzt auch ein bisschen was essen.“ Mike setzte sich und blickte mit einem übertriebenen Grinsen in die Runde. „Sagt mal, was haltet ihr davon, wenn wir Katsuro nach dem Essen noch unsere Stammkneipe zeigen? Nur ein Stündchen, auf einen Willkommensdrink?“

Vanessa schüttelte den Kopf und blickte Mike verwirrt an.

„Mitten unter der Woche? Ich glaube, das ist keine so gute Idee.“ Sie sah Hilfe suchend zu Nick hinüber.

„Vanessa hat Recht, Mike. Wir müssen alle morgen früh raus, außerdem habe ich noch jede Menge zu lernen.“ Es gab noch zwei andere Gründe für Nick: Erstens hatte er keinen Bock auf Karate-Tiger, zweitens wollte er Mike von Kneipen fernhalten. Mike legte einen Arm um seine Schultern und boxte ihm freundschaftlich die Seite. Er wirkte mit einem Mal aufgedreht und unternehmungslustig.

„Nur eine Stunde, Nick! Ein bisschen Abschalten würde dir auch mal gut tun, du wirkst ziemlich gereizt.“ Er warf ihm ein unschuldiges Lächeln zu. „An was liegt denn das bloß?“

Nick wollte etwas erwidern, als Karate-Tiger das Wort ergriff.

„Ich glaube, am Abend vor meinem ersten Uni-Tag sollte ich nicht unbedingt ausgehen. Aber am Freitag nehme ich dein Angebot gerne an, Mike.“

„Okay“, antwortete Mike schulterzuckend und griff nach dem Glas Essiggurken. „Dann eben am Freitag.“

***

Katsuro beobachtete Mike unauffällig. Er war bestimmt ein netter Kerl, doch schien er ganz schön aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Mike lehnte sich zu Nick hinüber und verstrubbelte ihm das weizenblonde Haar, sodass es ihm ins Gesicht hing. Katsuro musste ein Grinsen unterdrücken.