Schattendämonen 2 - Nybbas Nächte - Jennifer Benkau - E-Book

Schattendämonen 2 - Nybbas Nächte E-Book

Jennifer Benkau

4,7

Beschreibung

Die Liebe verleiht Flügel, so sagt man. Doch manchmal sind Flügel nicht genug, um zwei Welten zu überspannen ... Einen Dämon zu lieben, stellt eine ganz besondere Herausforderung dar. Dies war Joana klar, als sie sich mit Nicholas in einen Kokon geliehener Zeit eingesponnen hatte. Als wie aus dem Nichts ihre Feinde zuschlagen, gerät alles ins Wanken, woran Joana glaubt und lässt die Seifenblase der Illusion eines normalen Lebens platzen. Zur Verteidigung bleibt Joana nur eine Möglichkeit: Sie muss endlich lernen, ihre Clerica-Kräfte zu beherrschen und sucht auf Island eine abtrünnige Dämonenjägerin auf, um sich von ihr trainieren zu lassen. Doch muss sie schnell feststellen, dass unter dem grünlichen Schein der Aurora Borealis über dieser geheimnisvollen Insel nichts ist, wie es scheint. Nicholas indes steht eine harte Prüfung bevor, denn sein Vertrauen zu Joana wird tief erschüttert. Seiner großen Liebe Glauben zu schenken, kostet den Nybbas einen schier unbezahlbaren Preis ...

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Nybbas Nächte

Schattendämonen 2

Jennifer Benkau

Schattendämonen 1: Nybbas TräumeSchattendämonen 2: Nybbas Nächte

© 2011 Sieben Verlag, Ober-RamstadtUmschlaggestaltung: Mark Freier, MünchenISBN Printausgabe: 978-3-941547-14-8ISBN E-Book: 978-3-941547-59-9

www.sieben-verlag.de

1

Durch und durch verdorbene Seelen sind erstaunlich schwer zu finden. Ein Trost für die meisten, doch ein ernstes Problem für den Ilyan.

Elias lehnte sich gegen die Wand und hielt den Atem an. Der Hunger quälte ihn seit Tagen. Lange würde sich der Schatten in seiner menschlichen Hülle nicht mehr abhalten lassen, mit Gewalt zu holen, was er brauchte. Nahrung.

Auf der Suche nach Beute weitete er seine Sinne, bis sie das menschliche Maß überschritten. Aus dem Müllcontainer, der ihm Sichtschutz bot, drang ein unerträglicher Gestank nach Verwesung. Rattenpfoten kratzten am Metall, untermalt vom Summen der Schmeißfliegen. Die Geräusche der nahen Einkaufsmeile drangen nur peripher an Elias’ Ohren. Schwatzende Menschen, das Klackern hochhackiger Schuhe, Gelächter. Irgendwo in dieser Gasse stand ein Fenster offen, im Inneren sah jemand ein Basketball-Spiel an. Eine College League. Uninteressant. Er konzentrierte sich auf die näher kommenden Stimmen. Eine davon war ein Volltreffer.

„In der Schule sagen sie, dass böse Menschen manchmal Lügen erzählen. Du lügst mich aber nicht an, oder?“

„Nein, Annie. Ich habe dir doch meine Polizeimarke und meine Dienstwaffe gezeigt. Polizisten lügen nicht, das weißt du doch. Und jetzt komm. Deine Mom will, dass du schnell bei ihr bist. Ich habe es ihr versprochen.“ Erwartungszitterndes Atmen untermalte die Worte und sprach eine Sprache, die das Kind nicht verstand. Sie verwandelten Elias’ Ahnung, einen Richtigen gefunden zu haben, in Gewissheit. Er blendete aus, was er hörte, sah und roch, und fokussierte seinen Geist aufs Fühlen. Nur das, wonach er suchte, brachte die Luft zum Schwingen. Und jetzt schwang sie nicht, sie bebte. Yeah, diese Seele war schwarz wie die Nacht. Klasse!

Die Schritte kamen näher. Die Schatten, ein großer bulliger, und ein kleiner daneben, glitten in sein Sichtfeld. Er ließ sie sein Versteck passieren und beobachtete sie unbemerkt. Das Mädchen hatte einen Pappbecher von Burger King in der Hand. Der Mann war Mitte vierzig, trug ausgebeulte Jeans und eine Kunstlederjacke. Eine Wolke von aufdringlichem Aftershave wehte hinter ihm her. Er hielt die Kleine am Arm fest und führte sie tiefer in die Schlucht zwischen den Hochhäusern. Dabei wichen sie Unrat aus, der auf den Wegen lag.

„Ich glaube, ich will doch lieber erst zu Dad.“ Unschuld lag in der Stimme. Naives Vertrauen.

Der Mann lachte leise. „Nun komm schon, Annie. Wir sind gleich da. Mommy wartet auf dich. Wir wollen sie doch nicht enttäuschen.“

„Ich weiß nicht. Du hast gesagt, sie hat sich wehgetan … aber hier ist doch gar kein Krankenhaus.“

„Es ist eine Arztpraxis.“

Der nächste Atemzug des Mädchens war ein wenig lauter. Vermutlich hatte er den Griff um ihren Arm verstärkt. Sie sagte noch etwas, doch die Worte wurden von den Sirenen eines nahen Polizeiwagens verschluckt. Der Mann ging schneller.

Zufrieden seufzte der Ilyan unter seiner menschlichen Maskierung. Der Bostoner Süden war nicht mehr der Ort, den er in den Neunzigern verlassen hatte. Heute musste man die Gettos suchen, statt überall von ihnen gefunden zu werden. Doch zwischen manch einem asiatischen Take-away-Imbiss und dem benachbarten Irish Pub tat sich eine Gasse auf, die ihn in seine Zeit zurückversetzte. In dieser kämpften rivalisierende Banden um illusorische Ehre, Huren um die Freier und Junkies um den nächsten Schuss. Hier fand er, was er brauchte. Pechschwarze Menschenseelen. Außerdem die Erinnerungen, die seine Finsternis ein wenig erhellten.

Laureen.

Laureen, Nicholas und er. Eine Weile waren sie glücklich gewesen. Zumindest hatte er das immer geglaubt. Naives Kind, das er gewesen war. So naiv wie das kleine Opfer an der Hand des Pädophilen.

Er fuhr aus seinen Gedanken hoch, als der Mann einige Meter entfernt eine Haustür aufschloss. Das Mädchen bemerkte schüchtern, dass es ein sehr altes und schmutziges Haus sei. Raues Kichern kommentierte die Worte. Es weckte Lust in Elias, eine Dummheit zu begehen. Heute würde er eine Show darbieten. Gefahr hin oder her, aber dieser Mann würde dem Dämon ins Antlitz sehen, wenn er starb.

Hey, warum auch nicht? Selig sind die geistig Armen, und der Zug Richtung Genie war ohnehin abgefahren. Er ließ seinen menschlichen Körper hinter dem Müllcontainer fallen. Sein Schattenleib hob sich empor und manifestierte sich. Er spannte die Muskeln in seinen Flügelansätzen an und ein Zittern lief die Schwingen hinab. Mit den Fingern glitt er über den Griff seines Schwertes, fragte sich, ob er es heute brauchen würde. Im Geiste kostete er die Luft. Sie schmeckte sicher, aber das wusste man nie so genau. Amerika war voller Dämonen. Wo sie nicht waren, fiel die Aura eines Einzelnen umso stärker in den Blick derer, die nach ihnen suchten. Die Clerica hatten weder Geruch noch Geschmack, wenn sie sich näherten. Nichts unterschied sie von normalen Menschen, bis auf die Fähigkeit, einen Dämon mit der Kraft eines Gedanken zur Hölle zu schicken.

Für heute konnten sie ihn alle mal. Kreuzweise, wenn es nach ihm ging, und bitte das Amen hinterher nicht vergessen. Er folgte dem Mann und dem Kind zu der Haustür, die langsam hinter ihnen zufiel. Fünfzig Klingelknöpfe, an wenigen standen Namen. Anonym, heruntergekommen und fast leer stehend. Ideal für das, was der Mann vorhatte. Das perfekte Klischee. Er, der Racheengel, war das Sahnehäubchen.

Einen Zentimeter, bevor das Türblatt den Rahmen erreicht hatte, legte er seine Hand auf das rissige Milchglas und drückte dagegen. Unter seinen Fingern knirschte es. Aus dem Flur schlugen ihm grelles Licht und der Geruch von Linoleum, kaltem Zigarettenrauch und Katzenkot entgegen. Das Mädchen fuhr herum, gab einen Schmerzlaut von sich, weil der Mann den kleinen Arm fester umklammerte. Zugleich warf dieser einen Blick über die Schulter. Seine Hand hielt auf dem Weg zur Fahrstuhltaste inne, die Augen weiteten sich ungläubig hinter der Brille. Er ließ das Kind los und drehte sich um, wich in derselben Bewegung bis an die Fahrstuhltür zurück.

Der Ilyan ließ die Tür hinter sich zufallen und trat näher, bis die Brillengläser des Mannes sein eigenes maskiertes Gesicht widerspiegelten. „Hi.“ Er klopfte ihm mit den Fingerknöcheln gegen die Brust. „Noch Luft für letzte Worte, Sterblicher?“

„Was soll die bescheuerte Verkleidung?“, blaffte der Mann. Ausbrechender Schweiß auf seiner Oberlippe zeugte von Angst. „Bist’n Freak, hä?“

Das Mädchen streckte die Hand nach den Flügeln des Ilyan aus. Sie reichte ihm nicht einmal bis zum Nabel, war allenfalls acht Jahre alt. „Flügel“, flüsterte sie ehrfürchtig. „Bist du ein richtiger Engel?“

„Was soll der Scheiß?“ Die Stimme des Mannes wurde laut, gleichermaßen zittrig. Er hatte das Schwert gesehen. „Ich hab ihr nichts getan. Was willst du von mir?“

„Nichts, das von Bedeutung wäre.“ Der Ilyan spürte, wie die Finger des Kindes seine Schwingen berührten, aber beachtete es nicht weiter. Das energetische Summen des verdorbenen Menschen schoss verführerisch durch seinen Körper. „Ich will nur deine Seele. Leider muss ich dein Leben dazu nehmen, das ist die Drecksarbeit bei dem Job.“

Überraschend schnell griff der Mann unter seine Jacke, zog und entsicherte mit geübtem Griff eine Pistole. Der Ilyan fing die Waffe noch in der Bewegung ab und quetschte die Finger des Mannes gegen das Metall, sodass er den Abzug nicht ziehen konnte. Der Atem des Menschen wurde rau. Ganz langsam führte der Ilyan die Waffe an seinen eigenen Kopf, richtete sie zwischen seine Augen. Der Lauf kratzte über das Metall seiner Maske. Die menschliche Hand unter seiner eigenen bebte. Das Mädchen schnappte nach Luft und wich zurück.

„Drück ab“, flüsterte der Ilyan und ließ den Mann los. Er breitete die Arme aus. Nette kleine Show. In der Reflexion der Brille betrachtete er sein eigenes dünnes Lächeln. Mehr als lächeln konnte seine unbewegliche Miene nicht. Er hoffte, der Idiot würde schießen und sich den Querschläger einfangen.

Die Waffe schabte leise über seine Stirn, weil die Hand des Mannes zitterte. Ansonsten blieb es still.

„Feiger Versager.“ Elias schlug die Pistole mit dem Handrücken fort. Sie flog an die Wand und schepperte zu Boden. Grob packte er den Mann am Haar und zog dessen Gesicht bis an seines. Es begann sofort. Die verzweifelt gegen seine Brust trommelnden Schläge spürte er kaum, so sehr nahm ihn der Rausch gefangen. Er zerrte die Seele des Menschen aus seinem Körper, riss sie in tausend Splitter und atmete jeden einzelnen ein. Trank die Tropfen und füllte mit ihnen die Leere seiner eigenen Seele. In einem kreischenden Staccato jagten die Bilder durch seinen Kopf. Bilder, die ihn anwiderten, die Hass und blindes Verlangen nach Rache schürten. Jeder flüchtige Blick durch die Augen des Mannes, der so viel Gefallen an kleinen Körpern fand, schmerzte. Gleichzeitig waren diese Bilder das, was er wollte. Das, was er brauchte, wovon er lebte. Und so genoss er die Erinnerungen des Kinderschänders, wofür er sich verachtete. Sein Los als Racheengel. Er konnte nicht anders, aber das machte es kaum besser.

Der Blick des Menschen war leer, als er von ihm abließ. Längst war der Körper zu Boden gefallen und lag auf dem Rücken, die Muskeln schlaff, der Puls nur noch ein Wispern in den Adern. Dass er auf der Brust des Todgeweihten hockte wie ein Nachtmahr, wurde dem Ilyan erst jetzt bewusst. Noch immer lag ein feines Summen in der Luft – die Präsenz der finsteren Menschenseele. Vielleicht hallte nur ihr Echo aus ihm selbst zurück. Seine Seele war kaum besser.

Er lauschte, ob sich jemand näherte. In einer der unteren Wohnungen schwatzte eine alte Frau mit dem Fernseher, von weiter oben vernahm er den Streit eines Paares. Niemand hatte Notiz von dem Kampf genommen. Seine Hand glitt zum Schwert, doch inmitten der Bewegung hielt er inne. Das Kind musste nicht mit ansehen, wie er den Mann köpfte oder der Länge nach aufschlitzte.

Aber er wollte es. Das Verlangen war groß. Den Kerl seelenlos am Leben zu lassen, kam nicht infrage. Keine Zeugen hinterlassen. Schließlich umfasste er erneut den Kopf seines Opfers. Ein harter Ruck, ein schmatzendes Knirschen, und dieses Leben war beendet. Er legte den Kopf so ab, dass man ihm auf den ersten Blick nichts ansah, drückte die Lider über den starren Augäpfeln zu und wischte sich die Hände am schmierigen Fußboden ab.

Dann war er es, der erstarrte.

Das Summen klang nicht ab. Noch immer zitterte die Luft. Er fuhr herum. Das kleine Mädchen saß in einer Ecke, eng an die schmutzigen Treppenstufen gepresst. Sie hatte die Hände krampfhaft gefaltet, als würde sie beten, und starrte ihn aus großen Augen an. Ihre Limo war zu Boden gefallen und bildete eine Pfütze zu ihren Füßen.

„Ich glaube, der Mann war gar kein Polizist.“ Ihre Stimme war kaum zu hören. „Ist er jetzt im Himmel?“

Der Ilyan erhob sich, machte ein paar Schritte in ihre Richtung. Die Präsenz verdichtete sich mit jedem Zentimeter. Er stöhnte auf. Wie war das möglich? Sie war verdammt noch mal ein Kind. Ihre Seele konnte unmöglich derart finster sein.

„Vergiss ihn, der tut keinem mehr was. Brauchst keine Angst haben.“

„Dann ist meiner Mom nichts passiert, oder?“

Er schüttelte schwach den Kopf und ließ sich mit etwas Abstand zu ihr auf der Treppe nieder. Verflucht sei sie – es war dumm, hier Zeit zu vergeuden. Er musste seinen Körper schnappen und verschwinden, bevor noch Clerica auftauchten. Doch zunächst wollte er ihr Geheimnis lüften. Diese dunkle Aura konnte nicht die ihre sein. Erneut streckte sie die Hand zaghaft nach seinen Flügeln aus. Im Moment der Berührung zerbrach jeder Zweifel. Das Lied der schwarzen Seelen sang dumpf in seinen Knochen.

„Ich hab keine Angst“, sagte das Mädchen. Er hätte ihr fast geglaubt. „Du bist gekommen, um mich zu retten. Grandma hatte recht. Ich habe einen echten Schutzengel, wie sie gesagt hat.“

Er lachte freudlos auf. „Nee, vergiss das schnell wieder. Annie … so heißt du, richtig?“

Sie nickte und in ihren Augen funkelte ein Sternchen aus Enttäuschung. „Aber du bist doch ein Engel.“

„So etwas in der Art. Aber ich war nur zufällig hier. Du hast einfach verfluchtes Glück gehabt.“

„Du redest gar nicht wie ein Engel. Wie kannst du denn reden, wenn deine Lippen sich nicht bewegen? Warum hast du diese Maske im Gesicht?“

„Keine Ahnung. Ist vielleicht besser so.“

Sie zupfte an einer Feder und verengte die Lider. „Und deine Flügel sind hart und nicht weich wie bei Vögeln. Kannst du überhaupt fliegen?“

Ihre Neugier, gepaart mit der Gewissheit, wie verloren sie war, berührte etwas in ihm. Er rang mit dem Impuls, ihr übers Haar zu streichen, tat es aber nicht. „Ja, kann ich. Aber nicht in diesem Körper. Die Flügel sind nutzlos. Sie sind nur im Weg.“

Sie atmete lautstark ein, runzelte empört die Stirn. „Gar nicht wahr. Sie sind wunderschön! Wenn ich solche Flügel hätte, würden alle staunen. Ohne sie wärst du nur ein halb so schöner Engel.“

Jetzt konnte er nicht mehr anders, als die Hand nach ihr auszustrecken. Seine weiße Haut bildete einen faszinierenden Kontrast vor ihrem nussbraunen Haar. Das lockende Summen wandelte sich mit der Berührung zu Energie. Es schoss in seine Finger, lief durch seinen Arm und verlor sich erst in seiner Brust. Endlich begriff er. Ihre Seele war nicht mit Schwärze gefüllt. Aber auch mit nichts anderem. Sie war leer. Vollkommen leer, als hätte dieses Kind keine Seele, sondern stattdessen ein schwarzes Loch in seinem Inneren. Was nicht möglich war.

„Hast du gehört, was ich zu dem bösen Mann gesagt habe, Annie?“ Er war nicht sicher, ob es Erschütterung oder bloß morbides Interesse war, das seine Stimme dünn werden ließ. „Dass ich ihm die Seele wegnehmen musste, hast du das verstanden?“

Sie schluckte, nickte und senkte den Blick.

„Du hast das schon einmal gehört, oder? Ich bin nicht der Erste, der so etwas sagt.“

Sie flüsterte: „Ich darf das nicht verraten.“

„Doch, darfst du.“ Er musste sich beherrschen, sie seine Erregung nicht spüren zu lassen. „Ich bin ein Engel, schon vergessen? Der … Herr von ganz oben schickt mich, damit ihr Menschen mir alles sagen könnt, was sonst keiner erfahren darf.“ Großartig, jetzt erzählte er schon Märchen vom lieben Gott. Langsam wurde es lächerlich. Aber Lügen waren sein Metier, und nun zählte allein die Antwort.

„Da war eine Frau“, begann sie. „Ich glaube, sie war auch ein Engel, denn sie war so schön. Sie kam vor ein paar Wochen, als mein kleiner Bruder David ganz schlimm krank war. Ich saß auf der Schaukel im Park und hab geweint, weil David im Krankenhaus bleiben musste. Wir hatten alle Angst, dass er sterben würde.“

Sie zog die Nase hoch, wischte sie dann mit den Fingerrücken ab und vergrub ihre kleine Hand in der seinen. Die nächsten Worte entgingen ihm. Einerseits, weil er unbewusst seine zweite Hand schützend über ihre feuchten, klebrigen Finger gelegt hatte. Er wusste nicht, warum. Andererseits musste er gegen den Drang ankämpfen, sie von sich zu stoßen. Ihre Leere sandte ihm elektrische Impulse durch Mark und Bein, die in jedem Knochen schmerzten. Gut, dass seine Miene starr war, ansonsten hätte er das Gesicht verzogen. Er kämpfte mit sich, hielt es aus und konnte sich endlich auf ihre Worte konzentrieren.

„… wollte ihn wieder gesund machen, aber sie sagte, sie bräuchte dazu meine Hilfe. Ich sollte ihr versprechen, dass sie meine Seele haben darf, wenn ich alt genug bin.“

Er keuchte auf. „Wann? Sag mir, wann das passieren soll, Annie.“

„Wenn ich groß bin. Bis dahin soll ich schön brav bleiben, hat die Frau gesagt. Und tun, was meine Eltern sagen.“

„Fuck!“

Sie kicherte trotz der Tränen in ihren Augen und entblößte eine breite Lücke in den Reihen ihrer Milchzähne. „So was sagen Engel eigentlich nicht.“

„Warum hast du das gemacht, Kleine?“ Die ungewollte Schärfe seiner Stimme ließ das Kind zusammen-schrecken. „Hast du eine Ahnung, was du da verkauft hast?“

Ihre Unterlippe begann zu zittern. „N-nein. Bis ich groß bin … das ist doch noch so lange hin. Ich musste David helfen. Und der Frau auch. Sie tat mir so leid.“ Ein Schluchzen schüttelte ihren Körper, die kleine Hand krallte sich um seine Finger. „Hab ich etwas Falsches gemacht? Ist Gott jetzt … böse auf mich?“

„Blödsinn, Annie.“ Er mahnte sich zur Ruhe. „Keine Angst, ist schon gut. Keiner ist böse auf dich, alles cool. Erklär mir nur eins: Warum musstest du der Frau helfen?“

Die Augen des Mädchens verengten sich trotzig, erneut zog sie heftig die Nase hoch. Ein Funken uralter, unmenschlicher Wut flammte in den blauen Augen auf. „Jemand hat eines ihrer Kinder getötet. Ein Verräter. Sie sagte, sie muss ihn suchen und bestrafen, aber dafür braucht sie viele Kinder, die ihr helfen, stark zu bleiben.“

Der Boden schien sich unter ihm aufzutun. Er fiel in eiskaltes Wasser aus Gedanken ohne Zusammenhang. Im Moment des Luftholens gefroren sie zu einem Stück Erkenntnis, das ihn in seiner Mitte einschloss und ihm jede Regung verbot.

Die Gerüchte waren wahr. Legenden würden sich mit der Realität vermischen.

Der erste Fürst bereitete die Jagd vor.

2

Seltsam, wie schnell die Fassade einer heilen Welt durch ein einziges, triviales Geräusch zerstört werden und in Scherben niederfallen konnte.

Joana wusste nicht, warum das Klopfen an der Haustür sie so erschreckte. Vielleicht war es die Art, mit der Nicholas aufsah. Die ihr vertraute Weise, mit der er Gleichgültigkeit nach außen kehrte, sobald ernsthaft Grund zum Gegenteil bestand. Während seine Gesichtszüge ruhig blieben, nahm der Dämon die Witterung auf.

Ohne ein Lesezeichen hineinzulegen, klappte Joana ihr Buch zu und ließ es aufs Sofa sinken. Sie erkannte nicht, was er ahnte, doch als sie aufstehen wollte, um zu öffnen, winkte er ab. Er stellte sein Weinglas mit zu viel Schwung auf den gekachelten Tisch und ging zur Tür. Sie folgte ihm, teils neugierig, teils besorgt. Abendlicher Besuch war selten, um nicht zu sagen, noch nie vorgekommen. Kunden und Geschäftspartner ihres Oldtimerhandels riefen an. Die paar Angestellten hatten keine Gründe, unangemeldet zu erscheinen. Nachbarn gab es nicht. Außerdem zeigte die Uhr schon Viertel nach elf.

Joana atmete tief durch, roch Mandarinen, Bienenwachskerzen und Nicholas’ Körper. Es sollte niemand an der Tür stehen. Wer immer es war, er gehörte hier nicht her.

Sie folgte Nicholas, blieb jedoch einen guten Meter hinter ihm und sah über seine Schulter, während er die Tür öffnete. Sogleich fand sie sich im Blick eines Mannes wieder, den sie nie gesehen hatte und dennoch sofort erkannte.

Erleichterung erfüllte sie. „Elias!“ Die Augen, traurig und zugleich spöttisch verengt, verrieten ihn. Solche Augen hatte nur Elias.

Nicholas griff nach ihrem Arm und hielt sie zurück, als sie sich an ihm vorbeidrücken wollte. „Nun, jetzt wohl nicht mehr, oder?“ Er sah den jungen Mann in der Tür misstrauisch an.

Dieser erwiderte Joanas Lächeln. Seines schien unglücklich wie eh und je. „Elias ist schon okay. Ehrlich, ich mag den Namen, belassen wir es dabei.“

„Komm rein“, wies Nicholas an.

Erst jetzt schlug er dem anderen freundschaftlich auf die Schulter und entspannte sich. Joana atmete so laut auf, dass es den Männern sicher auffiel, aber sie ließen sich nichts anmerken und traten gemeinsam in den offenen Wohnbereich.

Elias’ Geschmack war erlesen. Dieser Körper war nur wenig älter als der des Jungen, den Joana zu kennen geglaubt hatte, allenfalls Mitte zwanzig. Rehbraunes Haar, im Kerzenlicht von rötlichen Strähnen durchzogen, stand ihm stachelig vom Kopf ab. Die großen, braunen Augen erinnerten ebenfalls an ein scheues Tier, und seine undurchschaubare Mimik war altbekannt. Die eisige Maske des Racheengels schien durch seine Haut zu schimmern.

„Hübsch.“

Elias sah sich um. Er ließ seinen Blick die hohen Natursteinmauern emporgleiten, folgte den Ebenholzbalken an der Decke und zog mit den Fingern im Vorbeigehen eine Linie auf dem Kaminsims.

„Staubig“, verbesserte Joana und beide bemühten sich zu lachen.

Nicholas blieb befangen. Ohne Elias aus den Augen zu lassen, setzte er sich auf die Couch. Er traute ihm nicht. In gewisser Weise schien er ihn zu fürchten, obwohl die beiden eine innige Zuneigung verband. Sie würden füreinander sterben – und doch war nicht auszuschließen, dass sie sich gegenseitig irgendwann umbrachten. Joana hatte die Ambivalenz in Nicholas’ Gefühlen nie verstanden. Den dämonischen Gesetzen zufolge war Elias sein Eigentum, in Wahrheit jedoch besaß dieser Macht über Nicholas. Etwas, das sie nicht durchschaute und er ihr nicht zu erklären bereit war.

Sie schüttelte die Gedanken ab, ehe sie sich selbstständig machten, und nahm ein weiteres Weinglas aus der Vitrine. Von den bauchigen Rauchkristallkelchen besaßen sie nur noch die beiden, die bereits auf dem Tisch standen. Es waren sechs gewesen, als sie das komplett ausgestattete Haus angemietet hatten. Zwei der teuren Gläser waren ihrer Schusseligkeit zum Opfer gefallen, zwei weitere Nicholas’ Wutanfällen. Ausgeglichen, sollte man meinen. Zumindest, solange man den Inhalt der Küchenschränke außen vor ließ.

Sie kam nicht umhin, Elias ein Weißweinglas mit Dao Noble zu füllen. Jeder portugiesische Weinbauer hätte sie für diesen Frevel augenblicklich des Landes verwiesen. Selbst Nicholas hatte den Anstand, bei dem Anblick den Kopf zu senken und ein schuldbewusstes Lächeln aufzusetzen. Er griff über den Tisch nach ihrer Hand, zog sie um das Möbel zu sich auf den Schoß. Seine Nase teilte ihr Haar und sie spürte einen Kuss im Nacken. Eine liebevolle Geste und zugleich ein deutliches Zeichen an Elias. Nichts ging über dämonische Besitzansprüche. Die Verhältnisse sollten in all ihrer Deutlichkeit demonstriert werden.

Elias schien es egal, er kippte den Rotwein stehend in einem Zug runter und ließ sich in einen der Leder-sessel fallen.

„Hattest du einen guten Flug?“, begann Nicholas, Konversation vorzugaukeln.

Joana unterdrückte es, die Augen zu verdrehen. Als würde ihn das interessieren. Er hatte ganz andere Fragen.

„Ich bin mit dem Wagen hier. Hab vorne an der Straße geparkt, weil ich das Haus nicht sofort finden konnte.“

„Es liegt etwas abseits. Wir sind gern unter uns. Besuch ist für gewöhnlich lästig und macht Dreck.“

„Du Ekel!“ Joana knuffte Nicholas in den Oberschenkel, setzte einen Klaps gegen seinen Hinterkopf nach und blickte Elias entschuldigend an. „Er übernimmt sich mal wieder mit Höflichkeiten. Beachte ihn nicht.“

Braune Augen zwinkerten ohne Humor in ihre Richtung, doch wirkliche Aufmerksamkeit schenkte er ihr nicht. „Ist schon okay, Mann. Ich wollte euch echt nicht stören. Oder gar von irgendwelchen Dingen abhalten, die man in einer sternenklaren Nacht so treibt.“ Er grinste und schüttete sich das Glas ein zweites Mal voll. „Alter, wir haben November und es ist nachts noch mild wie in Deutschland im Sommer. Ihr habt euch ein lauschiges Plätzchen ausgesucht, ich bin schwer beeindruckt.“

Nicholas verlagerte das Gewicht und Joana kippte fast von seinem Schoß. „Wie hast du uns gefunden?“ Seine Frage klang nach einer Anklage.

„Sei froh, dass ich euch gefunden habe.“

In Joana weckten diese Worte ein unangenehmes Kribbeln. Die Tatsache, dass er in ihrer Anwesenheit offenbar nicht weitersprechen wollte, ließ dies zu Sorge anschwellen. Sie glitt von Nicholas’ Beinen neben ihn, sodass sie ihn ansehen konnte. Zwei winzige Grübchen zeigten sich auf seinen Wangen. Ein Zeichen, dass er die Kiefer zusammenpresste, auch wenn seine Lippen locker blieben. Sie strich ihm übers Gesicht und wie ertappt entspannte er sich. Sie konnten sich beide nichts mehr vormachen und versuchten es doch immer wieder.

Nicholas blieb beharrlich. „Ich hab dich was gefragt, oder?“

„Was willst du hören?“, schnappte Elias zurück. „Wie leicht du zu finden bist, Jason Borne? Es war erschreckend einfach. Mir war klar, dass du nach Portugal gehen würdest, nachdem du deine Frau gefunden hattest. Wolltest sie nach Hause bringen, was?“

Joana zuckte unter einem seiner nervösen Seitenblicke zusammen. Portugal war ihre Entscheidung gewesen, zumindest hatte sie das angenommen. Möglicherweise ließ Nicholas sie das aber auch bloß glauben.

Nein, er manipulierte sie nicht. Sie war eine Clerica. Zwar war sie von dieser Dämonenjäger-Gilde nicht ausgebildet worden, aber allein durch die Gene ihres Vaters war sie dämonischen Mächten gegenüber unempfindlicher als normale Menschen, wenn auch nicht vollkommen immun. Der Verdacht, dass Nicholas gegen ihren Willen ihre Gedanken beeinflusste, war jedoch abwegig.

„Ich mag jung sein“, fuhr Elias gemäßigt fort, „aber nicht blöd. Ich kenne die Traditionen, an denen wir alle hängen, ob wir wollen oder nicht. Niemand, der dich sucht, würde anzweifeln, dass du sie nach Portugal gebracht hast.“

Sein Schnauben wagte sich in die Nähe von Spott und Nicholas Oberarm verspannte sich an Joanas Schulter.

„Euren genauen Standort zu finden, war ein Kinderspiel. Es ist naheliegend, dass du weder monatelang von deinem Vermögen lebst noch irgendwo als Angestellter arbeitest. Wie viele Kleinunternehmen mögen in den letzten Monaten gegründet worden sein, Nick? Und wie viele davon hinterlassen in den Kreisen der neureichen Menschenschnösel solchen Eindruck, wie dein nettes Geschäft mit maßlos überteuerten Oldtimern?“

Joana fühlte sich wie von kaltem Wasser übergossen. „Ich habe es dir gesagt“, flüsterte sie. Das hatte sie. Unzählige Male hatte sie ihn gebeten, seine Mentalmanipulation nicht bei Kunden anzuwenden, um ihnen höhere Preise abzuverlangen. Es musste auffallen, wenn ein derart kleiner Autohändler ein überteuertes Objekt nach dem anderen verkauft. Abgesehen davon war es nicht fair. Er hatte sie ausgelacht und ihre Sorge als unnötiges Gutmensch-Spielen abgetan. „Jeder nutzt seine individuellen Möglichkeiten“, hatte er gesagt. „Das tust du auch. Alles andere wäre Vergeudung der Ressourcen.“

Nicholas zuckte mit den Schultern. „Womöglich war ich etwas leichtsinnig, aber es bestand auch nie Grund zur Sorge. Wer außer dir sollte nach mir suchen?“

Elias wich jedem Blick vielsagend aus und schenkte sich den letzten Rest Rotwein ein. Das Klirren, das die Berührung von Flaschenhals und Glasrand begleitete, vertonte die Provokation der alles beherrschenden Stille. Joana überlegte, eine weitere Flasche aus dem Keller zu holen, um diesem angespannten Schweigen zu entkommen. Oder den Wahrheiten, die folgen würden. Doch Elias sah aus, als hätte er jede Menge Wein nötig, und das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten, war ein betrunkener Racheengel. So blieb sie sitzen und versuchte zu ignorieren, dass die Luft dünner wurde.

„Wer?“, wiederholte Nicholas barsch.

Er schien in Elias’ abgewandter Miene zu lesen, vielleicht vernahm er sogar dessen Gedanken.

Keine Antwort. Das sagte mehr als tausend Worte.

Nicholas’ Lider verspannten sich, seine Züge wurden hart. „Okay“, meinte er dann sanft, als hätte Elias geantwortet. Er nahm Joanas Hand, betrachtete sie eine Weile und küsste ihren Puls. „Dann besteht nun wohl Grund zur Sorge.“

Nicholas brachte Elias nach oben, um ihm das Gästezimmer zu zeigen. Joana blieb zurück und starrte durch die verglaste Hinterwand in die Schwärze der Nacht. Sie versuchte, nicht traurig zu sein, so unglücklich ihre Reflexion in der Scheibe auch auf sie zurücksah. Es war nur eine Illusion von Glück, die hier endete. Sie hatte nicht ernsthaft gedacht, diese andere Welt würde sie so schnell gehen lassen? Das friedvolle Leben der vergangenen Wochen war nichts als ein Aufschub gewesen. Eine Pause, bevor die Jagd begann. Nicholas hatte es gewusst. Immer war er wachsam. Sein Schlaf war unstet, als hielte er die Augen unter geschlossenen Lidern auf Tür und Fenster gerichtet. Er hatte eine weitere Waffe gekauft und nicht versäumt, Joana wie zufällig mit ansehen zu lassen, wo er sie aufbewahrte.

Sie öffnete die Tür zur Terrasse und trat ins Dunkel. Wind zupfte an ihrem T-Shirt und kühlte ihre vom Wein erhitzten Wangen. Am Ende des Gartens pellten sich langsam die Schemen der Aprikosenbäume und Dattelpalmen aus dem Nichts. Aus der Schwärze wurde Grau. So war es immer. Je näher man sich an die Finsternis heranwagte, desto heller und durchscheinender wurde sie. Doch mit ihr zu verschmelzen, kostete seinen Preis.

Barfuß tappte sie über die Holzpaneele der Terrasse und ließ sich an deren Ende auf eine von drei Stufen nieder, die auf die Wiese führten. Der Granatapfelbaum zu ihrer Linken trug noch Früchte. Saure, harte Biester, die nicht reif werden wollten, und laut Nicholas nur taugten, um jemanden damit totzuwerfen. Ob sie mit der Zeit noch genießbar werden würden, sollten sie wohl nicht mehr herausfinden. Alle Zeichen deuteten auf ein schnelles Weiterziehen. Elias’ plötzliches Auftauchen veränderte alles. Sie verabschiedete sich in Gedanken von ihrem Garten, von Portugal und von der Hoffnung, hier ein normales Leben führen zu können. Das Asyl brach zusammen wie ein Kartenhaus. Sollte wohl nicht sein.

Die gläserne Schiebetür hinter ihrem Rücken glitt unter einem leisen Geräusch auf.

„Ich bin’s“, sagte Nicholas, ehe sie sich umdrehen konnte. „Willst du allein sein?“

„Ja. Mit dir allein.“

Sein leises Lachen war mehr in der Luft zu spüren als zu hören. Einen Moment später saß er neben ihr. Warm strichen seine Finger unter ihr T-Shirt und wanderten ihre Wirbelsäule entlang. Erst jetzt bemerkte sie, wie kühl die Nacht war. Seine Lippen berührten ihre Ohrmuschel, aber es folgte kein Kuss.

„Du brauchst keine Angst zu haben.“

„Und du brauchst nicht zu lügen.“

„Würde ich nie tun.“

Seine Worte waren so trocken, dass Joana zugleich lachen und husten musste. Zärtlich drehte er ihr Gesicht in seine Richtung, strich mit der Nase über ihre Wange und küsste sie weich auf den Mund. Sie öffnete die Lippen, wollte den Kuss erwidern, doch er wich ihr aus, lächelte gerissen und neckte ihren Mundwinkel mit der Zunge, ehe er sich erneut zurückzog und sie selbstzufrieden ansah.

„Schwarz.“

„Nur zur Hälfte“, verbesserte sie ihn irritiert. Ihre Mutter war Schwarze, ihr Vater war Deutscher gewesen. Das sollte er inzwischen wissen.

Sein Grinsen wurde breit. „Ich meine deine Augen, mein dummer kleiner Mensch. Wenn ich dich küsse, werden sie schwarz.“

Sie war unsicher, was das nun wieder zu bedeuten hatte, doch Nicholas lachte nur angesichts ihrer Emotionen, die er sicherlich deutlich spürte.

„Deine Pupillen“, erklärte er mit verschwörerisch gesenkter Stimme, die seine Erheiterung nicht verbarg. „Wenn ich dich küsse, weiten sie sich, sodass kaum noch Braun übrig bleibt. Ich vermute, das bedeutet, dass du mich leiden kannst.“

„Ja, ich vermute, damit könntest du recht haben.“

„Sehr gut. Und nun mach dir bitte keine Sorgen mehr, Jo. Wir werden ein bisschen Weiterreisen. Einfach noch eine Weile immer geradeaus, zielloses Zigeunerleben.“ Er hob die Brauen, ein stummes Okay?.

„Ich dachte, du magst das.“

Das hatte sie auch gedacht. Bis jetzt. Ihre Augen hatten sich inzwischen so sehr an die Dunkelheit gewöhnt, dass diese im Süden die hügligen Umrisse des Cerro da Cabeca freigab. „Irgendwie ist es hier anders“, gestand sie. „Ich will nicht fort und frage mich, warum. Was meinte Elias, als er von euren Traditionen sprach?“

Nicholas gab ein missmutiges Geräusch von sich, halb Knurren, halb Seufzen. „Geschichten. Es heißt, ein Dämon, der sein endgültiges Gegenstück gefunden hat, bringt es an den Ort zurück, an dem sein Portal zu dieser Welt liegt. Der Ort, an dem er beschworen wurde.“ Er wiederholte den abfälligen Laut. „Was angeblich schon zu manchen Trennungen geführt hat. Normalerweise binden wir uns artintern und dann kommt es zu einem Konflikt, da es beide Partner an den Ort ihrer Beschwörung zieht.“

Es gelang Joana nicht, darüber zu lachen, obwohl die Vorstellung von einem zankenden Dämonenpaar sie amüsierte. „Sind wir deshalb hier?“

„Nein. Ich wurde im Norden dieses Landes beschworen, Jo. Nicht hier.“

„Dann wolltest du mich nicht an diesen Ort bringen?“

„Es sind bloß Geschichten.“ Er schwieg und pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Aber irgendwann bringe ich dich hin.“ Jäh erhob er sich und verlieh seinen Worten damit den Effekt einer Drohung statt eines Versprechens. „Komm rein, es wird kalt.“

„Wann brechen wir auf?“, fragte sie, seine Aufforderung ignorierend.

„Morgen. Komm jetzt.“

Für einen Moment lauschte Joana dem Rauschen der Bäume im Wind. Alles schien voller Schatten. Da war er also wieder, der Nicholas, der es gewohnt war, Entscheidungen zu treffen, ohne wenigstens vorzugeben, dass ihn die Meinung anderer interessiert. „Nein. Lass uns noch einen Tag bleiben. Ich will morgen Abend noch einmal zum Strand runter. Vielleicht haben wir Glück und einer der Fischer macht ein Feuer und verkauft gebratenen Stockfisch.“ Die Möglichkeit bestand auch im Herbst durchaus. Ein spontanes Lagerfeuer lockte an kühlen Abenden immer Menschen an. Irgendwer hatte meist eine portugiesische Gitarre dabei, und wenn deren Töne erst den Strand entlangwehten, dauerte es nie lange, bis sich ein Einheimischer fand, der dazu den Fado sang. Melancholische Lieder, die erzählen, was Menschen träumen, hier und überall auf der Welt. Und nicht nur Menschen hatten diese Träume.

An diesen Abenden saßen sie meist abseits der Portugiesen. Vielleicht, weil Joana annahm, nicht zu ihnen zu passen. Weil die Sprache ihr noch schwerfiel und sie sich schämte, ins Englische ausweichen zu müssen, sobald sie die richtigen Worte nicht fand. Vielleicht aber auch, weil sie Nicholas nicht in der Nähe dieser emotionalen Leute sehen wollte. Der Dämon in ihm brauchte die Gefühle von Menschen, davon lebte er. Er traf seine Auswahl unwillkürlich wie instinktiv, und sie war dankbar, dass er dies im Stillen tat. Nie ließ er sie erfahren, wenn er einen Menschen seiner Emotionen beraubte. Sie wusste, dass es seinen Stolz verletzte, sein wahres Sein vor ihr zu verbergen. Daher verschloss sie die Augen dankbar und akzeptierte den bitteren Geschmack der Verdrängung. Die Liebe zwischen einem Dämon und einer Jägerin hatte ihren Preis. Solange Moral und Stolz das Einzige waren, zahlten sie ihn beide gern. Wenn Nicholas aufs Meer blickend am Strand saß, salziger Wind an seinem inzwischen schulterlangen Haar zupfte und der Feuerschein auf seinem Gesicht spielte – Schatten malte, die wirklich nur harmlose Lichtumrisse waren – fiel dies unverschämt leicht. „Es wäre ein schöner Abschied“, murmelte sie in sein Schweigen hinein. „Denkst du, es wäre ein Problem?“

Er kniete erneut neben ihr nieder und drehte ihr Gesicht in seine Richtung. Verdammt, ihre Augen glänzten sicher feucht. Seine waren dunkel.

„Nein, kein Problem. Wir bleiben noch ein paar Tage, wenn es dir wichtig ist. Und wir kommen zurück, sobald sich alles geklärt hat.“

Die Worte waren sanft und schnitten dennoch wie ein Messer in ihr Inneres. Sie durchtrennten Schwermut und legten die darunter verborgene Furcht frei. Wie sollte sich eine derartige Bedrohung klären? Ein Schauder prasselte wie Hagelkörner über Joanas Rücken. Sie registrierte, dass Nicholas fragend den Kopf schief legte.

„Jo, was hast du?“

„Nichts. Es ist schon gut.“ Nichts war gut. Diese Jagd war die Konsequenz seiner Liebe zu ihr. Weil er sie liebte, hatte er sich gegen seine einstigen Verbündeten gestellt. Um sie zu schützen, war er zum Mörder an einem der Söhne des Luzifers geworden, was ihm die Gesetze unter strengsten Strafen verboten. Denn auch Nicholas zählte zur Bruderschaft des ersten Höllenfürsten, auch wenn er den Grund nicht kannte. Einem Treueschwur hatte er sich nie unterworfen, den Maximen musste er dennoch folgen. Für Joana war er zum Verräter an seinem Fürsten geworden.

Wie egoistisch sie sich fühlte. Sie trauerte einer halbherzigen Heimat nach, während er nur noch ein Name auf einer Liste war.

Der Abschussliste des Luzifers.

„Wer ist hier der Lügner?“ Nicholas folgte mit den Spitzen von Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Augenbraue und dem ausdrucksstarken Schwung ihrer Wange. Sie drehte den Kopf, bis ihre Lippen seine Haut berührten.

„Wenn du das sagst, klingt es wie ein Kosewort.“ Die letzten Silben fühlten sich an wie kleine Küsse. „Es tut mir leid, Nicholas. Ich will nicht lügen, aber …“

„Das ist kein Problem.“ Ihre Mundwinkel hoben sich, als er die Hände unter ihr T-Shirt schob, mit gespreizten Fingern ihre Rippen hochstrich und die Daumen in Richtung ihrer Brustwarzen streckte. „Ich mach es wahr, dann ist es keine Lüge. Ich mach alles gut.“

Sie schloss die Augen. Ihre Brüste hoben sich beim Atmen, aber noch berührte er ihre Knospen nicht, streifte nur hauchfein den Stoff des BHs. Er wartete auf dieses winzige, sehnsuchtsvolle Geräusch, welches verriet, dass sie es kaum noch aushielt. Ein hungriges, kleines Seufzen, das ihr ungewollt über die Lippen kam.

„Elias könnte am Fenster stehen und uns beobachten“, hauchte sie stattdessen.

„Das tut er.“

Sie öffnete erst ein Auge, dann das zweite, machte aber keine Anstalten, sich ihm zu entziehen. „Dann sollten wir ins Schlafzimmer gehen.“

„Das macht keinen Unterschied. Er wird an der Wand lauschen.“ Nicholas war nicht danach, hineinzugehen. Er hatte an vielen Orten mit Joana Sex gehabt, aber noch nie in diesem Garten, in der ihr jedes Pflänzchen heilig war.

Sie linste zum Fenster des Gästezimmers, doch hinter der Scheibe war nichts als Dunkelheit zu erkennen. „Ich weiß n…“

Ehe sie ihm das Gesicht wieder zuwenden konnte, hatte er den BH zwischen ihren Brüsten geöffnet und Joana an sich gezogen. Halb erregt, halb widerwillig stöhnte sie seinen Namen, während er ihren Hals küsste und den Saum ihres T-Shirts mit jedem Streicheln höher schob.

„Sag Nein.“

Sie ließ den Kopf in den Nacken sinken. „Ich will aber nicht Nein sagen. Ich will nur nicht, dass Elias zusieht.“

„Er sollte aber zusehen. Er muss wissen, woran er ist.“

„Du glaubst doch nicht wirklich“, Joana kicherte heiser, „dass er etwas von mir will? Bist du eifersüchtig?“

Er verneinte mit einem Brummen, das unweigerlich in ein Seufzen überging, als er das T-Shirt über ihre Brüste schob. Die zweite Hand ließ er zwischen ihren Schenkeln verschwinden. Sie war nicht feucht, sie war nass. Wie für ihn gemacht, damit er das schmerzliche Brennen seiner Erektion in ihr löschen konnte. „Nein, aber du solltest es sein. Ich bin es, den er will. Er liebt mich.“

Sie versteifte sich bei seinen geknurrten Worten, er spürte sie schlucken und zerrte an ihrem Slip. Das Ding musste weg, und da sie keine Anstalten machte, ihm behilflich zu sein, zerriss er den Stoff.

Sie zischte einen unverständlichen Fluch, wollte ihre nackten Brüste bedecken, aber er drückte sie auf den Rücken und hielt ihre Hände über ihrem Kopf fest. Die Holzdielen knarzten. Joanas Augen funkelten wütend.

„Warum tust du das, wenn du weißt, dass er zusieht? Wenn es stimmt, was du sagst, ist das einfach nur grausam von dir.“

Er beugte sich tiefer, streifte ihre hoch aufgerichteten Brustwarzen mit dem Stoff seines Hemdes. Nahm die Lust im Flattern ihrer Lider wahr, auch wenn sie dies zu unterdrücken versuchte.

„Dir sind Grausamkeiten gerade völlig egal, Joana. Hab ich recht?“ Der Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht, er streichelte es mit den Lippen beiseite und flüsterte in ihr Ohr: „Dies ist mein Zuhause. Meine Frau unter meinen Händen. Glaubst du, dieser Racheengel – mein Racheengel, falls du es vergessen hast – hätte mir Vorschriften zu machen?“

Er presste den Unterleib an ihre Oberschenkel, rieb sich an ihr, doch es half nichts. Das Verlangen wurde drängender, erinnerte in seiner Intensität bereits an eine zärtliche Variante von Wut. Ihr ging es genauso, ansonsten hätte sie Kontra gegeben, doch sie schüttelte nur schwach den Kopf. Er hätte sie nehmen können, aber er wusste, wie der Sex mit ihr war, wenn er sie überrumpelte. Gut. Das reichte nicht mehr, seit er erfahren hatte, wie intensiv er fühlen konnte, wenn sie ihn ebenso dringlich begehrte wie er sie.

„Besitzansprüche sind für uns sehr wichtig“, erklärte er, obwohl das Sprechen immer schwerer fiel. „Wenn er zusieht, dann nutze es. Zeig ihm, wer du bist. Zeig ihm, was dir gehört. Er hat sich dir zu unterwerfen, nicht du seinen Schwächen.“ Sie sann darüber nach und er beschleunigte ihre Überlegungen. „Ich beneide ihn. Ich würde gern einmal zusehen, wie wir uns lieben.“

„Es wäre fair, oder?“ Sie sprach zögernd. Er spürte, wie sie die Schenkel ein wenig spreizte. „Er sollte sich keine falschen Hoffnungen machen.“

„Wie immer du es nennen willst. Du machst hier die Regeln. Dein Zuhause, dein Garten …“

„Das alles hier ist meins?“ Sie lächelte gerissen und er tat es ihr innerlich nach.

„Alles.“ Ihre Bedenken zu zerstreuen, war nicht immer so einfach. Offenbar wollte sie ihn wirklich, ob mit oder ohne Elias hinter dem Fenster.

„Öffne meine Hose.“ Er hätte es selbst getan, aber es war ein zu gutes Gefühl, ihre Hände freizugeben und stattdessen ihr Gesicht zu halten, während sie tat, was er verlangte, seine Jeans aufknöpfte und sie ihm samt Shorts über die Hüften zog. Länger zu warten war ihm nicht möglich, er kickte seine Jeans im hohen Bogen von sich, warf das T-Shirt hinterher, raffte ihren Rock und kniete zwischen ihren Beinen nieder. In sie zu stoßen, war wie ein Ausbruch in die Freiheit nach Gefangenschaft. Wie wohltuender Schatten, wenn die Haut von der Sonne verbrannt ist. Sie gab sich hin, die Augen geschlossen, die Hände in ihrem eigenen Haar vergraben. Dann richtete sie sich mit einem trägen Lächeln auf, um sich an seine Brust zu schmiegen, ihn zu küssen und ihn erneut spüren zu lassen, worauf er Jahrhunderte gewartet hatte. Sie ignorierte seine ungestümen Bewegungen, zwang ihm mit ihrem Becken ihre eigenen auf. Sanft und tief, wie ihre Küsse. Sie kam mit ihm zusammen. Der Orgasmus schien seinen Körper zu verlassen, ihren zu durchströmen wie eine Flutwelle und in seinen zurückzukehren. Ihre miteinander verschlungenen Glieder erschienen ihm kontrolllos, zuckten, verspannten sich, wurden schwach und schwer. Und doch gelang es Joana, währenddessen sein Gesicht zu streicheln, auch wenn ihre Hände vor Anstrengung zitterten.

Sie auf diese Art erobert zu haben, vor den vermeintlichen Augen eines Engels, war ein Triumph, den er bisher noch nicht gekostet hatte. Und er schmeckte vorzüglich. Erst morgen würde er ihr verraten, dass er Elias das Zimmer gegeben hatte, dessen Fenster zur anderen Seite des Hauses hinausging.

„Du hattest recht“, hauchte sie ihm ins Ohr, während die Welt langsam wieder Konturen annahm. „Du kannst wirklich alles gutmachen, oder?“

Vom Spott in ihrer Stimme amüsiert, entwich ihm ein abgrundtief zufriedenes Seufzen. „Gut? Gib mir fünf Minuten, und ich zeige dir ‚besser‘. Morgen früh wirst du meine Definition von ‚perfekt‘ verstehen.“

3

Nicholas hupte und André Bergot ließ das Metalltor zu der Halle, die zugleich Werkstatt als auch Verkaufsausstellung darstellte, aufschwingen. Elias betrachtete das halbe Dutzend Oldtimer durch das herabgelassene Beifahrerfenster und nickte anerkennend.

„Nette Pferdchen hast du im Stall.“

Nicholas fühlte sich auf bisher unbekannte Weise schwermütig. „War ein schöner Zeitvertreib.“ Langsam ließ er den BMW zwischen den geparkten Autos ausrollen. Nur zwei Monate hatten er und Joana die Tage hier verbracht, daher war die Halle am Standrand von Faro noch ein Provisorium und den edlen Klassikern bei Weitem nicht angemessen. Die Pläne für den Umbau würden Pläne bleiben. Er war ein letztes Mal hier, um die persönlichen Dinge sowie die Unterlagen aus dem Büro zu holen. Es erfüllte ihn nicht mit der Traurigkeit, die er bei Joana gespürt hatte, aber auch er wäre gern geblieben. Wegen ihr. In ölverschmierten Jeans inmitten der alten Autos hatte sie tiefste Zufriedenheit versprüht. Diese fehlte, als er nun ausstieg. Kein helles Lachen, das von den Decken hallte. Kein Fluchen über die Lieferzeiten von Ersatzteilen, die bloß noch einzeln in Werkstätten irgendwo in der tschechischen Pampa hergestellt wurden. Ohne Jo erschien die Halle leer und trotz der Luxusschlitten wertlos.

„André, wie weit bist du mit dem Engländer?“, rief Nicholas auf Portugiesisch, kaum dass das Tor hinter ihm ins Schloss gefallen war.

Er wollte von hier fort.

Sein Mechaniker knallte die Motorhaube des silbernen Bentleys zu, an dem er gerade gearbeitet hatte. In aller Seelenruhe zog er Streichhölzer aus der Hemdtasche und beachtete seinen Chef und dessen Begleiter erst, nachdem er einen Zigarillo angezündet und den ersten Zug genommen hatte.

„Immer mit der Ruhe“, antwortete er schließlich und hielt ihnen die Holzschachtel mit seinen Selbstgedrehten hin. „Lohnt sich nicht, zu hetzen. Der Wagen war dreiundvierzig Jahre auf der Straße. Der freut sich über jeden Tag in der Werkstatt. Geduld hat er. Müsst ihr jungen Deutschen manchmal noch lernen.“

Asche fiel zu Boden und vermischte sich mit einem frischen Ölfleck. Nicholas schmunzelte über die typische Gelassenheit des Portugiesen, nahm eine der dünnen Zigarren und übersetzte die Worte für Elias. Dieser unterdrückte mühsam das Lachen und entfernte sich, um die anderen Oldtimer anzusehen.

„Ich werde das Land für eine Weile verlassen“, erklärte Nicholas André mit dem Zigarillo im Mund. „Muss ein paar Dinge regeln.“ Kurz überlegte er, ob er ihm verraten sollte, dass er auf der Flucht vor einer Art Mafia war. Aber dann wäre André vermutlich nicht mehr hier, sollte er wider Erwarten doch zurückkommen, und einen besseren Mechaniker würde er nicht finden.

„Ah. Und die Senhora?“

„Die lass ich dir bestimmt nicht hier, alter Schwerenöter.“

André schüttelte bedauernd den Kopf, verharrte dann, die ergrauten Brauen kritisch hochgezogenen. „Ich reparier dir alles, was kaputt ist, Boss, und wenn es eine Waschmaschine ist. Aber wenn du willst, dass ich die Verkäufe übernehme, dann schlag dir das aus dem Kopf. Mit deinen reichen Herrschaften komm ich nicht klar.“

Demonstrativ rieb er die ölverschmierten Hände quer über seine Hemdsbrust. Der Kerl war der reinste Eigenbrötler und darauf bedacht, es auch zu bleiben.

„Keine Sorge, Mann. Wir machen hier solange dicht und du hast Ruhe mit deiner Kinderschar aus Blech. Wenn du fertig bist, bekommst du ein paar Wochen bezahlten Urlaub.“

„Klingt großzügig.“ André blies einen Rauchkringel in die Luft. „Heißt das, ihr habt Ärger, Boss?“

„Das heißt, du hast Ärger, mein Freund, wenn der 79er VW-Käfer für die Senhora bis dahin nicht fertig und auf Hochglanz poliert ist. Und denk daran, die Trittbretter zu kontrollieren. Senhora sagt, da rosten diese Kisten am liebsten.“

„Wie gut, dass wenigstens einer hier Ahnung von Autos hat, he? Macht ihr mal euer Ding, Boss, der alte André hält die Stellung und den Mund.“

Der Mann zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm gleichgültig. An den Kotflügel des Wagens gelehnt, rauchte er in aller Ruhe seinen Zigarillo.

Nicholas wandte sich ab. Er wollte die aufgesetzte Lüge des Portugiesen nicht an dessen Emotionen durchschauen. Die Situation machte ihn nervös und er hasste sich für diese Schwäche, ebenso sehr wie für die bevorstehende Flucht. Er wollte nicht fliehen. Er wollte dem Luzifer gegenübertreten und kämpfen. Sollte er unterliegen, würde er die Konsequenzen klaglos akzeptieren, aber leicht machen wollte er es dem Fürsten nicht.

Doch es war müßig, sich über eine Revolte den Kopf zu zerbrechen, denn zu dieser würde es nicht kommen. Noch nicht. Er musste Joana schützen und dies konfrontierte ihn mit einem ganz anderen Gegner; seinem Stolz, den er in die Knie zwingen musste, um mit ihr zu fliehen. Wenn doch immer Nacht wäre, und man die Realität im Dunkeln ignorieren könnte.

Er folgte Elias, der einen Volvo aus den Sechzigern inspizierte und verbot sich weitere Gedanken.

„Wie bist du eigentlich auf die komische Idee gekommen, uralte Autos zu verkaufen?“, wollte Elias wissen.

„War Joanas Idee. Sie kennt sich mit Oldtimern aus und wollte immer schon einen haben. Also hab ich ihr einen besorgt. Wir sind damit herumgefahren und haben ihn verkauft, als der Tank leer war. Lief gut, darum sind wir dabei geblieben. Die alten Kisten sind hier schwer begehrt.“

Elias ließ sich in den Fahrersitz des Volvos fallen und verstellte die Rückspiegel. „Du mimst den Gebrauchtwagenhändler und sie spielt das Heimchen am Herd. Echt klassisch menschlich, Nick. Ehrlich gesagt hätte ich euch was Individuelleres zugetraut.“

„Lass sie das hören und sie bannt dich mit dem nackten Arsch in die Bratpfanne.“ Die bloße Vorstellung erheiterte Nicholas – er sollte Joana von Elias’ Spott erzählen. „Sie macht einen guten Job. Die deutschen, englischen und französischen Geschäftsleute, die hier ihre Ferienhäuser haben, sind Joanas Kunden. Ich kümmere mich um die Spanier und Portugiesen, solange sie die Sprache noch nicht beherrscht. Sie macht die Finanzen, ich die Korrespondenz. Und sie wählt die Ware aus.“ Er sah zu seinem Mechaniker hinüber. „Hey, André! Versteht die Senhora etwas von Autos?“

„Senhora findet Perlen, da wo andere nur sehen Schalen von Muscheln“, gab dieser in gebrochenem Deutsch zurück. „Hat Respekt von mir, wie nur meine mamãe sonst.“

Elias verzog amüsiert den Mund. „Und sie stellt die Regeln auf, was? Lass mich raten. Die Angestellten sind tabu? Sie hat dich echt im Griff, Alter. Meinen Respekt hat sie auch.“

„Willst du mich nerven?“ Nicholas spürte Groll aufsteigen. Der gutmütige Spott hätte ihn kalt gelassen, wenn er noch ein wenig länger mit Joana Mensch spielen könnte. „Gutes Personal ist schwer zu finden. André ist okay. Wenn er frech wird und Joana auf den Hintern guckt, verpasse ich ihm Visionen, in denen ich ihn skalpiere. Schon ist er wieder brav und behält seine Augen unter Kontrolle.“

„Der Typ hat kaum Haare auf dem Kopf. Den kriegst selbst du nicht skalpiert.“

Nicholas zeigte seine gefletschten Zähne. „Genau dafür, mein Freund, erfand ich einst das, was Kleingeister wie du heute als Sparschäler kennen.“

Einen Moment grübelte Elias sichtlich, ob in dieser Geschichte ein Fünkchen Wahrheit steckte. Er kämpfte gegen ein Grinsen. Sogleich wurde er aber ernst und betrachtete das Lenkrad.

„Gutes Personal ist also schwer zu finden, ja? So wie gute Frauen?“ Seine Worte klangen scharf, und so bedrohlich leise, dass sie kaum zu hören waren.

„Leck mich, Kleiner, du brauchst mal einen anderen Geschmack im Mund.“ Nicholas wusste genau, worauf Elias hinaus wollte. Laureen. Elias würde ihm ihren Tod in hundert Jahren nicht verzeihen. Er nahm einen tiefen Zug von seinem Zigarillo. Das verdammte Kraut brannte in den Lungen. „Du hast keine Ahnung, also misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen.“

Elias sah zu ihm auf. In seinem Blick stand eine Herausforderung geschrieben, die Nicholas nie zuvor an ihm gesehen hatte. „Denkst du, ja? Ich glaube eher, dass du es bist, der keine Ahnung hat. Sonst würdest du nicht ständig alles zerstören, was dir etwas bedeutet. Du sagst, du bereust nie. Vielleicht solltest du mal damit anfangen. Sonst wird Joana nicht anders enden als …“

Nicholas ließ den Zigarillo fallen. Er griff in Elias’ Kragen, zerrte ihn aus dem Volvo und drückte ihn gegen den danebenstehenden Mustang. Das Grinsen in Elias’ Gesicht kitzelte seine Beherrschung. Seine Fäuste brannten vor Lust, ihn zu schlagen. Zugleich erzürnte ihn die Tatsache, dass er sich provozieren ließ.

„Eh!“, schallte Andrés Stimme durch die Halle. „Vorsicht da. Die Baby ist 45 Mille wert!“

Nicholas trat einen Schritt zurück. „Überleg dir in Zukunft besser, wie du mit mir redest, Kleiner. Ich lass mich verspotten, aber nicht beleidigen, hast du verstanden?“

Elias reckte das Kinn. Seine Mimik bettelte nahezu um Prügel. „Du bringst sie in Gefahr. Gesteh es dir wenigstens ein.“

„Tu ich.“ Nicholas rang den Wunsch nieder, den Ilyan aus seinem Körper zu schlagen, und sei es nur für das Vergehen, ihm die Wahrheit vorgehalten zu haben, wie einen Spiegel, in den er nicht sehen wollte. „Nicht zu bereuen, heißt nicht, dass ich nicht lerne. Das Thema ist beendet. Erledigen wir, weshalb wir hergekommen sind.“

„Es gibt eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen“, stichelte Elias weiter und verschränkte die Arme.

Er zuckte nicht zurück, als Nicholas so nah an ihn herantrat, dass sie sich fast berührten. Auf widerwillige Weise empfand Nicholas Achtung vor Elias’ Dreistigkeit. Dreck noch mal, der Kleine entwickelte sich. Leider nicht in die geplante Richtung. Aber Feigheit konnte man ihm nicht länger vorwerfen.

„Ich muss nichts wieder gutmachen.“

„Ich hab einen Grund für dich, darüber noch mal sehr genau nachzudenken, Nybbas.“ Elias brach den Augenkontakt nur eine Sekunde ab, um sich zu vergewissern, dass der Mechaniker nicht zuhörte. „Der Luzifer hat eine neue Methode der Jagd auf Seelen entwickelt. Er nimmt jetzt Kinder.“

„Wie kommst du zu der Annahme, mich würde interessieren, was der Luzifer treibt?“

„Dich juckt das so wenig wie mich. Aber es dürfte Joana interessieren, sollte sie davon erfahren. Ich glaube nicht, dass sie das kalt lässt.“

Touché. Elias’ Worte waren nichts anderes als eine knallharte Drohung. Erpressung – und sie wirkte. Nicholas’ Respekt wuchs parallel zu seiner Wut. „Kleiner. Was willst du?“

„Erinnerst du dich, was Lillian sagte? Der Luzifer frisst Seelen guter Menschen, aber sie müssen sie ihm freiwillig geben. Ich habe recherchiert und ein wenig in alten Aufzeichnungen geblättert. Die Runde der anderen sechs Fürsten hat ihm einst verboten, die Seelen von zu jungen Menschen zu nehmen. Kinder sind leichtgläubig. Die anderen Dämonen befürchteten, dass der Luzifer es übertreiben und zu viele Homo sapiens zerstören würde. Daher haben sie es ihm untersagt. Nett, nicht wahr?“

Nicholas stieß verächtlich den Atem aus. „Vernünftig. Letztlich sind wir auf sie angewiesen. Kaum ein Dämon kann sich an seelenlosen Zombies nähren und nur Fleischesser an anderen Dämonen. Ohne eine gewisse Zurückhaltung bei den Menschen würden wir uns auf Dauer selbst schaden.“

„Eben. Aber für Fürsten gelten die üblichen Gesetze nicht. Darum musste der Luzifer einen einzigartigen Eid leisten, in dem er schwor, keinem Unberührten die Seele zu nehmen. Die Menschen sollten die Möglichkeit bekommen, sich fortzupflanzen, ehe sie ihm als Opfer zur Verfügung standen. Jungfrauen waren demnach vor ihm sicher.“ Elias kämmte sich mit den Fingern durch das stachelige Haar. Was immer er spielte – es schien ihm Spaß zu bereiten.

„Waren?“, fragte Nicholas.

„Waren, ja. Ich habe entdeckt, dass er eine Lücke im Gesetz gefunden hat.“

„Lass hören.“

„Er nimmt den Kindern nicht die Seele, sondern das Versprechen, diese später zu bekommen. Er braucht die Zustimmung des Menschen, aber nichts zwingt ihn in einen zeitlichen Rahmen. Er holt sich die Erlaubnis, solange sie noch jung und ahnungslos sind, der Dreckskerl. Dann markiert er sie, um sie später einzusammeln.“

„Gewieft“, meinte Nicholas trocken. „Was haben Joana und ich damit zu tun? Oder betrifft es wieder mal Laureen?“

Elias zuckte bei dem Namen zusammen, schüttelte jedoch entschieden den Kopf. „Ich traf vor gut zwei Wochen auf ein Mädchen. Ihr Name ist Annie, im Sommer wurde sie acht Jahre alt. Sie versprüht die Aura einer abgrundtief schwarzen Seele, weil sie markiert wurde. Von ihr weiß ich, dass der Luzifer seine Jagd auf dich vorbereitet. Und darum, Kumpel, bist du ihr was schuldig.“

„Ich bin niemandem etwas schuldig.“ Das war nicht ganz richtig. Aber ein Menschenkind gehörte nicht zu den zwei Wesen auf der Welt, für die er so empfunden hätte. „Und du, Kleiner, solltest auch aufhören, die Verantwortung für alles, was geschieht, bei dir zu suchen.“

Für einen Moment bröckelte die Fassade, und Elias gab einen Hauch Verzweiflung zu erkennen. „Ich muss ihr helfen, Nick. Sie hat mich berührt, und … ich kann es nicht erklären. Ich will ihr helfen.“

Nicholas verstand. Elias wollte dieses Kind retten, in der Hoffnung, dadurch Laureens Geist zur Ruhe zu bringen. Laureen, die Elias beschworen hatte, von beiden geliebt und von Nicholas getötet worden war. Sie verfolgte sie noch immer, in jedem Moment, den sie einander in die Augen sehen mussten. Nicholas ließ sich von dieser Präsenz nur selten irritieren. Elias trieb sie schier in den Wahnsinn.

Er boxte leicht gegen Elias’ Oberarm. „Hör auf mit den lächerlichen Versuchen, mich unter Druck zu setzen, hast du verstanden? Das funktioniert nicht. Bitte mich einfach. Vielleicht helfe ich dir, wenn ich kann.“

Die beiden Reisetaschen mit ihren persönlichen Sachen waren gepackt. Kleidung, Laptop, ein paar CDs und Bücher, allen voran der uralte Black Beauty Roman, den ihre Mutter ihr nachgeschickt hatte. Ein Erbstück ihres Vaters und ein Schatz von immensem emotionalem Wert.

Nervenstärkende Kaubonbons, das Asthmaspray und alle Papiere befanden sich in ihrem kleinen, roten Lederrucksack, den sie statt einer Handtasche trug. Viel mehr besaß Joana kaum, daher musste sie nicht überlegen, was sie mitnehmen und was zurücklassen wollte. Zuletzt bettete sie den Schrumpfkopf zwischen die Wäsche in eine der Taschen. Als Joana sich mit ihm gegen den Angriff eines Clerica verteidigt hatte, war das widerliche Ding zu ihrem Talisman geworden. „Gute Nacht, John-Boy“, murmelte sie und zog den Reißverschluss über der Fratze zu.

Noch hatte sie sich nicht wirklich mit dem Gedanken angefreundet, in der nächsten Zeit aus dem Koffer zu leben, aber es erschreckte sie nicht mehr. Zumindest musste sie dieses Mal nicht von einer auf die andere Minute aus einem beschaulichen Leben in eine ungewisse Zukunft fliehen.