Im Sternbild des Zentauren - Verena Rank - E-Book

Im Sternbild des Zentauren E-Book

Verena Rank

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Beschreibung

Als Ben versehentlich ein Portal in die mystische Welt "Mytherra" öffnet, wird ihm klar, dass hier die Antworten auf all seine Fragen liegen. Seit jeher kann er mit Pflanzen kommunizieren, lässt sie wachsen und heilen. Seine Augen sind so grün wie der Smaragd, der alles ist, was er von seiner Mutter hat. Die Begegnung mit dem stolzen Zentauren Hektor, der die Menschen abgrundtief hasst, ist der Beginn einer aufwühlenden Reise. Mit jeder Auseinandersetzung knistert die Luft zwischen ihnen noch mehr. Am Ende müssen beide erkennen, dass das Schicksal längst für sie entschieden hat …

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Verena Rank

Impressum:

© dead soft verlag, Mettingen 2020

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Coverbild: © MysticArtDesign

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-422-3

Inhalt:

Als Ben versehentlich ein Portal in die mystische Welt „Mytherra“ öffnet, wird ihm klar, dass hier die Antworten auf all seine Fragen liegen. Seit jeher kann er mit Pflanzen kommunizieren, lässt sie wachsen und heilen. Seine Augen sind so grün wie der Smaragd, der alles ist, was er von seiner Mutter hat. Die Begegnung mit dem stolzen Zentauren Hektor, der die Menschen abgrundtief hasst, ist der Beginn einer aufwühlenden Reise. Mit jeder Auseinandersetzung knistert die Luft zwischen ihnen noch mehr. Am Ende müssen beide erkennen, dass das Schicksal längst für sie entschieden hat …

Diesen Roman widme ich meinen „Fantastic Four“ Katrin, Saskia, Sabrina und Claudia!

Die Welt Mytherra, im Schimmerwald …

Hektor

Die Nacht hüllt den Wald in ihren schwarzen Schleier, Fetzen aus Nebelschwaden wabern über die moosbedeckte Erde. Das Getrampel unserer Hufe und schweres Atmen durchbrechen die Stille, als ich meinem besten Freund folge. Die Augen der Zentauren passen sich jedem Lichtverhältnis an, sodass ich Nox’ dunkles Fell auch im fahlen Schein des Vollmondes immer wieder aufschimmern sehe.

„Sag mir doch erst mal, was los ist!“, rufe ich ihm mit trockener Kehle zu. „Was ist mit Kreon?“ Die Angst um meinen älteren Bruder macht mich fast wahnsinnig.

„Er steht vor dem Hohen Rat, sie werden ihn verurteilen, Hektor!“ Nox verlangsamt seine Schritte, bleibt schließlich stehen und dreht sich nach mir um. Er atmet schwer und mustert mich sichtlich bestürzt. Ich halte direkt vor ihm inne und blicke ihn entsetzt an.

„Was? Aber wie …“

„Kreon soll ein Portal benutzt haben … in die Welt der Menschen!“

Ich bin für einen Moment wie erstarrt. Dass Kreon von der Idee, in die Menschenwelt zu gelangen, fasziniert, ja fast schon besessen ist, weiß ich. Doch würde er so weit gehen, ein Portal zu benutzen? Und wie hätte er das ohne einen Portalstein anstellen sollen? Aufkommende Panik schnürt mir die Kehle zu und mein Herz rast schmerzhaft, als wir weiter eilen. Tausende von Gedanken schießen mir durch den Kopf, während ich fieberhaft überlege, ob an den Anschuldigungen etwas dran sein könnte. Kreon und ich sind nicht wie die anderen Zentauren. Wir sind Wandler, können menschliche Gestalt annehmen, wie schon unser Vater und Großvater davor. Der Umstand macht uns zu Geächteten im Clan der Zentauren – wir sind nur geduldet und dazu verdammt, in einer Gemeinschaft zu leben, die uns nicht will. Es gibt nicht mehr viele Wandler und unseren wahren Ursprung kennen wohl nur die Titanen.

„Das würde Kreon niemals tun!“, stoße ich hilflos hervor, während wir unseren Weg zum Ratsplatz fortsetzen. In Wirklichkeit bin ich mir gar nicht so sicher, ob mein Bruder nicht doch dazu fähig wäre. Er verhält sich in letzter Zeit seltsam. Immer öfterschleicht er sich heimlich davon, um im Wald allein zu sein. Ich weiß, dass er sich dann verwandelt, denn als ich noch jünger war, haben wir das oft zusammen gemacht. Aber jetzt bin ich kein Kind mehr und ich werde alles dafür tun, eines Tages als gleichwertiges Mitglied des Zentauren-Clans angesehen zu werden. Ich werde mich nie wieder verwandeln. Zentauren hassen die Menschen, das war immer so und wird auch so bleiben. Ich bin ein Zentaur! Für einen kurzen Moment überfällt mich heftiger Zorn, weil Kreon alles zerstört, wofür ich kämpfe.

Wenn sich die Vorwürfe gegen ihn tatsächlich bewahrheiten sollten … nein!

Ich schüttle heftig den Kopf und ermahne mich selbst. Mein Bruder ist unschuldig. Er muss es einfach sein.

Endlich erreichen wir die Lichtung, die der Vollmond silbern erhellt. Die hohen Tannen rings um den Platz gleichen undurchdringlichen Burgmauern, aus denen es kein Entkommen gibt. Die Jäger und Wächter der Zentauren haben sich kreisförmig um den hohen Rat formiert. Einige halten brennende Fackeln in der Hand, um der Dunkelheit zu trotzen. Hier werden der Zentaurenrat abgehalten und Bestrafungen durchgeführt. Auf der Suche nach meinem Bruder sehe ich mich panisch um und entdecke ihn in der Mitte des Platzes.  Bei seinem Anblick stockt mir der Atem und mein Magen krampft sich zusammen. Ich will schreien, aber aus meiner trockenen Kehle kommt nur ein ersticktes Geräusch. Kreon hat seine menschliche Gestalt angenommen, nackt und schutzlos ist er dem Clan ausgeliefert. Er kniet auf dem Boden, seine Handgelenke liegen in Ketten, die an zwei Holzpflöcken befestigt sind. Über Kreons breite Brust und seine Oberarme ziehen sich blutige Striemen von Peitschenhieben. Er hält den Blick gesenkt, sein langes, rot-goldenes Haar verdeckt das Gesicht und streift die Erde. Zu seiner Bewachung wurde einer der bösartigsten Jäger abgestellt, Thurius. Die Peitsche noch in der Hand, spuckt der dunkelhäutige Hüne mit der Narbe auf der Wange, auf den Boden vor Kreon.

„Verräter!“, brüllt Rigorus, der Anführer der Zentauren und ich zucke erschrocken zusammen. „Wie kannst du es wagen, die Rasse der Zentauren so zu beschmutzen?“ Das bronzefarbene, graubärtige Gesicht ist vor Hass und Wut zu einer grässlichen Maske verzerrt. In dem Moment erwache ich aus meiner Starre.

„Bindet ihn sofort los!“ Meine Beine zittern und gehorchen kaum, als ich auf das grausame, unwirkliche Szenario zustürze, um meinen Bruder zu beschützen. Ich komme nicht weit, denn sofort versperren mir zwei Wächter den Weg und drängenmich zurück. Kreons Kopf schießt in die Höhe, sein Blick sucht rastlos umher, bis er mich endlich entdeckt. Als ich sein Gesicht sehen kann, keuche ich auf und automatisch schießen mir Tränen in die Augen. Von seiner Unterlippe läuft Blut aus einer Platzwunde an seinem Hals hinunter. Ein Auge ist völlig zugeschwollen und die Haut über dem Wangenknochen aufgerissen. Kreon zerrt an den Ketten und trotz der Dämmerung leuchtet das Türkis des unverletzten Auges wie ein Stern am Firmament.

„Nicht, Hektor!“ Er schüttelt den Kopf, seine Schultern beben. Einer der Wächter packt mich unsanft am Arm.

„Das hier ist nicht deine Angelegenheit, Kleiner. Zurück mit dir!“ Er schnaubt und wirft einen Blick über die Lichtung, zum Oberhaupt des Clans. Rigorus kommt erhobenen Hauptes auf Nox und mich zu, während er seinen Sohn mit argwöhnischem Blick straft. In diesem Moment bin ich unendlich dankbar für dessen unerschütterliche Loyalität und Freundschaft. Mein Bruder ist die einzige Familie, die ich noch habe. Ihn zu verlieren, wäre das Schlimmste, was mir je passieren könnte. Seit ich denken kann, hasst Rigorus Kreon und mich, doch Nox hat diese Tatsache nie sonderlich beeindruckt. Als einziger im Clan hat er uns nie verurteilt. Nach dem Tod unserer Eltern haben wir es in der Gemeinschaft der Zentauren nicht leicht gehabt, aber er war immer an unserer Seite.

Rigorus baut sich vor mir auf, seine kalten Augen blicken starr auf mich herab. Das ergraute Haar und der spitz zulaufende Bart bedecken seine breite Brust.

„Dein Bruder hat ein schweres Verbrechen begangen und wird dafür bestraft werden. So will es unser Gesetz und so haben es auch die Götter vor langer Zeit anerkannt.“

„Seit wann schert ihr euch um die Götter?“ Mein Herz rast in wildem Stakkato. „Kreon hat nichts Unrechtes getan! Lasst ihn frei!“

„Sei still, Hektor!“, zischt Kreon, worauf er sich von Thurius einen Faustschlag ins Gesicht einhandelt. Er spuckt Speichel und Blut und funkelt den Jäger zornig an. Ich will mich losreißen, doch einer der Wächter versetzt mir so unvermittelt einen Hieb in den Magen, dass es mir die Luft aus den Lungen presst. Ich krümme mich zusammen und ringe nach Atem.

„Dein Bruder war bereits geständig!“, fährt Rigorus unbeirrt fort und öffnet seine geballte Faust. In seiner Handfläche liegt ein dunkler, glänzender Stein in der Größeeines Wachteleis. „Er hat den Stein der Reisenden einer Harpyie abgenommen, die er im Kampf besiegt hat. Anstatt ihn abzugeben hat er ihn verbotenerweise benutzt, um damit heimlich durch ein Portal in die Welt der Menschen zu gelangen! Und das nicht nur einmal!“

„Harpyie?“ Ich blinzle irritiert und überlege fieberhaft. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich blicke meinen Bruder entsetzt an. Die Harpyie, die damals Lilaja angegriffen hat … das ist mindestens ein Jahr her! Kurz darauf hat Kreon damit begonnen, alleine in den Wald zu gehen. Panik steigt in mir auf, meine Kehle wird eng.

„Sag ihnen, dass das nicht stimmt!“, rufe ich verzweifelt und blicke meinem Bruder flehend entgegen. „Bitte, Kreon! Das ist doch alles nicht wahr!“

„Ich habe ihnen bereits gesagt, dass du davon nichts gewusst hast!“, antwortet Kreon niedergeschlagen und sieht mich schuldbewusst an. „Ich habe mich verliebt, Hektor. Es war nicht geplant, aber ja, ich liebe eine Menschenfrau und …“ Er atmet tief ein und aus. „Sie liebt mich auch.“

Während ich nur langsam begreife, was er da gesagt hat, höre ich entrüstete Aufschreie in den Reihen der Zentauren, einige spucken verächtlich auf den Boden. „Verräter!“, „Bastard!“ sind nur einige der Beschimpfungen, die sie rufen. Mir wird schlecht.

„Bringt den Bruder des Verräters zurück ins Lager und sperrt ihn ein!“ Rigorus hebt die Hand und deutet auf mich. Dann gleitet sein Blick wütend zu seinem Sohn, der bleich und starr neben mir steht. „Nox, wir sprechen uns noch!“

„Vater! Das kannst du nicht machen! Kreon ist alles, was Hektor noch an Familie hat! Er ist doch erst vierzehn Jahre alt! Bitte!“

„Und du bist dreizehn! Und schon alleine deswegen glaube ich nicht, dass ich mir von dir sagen lassen muss, was ich zu tun habe! Stelle nicht meine Geduld auf die Probe, Nox!“

Meine Brust ist eng, mein Magen rebelliert und ich schreie meine Wut und meinen Schmerz hinaus, als mich die beiden Wächter mit Gewalt von der Lichtung fortzerren wollen. Ich wehre mich mit aller Kraft, rufe nach meinem Bruder und unsere verzweifelten Blicke begegnen einander. In diesem Augenblick ahne ich, dass wir uns zum letzten Mal sehen. Aus Kreons Kehle dringt ein hilfloser Laut. Er wirft den Kopf in den Nacken und schaut nach oben, als würde er von seinen geliebtenSternen Hilfe erwarten. Tatsächlich leuchtet das Sternbild des Zentauren in dieser grauenvollen Nacht besonders hell.

„Kreon!“ Ich brülle frustriert auf. „Sag ihnen doch, dass die Anschuldigungen gegen dich nicht wahr sind! Sag es ihnen!“ Tränen laufen mir über das Gesicht, meine Sicht verschwimmt. „Du bist ein Zentaur, Kreon! Und du gehörst hierher!“

Kreon schüttelt seufzend den Kopf. „Aber ich bin auch zum Teil menschlich, genau wie du! Verstehst du das denn nicht?“ Er wirkt sichtlich niedergeschmettert, sein Zwiespalt ist greifbar.

„Nein, das verstehe ich nicht!“, antworte ich in aufsteigendem Zorn. „Ich bin ein Zentaur!“

„Wie dem auch sei …“, unterbricht Rigorus uns schroff, „morgen bei Sonnenaufgang wirst du durch unsere Pfeile sterben, wie es das Gesetz der Zentauren vorsieht! Bereite dich auf deinen Tod vor, Bastard!“ An mich gewandt fügt er hinzu: „Und du wirst zusehen, wie dein Bruder stirbt! Sei gewarnt, jemals unser Blut zu verraten!“

Mein Aufschrei zerreißt die Stille der Nacht, als sie mich von der Lichtung fortbringen.

Die Wächter sperren mich in den Kerker unter dem Ratsplatz, von wo ich keine Chance habe, zu entkommen. Als die schwere Gittertür zufällt, verliere ich jegliche Hoffnung, dass mein Bruder noch gerettet werden kann. Je mehr Zeit vergeht, umso stärker treibe ich zwischen Verzweiflung und Wahnsinn dahin. Irgendwann höre ich plötzlich Schritte und im nächsten Moment steht Nox auf der anderen Seite des Gitters. Völlig aufgelöst kann ich nur den Kopf schütteln und sehe ihn hilflos an.

„Hektor …“, flüstert er. „Ich hol dich hier raus.“

Ich überlege, wie er am Wächter vorbeigekommen ist, als er den Schlüssel hochhebt und mich schief angrinst. Kurz darauf schleichen wir uns an Trebesius vorbei, der tief und fest schläft, dieser versoffene Idiot.

„Ich habe nachgeholfen und seinem Wein etwas beigemischt, aber es hat leider etwas gedauert, bis es gewirkt hat.“ Nox wirft einen verächtlichen Blick zurück auf den Schlafenden. Wir laufen, bis wir weit genug vom Lager entfernt sind, dann erst bleiben wir außer Atem stehen. „Sieh zu, dass du eure Freundin, die Nymphe findest“, raunt mir Nox zu und sieht sich nervös um, als hätte er Angst, jemand wäre ihm gefolgt. „Wenn euch jetzt noch jemand helfen kann, dann sie.“

„Hat dich jemand gesehen, Nox?“, frage ich besorgt. „Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn du wegen uns in Schwierig…“

„Mach dir darüber keine Gedanken“, unterbricht er mich. „Ich bin sicher, dass mich niemand gesehen hat.“

Ich lege eine Hand auf seinen Arm. „Ich stehe für immer in deiner Schuld. Wie kann ich dir nur je dafür danken?“

„Du bist mein bester Freund“, entgegnet er. „Auch wenn dein Bruder etwas Falsches getan hat, ist er alles, was du noch hast. Hilf ihm zu entkommen und du hast mir genug gedankt, ja?“ Er nickt mir ermutigend zu. „Und nun beeil dich!“

Wie von Sinnen laufe ich durch den Wald. Als ich am See ankomme, kann ich mich gar nicht erinnern, wie ich hergekommen bin, so sehr lähmt die Angst meinen Geist. Am Ufer bleibe ich stehen und blicke rastlos über die glitzernde, dunkle Wasseroberfläche.

„Lilaja!“ Meine Kehle ist völlig ausgetrocknet und so geht mein erster Ruf in einem Krächzen unter. Ich räuspere mich nervös und rufe die Nymphe ein zweites Mal.

Lilaja ist eine Najade, oder auch Wassernymphe und lebt alleine an einem See, der versteckt und abgelegen im südlichen Teil des Schimmerwaldes liegt. Seit Kreon und ich ihr Leben gerettet haben, sind wir in tiefer Freundschaft verbunden.

Wie gebannt starre ich zum Wasserfall, hinter dem sich der Eingang der Grotte befindet, in der sie lebt. Plötzlich erscheint etwa in der Mitte des Sees ein dunkler Fleck auf der Wasseroberfläche und verschwindet wieder. Gleich darauf taucht Lilaja nur wenige Meter vor mir auf und blickt mich überrascht an. Als sie aus dem Wasser steigt, wringt sie ihr langes, blondes Haar mit beiden Händen aus, während sie mich besorgt mustert.

„Hektor! Was machst du hier, mitten in der Nacht? Was ist passiert?“

„Bitte …“, krächze ich. „Du musst mir helfen, Lilaja!“

Nachdem ich Lilaja die Kurzfassung dessen erzählt habe, was geschehen ist, eilen wir Seite an Seite durch den Wald zurück. Nymphen können sich unglaublich schnell fortbewegen, sie huschen geradezu über den Boden hinweg.

„Ich brauche den Stein der Reisenden, sonst hat Kreon keine Chance“, sagt sie mit zitternder Stimme. „Meine Instinkte können ihn aufspüren, aber das nimmt etwas Zeit in Anspruch. Ich bin imstande, mit jeder Pflanze und mit jedem Baum zu verschmelzen, das weißt du. Niemand wird mich sehen, wenn ich nach dem Portalstein suche, mach dir keine Sorgen.“

Kurz bevor wir das Gebiet der Zentauren erreichen, bleiben wir stehen.

„Hektor …“ Lilaja sieht mich mit schmerzvoll verzerrter Miene an. „Ich weiß, dass das jetzt alles von dir abverlangt, aber ich kann das Leben deines Bruders nur retten, wenn ich alleine gehe. Und du musst zurück in deine Zelle, damit sie dich nicht verdächtigen können.“

Ich will protestieren, doch sie bringt mich mit einem hektischen Kopfschütteln zum Schweigen. „Du weißt, dass ich Recht habe“, raunt sie mir in der Dunkelheit zu. „Wenn du willst, dass dein Bruder lebt, musst du ihn für immer gehen lassen.“ Sie greift nach meinem Arm. „Es geht um Leben und Tod. Entweder Kreon stirbt in ein paar Stunden, oder ich befreie ihn und er wird Mytherra für immer verlassen.“ Lilaja seufzt schwer. „Ich bin euch ein Leben schuldig und werde diese Schuld nun einlösen. Die Götter werden das verstehen und akzeptieren. Doch den Stein der Reisenden zu besitzen wäre mehr als ein grober Verstoß … du weißt, dass ich ihn im Olymp abgeben muss.“

Mein Magen zieht sich zu einem schweren Klumpen zusammen, während Säure meine Kehle hinaufkriecht.

„Das heißt, ich werde Kreon nie wiedersehen“, sage ich erstickt. Der Gedanke daran ist unerträglich. Wie soll ich ohne meinen Bruder weiterleben? Wir schleichen uns an dem noch immer schlafenden Trebesius vorbei und Lilaja sperrt mich wieder ein, bevor sie den Schlüssel zurück zum Wächter legt.

„Ich werde alles tun, um Hektor zu retten, das verspreche ich.“ Lilaja sieht mich von der anderen Seite des Gitters ermutigend an.

„Und ich … kann mich wirklich nicht von ihm verabschieden?“, frage ich und umklammere die Gitterstäbe meines Gefängnisses so fest, dass meine Knöchel weiß hervorstehen.

„Tut mir leid“, antwortet Lilaja stockend und sieht zu mir auf. „Sobald ich den Stein und auch Kreon habe, werde ich das Portal öffnen und ihn hindurch lassen. Danach mache ich mich aus dem Staub.“ Das Licht einer Fackel zaubert funkelnde Tränenspuren auf ihre Wangen, während sie ihre kleinen Hände um meine schließt.Ein Schluchzen löst sich aus meiner Kehle, meine Beine beginnen so sehr zu zittern, dass meine Vorderläufe nachgeben und ich zu Boden sinke.

„Ich hasse ihn“, sage ich mit bebenden Schultern. „Ich hasse Kreon, für das, was er mir angetan hat.“

Ich nehme Lilajas Hand auf meiner Schulter wahr und doch habe ich das Gefühl, meinen Körper nicht mehr zu spüren. Alles geht in einem überwältigenden, lähmenden Schmerz unter.

„Ich muss gehen“, höre ich Lilaja sagen, doch es klingt, als wäre sie bereits weit weg. Ich schließe die Augen und krümme mich zusammen. Plötzlich ist es, als würde die Welt über mir einstürzen und mich unter ihren Trümmern begraben. Ich bin allein …

10 Jahre später, in der Welt der Menschen …

Ben

Das schrille Klingeln meines Handyweckers reißt mich mitten aus dem Schlaf und katapultiert mich mit einer Wucht in den Tag, dass ich ein paar Sekunden brauche, um richtig wach zu werden. Noch ganz benommen taste ich nach dem Handy auf dem Nachttisch, finde es und lasse es verstummen. Mein Herz rast immer noch wie verrückt, so real war dieser verdammte Traum gerade eben! Seit ich denken kann, verfolgt er mich. Leise fluchend stehe ich auf und versuche mich zu beruhigen. Auf dem Weg ins Bad rufe ich mir die Bilder meines ungewollten, nächtlichen Abenteuers in Erinnerung. Warum träume ich immer wieder dasselbe? Mein Körper schwebt schwerelos im Himmel … zumindest glaube ich das, denn ich bin umgeben von dichten Wolken. Ich schaue auf den Gipfel eines Berges und auf ein gewaltiges Gebäude. Wenn ich hinunterblicke, sehe ich meine Füße in der Luft baumeln. Die Watteberge aus Wolken sind so dick, dass ich darunter keine Landschaft erkennen kann. Jemand ruft nach mir, es ist ganz klar die Stimme einer Frau. Ich kann sie nicht verstehen, aber ich weiß, dass sie mich meint und ihr Rufen wird immer verzweifelter. Ich versuche irgendwie näher heranzukommen, rudere mit Armen und Beinen, aber je mehr ich mich bewege, umso stärker werde ich von einer unsichtbaren Macht zurückgedrängt. Heute hat mich mein Wecker davor bewahrt, ins Nichts zu fallen, denn das ist es, was mich sonst aus dem Schlaf reißt. Ich stürze dann mit solch einer Heftigkeit in die Tiefe, dass es mir den Atem aus der Lunge presst und ich meist mit einem Aufschrei wach werde. Ich bin schon an der Badezimmertür, als mein Handy klingelt. Zurück am Bett werfe ich einen Blick auf das Display und muss automatisch lächeln, während ich das Gespräch annehme.

„Bennniiiiiii!“, tönt es schrill und für diese Uhrzeit viel zu fröhlich am anderen Ende der Leitung. Noch bevor ich etwas erwidern kann, folgt so lauter Gesang, dass ich das Handy einen Meter vom Ohr weghalten muss. „Happy Birthday to youuuu … Happy Birthday to youuuu … Happy Birthday, mein allerliebster, bester Freuheuuund Bennileiiin, happy Birthday to youuu!“

Ich schüttele lachend den Kopf und stehe auf. Meine beste Freundin hat wirklich einen an der Klatsche, aber man muss sie einfach lieben.

„Bennilein?“, erwidere ich gespielt entsetzt. „Ernsthaft? Wann gewöhnst du dir diese schwulen Spitznamen endlich ab?“

„Niemals!“ Sabrina lacht überdreht. „Alles Gute zum Geburtstag, Schatzi! Schon wach?“

„Danke. Jetzt auf jeden Fall. Um diese Uhrzeit schon so aufgekratzt zu sein, ist pervers, weißt du das?“

Erneutes Lachen. „Ich freue mich schon auf heute Abend. Soll ich dich abholen?“

Ich überlege kurz. „Kreon und Anna haben gefragt, ob wir noch vorbeikommen, bevor wir weggehen, also wäre es schön, wenn du gegen sieben bei mir sein könntest.“

Ich unterrichte Sport und Mathematik an einer Realschule und fahre meistens mit dem Fahrrad zur Arbeit. Es gibt nichts Besseres, als morgens durch den Englischen Garten zu fahren und die Natur zu genießen. Mein Geburtstag fällt dieses Jahr auf den letzten Schultag vor den Sommerferien und so mache ich mich gut gelaunt auf den Weg. Schon nach kurzer Zeit erreiche ich den Englischen Garten und verlangsame mein Tempo. Die Reifen meines Fahrrades knirschen auf dem Kies, ansonsten hört man um diese Uhrzeit nur Vogelgezwitscher. Wie jeden Tag komme ich am Monopteros vorbei und halte kurz an. Seit ich denken kann, übt der kleine, griechische Rundtempel eine Anziehungskraft auf mich aus, deren Grund ich mir nicht erklären kann. Ich blicke hinauf, wo sich die weißen Säulen des Tempels majestätisch über einem Hügel erheben und die Strahlen der Morgensonne willkommen heißen. Je länger ich ihn ansehe, umso stärker wird diese rätselhafte Sehnsucht nach etwas, das ich nicht mal benennen kann. Es ist einfach ein Gefühl, als würde ich etwas vermissen, aber ich weiß nicht was. Sabrina und ich haben schon viel Zeit da oben verbracht, aber wir haben noch nicht herausgefunden, warum dieser Ort mit meinen Gefühlen Achterbahn fährt. Ich seufze leise und will gerade wieder auf meinen Sattel steigen, um weiterzufahren, als ich ein vertrautes Flüstern vernehme. Es ist als hörte ich den Wind, obwohl sich kein Lüftchen regt. Und dieser Wind trägt eine Stimme mit sich, die sonst niemand bemerkt. Mich fröstelt und meine Nackenhaare stellen sich auf, während ich mein Fahrrad abstelle und der Stimme folge. Schon nach ein paar Metern sehe ich, wer, oder besser gesagt, was mich ruft und meine Hilfe braucht. Ich sehe mich kurz um, um mich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe ist. Dann laufe ich die restlichen Schritte und stehe vor einem wunderschönen Lindenbaum. Ein Ast wurde gewaltsam abgerissen und hängt nur noch lose an ein paar Holzfasern. Ganz sanft lege ich meine Hände auf den Ast und schließe die Augen. In meinem Kopf manifestiert sich ein Bild von ein paar betrunkenen Typen, die sich einen Spaß daraus machen, sich gewaltsam an den Ast zu hängen. Sie rütteln und zerren daran, bis er nachgibt und schließlich abbricht. Lachend und grölend machen sich diese Idioten danach aus dem Staub. Wut steigt in mir auf und ich verfluche diese beschissenen Kerle. Mit geschlossenen Lidern verbinde ich mein ganzes Sein mit dem Baum und werde Eins mit der Natur. Schon nach einigen Sekunden erfasst mich eine Energiewelle, die von meinen Füßen aufwärts durch mich hindurch strömt und sich bis in meine Fingerspitzen ausbreitet. Ich atme tief ein und aus … mit dem Herzschlag des Wachsens und Blühens, der meinen Körper und Geist jedes Mal in eine kurze, aber intensive Trance versetzt. Ich spüre, wie die Linde heilt, wie der Ast sich aufrichtet und wieder da anwächst, wo er hingehört. Zufrieden öffne ich die Augen und trete einen Schritt zurück. Als der Wind sanft durch die Blätter fährt, hört es sich an, wie ein geflüstertes ‚Danke‘. Ich nicke lächelnd, bevor ich mich umdrehe und eilig zu meinem Fahrrad zurückkehre. Mein Blick schweift nervös umher, doch ich kann niemanden sehen, der etwas von meiner Aktion mitbekommen hätte.

Es ist kurz vor acht, als ich das Klassenzimmer betrete und meine Schüler begrüße. Dass ich heute Geburtstag habe, posaune ich nicht groß in der Gegend herum, also bekomme ich von den meisten der Neuntklässler wie gewohnt ein müdes und weniger enthusiastisches ‚Morgen‘ zurück. Auf die erste Reihe hingegen kann ich mich wie immer verlassen. Lydia, Sophie und Anna Maria sehen mich mit verklärten Blicken an und flöten einstimmig: „Guten Morgen, Herr Wagner.“ Als ich ihnen ein freundliches Lächeln zuwerfe, könnte ich schwören, ein Seufzen zu hören. Nachdem ich meine Tasche auf dem Schreibtisch abgelegt habe, zähle ich kurz durch und stelle fest, dass einer fehlt. Ich rolle mit den Augen und werfe einen Blick auf meine Armbanduhr.

„Ruhe, Leute!“, rufe ich in die große Runde und sehe kurz zur Tür. „Ihr wollt doch Hakans großen Auftritt nicht verpassen, oder?“ Jetzt hab’ ich volle Aufmerksamkeit und achtundzwanzig Augenpaare richten sich auf mich. „Was wird es diesmal sein?“, frage ich und überlege, während ich vor meinen Schreibtisch trete und mich dagegen lehne. „Ey sorry, Herr Wagner, ich kann nix dafür“, ahme ich Hakan nach und ernte schon die ersten Lacher. „Wir haben heute früh die Katze verlegt und mussten sie suchen … oder hat das arme Tier gar die Schultasche gefressen und er musste warten, bis es sich übergeben hat?“, frage ich amüsiert. Lautes Gelächter füllt den Raum aus, als im nächsten Moment die Tür aufgerissen wird und ein schwarzhaariger Junge mit hochrotem Gesicht hereinstürmt.

„Ey sorry, Herr Wagner!“, japst er abgehetzt. „Ich schwör, ich kann nix dafür!“ Jetzt gibt es kein Halten mehr, das Gelächter der Schüler hallt mit Sicherheit bis auf den Flur hinaus. Hakan zuckt zusammen und sieht sich irritiert um. Obwohl es überhaupt nicht mehr möglich scheint, läuft sein Gesicht noch dunkler an. Mit einem Handzeichen ermahne ich alle zur Ruhe und sehe Hakan an.

„Guten Morgen, Hakan“, begrüße ich meinen notorischen Zuspätkommer. „Was hat dich denn diesmal davon abgehalten, pünktlich zum Unterricht zu erscheinen?“

Ein paar Sekunden sieht mich mein Schüler an und scheint fieberhaft zu überlegen, was er antworten soll. Ich kann regelrecht die Zahnräder in seinem Gehirn klicken hören. Er kratzt sich verlegen hinter dem Ohr und grinst schließlich schief.

„Also meine Oma hat den Wecker gestellt“ antwortet er, worauf die ersten bereits zu lachen beginnen. „Aber sie hat die Zeitverschiebung mit der Türkei wohl vergessen.“ Ich muss die Klasse ein weiteres Mal zu Ruhe ermahnen, doch zugleich muss ich mich zusammennehmen, um nicht lauthals loszuprusten. Während sich Hakan mit gesenktem Haupt zu seinem Platz begibt, setze ich mich kopfschüttelnd an meinen Schreibtisch, um die Zeugnisvergabe vorzubereiten.

Der restliche Vormittag verläuft recht ereignislos. Der Unterricht endet heute bereits um kurz nach zehn Uhr und so strömen die Massen unter Freudengeschrei, Lachen und lautem Stimmengewirr durch die Schulflure und aus dem Gebäude. Ich staple meine Unterlagen, um sie in meiner Tasche zu verstauen, als ich bemerke, dass ich angestarrt werde. Lydia, Sophie und Anna Maria stehen vor mir und strahlen um die Wette. Ich grinse etwas irritiert zurück.

„Na? Ich dachte eigentlich, ihr könnt es gar nicht erwarten, hier rauszukommen. Gibt es noch etwas?“, frage ich neugierig, worauf Sophie, die in der Mitte steht, etwas hinter ihrem Rücken hervorholt.

„Alles Gute zum Geburtstag, Herr Wagner“, sagt sie, während ihre Wangen die Farbe von überreifen Tomaten annehmen. Ihre Freundinnen nicken beipflichtend und kichern, während mir ein in pinkfarbenes Papier gewickeltes Geschenk mit goldener Schleife entgegengestreckt wird. Ich sehe die Mädels erstaunt an.

„Woher wisst ihr, dass ich heute Geburtstag habe?“, frage ich.

„Wir haben da so unsere Informationsquellen“, antwortet Sophie selbstbewusst, worauf alle drei glucksen.

„Ja und außerdem wollen wir uns auch für den tollen Unterricht bedanken, den Sie immer machen.“ Anna Maria lächelt so breit, dass ich einen Moment nur zwei weiße Zahnreihen sehe. „Seit wir Sie in Sport haben, ist das mein Lieblingsfach“, fügt sie hinzu und nickt dabei nachdrücklich. Da sie beim Sportunterricht meistens mit ‚verstauchtem Knöchel‘ auf der Bank sitzt, bezweifle ich das zwar, aber ich fühle mich geschmeichelt. Ich nehme das Geschenk an und nicke den dreien freundlich zu.

„Wow, das ist aber nett von euch, vielen Dank.“

„Sie können es später aufmachen, schöne Ferien Herr Wagner!“

„Das wünsche ich euch auch“, antworte ich amüsiert. „Erholt euch gut.“

Die drei verschwinden kichernd und ich packe grinsend meine restlichen Sachen zusammen.

Die Kolleginnen und Kollegen sind bereits da, als ich das Lehrerzimmer betrete. Ich werde mit lautstarkem Jubel begrüßt, während Sektkorken knallen. Auf dem Konferenztisch hat Frau Stieglmeier, unsere Sekretärin, selbstgemachte Häppchen serviert und schenkt geschäftig die Gläser voll. Wie praktisch, dass mein Geburtstag ausgerechnet auf den letzten Schultag fällt, an dem wir ohnehin feiern.

„Hui, schaut mal, Ben hat ein pinkfarbenes Geschenk bekommen!“ Andrea, unsere Religionslehrerin, ist chronisch gut gelaunt und hängt an beinahe jeden Satz ein vergnügtes Glucksen an. Sie hält mir ein Sektglas hin und sieht mich durch die Gläser ihrer Hornbrille vergnügt an. Ihre pausbäckigen Wangen glühen, als hätte sie bereits ein, zwei Gläschen intus.

„Alles Gute zum Geburtstag, Ben!“

Auch die anderen kommen jetzt näher, um zu gratulieren und um zu sehen, was ich von meinen Schülerinnen geschenkt bekommen habe.

„Nun mach es schon auf!“

„Ich habe noch nie etwas von meinen Schülern zum Geburtstag bekommen.“

„So jung und gutaussehend müsste man halt noch sein.“

Während ich die Verpackung löse, quasseln alle durcheinander.

„Ihr seid schlimmer als die Kids“, stelle ich lachend fest, während ich eine Packung Pralinen und ein paar Socken aus einem kleinen Karton nehme.

„Socken?“, fragt Frau Reimann, die Direktorin verwundert, worauf ich lachend nicke.

„Ja, aber nicht irgendwelche Socken“, antworte ich begeistert, während ich mein Geschenk hochhebe, damit alle es sehen können. „Star Wars – Meister Yoda – Socken mit Ohren!“ Meine Kollegen brechen in Gelächter aus, während ich die Socken grinsend betrachte. Sie sind knallgrün, mit dem Gesicht von Yoda vorne drauf und seitlich stehen seine großen, spitzen Ohren ab.

„Die Mädels haben wirklich gut aufgepasst“, sage ich und schüttle amüsiert den Kopf.

„Natürlich – sie machen ja nichts anderes, als seufzend an deinen Lippen zu hängen und deiner Stimme zu lauschen“, erwidert Andrea, worauf die anderen erneut lachen. Ich rolle mit den Augen, zugleich spüre ich so etwas wie Stolz. Von meinen Kollegen bekomme ich einen Gutschein für mein Lieblingsrestaurant, einem Mexikaner in Schwabing, in dem ich heute Abend mit Freunden feiern werde. Vom Sekt leicht beschwipst mache ich mich ein wenig später auf den Weg zu meiner Familie, die eine knappe halbe Stunde von der Schule entfernt wohnt. Meine Stiefmutter macht mir zu Ehren heute ganz traditionell Schweinebraten mit Knödeln und Blaukraut. Als ich sechs Jahre alt war, haben mein Vater und Marlies geheiratet und ich habe noch einen Bruder und eine Schwester dazu bekommen. Felix ist achtzehn und besucht die Fachoberschule, während unser Nesthäkchen Antonia nach den Ferien die vierte Klasse der Grundschule besuchen wird.

Meine leibliche Mutter habe ich nie kennengelernt, ihre gesamte Existenz und die Umstände, wie sie mich damals bei meinem Vater gelassen hat, sind sehr mysteriös. Ich weiß nur, dass ich wohl aus einem One-Night-Stand entstanden bin. Sie hat meinem Vater nicht mal ihren Namen genannt. Alles, was ich von ihr habe, ist ein unförmiger, geschliffener Smaragd, in der Größe einer Zwei-Euro-Münze. Mein Vater hat mir den Edelstein an meinem zwölften Geburtstag gegeben, seitdem trage ich ihn an einem Lederband um den Hals. Vaters Erzählungen nach muss meine Mutter wunderschön gewesen sein, aber sehr geheimnisvoll und zurückhaltend. Ihre Augen sollen vom selben intensiven Grün gewesen sein wie der Smaragd. Und genau diese Farbe haben auch meine Augen, aber ich verstecke sie unter braunen Kontaktlinsen. Als Kind bin ich ständig angeglotzt und gehänselt worden, bis mein Augenarzt offiziell eine Lichtempfindlichkeit diagnostizierte und ich in der Schule eine Brille mit verdunkelten Gläsern tragen durfte. Der Arzt hat damals gesagt, es wäre wohl eine Laune der Natur, er selbst habe in seiner ganzen Laufbahn nie solch eine Augenfarbe gesehen – auch keiner seiner Kollegen. Es ist nicht nur dieses tiefe Grün allein, manchmal scheinen meine Augen regelrecht von innen zu leuchten. Je nach Stimmung variiert die Farbe. Wenn ich zum Beispiel wütend bin, wird sie dunkel wie der Grund eines Moorsees. Bei Aufregung jeglicher Art scheint das Grün am intensivsten und dann tanzen goldene Lichter in den Iriden.

Vater erinnert sich an eine feucht-fröhliche Nacht, in der er mit einigen seiner Studienkollegen um die Häuser gezogen war. Meine Mutter stand plötzlich irgendwann da und hat ihn buchstäblich verzaubert. Diese Begegnung muss wie ein Rausch gewesen sein, der jedoch nicht nur dem Alkohol geschuldet war. Sie besaß eine außergewöhnliche Aura, die alles wie im Traum erschienen ließ, erzählt er heute noch mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten kann. Zerstreut, verwundert und nachdenklich, würde ich sagen.

Am Morgen danach war sie verschwunden und tauchte gut neun Monate später mit mir auf, um mich quasi einfach auf der Türschwelle abzulegen. Vater hat sie nur kurz gesehen und sie sagte ihm, ich sei etwas ganz Besonderes und er solle mir einen schönen Namen geben. Ich glaube nicht, dass sie damit so etwas wie ‚Benjamin‘ meinte, denke ich seufzend und verdrehe in Gedanken die Augen. Auch wenn sie ihr eigenes Kind verließ, hat er nie ein böses Wort über sie verloren – im Gegenteil. Sie wirkte wohl sehr unglücklich und hat mich unter Tränen bei ihm gelassen. Was meine eigenartige Gabe betrifft, dass ich mit Pflanzen kommunizieren und diese heilen und wachsen lassen kann: Ich bin sicher, es hat etwas mit meiner leiblichen Mutter zu tun. Wenn ich diese Fähigkeiten von ihr habe, macht es mich unglaublich wütend, dass sie mich ohne ein Wort der Erklärung zurückgelassen hat.

Meine Familie lebt im Stadtteil Oberföhring und so führt mich mein Weg erneut quer durch den Englischen Garten, der jetzt von Schülern, Spaziergängern und Touristen nur so wimmelt. An der Wohnungstür angekommen, ist mein kleiner Schwips bereits verflogen, dafür knurrt mein Magen. Marlies öffnet mir die Tür und schließt mich sofort in die Arme. Sie hat nie einen Unterschied zu ihren eigenen Kindern gemacht und mich immer so geliebt, wie eine Mutter es tun sollte. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.

„Ben! Alles Gute zum Geburtstag, mein Lieber. Wie war es in der Schule? Hast du Hunger?“

„Danke, ach wie immer, ja und wie“, erwidere ich grinsend, um ihre Fragen in der richtigen Reihenfolge zu beantworten. Sie nimmt mich kichernd an der Hand und zieht mich in die Wohnküche. Sofort stürmt mir ein blonder Wirbelwind entgegen und ich schließe meine kleine Schwester in die Arme und hebe sie hoch.

„Hey, Prinzessin!“ Ich küsse sie auf die Wange. „Wie war der letzte Schultag?“

„Gut, aber sehr stressig“, antwortet sie augenrollend, worauf ich lache. „Alles Gute zum Geburtstag!“ Antonia schlingt ihre Arme so fest um meinen Hals, dass ich beinahe ersticke und zum Spaß Würgegeräusche mache.

„Du … bringst … mich … ja … um“, krächze ich, „aber vielen Dank.“

Antonia gluckst, während ich sie wieder auf dem Boden abstelle, um den Rest der Familie zu begrüßen. Felix ist viel zu cool, um mich zu umarmen und so streckt er mir die Hand entgegen und klopft mir mit der anderen auf die Schulter.

„Alles Gute, Bro“, gratuliert er mir lässig und grinst schief.

„Danke.“ Ich grinse zurück und boxe ihm leicht gegen die Brust.

„Ben!“ Mein Vater kommt auf mich zu und schließt mich in seine Arme.

„Alles Gute zum Geburtstag! Wir haben schon auf dich gewartet.“ Er blickt mich stolz an und schüttelt langsam den Kopf. „Sechsundzwanzig“, sagt er, als könne er es kaum glauben. „So viele Jahre ist es schon her, dass du so unerwartet in mein Leben geschneit bist und es jeden Tag schöner und glücklicher gemacht hast.“

Ich hebe eine Augenbraue. „So? Ich dachte, du wusstest damals nicht mal, was ein Baby ist und hast Oma und Opa erstmal panisch nach einer Gebrauchsanweisung gefragt?“, antworte ich frech, worauf alle lachen. Antonia hält sich die Hände vor den Mund und prustet los. Vater wird tatsächlich ein bisschen rot und kratzt sich hinter dem Ohr. Obwohl er langsam grau an den Schläfen wird, sieht er gerade unheimlich jung aus.

„Na ja …“, sagt er peinlich berührt und wirft seiner Jüngsten einen gespielt beleidigten Blick zu, worauf sie noch mehr lacht. „Ich war ja damals noch selbst sehr jung … nicht recht viel älter als Felix jetzt. Ich wusste nicht, was so ein Baby braucht und wie herum man es hält. Außerdem musste ich jeden Tag zur Uni und hätte mich gar nicht alleine um Ben kümmern können. Ja, ich gebe zu, ohne Oma und Opa wäre ich komplett aufgeschmissen gewesen.“

„Wo sind die beiden überhaupt?“, frage ich. „Ich dachte, sie wollten auch kommen?“ Marlies will gerade antworten, als es auch schon an der Tür klingelt.

„Ich geh schon!“, ruft Antonia fröhlich, während sie aus der Wohnküche in den Flur saust. Ich muss innerlich lachen, als ich höre, wie überschwänglich meine Schwester unsere Großeltern begrüßt.

„Da ist ja jemand schon wieder einen Meter gewachsen“, sagt Großvater gespielt erstaunt, worauf Antonia kichert.

„Quatsch, Opa! Doch nicht einen Meter!“, erwidert sie altklug. „Kommt schnell, Ben ist schon da!“

Großmutter schließt mich als erste in ihre Arme, um zu gratulieren. Wie immer sieht sie sehr elegant aus. Ich kann mich nicht erinnern, sie einmal ohne ein schönes Kostüm gesehen zu haben und ohne dass ihr graues, kinnlanges Haar in gepflegte Wellen gelegt war.

„Ben, mein Lieber“, sagt sie sanft. „Alles Gute zum Geburtstag. Hach, manchmal habe ich das Gefühl, es war gestern, als dein Großvater und ich nach dem aufgeregten Anruf deines Vaters gekommen sind und dich das erste Mal im Arm hielten.“ Sie schüttelt den Kopf, ihre Augen werden feucht. „Uns war sofort klar, dass du ein ganz besonderer Junge bist.“ Sie sieht mich verschwörerisch an und zwinkert mir zu. Meine Großeltern, Marlies und auch Felix wissen von meiner Gabe, Antonia jedoch noch nicht. Sie wird es irgendwann erfahren, wenn sie größer ist und keine Gefahr mehr besteht, dass sie sich irgendwann, irgendwo verplappern könnte. „Es war Liebe auf den ersten Blick – du warst ja so ein hübsches Baby“, fährt Großmutter fort und seufzt selig. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange und bedanke mich gerührt.

„Ich war doch auch ein hübsches Baby, oder?“, ruft Antonia dazwischen, worauf Großmutter ein Stück zurücktritt und ihr lächelnd über den Kopf streicht.

„Natürlich warst du das, Liebes.“

„Felix war bestimmt hässlich, oder?“, fragt sie, worauf unser Bruder lautstark protestiert.

„Hey, ich war der Hübscheste von allen! Bin ich heute noch.“

Wir lachen alle, während mir mein Großvater gratuliert.

„Glückwunsch, mein Junge“, sagt er und zieht mich in eine holprige Umarmung, während er mir auf den Rücken klopft. Mein Großvater passt optisch zu seiner Frau, wie ein Bauarbeiter auf ein rosa Plüschsofa und doch sind sie das harmonischste Paar, das ich kenne. Ohne seine bayrische Lederhose verlässt er nicht das Haus, was meine Großmutter stets unkommentiert und mit einem resignierten Lächeln akzeptiert. Seinen grauen Bart, der ihm mittlerweile bis gut zehn Zentimeter unters Kinn reicht, hegt und pflegt er, wie andere ihr teuerstes Pferd.

„Ich habe mir gedacht, wir essen in der Küche und zum Kaffee gehen wir hinüber ins Wohnzimmer.“ Marlies nimmt ihre Kochschürze ab und begrüßt ihre Schwiegereltern. Ihre eigenen Eltern wohnen am anderen Ende von Deutschland, in Hamburg, daher sehen wir sie nicht sehr oft. Jeden Besuch in der Hansestadt verbinde ich mit schönen Erinnerungen.

Wir sitzen am großen runden Tisch in der Küche und ich genieße die Zeit mit meiner Familie. Wir kommen viel zu selten alle zusammen und so hat jeder etwas zu erzählen. Meine Großeltern planen einen Wochenendtrip nach Südtirol, worauf sie sich sehr freuen. Felix erzählt uns, dass er momentan einen Abitur-Schnitt von 1,8 hat und auf alle Fälle das dritte Jahr zur allgemeinen Fachhochschulreife machen wird. Antonia wünscht sich zu ihrem Geburtstag auch einen Schweinebraten, aber mit größeren Knödeln – außerdem eine Meerjungfrauen-Barbie, samt Meermann-Ken dazu. Vater und Marlies sehen einander wie immer verliebt an und halten am Tisch Händchen. Ich schweige und beobachte dankbar unsere fröhliche Runde.

Während die anderen nach dem Essen ins Wohnzimmer hinüber gehen, bleiben Vater, Großvater und ich noch in der Küche, um gemeinsam einen Schnaps zu trinken. Vater schenkt uns drei Williams ein und wir stoßen an.

„Auf dich, mein Junge“, sagt Großvater stolz und Vater nickt beipflichtend.

„Auf dich, Ben!“ Ich schlucke das grausige Zeug und schüttle mich innerlich, als ich plötzlich einen Windhauch spüre. Mein Blick fällt zum Fenster hinüber, wo eine Basilikumpflanze im Topf ums Überleben kämpft.

„Oh Gott, du armes Ding“, sage ich entsetzt und gehe hinüber, um den Schaden genauer unter die Lupe zu nehmen. Vater und Großvater folgen mir.

„Kannst du da noch was machen?“, fragt Großvater und blickt dann seinen Sohn missbilligend an. „Ja, gießen musst du deine Pflanzen schon, Ludwig“, fügt er tadelnd hinzu und schnalzt ein paar Mal mit der Zunge. Vater zuckt mit den Schultern und ich muss innerlich lachen, weil er wie ein kleiner Junge den Kopf einzieht, als hätte er was angestellt und wäre dabei erwischt worden.

„Ich weiß nicht, was ich falsch mache, aber dieses scheiß Basilikum geht mir immer ein.“

Als ich ihm einen vorwurfsvollen Blick zuwerfe, entschuldigt er sich sofort.

„Ich meine, also ohne scheiß … nur Basilikum, sorry.“

„Schon gut, sie nimmt es dir nicht krumm“, antworte ich und nehme die Pflanze näher in Augenschein. Sie ist völlig ausgetrocknet.

„Du hast sie zu wenig gewässert. Außerdem verträgt sie kein kaltes Wasser und vermutlich hast du wieder darüber gegossen, statt in den Übertopf.“

Er kratzt sich hinter dem Ohr.

„Ist das denn wirklich so wichtig?“

„Jep, ist es“, antworte ich, während ich meine Hände knapp über den verdorrten Blättern schweben lasse und konzentriert die Augen schließe. In meinem Kopf höre ich den Wind, der die Wipfel der Bäume sanft hin und her wiegt, Vogelgezwitscher, hoch oben in den Baumkronen … und das vertraute Flüstern und Ächzen der Pflanzen, wenn ich sie heile. Wenn sie zu neuem Leben erwachen, mir ihre Blütenköpfe und Blätter entgegenstrecken. So rasch wie sie gekommen sind, verstummen die Geräusche und als ich die Augen öffne, ist die Pflanze satt und grün und gesund. Lächelnd berühre ich eines der Blätter behutsam mit den Fingerspitzen. Der intensive Duft von Basilikum steigt mir in die Nase und erfüllt den ganzen Raum.

„Auch wenn es mich immer wieder fasziniert, macht es mir doch genauso viel Angst“, wispert Vater neben mir. Als ich ihn ansehe, starren er und Großvater den Kräutertopf mit großen Augen an.

„Macht euch keine Sorgen, ich kann es mittlerweile ganz gut steuern. Niemand außer euch und Sabrina wird es je erfahren.“

„Das war aber nicht immer so und ich denke mit Grauen an die Zeit zurück, als es dir Angst gemacht hat und du dich allein und ausgeschlossen gefühlt hast“, erwidert Vater leise.

„Da war ich noch ein Kind.“ Ich lege eine Hand auf seine Schulter. „Wir hatten es wirklich nicht leicht. Aber ihr habt immer an mich geglaubt und mich behandelt, wie ein ganz normales Kind.“

„Das warst du für uns ja auch“, erwidert Großvater nachdrücklich. „Na ja, mit ein paar Extras halt.“

Ich grinse. „Ich kann mich noch an Papas Gestammel erinnern und an seine Schweißausbrüche, als er versucht hat, der Nachbarin zu erklären, wie unsere Zimmerpflanzen über Nacht mutieren konnten.“

Heute können wir gemeinsam darüber lachen … auch bei der Erinnerung, wie ich in der Schule mein Klassenzimmer verschönern wollte und es plötzlich aussah, als würde sich der Raum mitten im Wald befinden. Als ich etwa acht oder neun war, hat alles angefangen. Ich interessierte mich immer mehr für die Natur und die verschiedenen Pflanzen. Ich hörte ihr Flüstern und war imstande, sie wachsen zu lassen, oder zu heilen. Anfangs habe ich es überhaupt nicht kontrollieren können und es war sehr schwer, alles zu erklären. Mit der Zeit habe ich gelernt, meine Fähigkeiten zu unterdrücken, oder gezielter einzusetzen.

„Und heute bist du ein junger, erfolgreicher Mann und ich kann dir gar nicht sagen, wie stolz ich auf dich bin.“ Vater lächelt selig und scheint für ein paar Sekunden in Erinnerungen zu schwelgen. In dem Moment steckt Marlies den Kopf zur Tür herein

„Kommt ihr? Ben, du musst die Kerzen ausblasen.“

Eine Tasse Kaffee und zwei Tortenstücke später wird es Zeit, nach Hause zu fahren, denn ich hab’ noch einiges vor.

„Dann wünsche ich dir ganz viel Spaß heute Abend“, sagt Marlies, während sie den Rest der Geburtstagstorte in eine Frischhaltedose packt.

„Nicht so viel!“ Ich verdrehe die Augen. „Wer soll denn das alles essen?“

„Ach, ich kenn euch doch“, mischt sich Vater grinsend ein und drückt Marlies einen Kuss auf die Wange. „Ihr kommt um drei Uhr morgens betrunken heim und habt tierischen Hunger.“

Als ich ihn amüsiert mustere, zuckt er mit den Schultern. „Was? Das war bei uns damals auch nicht anders, stimmt’s Schatz?“, wendet er sich an seine Frau, die ihm beipflichtet, indem sie vehement nickt.

„Auf jeden Fall! Wenn es wirklich zu viel ist, kannst du deinen netten Nachbarn etwas bringen.“

Ich hebe beschwichtigend die Hände. „Okay, okay … ich nehm’s ja mit. Bei Kreon und Anna schauen wir eh noch vorbei, bevor wir gehen. Vielen Dank.“

Nachdem ich mich vom Rest der Familie verabschiedet habe, begleitet mich Vater zur Tür.

„Ben?“

„Ja?“ Die Hand bereits auf der Türklinke, schaue ich mich nach ihm um.

„Du trägst doch den Stein, oder?“ Plötzlich wirkt er nervös. „Ich weiß, das ist albern, aber ich habe tatsächlich das Gefühl, er beschützt dich … irgendwie. Keine Ahnung. Gerade wenn ihr nachts unterwegs seid.“ Hilflos zuckt er mit den Schultern und lächelt mich schief an. Instinktiv greife ich in den Kragen meines Hemdes, taste nach dem Edelstein und ziehe ihn hervor.

„Klar, Papa – immer.“

„Nimm ihn nicht ab, okay?“

Ich schüttle lächelnd den Kopf. „Niemals, versprochen.“

Zur selben Zeit in Mytherra, im Schimmerwald …

Hektor

Mit jedem Schritt, den ich mich vom Zentauren-Lager entferne, kann ich leichter atmen. Manchmal habe ich das Gefühl, es keinen Tag mehr dort aushalten zu können, aber wo sollte ich denn sonst hin? Zentauren sind Wesen, die nur in Clans leben. Wir sind keine Einzelgänger und doch fühle ich mich unheimlich einsam. Mein Blick folgt einem der letzten Sonnenstrahlen, die sich vor der Abenddämmerung ihren Weg zwischen die dicht stehenden Bäume erkämpfen. Ich schließe seufzend die Augen und genieße für einen Moment die friedliche Stille. Nur ganz oben, in den Wipfeln der Tannen, Kiefern und Eichen hört man das fröhliche Zwitschern der Vögel. Ich bin auf dem Weg zum Teich, wo ich mich mit Lilaja verabredet habe. Seit Kreons Flucht vor zehn Jahren gab es fast keinen Tag, an dem wir uns nicht gesehen haben. Die offene Abneigung und der Hass des Clans sind oft unerträglich. Hier im Wald habe ich das Gefühl, Kreon näher zu sein. Zugleich übermannt mich oft die Wut, denn wegen ihm bin ich nichts anderes, als der Bruder des Verräters.

Lilaja wartet bereits auf mich und winkt mir fröhlich zu, bevor sie zügig ans Ufer schwimmt. Ihre unbeschwerte Art ist jedes Mal Balsam für meine geschundene Seele. Mit ihr kann ich meine Sorgen teilen, sie hört mir stundenlang zu. Die Najade ist wie eine Schwester für mich - und das war sie auch für Kreon.

Der Sonnenuntergang hinterlässt ein prächtiges Farbenspiel, das rot und orange auf dem Wasser tanzt. Es heißt, die Zeit heile alle Wunden, doch ich vermisse meinen älteren Bruder mit jedem Tag mehr. Besonders nachts, wenn der Himmel klar ist und die Sterne das Firmament erleuchten, scheint die Sehnsucht beinahe unerträglich. Wenn sich das Sternbild des Zentauren hell und eindrucksvoll am Himmel zeigt, schnürt es mir vor Kummer die Brust zusammen. Kreon hat jeden einzelnen Stern und jeden Planeten benennen können, und er wusste über viele Sternbildereindrucksvolle Geschichten zu erzählen. Ich konnte ihm stundenlang zuhören, wenn wir zusammen im Wald waren. Und nun weiß ich nicht einmal, ob mein Bruder noch lebt.

Mittlerweile verbringe ich sehr viel Zeit im Wald – zum Ärgernis von Rigorus, dem Oberhaupt des Clans. Ich kann kaum glauben, dass mein bester Freund Nox wirklichsein Sohn ist. Er ist treu, hilfsbereit und gutherzig – Eigenschaften, die seinem Vater gänzlich fehlen. Dann ist da noch die Dorfälteste Silva. Sie ist so etwas wie die gute Seele, Heilerin und Medizinfrau. Alle bringen ihr den größten Respekt entgegen. Niemand weiß, wie alt sie wirklich ist, und jeder nennt sie einfach nur Großmutter Silva. Bei ihr fühle ich mich jederzeit willkommen. Sie ist die einzige, die Kreon und mich niemals aufgrund dessen, was wir sind, verurteilt hat. Der Rest des Clans meidet mich, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Diese Tatsache nagt an meinen Eingeweiden, reißt mir fast das Herz heraus. Ich möchte doch einfach nur dazugehören.

Ein Schwall Wasser in meinem Gesicht beendet meine düsteren Gedanken abrupt und ich zucke erschrocken zusammen. Meine rechte Hand schnellt ganz automatisch zum Köcher und will schon nach einem Pfeil greifen, als ich registriere, dass sich Lilaja einen Spaß erlaubt hat.

„Hey hey, ganz ruhig, Weißer. Träumst du schon wieder, Hektor?“ Lilaja hebt beschwichtigend die Hände über den Kopf und kichert. Die Nymphe steigt anmutig aus dem Wasser und sieht mich schelmisch grinsend an. Schon allein ihre Erscheinung zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht und ich entspanne mich rasch wieder. Lilajas Körper schmückt ein kunstvoll gebundenes Arrangement aus Wasserpflanzen, Muscheln und Seerosen. Ihre nackte Haut blitzt lediglich an Beinen, Armen und am Bauch hervor.

„Himmel, Lilaja! Irgendwann jage ich dir versehentlich einen Pfeil in dein hübsches Köpfchen, wenn du mich so erschreckst.“