Gefangen im Zwielicht - Verena Rank - E-Book

Gefangen im Zwielicht E-Book

Verena Rank

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Beschreibung

Seit er denken kann, beherrscht Leon Bergmann die außergewöhnliche Fähigkeit der Telepathie. Er glaubt, aufgrund seiner Gabe, stets alles im Griff zu haben, bis er dem attraktiven Alexei Grigorescu begegnet. Alexei vermag ebenfalls Gedanken zu lesen, seine Anziehungskraft beunruhigt und fesselt Leon gleichermaßen. Noch ahnt er nicht, dass er sich in größter Gefahr befindet, denn Alexei birgt ein düsteres Geheimnis. Als Leon Zeuge eines blutigen Verbrechens wird, ist es bereits zu spät. Gay Vampire Romance komplett überarbeitete Neuauflage

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Verena Rank

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2015

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Anetta – shutterstock.com

© melis – shutterstock.com

Lektorat: Marcel Weyers

Komplett überarbeitete Neuauflage

ISBN 978-3-945934-39-5

Inhalt:

Für meine kleine Schwester.

Weil ich sie immer mit meinen Ideen und Texten nerven darf, egal wie spät es ist,

Prolog

Alexei stand im Schatten einer großen Eiche und beobachtete die Kinder bei ihrem Fußballspiel. Der Junge mit dem blonden Stoppelschnitt und dem fröhlichen Lachen war auch wieder da. Immer wieder huschte der Blick des Kleinen zu Alexei hinüber, aber nur seiner. Für die anderen Kinder schien er unsichtbar zu sein. Auch die wenigen Erwachsenen am Spielfeldrand, von denen einige unmittelbar neben ihm standen, schienen ihn nicht sehen zu können. Ein paar Mal musste Alexei sogar zur Seite springen, damit ihn niemand über den Haufen rannte.

Obwohl der Junge nicht älter als zehn oder elf Jahre alt sein konnte, wirkte er sehr erwachsen. Eindeutig nahm er das Spiel sehr ernst. Seine blauen Augen blitzten wütend auf, während er seine Kameraden zur Ordnung rief, weil sie herumalberten und nicht richtig bei der Sache waren. Er stand in dem improvisierten Tor aus zwei am Boden liegenden Jacken und ging in Position. Doch als er wiederholt zu Alexei hinübersah, zuckte er plötzlich erschrocken zusammen. Mit weit aufgerissenen Augen rief er ihm etwas zu, das wie eine Warnung klang. Alexei konnte ihn hören, verstand jedoch nichts davon. Als würde der Raum zwischen ihnen die Worte verschlucken. Panik stand im Gesicht des Kindes geschrieben, die auch Alexei selbst rasch ergriff. Das Fußballspiel war offensichtlich vergessen, als der Junge auf Alexei zu rannte und die Hand nach ihm ausstreckte.

 Alexei war unfähig, sich zu bewegen, als hielten ihn unsichtbare Arme mit Gewalt zurück. Da begann der Junge zu weinen. Heftige Schluchzer schüttelten ihn. Die Wangen waren gerötet, seine blauen Augen von Schmerz erfüllt. Er lief schneller und konnte Alexei dennoch nicht erreichen. Eine gewaltige Macht hielt die beiden auseinander.

Und dann kam der schwarze Nebel. Eine dichte, wabernde Wand, die beide voneinander trennte, und alles in ihrem riesigen Schlund verschlang. Die Bäume, den Himmel und die Sonne. In ihrem letzten Strahl stand der Junge, die Arme um sich selbst geschlungen, als spüre er die Gefahr, die im Dunkeln lauerte.

Auch Alexei hatte Angst im Dunkeln. Immer schon. Ein Blitz durchbrach die schwarze Nebelwand, und er wusste, was als Nächstes passieren würde. Das gleißende Licht schillerte zuerst weiß, dann blau und schließlich blutrot, als sich das Licht im Rubin des Siegelringes brach, der für einen Moment vor seinem Gesicht auftauchte. Ein goldener, auffälliger Siegelring, auf dem der Buchstabe „W“ eingraviert war. Und wieder hallte dieses irre, triumphierende Lachen durch die Finsternis, die Alexei nun endgültig verschluckte …

1

Leon und sein Vater saßen gemeinsam mit ihrem potenziellen Geschäftspartner im Konferenzraum. Es kam nicht so oft vor, dass sie beide bei einem Angebot dabei waren, aber dieser Zenker hatte nicht gerade das, was man einen guten Ruf nannte. Also beobachtete Leon den Kerl ganz genau. Bevor er eingetreten war, hatte er vor der Glastür innegehalten und den Knoten seiner Designerkrawatte zurechtgerückt. Nun saß er da und Leon war gespannt, was der Typ zu sagen hatte. Zenker kämmte sich mit den Fingerspitzen durch das Haar, während er sich scheinbar interessiert umsah. Sein Blick blieb einen Moment an der auffälligen Kommode hängen, bevor er sich Leons Vater zuwandte.

„Das ist ein schönes Stück, das sie da stehen haben, Herr Bergmann. Ist das Teakholz?“, fragte er mit einem Kichern, das völlig fehl am Platz war, und gelbe, etwas schief stehende Zähne offenbarte. Leon fand, der Kerl hatte Ähnlichkeit mit einer Hyäne, so wie er den Kopf vorschob, während er die Schultern nach oben zog. Und dann dieses irre Kichern dazu.

Leons Vater schien sich nicht so daran zu stören und nickte stolz.

„Malaysia, achtzehntes Jahrhundert“, bestätigte er mit leuchtenden Augen. „Zwei der Goldgriffe musste ich allerdings ersetzen lassen. Ich habe das bauchige Ding auf einer meiner Reisen gekauft.“

Leon lächelte und seine Gedanken schweiften kurz ab. An den Urlaub konnte er sich nur allzu gut erinnern. Es war der erste mit seiner Stiefmutter und auch einer der schönsten. Vater und Ines händchenhaltend am weißen Sandstrand, der Geruch des Meeres. In seinem Kopf hallten fröhliches Kinderlachen und das Kreischen der Möwen, als wäre es erst gestern gewesen. Leon war damals acht Jahre alt – und in diesen Wochen wohl das glücklichste Kind auf der Welt. Vielleicht wäre er sogar noch glücklicher gewesen, hätte er nicht diese braune Badehose tragen müssen, auf der leuchtend gelbe Bananen abgebildet waren. Womöglich trug aber auch gerade diese Erinnerung dazu bei, dass der Urlaub so unvergessen geblieben war. Am letzten Tag hatte er die Bananenbadehose am Strand vergraben und vorgegeben, sie verloren zu haben.

Zenker räusperte sich, seine für einen Mann ungewöhnlich hohe Stimme riss Leon aus seinen Erinnerungen.

„Kommen wir zum geschäftlichen Teil, meine Herren.“ Wieder ein Hyänenkichern. „Ich möchte Sie nicht drängen, aber ich habe noch weitere Interessenten für das Haus. Ein solch lukratives Angebot bekommen Sie nicht alle Tage.“ Er setzte zu einem schleimigen Lächeln an und entblößte dabei gelbe, schiefstehende Zähne. Dann kritzelte er etwas auf einen Block, den er – zusammen mit einem Laptop – aus seiner Aktentasche entnommen hatte. Dabei zuckte er flatternd mit dem Bein, sodass der große Tisch und sein Laptop, den er gerade aufklappte, vibrierten. Leon warf seinem Vater möglichst unauffällig einen warnenden Blick zu, worauf er nickte. Sie verstanden einander auch ohne Worte, waren längst ein eingespieltes Team. Beruflich ebenso wie privat.

„Geben Sie uns bis morgen Bedenkzeit, Herr Zenker“, bat er höflich.

Zenker schüttelte energisch den Kopf, das Zucken seines Beines wurde stärker.

„Ich fürchte, Sie werden sich gleich entscheiden müssen. Ich treffe heute noch zwei weitere Interessenten.“

Leon straffte die Schultern und atmete tief ein. Der miese Typ log, dass sich die Balken bogen. Aber da war noch mehr als das schmutzige Geschäft, an das er die ganze Zeit gedacht hatte. So laut, dass Leon es nicht einmal hätte überhören können, wenn er es gewollt hätte. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Haus. Etwas, das über bloße Gebrauchspuren hinausging.

Bei der Besichtigung war nur sein Vater dabei gewesen, doch Leon konnte in diesem Augenblick trotzdem sehen, was hier faul war. Und zwar faul im wahrsten Sinne des Wortes.

Er war bereits vor einigen Minuten in Zenkers Geist eingedrungen, und brauchte nicht lange, um alles direkt vor sich zu sehen. Nur mit großer Mühe konnte er seinen Zorn zurückhalten.

„Ich würde gern die oberen Stockwerke noch einmal sehen“, bemerkte Leon zähneknirschend und wunderte sich über die Ruhe in seiner Stimme. Zenkers Gesichtszüge entgleisten. Er trommelte mit den Fingerspitzen auf das Holz des Konferenztisches, seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Aber warum denn das?“, stieß er schrill aus. „Ich glaube kaum, dass dies nötig sein wird. Meine Mitarbeiterin hat Ihrem Vater bereits alles gezeigt.“ Er tat sich sichtlich schwer, die Contenance zu bewahren, und Leon hörte in seinem Kopf, was das Arschloch über das arme Mädchen dachte, das keinen blassen Schimmer davon hatte, was für ein Verbrecher ihr Chef war.

„Das sehe ich anders“, entgegnete Leon so ruhig, wie es seine Wut zuließ, und lächelte so strahlend, wie Zenker zu Beginn ihres Gespräches. „Und wenn wir schon dabei sind – die rostigen, mit schlechter Farbe übermalten Wasserleitungen im Keller möchte ich auch sehen. Die brechen vermutlich auseinander, falls eine der Ratten da unten einen Furz lässt.“

Aus den Augenwinkeln sah Leon, dass die Schultern seines Vaters vor Lachen bebten. Die Hyäne schnappte nach Luft und ihre Augen verdunkelten sich, als würden Gewitterwolken darin aufziehen. In der Tat konnte Leon den Sturm schon spüren, als Zenker ihn noch gar nicht realisiert hatte. Armer Idiot. Er hatte sich einfach die Falschen ausgesucht. Aber wie sollte er auch ahnen, dass Leon all die Dinge sehen konnte, die in seinem Kopf vorgingen.

Zenker zerrte an seiner Krawatte, als wäre sie eine Schlinge um seinen Hals.

„Ich versichere Ihnen, das sind alles Kleinigkeiten, die selbstverständlich noch instandgesetzt werden“, stotterte er wirr. Sein Hyänenkichern war ihm wohl im Hals stecken geblieben. „Wie kommen Sie überhaupt auf …“

„Etwa wie der Dachboden?“, unterbrach Leon ihn. „Mein Vater berichtete mir, dass alles noch etwas frisch aussieht. Als wäre es … sagen wir … vorgestern mal eben mit Sandfarbe gestrichen worden?“

Zenker quollen die Augen aus den Höhlen, seine Unsicherheit schwand und ging nahtlos in Wut über.

„Jetzt reicht es aber! Glauben Sie, ich habe meine Zeit gestohlen?“ Er sprang vom Stuhl und griff nach seinem Block. „Das hab ich bestimmt nicht nötig.“

Oha, die Hyäne wurde zum Tiger. Leons Vater blickte Zenker ruhig an. Nur das Zucken in seinen Augenwinkeln verriet, dass er kaum noch an sich halten konnte.

„Beruhigen Sie sich doch, Herr Zenker. Mein Sohn hat Sie doch nur um eine klare Auskunft gebeten. Kein Grund, laut zu werden.“

„Von wegen um etwas gebeten!“ Zenker fuchtelte wild mit einer Hand herum und warf Leon einen wütenden Blick zu. „Das sind absurde Anschuldigungen! Mit solchen Leuten muss ich keine Geschäfte machen!“

Wieder eine glatte Lüge, aber die hätte jeder durchschaut, ganz ohne Gedankenlesen. Leon erhob sich nun ebenfalls.

„Auf Geschäfte mit Ihnen können wir verzichten“, sagte er unwirsch. „Sehen Sie lieber zu, dass Sie Ihren Arsch hier raus bewegen, bevor ich mich vergesse und Ihnen den Laptop hinein schiebe!“

„Leon.“ Sein Vater stand nun ebenfalls auf und warf ihm einen warnenden Blick zu.

„Ist doch wahr!“

Zenker entgegnete nichts mehr. Er klappte den Laptop zu und stopfte ihn zusammen mit dem Block zurück in den Aktenkoffer. Mit großen Schritten war er bei der Tür und flüchtete ohne Gruß aus dem Konferenzraum.

„Dem ist der Arsch aber gewaltig auf Grundeis gegangen.“ Leon lockerte seine Krawatte und schüttelte seufzend den Kopf. „Den sehen wir nicht wieder“, stellte er zufrieden fest.

Sein Vater musterte ihn über die Gläser seiner Lesebrille hinweg.

„Ich habe geahnt, dass mit dem Kerl etwas nicht stimmt. Was hast du in seinen Gedanken alles gelesen?“

„Eine Menge. Mir ist ganz schlecht davon.“ Leon imitierte Kotzgeräusche. „Er kauft halb verfallene Hütten und lässt sie durch Schwarzarbeiter dürftig sanieren. Die Schäden sind sehr geschickt vertuscht und ausgebessert worden. Er verwendet die billigsten Materialien, teilweise fehlerhafte Ware vom Schwarzmarkt. Natürlich will er die Projekte dann so schnell wie möglich loswerden, damit er sich aus dem Staub machen kann. Robert Zenker ist nur eines seiner Pseudonyme.“

Leons Vater stieß geräuschvoll die Luft aus.

„So ein Dreckskerl! Ich möchte wissen, wie viele Menschen dieser Gauner schon reingelegt hat.“

„Das willst du nicht, glaub mir. Aber nicht mit Bergmann Immobilien“, antwortete Leon. „Das weiß ich zu verhindern.“

„Ohne dein Eingreifen hätte ich das Haus womöglich gekauft“, stellte sein Vater betroffen fest. „Du bist unglaublich.“

Leon grinste. „Pass auf, sonst könnte ich mir noch was darauf einbilden.“

Sie lachten beide auf.

„Na komm, Mister Eingebildet. Wir haben einen Termin. Hoffentlich nicht noch so ein Verbrecher. Einer am Tag reicht vollkommen.“

****

Eine halbe Stunde später saßen Leon und sein Vater in ihrem gewohnten Geschäftsessen-Restaurant. Leon zupfte gedankenverloren an den Spitzen des Mitteldeckchens, auf dem eine Glasvase mit frischen Blumen stand. Das Restaurant war im Stil der dreißiger bis vierziger Jahre eingerichtet, an den Wänden prangten in Gold gerahmte Bilder von Ikonen dieser Zeit, wie Edith Piaf, Humphrey Bogard oder Hans Albers. Leon bevorzugte privat coolere Kneipen wie „Davids Bar“ oder das „Underground“, aber ihm war natürlich klar, dass man dort schlecht Geschäfte abschließen konnte. Außerdem konnte er sich seinen Vater nur schwer in einer Diskothek vorstellen, in der halbnackte Frauen zu Technomusik in Käfigen tanzten.

„Leon. Hörst du mir überhaupt zu?“

Leon zuckte zusammen und blickte ihn über den Tisch hinweg an.

„Entschuldige Vater, hast du was gesagt?“

„Ich sagte, dass ich sehr stolz auf dich bin und nicht wüsste, was ich ohne dich täte. Der Vorfall heute war ja wieder mal Beweis genug. Ich mach das Geschäft schon so lange, aber ich habe die Ausbesserungen wirklich nicht gesehen.“

Leon winkte ab und klappte die Speisekarte auf.

„Für irgendetwas muss meine Gabe ja schließlich gut sein“, antwortete er. „Zur Feier des Tages darfst du mich zum Essen einladen. Ich hab einen Riesenhunger.“ Sein Vater schüttelte belustigt den Kopf und wollte sich ebenfalls die Karte nehmen. Dabei stieß er zwei Weingläser um, die klirrend davon rollten. Eines davon wäre vom Tisch gefallen, wenn Leon es nicht gerade noch rechtzeitig gefangen hätte. Er grinste, während sich sein Vater peinlich berührt umsah und das andere Glas wieder aufstellte.

„Das ist nicht lustig, Leon“, sagte er streng, doch sein Tonfall wurde von einem Lächeln um die Mundwinkel gemildert.

„Vielleicht nicht lustig, aber typisch für dich. Du hättest dein Gesicht eben sehen sollen. Bleib doch cool, Mann.“

Sein Vater verdrehte die Augen und rieb sich den grau melierten Kinnbart.

Leon lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück.

„Wer ist eigentlich der Mann, der uns diesen Laden in der Oranienstraße verkaufen will?“

Sein Vater zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nur, dass er Serban Grigorescu heißt, mehrere Immobilien hier in Berlin besitzt, und im Stadtteil Grünwald lebt. Ich habe ein paar Mal mit ihm telefoniert. Sein Sohn wollte an seiner Stelle kommen, weil er selbst einen wichtigen Termin hat.“ Er blickte auf seine Armbanduhr. „Er müsste jeden Augenblick da sein.“

Leon nickte und erhob sich.

„Würdest du mir bitte einen trockenen Weißwein und ein Glas Wasser bestellen? Wir sollten die Gelegenheit nutzen, solange die Gläser noch stehen. Ich bin gleich wieder da.“

„Das muss ich mir noch gut überlegen“, hörte er seinen Vater amüsiert antworten, während er sich bereits auf halbem Weg zu den Toiletten befand. Eine Bedienung kam ihm entgegen und lächelte ihm freundlich zu. Sie war hübsch, dunkle Locken umrahmten ihr zartes Gesicht. Leon spürte, dass sie nervös war, und konnte nicht widerstehen, ihre Gedanken zu lesen. Sie fand ihn süß … und sexy. Er grinste in sich hinein. Besonders gefielen ihr seine blauen Augen und die Art, wie er sein dunkles Haar trug. Wenn er an ihr vorbeigegangen war, wollte sie einen Blick auf seinen Hintern werfen. Leon lächelte zurück, worauf sich ihre Wangen rot färbten, dann unterbrach er rasch die Verbindung. Es war nicht fair, aber ab und zu musste er einfach wissen, was in den Köpfen der Menschen vorging. Vor allen Dingen beim weiblichen Geschlecht konnte er seine Neugier kaum zügeln.

Als Leon wenig später zurückkam, saß sein Vater nicht mehr allein am Tisch. Er unterhielt sich mit einem Mann, der nun aufsah und Leons Blick begegnete. Der Typ war ungewöhnlich blass, eine geheimnisvolle Aura umgab ihn. Leon war jetzt schon gespannt auf seine Gedanken. Seltsamerweise war ihm, als wäre er ihm schon einmal begegnet, doch an so einen Kerl würde er sich mit Sicherheit erinnern. Trotz seiner Blässe sah er aus wie einer dieser Typen, die für Unterwäsche oder Parfüm warben. Seine Gesichtszüge waren weich und doch wirkte er sehr männlich. Sein blondes Haar hatte er im Nacken zu einem Zopf gebunden, gekleidet war er in einen cremefarbenen Anzug und einem schwarzen Hemd. Leons kleine Schwester wäre sicherlich hin und weg von ihm gewesen.

„Darf ich dir Alexei Grigorescu vorstellen? Seiner Familie gehört das Objekt, er wird es uns nachher zeigen. Herr Grigorescu, das ist mein Sohn Leon. Er ist auch mein Geschäftspartner.“ Sein Vater blickte zwischen ihnen hin und her.

„Guten Tag, Herr Grigorescu.“ Leon streckte die Hand aus.

Alexei Grigorescu erhob sich kurz und erwiderte den Gruß. Seine Hand war kühl, er besaß einen kräftigen Händedruck.

„Freut mich, Herr Bergmann“, sagte er mit einem Lächeln, das ebenmäßige, weiße Zähne entblößte. Seine Stimme klang sehr tief, aber angenehm. Aus reinem Instinkt heraus unternahm Leon ohne Umschweife den Versuch, in seinen Geist einzudringen. Schneller als er erwartet hatte, entstand eine Verbindung, doch plötzlich sah ihn der Kerl mit einer Mischung aus Erstaunen und Überraschung an, in seinen grünen Augen blitzte es auf. Leon spürte einen unsichtbaren Schutzwall, der sich um Grigorescus Geist legte. Es war nun unmöglich zu sehen, was in seinem Kopf vorging. Leon war irritiert, doch er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Bedienung kam an den Tisch und nahm die Bestellung auf. Ihre Gedanken konnte Leon sofort wieder lesen und was sie über Alexei Grigorescu dachte, war nicht mehr jugendfrei. Sie verdrehte sich fast den Hals nach ihm, als sie ging, um die Bestellung der Küche zu übergeben.

Während des Essens lag der Schwerpunkt der Unterhaltung auf dem Immobiliengeschäft und Leon überlegte, ob er einen weiteren Versuch unternehmen sollte, in Grigorescus Geist einzudringen. Vielleicht hatte er sich vorhin nur eingebildet, er würde ihn mental abblocken? Wahrscheinlich war er nur unkonzentriert. Bisher war es Leon immer gelungen, sich auf telepathischem Weg in die Gedankengänge der Leute einzuschleichen. Grigorescu war offensichtlich ein hartnäckiger Fall.

Nach dem Essen gingen sie zusammen die Papiere und Pläne durch und unterhielten sich ungezwungen über verschiedene Themen. Die Grigorescus besaßen mehrere Grundstücke und Gebäude in Berlin und im Ausland, die sie vermieteten und auch teilweise zum Kauf anboten. Während des Gesprächs spürte Leon eine merkwürdige Spannung. Grigorescu schien unnahbar und geheimnisvoll – und er beobachtete Leon, wenn er dachte, er würde es nicht bemerken. Hatte er den mentalen Angriff auf seine Gedanken doch bemerkt?

„Und so haben wir uns entschlossen, das Gebäude zu verkaufen“, sagte Alexei gerade, während sein stechender Blick auf Leon traf. Dieser hob sein Glas und fixierte rasch das gerahmte Schwarz-Weiß-Bild von Hans Albers.

„Er war ein begnadeter Schauspieler“, bemerkte Alexei, der Leons Blick gefolgt war. „Ich habe ihn einmal in Hamburg getroffen.“ Er nippte an seinem Rotwein und grinste. „Ist jedoch schon eine ganze Weile her.“

Leons Vater lachte über den Witz, und auch Leon konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Leben sie schon immer in Berlin, Herr Grigorescu?“

„Meine Familie stammt ursprünglich aus Rumänien und kam hierher, als ich noch ein Kind war.“

Während er sprach, hörte Leon in seinem Kopf eine Stimme flüstern.

‚Du bist hinreißend … und wunderschön.’

Leon sah sich überrascht um und runzelte die Stirn. Wessen Gedanken hatte er denn jetzt schon wieder versehentlich gelesen? Und wer redete heute noch so geschwollen daher? Am Tisch neben ihnen saß ein älteres Paar. Links davon in einer Ecke tuschelten drei Damen, die aussahen, als kämen sie gerade von einem Treffen der unbefriedigten Hausfrauen. Sie tranken Prosecco und rauchten Kette. Leon versuchte sich zu konzentrieren, wurde jedoch von seinem Vater unterbrochen.

„Von mir aus können wir uns das Gebäude jetzt gleich ansehen, Herr Grigorescu. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit meinem Sohn schon mal vorzufahren? Ich muss noch kurz etwas erledigen.“

„Kein Problem. Sollen wir, Herr Bergmann?“ Alexei musterte Leon. Dieser blickte kurz irritiert zu seinem Vater, nickte jedoch.

„Ähm … ja, warum nicht.“

„Lass dich von Herrn Grigorescu schon mal herumführen, ich komme sofort nach.“ Er ließ Leon gar keine Zeit zu antworten, schnappte seine Autoschlüssel vom Tisch und nickte ihnen zu. „Kümmern Sie sich nicht um die Rechnung, die ist schon bezahlt. Bis gleich, ich beeile mich!“, rief er hektisch über seine Schulter und schon war er verschwunden.

„Ist Ihr Vater immer so impulsiv?“, erkundigte sich Grigorescu amüsiert. Leon zuckte mit den Schultern und lächelte schief. Der Typ war irgendwie seltsam. Er konnte höchstens vier oder fünf Jahre älter sein als Leon – also vielleicht dreißig – aber er drückte sich aus, als stamme er aus dem vorletzten Jahrhundert. Mit einem Mal war ihm eigenartig warm und er war froh, als sie kurz darauf auf die Straße hinaus traten.

Viele Menschen nutzten den ungewöhnlich warmen Spätsommerabend zu einem Spaziergang und so waren die Straßen gesäumt von schlendernden Pärchen, lachenden Kindern und Grüppchen von Jugendlichen. Alexei zog eine dunkle Sonnenbrille aus der Brusttasche seines Jacketts.

„Kommen Sie, mein Wagen steht dort hinten.“ Er deutete mit einer einladenden Geste die Straße hinunter und setzte die Brille auf. Leon grinste in sich hinein. Die Sonne war nicht mehr so stark, dass man eine Sonnenbrille brauchte, doch wahrscheinlich wollte er auf cool machen. Kurz darauf saßen sie in Grigorescus silberfarbenen Audi R8 auf dem Weg zu dem leer stehenden Geschäftsgebäude. Unterwegs sprachen sie kaum ein Wort und Leon war froh darüber. Er fühlte sich unbehaglich in der Nähe dieses Typen. Fremdartige Schwingungen umgaben ihn, die Leon nicht deuten konnte. Die Tatsache, dass seine mentalen Fähigkeiten bei ihm nicht funktionierten, machte ihn langsam nervös. Leon hatte eine dunkle Vorahnung, was dies bedeuten konnte.

Alexei schloss die Tür auf und bedeutete Leon, vor ihm einzutreten. Als Leon an ihm vorbei ging, stieg ihm ein angenehmer Duft in die Nase. Noch nie zuvor hatte er auf das Aftershave eines anderen Mannes geachtet, geschweige denn, es überhaupt wahrgenommen. Erneut fragte er sich, warum er Grigorescus Gedanken nicht lesen konnte.

‚Weil Sie nicht alles wissen müssen, Leon. Übrigens ist der Duft von Karl Lagerfeld.’

Leon stockte der Atem und er fuhr erschrocken herum. Alexei war gerade damit beschäftigt, die Tür abzuschließen.

„Ich hoffe, das Tageslicht, das durch die Fenster dringt, genügt Ihnen. Der Strom ist bereits abgeschaltet“, sagte er und wandte sich zu Leon um. Dieser starrte ihn perplex an.

2

Alexei kam im Halbdunkel auf Leon zu und nahm die Sonnenbrille ab.

„Alles in Ordnung, Herr Bergmann?“ Für den Bruchteil einer Sekunde tanzten Lichter in seinen Augen, als würde er winzige Blitze daraus abfeuern. Leon blinzelte irritiert und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Vielleicht war es ja nur ein Scheinwerfer von einem vorbeifahrenden Auto gewesen.

„Ja, klar. Alles bestens.“ Leon wandte sich rasch ab und sah sich um. Im Laden befanden sich einige angestaubte Regale und eine Verkaufstheke aus Holz. Er ging darauf zu und strich mit der flachen Hand darüber.

„Sie sagten, zuletzt war das hier ein Blumenladen?“

„Ja, das ist richtig.“ Grigorescus tiefe Stimme war plötzlich unmittelbar hinter Leon, der Luftzug seines Atems streifte seinen Nacken. Wie hatte er sich so schnell und geräuschlos nähern können? Als sich Leon umdrehte, blickte er geradewegs in tiefgrüne Augen. Eine geballte mentale Kraft traf auf seine Sinne, ihm wurde schummrig. Leon wich soweit zurück, bis er mit dem Rücken an die Theke stieß, und stierte Alexei Grigorescu an. Der Typ wurde ihm immer unheimlicher.

‚Haben Sie etwa Angst vor mir, Leon?’

„Was? Wieso sollte ich Angst vor Ihnen haben?“, antwortete Leon und schüttelte belustigt den Kopf. In der nächsten Sekunde fiel ihm auf, dass sich Alexeis Lippen gar nicht bewegt hatten. Leon krallte seine Hände fester in das Holz der Theke, die Zahnräder in seinem Gehirn arbeiteten auf Hochtouren. Und dann fiel es ihm schlagartig wie Schuppen von den Augen.

„Sie sind ein Telepath!“, stieß er atemlos hervor. Scheiße, er hätte es schon im Restaurant bemerken sollen, wo war nur sein mentales Einfühlungsvermögen geblieben?

„Genau wie Sie.“ Alexei neigte sich vor und legte die Hände unmittelbar neben Leons Händen auf der Theke ab, worauf dieser sich instinktiv zurücklehnte. „Faszinierend …“, murmelte er, während er Leon intensiv musterte. Für Leons Geschmack etwas zu intensiv, denn ihre Nasen berührten sich schon fast. „Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der wie ich, die Gabe des Gedankenlesens besitzt“, stellte Alexei fest und wirkte beeindruckt. Je länger Leon in seine ungewöhnlich grünen Augen blickte, umso eigenartiger fühlte er sich. Kein Geräusch drang mehr an seine Ohren, als hätte er Watte darin. Er spürte einen starken Sog, dem er sich nicht entziehen konnte. Auf so etwas war er absolut nicht vorbereitet. Der Raum zwischen ihnen schien zu vibrieren, als würden sie sich auf einem magnetischen Kraftfeld befinden. Leon war unfähig, selbstständig zu denken und zu fühlen. Sein Puls pochte unangenehm gegen seine Schläfen und hallte in seinem Kopf wider. Er erschrak, als er sich bei dem Gedanken ertappte, wie unverschämt gut der Kerl aussah. Beinahe überirdisch schön. Die Farbe seiner Augen besaß die Farbe von schimmernden Smaragden. Alexeis helle Haut schien wie feinster Marmor in ihrer Makellosigkeit und das blonde Haar umrahmte das Bild perfekt. Oh Gott, was hatte er denn plötzlich für schwule Gedanken, was war nur los mit ihm?

Leon sah den Anflug eines triumphalen Lächelns auf Alexeis Lippen und musste seinem Blick standhalten, so sehr er sich auch dagegen sträubte. Seine Beine wurden taub und er hatte das Gefühl, von innen heraus zu verglühen.

Scheiße, war er froh, als jemand gegen die Glasscheibe der Tür klopfte, denn in diesem Moment riss die eigenartige Verbindung zu Alexei ab. Erst jetzt konnte er wieder richtig atmen. Es war, als würde ihn jemand aus einem intensiven Tagtraum reißen.

„Leon? Herr Grigorescu?“

Alexei wich so abrupt zurück, dass Leon seiner Bewegung mit bloßem Auge kaum folgen konnte. Für eine Sekunde wirkte sein Umriss wie verschwommen. Leon schloss beirrt die Augen. Als er wieder aufsah, öffnete Alexei bereits die Tür.

„Entschuldigen Sie, ich wurde aufgehalten.“ Rolf Bergmann klang abgehetzt. „Hast du dich umgesehen, Leon? Was sagst du?“

Leon atmete tief durch und strich mit einer fahrigen Bewegung durch sein Haar.

„Man … man könnte etwas daraus machen, aber ich hab das Obergeschoss noch nicht gesehen“, entgegnete er und erschrak, wie heiser seine Stimme klang. Er räusperte sich und blickte zur Treppe, die sich am Ende des Verkaufsraumes befand. Als Leon kurz darauf vor Alexei die Stufen hinauf schritt, konnte er Grigorescus Laserblick im Rücken spüren. Der Kerl war ein Psychopath, er hatte ein Gespür für so was. Ein Mentalist … ein sehr guter auch noch, allem Anschein nach.

Wenig später saß Leon neben seinem Vater im Auto und dachte fortwährend darüber nach, ob Alexei Grigorescu vielleicht irgendwie seine Gedanken beeinflusst hatte. Es musste einfach so sein, denn wenn nicht, war er sich selbst unheimlich. Er konnte einfach nicht glauben, dass seine Überlegungen über Alexeis Attraktivität von ihm selbst gekommen waren. Natürlich konnte er nicht leugnen, dass der Kerl unheimlich gut aussah. Sie besaßen beide die Fähigkeit der Telepathie, also warum sollte Alexei nicht auch zusätzlich die Gabe besitzen, Gedanken beeinflussen zu können?

„Scheiße …“, flüsterte Leon leise, während er die Fingerspitzen gegen seine Schläfen legte und kurz die Augen schloss. Sein Schädel pochte und er hatte das Gefühl, etwas neben sich zu stehen. Vielleicht war er einfach müde und erschöpft und hatte sich das alles nur eingebildet? Es war ein langer Tag gewesen.

„Geht es dir nicht gut, Leon?“ Sein Vater riss ihn aus seinen Überlegungen.

„Ich weiß nicht“, antwortete er, und es war nicht einmal gelogen. „Ich hab plötzlich Kopfschmerzen bekommen. Vielleicht war es etwas zu heftig, innerhalb so kurzer Zeit in die Gedanken zweier Menschen einzudringen.“

Sein Vater blickte kurz besorgt zu ihm hinüber.

„Entschuldige. Ich habe dir zu viel zugemutet. Am besten fahr ich dich gleich nach Hause.“

Leon nickte dankbar. „Auf alle Fälle war es eine gute Entscheidung, eine Nacht darüber zu schlafen und Herrn Grigorescu dann anzurufen. Aber wie ich dir auf dem Weg zum Wagen schon sagte, brauchst du dir keine Sorgen zu machen, es ist alles seriös. Das Gebäude ist das Geld wert.“ Warum er das gesagt hatte, war ihm ein Rätsel. Schließlich war Leon ja nicht imstande gewesen, die Gedanken dieses Kerls zu lesen. Es war mehr ein Gefühl. Alexei Grigorescu mochte strange sein, aber er war definitiv kein Betrüger. Sein Vater lächelte zufrieden.

Er fuhr Leon nach Hause, wo er nach einem leichten Abendessen und einer Flasche Pils erschöpft vor dem Fernseher einschlief. Irgendwann, mitten in der Nacht, war er dort mit Rückenschmerzen aufgewacht, hatte im Halbschlaf seine Zähne geputzt, und sich dann in sein Bett verkrochen.

Sie befanden sich erneut in dem leeren, düsteren Laden. Alexei kam langsam auf ihn zu und streckte die Hand nach ihm aus. Seine durchdringenden Augen fesselten Leon sofort wieder. Er versank in Tiefgrün und ließ sich treiben, in einem Meer verwirrender Gefühle.

„Leon, komm zu mir. Ich werde dir Dinge zeigen, von denen du nicht einmal gewagt hast zu träumen.“ Die tiefe Stimme klang warm und verführerisch. Ohne zu zögern, legte Leon seine Hand in die von Alexei, worauf dieser ihn in seine Arme zog. Leon fühlte sich leicht und sorgenfrei in diesem Moment. Er schmiegte sich an die muskulöse Männerbrust und schloss die Augen.

„Du gehörst mir“, wisperte Alexei direkt an seinem Ohr. Heißer Atem traf die empfindsame Haut an dieser Stelle und hinterließ ein wohliges Frösteln darauf.

****

Leon stand am Fenster und nippte an seinem Kaffee. Der Traum von letzter Nacht war so real, und genauso aufregend wie verstörend gewesen. Er glaubte jetzt noch zu wissen, wie sich Alexeis Atem auf seiner Haut angefühlt hatte, und schüttelte entsetzt den Kopf. Was um Himmels willen war nur los mit ihm?

Noch nie zuvor hatte Leon romantische Gedanken an einen Mann gehabt, oder gar davon geträumt. Und doch schwebte jetzt Alexei Grigorescus engelsgleiches Gesicht ständig vor seinem inneren Auge!

Verzweifelt eilte Leon ins Badezimmer, trat ans Waschbecken und blickte in den Spiegel. Das erste Mal in seinem Leben stellte er sich die Frage, ob er irgendwie schwul aussah. Was hatte diesen Alexei gestern Abend zu seiner Psycho-Anmache veranlasst? Leon trug einen Dreitagebart, sein widerspenstiges Haar ließ sich nicht bändigen und fiel ihm ständig in die Stirn. Er benutzte kein Eau de Toilette, sondern nur Deodorant. Sein Körper war nicht übertrieben muskulös, aber doch gut durchtrainiert. Und er fluchte gerne und konnte sich durchaus wie ein Macho benehmen, wenn er wollte. Leon lachte beinahe hysterisch auf und spannte seine Brustmuskeln an. Jawohl, er war ein Frauenschwarm und er liebte die Frauen – einfach alles an ihnen. Ihre zarten Körper, ihre makellose Haut … und wie gut sie immer dufteten! Nein, er war definitiv nicht schwul! Wenn es ein Schwulen-Barometer gäbe, würde es bei ihm ganz unten im blauen Minus-Bereich stehen.

Mit dieser beruhigenden Erkenntnis wusch er sich die vielen Fragen in seinem Kopf mit eiskaltem Wasser ab und atmete tief durch.

Sein Apartment lag im siebzehnten Stock eines Hochhauses mit eigenem Swimmingpool. Sein Vater hatte es ihm damals zur bestandenen Abiturprüfung gekauft. Leons Halbschwester Fiona wohnte noch zu Hause. Mit sechzehn Jahren befand sie sich auf dem Höhepunkt der Teenagerzickenphase, aber sie war eine liebenswerte Zicke. Anstrengend, aber liebenswert. Wie die meisten Mädchen in diesem Alter verliebte sie sich ständig in einen neuen, noch cooleren Jungen und verbrachte Stunden im Badezimmer.

Leon saß gern auf seiner Dachterrasse, um über die Großstadt hinweg zu blicken. Er genoss die Aussicht auf sein geliebtes Berlin. Er war hier geboren, viele Erinnerungen verbanden ihn mit dieser Stadt. Hier hatte er seine Kindheit verbracht und hier hatte sein Vater nach vier Jahren der Einsamkeit sein zweites, großes Glück gefunden. Leons Mutter war bei einem Unfall gestorben, da war er gerade mal vier Jahre alt gewesen. Rolf Bergmann lebte danach nur noch für seine Arbeit und hatte irgendwann in seiner Einsamkeit zu trinken angefangen, um zu vergessen. Schaudernd erinnerte sich Leon an viele traurige, hoffnungslose Momente, in denen er mit seinen Ängsten und Gedanken allein war. Seine mentalen Fähigkeiten entwickelten sich zu dieser Zeit völlig unkontrolliert und machten ihn zu einem aggressiven und scheinbar oft grundlos wütenden Kind. Die Lehrkräfte in der Schule rieten seinem Vater schließlich, Leon zu einem Psychologen zu schicken.

Ja und das war Ines gewesen. Frau Doktor Ines Wilhelm hatte sie damals noch geheißen. Es dauerte nicht lange, bis sich sein Vater Hals über Kopf in die liebenswürdige, sympathische Frau verliebte, die seinem Sohn schon bald helfen konnte. Ines brachte die Sonne und das Glück in ihr Leben zurück. Bereits ein Jahr darauf hatten sein Vater und Ines geheiratet, und nach einem weiteren Jahr wurde Fiona geboren. Ines arbeitete viel mit Leon, nahm ihm die Angst vor seinen mentalen Fähigkeiten, zeigte ihm, wie er damit umgehen und sie steuern konnte. Vor allem aber gab sie ihm das Gefühl, ein ganz normales Kind zu sein, wie alle anderen auch. Dank Ines verstand sein Vater bald, dass Leons Gabe kein Fluch war, sondern auch ein Segen sein konnte.

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Leon rückte den Knoten seiner Krawatte zurecht und trat durch die verglaste Schwingtür in die Empfangshalle von Bergmann Immobilien.

„Guten Morgen, Leon! Ihr Vater ist bereits in seinem Büro und wartet auf Sie.“ Frau Gröbner trug wieder diese aufwendige Hochsteckfrisur, die sie den ganzen Tag über auf ihren perfekten Sitz überprüfte, und war gerade dabei, sich Kaffee einzugießen. Sie war die gute Seele der Firma und arbeitete schon so lange bei ihnen, dass sich Leon nicht mehr an die Zeit erinnern konnte, als sie noch nicht da gewesen war. Er legte seine Aktentasche auf der Theke ab.

„Ich geh gleich zu ihm. Steht irgendwas Besonderes an?“

Frau Gröbner stellte die Kaffeetasse ab, nahm einen Papierstapel von der Ablage und reichte ihn Leon.

„Das sind die Baupläne für das Kaufhaus-Projekt. Ansonsten wollte Herr Brückner sich noch mal wegen der Wohnanlage in der Leipziger Straße melden und Ihr Vater hat am Nachmittag diesen Termin bei Kellermann.“ Sie setzte sich und tippte etwas auf der Tastatur des Computers. „Ach ja und Dr. Mertens hat angerufen. Er ist morgen um zwölf Uhr im Plaza.

Leon nickte. „Ah gut, wir hatten in letzter Zeit selten Gelegenheit, zusammen zu essen. Sie müssen mich aber morgen unbedingt noch mal daran erinnern, sonst vergesse ich es garantiert.“

„Natürlich.“ Frau Gröbner lächelte und widmete sich wieder dem Bildschirm. Tom Mertens war seit der Grundschule Leons bester Freund. Die Praxis, in der er als Zahnarzt arbeitete, befand sich nicht weit von Bergmann Immobilien.

„Ich habe übrigens die Einladungskarten für die Wohltätigkeitsveranstaltung fertiggemacht“, informierte Frau Gröbner emsig, während sie gleichzeitig eine E-Mail schrieb. Die Frau war wirklich ein Multitasking-Talent. „Möchten Sie sie sehen?“

„Später. Ich nehme sie heute Mittag gleich mit zur Post. Ach und würden Sie uns bitte auch Kaffee bringen?“ Leon griff nach dem Papierstapel und nahm seine Tasche.

„Selbstverständlich, Leon. Ich bring Ihnen sofort zwei Tassen.“

Sein Vater saß an seinem Schreibtisch und blätterte in einem Ordner. Als Leon eintrat, sah er auf und musterte ihn über die Gläser seiner Lesebrille hinweg.

„Guten Morgen, Leon. Na, gut geschlafen?“

,Ja, ganz wunderbar. Ich hab von Alexei Grigorescu geträumt. Und dass ich schwul bin.’

In diesem Moment war Leon heilfroh, dass sein alter Herr keine Gedanken lesen konnte.

„Guten Morgen, Vater. Ja, danke, wie ein Murmeltier.“ Er stellte seine Aktentasche auf den Boden, ließ sich im Stuhl vor dem Schreibtisch nieder und legte die Baupläne darauf ab. Das Gesicht seines Vaters hellte sich auf, während er danach griff.

„Ah, die Baupläne vom Kaufhaus der Jansens. Den muss ich dann gleich anrufen.“ Er klappte den Ordner zu und nahm die Brille ab. „Leon, ich hätte heute Abend noch ein kleines Attentat auf dich vor.“

Leon erwiderte seinen Blick mit einer Mischung aus Neugier und Überraschung und wollte gerade fragen, um was es ging, als es an der Tür klopfte. Gleich darauf trat Frau Gröbner mit einem kleinen Tablett ein, auf dem zwei dampfende Tassen Kaffee standen.

„Genau das, was wir jetzt brauchen, Maria. Sie sind ein Schatz.“ Rolf Bergmann erhob sich, um der Sekretärin die beiden Tassen abzunehmen, und stellte sie auf dem Schreibtisch ab. Leon wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, und lehnte sich vor.

„Was wolltest du sagen? Was für ein Attentat denn?“

„Ich habe heute Morgen mit Herrn Grigorescu Senior telefoniert und ihm soweit zugesagt. Es fehlen aber noch einige Unterlagen, die ich heute Abend abholen wollte.“

Leon fing an, nervös mit dem Knie zu wippen und zuckte mit den Schultern.

„Das ist doch gut, aber was soll ich dabei tun?“

„Ich habe einen Termin, den ich unmöglich absagen kann. Ich weiß, heute willst du sicher noch mit Monika ausgehen, aber denkst du, du könntest das nach Büroschluss noch erledigen?“

Leon schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Er war nicht gerade scharf darauf, Alexei Grigorescu wieder zu treffen. Vielleicht würde er erneut seine Gedanken lesen und ihn mit seinem Psychoblick hypnotisieren. Im nächsten Moment schalt er sich selbst und rief sich zur Besinnung. Vor was hatte er Angst? Schließlich verfügte er selbst über mentale Kräfte und diesmal wäre er auf alle Fälle vorbereitet. Außerdem hatte er ja einen Termin mit Alexeis Vater und nicht mit ihm.

„Leon?“

Leon hatte einige Sekunden starr in seine Tasse geblickt und schrak nun beim Klang seines Namens auf.

„Was soll das werden? Willst du jetzt auch schon mit deinem Kaffee Kontakt aufnehmen, oder was?“ Sein Vater schüttelte belustigt den Kopf, dann aber nahm sein Gesicht einen ernsten Ausdruck an. „Alles in Ordnung mit dir? Du hast mir gestern Abend schon so einen abwesenden Eindruck gemacht.“

Leon nahm hastig einen Schluck Kaffee und erhob sich aus dem Sessel.

„Klar ist alles in Ordnung. Schreib mir die Adresse auf, ich mach das schon. Und mach dir keine Sorgen wegen Monika. Das ist sowieso vorbei.“

Sein Vater hob eine Augenbraue. „Seit wann das denn?“

„Schon eine Weile. Wir passen einfach nicht zusammen.“

„Du hältst es aber wirklich nie lange mit einer aus“, entgegnete sein Vater seufzend, ein mitfühlendes Lächeln legte sich auf seine Lippen.

Leon zuckte mit den Schultern. „Ich glaub, ich bin einfach nicht geschaffen für Beziehungen.“

„Wenn die Richtige kommt, wirst du es sein, glaub mir. Dann hast du also kein Problem mit heute Abend?“

„Nein, geht klar. Mach dir keinen Kopf. Gehen wir heute Mittag zusammen essen? Dann kannst du mir gleich die Adresse der Grigorescus aufschreiben.“

„Machen wir. Bis nachher – und danke.“

Leon verließ das Büro seines Vaters und machte sich an seine eigene Arbeit.

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Die Adresse der Grigorescus führte ihn in die Königsallee, einem Villenviertel mitten in Grünwald. Leon parkte seinen Wagen und atmete einmal tief durch. Meine Güte, er sollte nur Unterlagen abholen, nichts weiter. Das war doch keine große Sache. Rein, Papiere abgeben, Small Talk und ab nach Hause. Falls er wirklich auf Alexei traf, würde er schon zu verhindern wissen, dass dieser seine Gedanken las. Diesen Psychokram würde er jedenfalls nicht mehr abziehen können.

Er stieg aus und ging auf das gewaltige, gusseiserne Tor zu. Soweit er sehen konnte, war es ein weitläufiges Anwesen mit einem angrenzenden Park – spießig ohne Ende. Nachdem er das unverschlossene Tor passiert hatte, ging er über den mit Buschrosen gesäumten Kiesweg bis zum Eingang der Villa, die fast wie eine alte Burg wirkte. Sie war grau gemauert und zu beiden Seiten ragten schmale, hervorstehende Türme in die Höhe. Dazwischen befand sich ein breiter Balkon mit einem verschnörkelten Geländer im selben Stil wie das Eingangstor. Eine Steintreppe führte hinauf zu einer Haustür aus dunklem, schwerem Holz. Zu beiden Seiten wachten Steinlöwen, denen der Wandel der Jahreszeiten ziemlich zugesetzt hatte. Ihre großen, dunklen Augen blitzten aus den mit Moos überwucherten Köpfen hervor und schienen jeden von Leons Schritten zu beobachten. Nervös sah er nach oben zu den Fenstern. Manche Vorhänge waren zugezogen, teilweise die Fensterläden geschlossen. Leon blickte auf seine Uhr und stutzte. Vielleicht war überhaupt niemand zu Hause. Einen Moment bildete er sich ein, einer der Löwen hätte sich bewegt. Das Biest aus Stein starrte jedoch noch immer auf die Straße hinunter.

An der Haustür suchte er vergeblich nach der Türglocke. Da war lediglich ein Türklopfer aus Messing. Wieder zwei Löwen, die jeweils ein Ende eines schweren Halbringes in ihren Mäulern trugen.

Leon verdrehte die Augen. Noch spießiger! Nach kurzem Zögern klopfte er dreimal gegen das Holz und kam sich dabei ziemlich albern vor.

Schon bald öffnete ein älterer, untersetzter Mann die Tür. Er trug eine schwarze Hose und ein weißes Hemd mit einer Weste darüber, deren Knöpfe sich über seinem Bauch spannten. Ein ergrauter, lichter Haarkranz zierte seinen Hinterkopf und eine kleine, runde Brille saß auf der knolligen Nase. Er deutete eine Verbeugung an und bedachte Leon mit einem unergründlichen Blick aus seltsam abwesenden Augen. Ein Butler. Und allem Anschein nach einer von der alten Schule. Leon musste ein Grinsen unterdrücken.

„Sie wünschen?“ Die Stimme des Butlers klang hohl, während er eine Augenbraue hochzog und den Kopf schräg neigte. Leon trat einen Schritt vor.

„Guten Abend, mein Name ist Leon Bergmann. Ich werde von Herrn Grigorescu Senior bereits erwartet.“

Der Butler blickte ihn weiterhin eine Weile an, als musste er sich seine nächste Handlung erst ganz genau überlegen. Fast als wartete er auf eine innere Stimme, die ihm sagte, was zu tun war.

Der Kerl hatte so etwas Eigenartiges an sich, dass Leon nicht umhin kam, in seine Gedanken einzudringen. Doch da gab es nicht viele Informationen. Besser gesagt, gar keine. Er erschrak über die Leere, die im Geist des Butlers lag. Als wäre sein Gehirn nur mit Luft gefüllt. Leon war versucht, nach seinem Namen zu fragen und hätte schwören können, dass er ihn nicht wusste. Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als der alte Mann plötzlich eine einladende Geste machte. Er öffnete die Tür ein Stück weiter und trat stumm zurück, um Leon einzulassen. Etwas irritiert ging er an dem Butler vorbei und sah sich um.

Die Eingangshalle war beeindruckend, sie erstreckte sich in der Mitte über zwei oder drei Stockwerke hoch. Es war kühl und roch nach altem Gemäuer. Zu beiden Seiten erhoben sich mehrere Steinsäulen, die sich an der Decke zu einem imposanten Gewölbe zusammenschlossen. Der Fußboden war mit schwarzen und weißen Granitplatten in kunstvollen Mustern verlegt. Zwei Marmortreppen führten seitlich an den Säulen entlang zu den oberen Räumen, ein roter Läufer erstreckte sich auf ihrer gesamten Länge. Leon blickte nach oben, wo ein protziger Kronleuchter aus Gold und Kristallen hing. Erst jetzt bemerkte er, dass er wie angewurzelt stehen geblieben war. Ein Räuspern holte ihn zurück in die Gegenwart. Leon wandte sich um und begegnete dem Blick des Butlers. Dieser deutete mit einem Kopfnicken auf die rechte Treppe.