Schauen Sie sich mal  diese Sauerei an - Jörg Nießen - E-Book

Schauen Sie sich mal diese Sauerei an E-Book

Jörg Nießen

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Beschreibung

Zusammen mit seinen Kollegen erfährt der Autor in 20 wahren Geschichten am eigenen Leib, wozu der Mensch fähig ist, was alles überlebt, woran letztendlich gestorben wird und wie das bittere Ende tatsächlich ausschaut. Niemand wird geschont, weder Retter noch Patienten noch Angehörige. Jörg Nießen räumt auf mit wirklichkeitsverzerrenden TV-Serien à la Medicopter 117, die manch einen Mitmenschen dazu verleiten, schnell mal die Notrufnummer 112 zu wählen, wenn irgendwo der Schuh drückt. Im Alltag des Notfallretters konkurrieren bizarre Lappalien und haarsträubende Notfälle miteinander, weswegen der Retter sich vor allem die Fähigkeit bewahren muss, dem Schicksal auch mal ins Gesicht lachen zu können. Die Auslöser für die kleinen und großen Dramen klingen alltäglich: Mal ist frischer Kuhdung verantwortlich, mal eine PIN, Künstlerallüren oder auch Billardkugeln in mehr oder weniger geeigneten Körperöffnungen. Das Leben ist überraschend kreativ und schlägt uns immer wieder gern ein Schnippchen.

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Seitenzahl: 252

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Jörg Nießen

SCHAUEN SIE SICH MAL DIESE SAUEREI AN

20 wahre Geschichten vom Lebenretten

Schwarzkopf & Schwarzkopf

VORWORT

Bis dann – in irgendeinem Rettungswagen!

Als Feuerwehrmann oder Rettungsassistent arbeiten zu dürfen, ist ein großes Geschenk. Man darf jede Facette des Lebens und Sterbens kennenlernen, ohne persönlich betroffen zu sein. Meine eigene Rettungsdienstkarriere begann 1995 im Zivildienst und wurde anschließend bei einer großen nordrheinwestfälischen Feuerwehr fortgesetzt. 1997 wurde ich zum »Brandmeister« ernannt, was eine etwas verwirrende Berufsbezeichnung ist. Weder lege ich meisterhaft Brände, noch ist meine Tätigkeit ausschließlich auf die Feuerwehr beschränkt. Knapp die Hälfte meiner Dienstzeit verbringe ich im Rettungsdienst. Die Geschichten in diesem Buch widmen sich auch fast ausschließlich diesem Bereich, wundern Sie sich aber bitte nicht, wenn ich ab und zu einen kleinen Ausflug zur Feuerwehr unternehme.

Mit der Lektüre dieses Buches sind Sie eingeladen, einen realistischen und dennoch unterhaltsamen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Actionserien und Realitysoaps kratzen in der Regel nur an der Oberfläche des ganz normalen Wahnsinns. Lernen Sie Rettungsdienstpersonal und Patienten doch mal etwas besser, etwas persönlicher kennen!

Die Tätigkeit im Rahmen von Feuerwehr und Rettungsdienst bringt es mit sich, dass man zu Ausnahmesituationen gerufen wird. Zumindest ist das die Sichtweise der Personen, die irgendwelche Notrufe tätigen. Die große Mehrzahl der Einsätze hat tatsächlich einen ernstzunehmenden, oft sogar dramatischen Hintergrund, aber manchmal eben auch nicht. Wenn Sie einmal mit Blaulicht und Tatütata durch die Stadt gerast sind, um einen Patienten mit starken Unterbauchschmerzen zu retten, und der Ihnen sagt: »Ich hab Magen-Darm-Grippe. Könnten Sie mir mal die Zeitung aufheben, die ist mir runtergefallen«, dann ahnen Sie bereits, welchen Herausforderungen wir gelegentlich gegenüberstehen. Nein, der Gute war nicht gehbehindert, der Hausarzt hatte lediglich Bettruhe verordnet! In einer solchen Situation gibt es nur zwei Möglichkeiten: Sie drohen dem Patienten mit physischer Gewalt, was verboten ist, oder Sie haben Humor und lachen den Abgründen der Gesellschaft ins Gesicht.

Die hier erzählten Geschichten beruhen alle auf Tatsachen und wahren Begebenheiten. Natürlich wurde verfremdet, verändert und stellenweise auch übertrieben, aber das hat aus meiner Sicht nur Vorteile. Der Unterhaltungswert steigt, und die Nachvollziehbarkeit im Hinblick auf Schweigepflicht und Datenschutz sinkt. Die meisten Geschichten habe ich selbst erlebt, andere sind Erzählungen menschlich verrohter, aber dennoch vertrauenswürdiger Kollegen, und vielleicht hat sich auch hin und wieder ein »neues deutsches Märchen« eingeschlichen.

Sollte Sie das Gefühl beschleichen, sich selbst wiederzuerkennen, so muss ich Sie leider enttäuschen! Alle Personen, Orte und Einsatzabläufe sind so verfremdet, dass Übereinstimmungen mit lebenden oder toten Personen rein zufällig sind.

Bevor Sie nun in das Panoptikum des Rettungsdienstes eintauchen, möchte ich Ihnen noch einige handelnde Personen vorstellen. Zunächst ist da Hein. Hein ist nicht ein einziger Kollege, Hein sind viele. Er ist der übergewichtige, stets schlecht gelaunte Rettungsdienstmuffel, der auf jeder Alarmfahrt das Armaturenbrett verprügelt und eigentlich in eine Burn-out-Therapie gehört. Er ist aber auch der hoch motivierte verständnisvolle und einfühlsame Kollege, der sich rührend um jeden Patienten kümmert. Hein ist so vielseitig und abwechslungsreich wie das Leben selbst. Meist ist er ein hilfsbereiter lieber Kerl, von dem man das letzte Hemd bekommt, solange man nicht versucht, ihn zu verarschen. Es ist Ihnen als Leser überlassen, wie Sie sich Hein rein äußerlich vorstellen. Vielleicht hat er braune Locken, vielleicht hat er aber auch schon eine graue Halbglatze. Verpassen Sie ihm einen Oberlippenbart oder von mir aus auch eine Zahnlücke, lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf! Wenn ich eine Bitte äußern dürfte: Basteln Sie sich einen sympathischen Hein – er hat es verdient!

Ich mag Hein, deshalb wurde er auch zu einer zentralen Figur in diesem Buch. Ein paar Ereignisse beziehungsweise Schicksalsschläge wollte ich Hein aber ersparen. So treffen Sie in manchen Geschichten nicht auf Hein, sondern lernen andere Charaktere kennen. In der schönen Geschichte »Jupp« werden Sie Peters Bekanntschaft machen, in der Geschichte »Es gibt Tage, da verliert man« treffen wir auf meinen Dienststellenleiter Leo, und Mathias hat ein kurzes Gastspiel in der Geschichte »Wohin Einsamkeit führen kann«. Falls nötig sind die Figuren in den jeweiligen Passagen kurz charakterlich beschrieben, um das gegenseitige Kennenlernen etwas zu beschleunigen.

Am Ende bin da noch ich. Gemeinsam mit zahlreichen Kollegen durfte ich eine Vielzahl von Rettungsdiensteinsätzen erleben. In 15 Jahren aktiver Tätigkeit ist einiges passiert: Dramatisches, Trauriges und manchmal auch Unfassbares, aber das ist nur eine Seite der Medaille. Rettungsdienst bietet oft auch eine herrliche Situationskomik; manchmal sind die Einsätze einfach nur skurril, absurd oder schlichtweg witzig. Natürlich ist das alles eine Frage des Humors, aber glauben Sie mir, ich habe öfter ein Lächeln auf den Lippen als eine Träne im Augenwinkel.

Bis dann – in irgendeinem Rettungswagen!

Jörg Nießen

1. NOTFALL

Auf sexuellen Abwegen

Der Mensch ist ein komisches Tier

VERLOCKEND IST DER ÄUSSERE SCHEIN, DER WEISE DRINGET TIEFER EIN. WILHELM BUSCH

Die Überschrift dieser Geschichte mag verwirren, aber meiner Meinung nach stammt der Mensch vom Affen ab und wurde mitnichten aus einer pädagogisch unsinnigen Laune heraus vom lieben Gott aus dem Paradies verbannt. Der Mensch ist also im weiteren Sinne durchaus als eine von vielen Tierarten zu bezeichnen. Da der HOMO SAPIENS sich selbst aber als die Krone der Schöpfung wahrnimmt, sucht er zwangsläufig nach Unterschieden, um sich vom Rest des Tierreichs abzuheben. Ganze Wissenschaftszweige beschäftigen sich mit dieser Thematik: Philosophen, Theologen und Naturwissenschaftler. Sie überbieten sich geradezu mit Unterscheidungsmerkmalen zwischen Mensch und Tier. Schauen wir uns gemeinsam einige Beispiele an: Menschen sind aus philosophischer Sicht nicht ausschließlich instinktgetrieben. Sie haben Gefühle und handeln irrational. Menschen bauen und gebrauchen Werkzeuge, sie besitzen Sozialversicherungsnummern und geben Lohnsteuererklärungen ab. Menschen machen beim Sex das Licht aus.

Sexualität ist tatsächlich ein gutes Thema, um die Unterschiede zwischen Mensch und Tier darzustellen. Wussten Sie, dass Delfine nach heutigem Wissensstand neben den Menschen die einzigen Tiere sind, die Sex aus Spaß an der Freude betreiben? Der ganze Rest vögelt nur zu Fortpflanzungszwecken oder um Machtansprüche durchzusetzen. Wussten Sie, dass Schweine nicht selten multiple Orgasmen erleben? Wussten Sie, dass manche Männchen im Tierreich Widerhaken am Geschlechtsteil haben? Keine uninteressante Vorstellung, nicht wahr, meine Damen?

Apropos Widerhaken. Wie gerade erwähnt, bauen und gebrauchen Menschen Werkzeuge – dazu gehören natürlich auch Sexspielzeuge. Im Tierreich völlig unbekannt, die Kunst des Maschinenbaus beherrscht nur der Mensch. Auch wenn der Erfinder der Dampfmaschine sicher nicht über Dildos, Penispumpen und mechanische Strafstühle nachgedacht hat, so hat er ihnen doch den Weg geebnet.

Leider kommt es da, wo Maschinen oder Hilfsmittel eingesetzt werden, auch häufig zu Unfällen, was mir wiederum erlaubt, Ihnen als Leser die rettungsdienstlichen Zusammenhänge solcher Katastrophen zu schildern. Unfälle und Verletzungen mit sexueller Thematik sind nicht unbedingt häufig, aber eben auch nicht selten. Die Opfer finden sich quer durch alle gesellschaftlichen Schichten. Mein persönlicher Eindruck lässt jedoch folgenden Schluss zu: Je höher der soziale Status, umso skurriler sind die Umstände und Verletzungen.

Dass der Mensch Geschichten liebt, ist ein weiterer Unterschied zwischen Mensch und Tier. Es gibt drei Arten von Erzählungen. Erstens: »Deutsche Märchen«, lustige Geschichten, die jeder erzählt, aber noch keiner erlebt hat, und deren Wahrheitsgehalt nicht zu verifizieren ist. Zweitens: »Klassiker«. Es gibt eine Reihe autoerotischer Unfälle, die sich trotz hohem Bekanntheitsgrad immer und immer wieder wiederholen. Drittens: »Ich war dabei.« Einsätze, die ich selbst im Rettungsdienst erleben durfte und die mich am Menschen als Krone der Schöpfung zweifeln lassen.

Zu den »Deutschen Märchen« zählt zum Beispiel die Geschichte einer jungen Frau, die mit einer rohen Kartoffel im Anus ins Krankenhaus gebracht wird. Auf die berechtigte Frage, wie denn die Knolle dort hineingelangt sei, kommt folgende Antwort: »Ich bin im Kartoffelkeller ausgerutscht und dabei auf die Kartoffel gefallen.« Ja, ja, der gute alte Kartoffelkeller. Auch schön ist die »Batman-Nummer«: Ein Mann mit 85 Kilogramm Lebendgewicht springt im Batman-Kostüm von der Kommode auf seine sich im Bett vor Wollust rekelnde Gespielin. Ein Beckenbruch und drei gebrochene Rippen sind die Folge. Aber was will man erwarten, wenn Superhelden kopulieren? Diese und andere Geschichten sind vielleicht irgendwann, so oder so ähnlich, tatsächlich passiert. Sie haben aber allgemeine Verbreitung gefunden und werden in Rettungsdienstkreisen mit schöner Regelmäßigkeit von Flensburg bis Passau als gerade selbst erlebt erzählt.

»Klassiker« sind Ereignisse, die in Deutschland regelmäßig diensthabende Chirurgen beschäftigen. Schön geformte Glasgefäße, die in irgendwelche Körperöffnungen gesteckt werden, gehören schon zur Tagesordnung. Mit etwas Pech bildet sich ein Unterdruck, sodass zum Beispiel die 0,33-Liter-Colaflasche nur noch mit fremder Hilfe entfernt werden kann. Gleiches gilt für Dildos aller Art, die vollständig im Körper verschwunden sind und einfach keine Möglichkeit mehr bieten, sie zu packen. Hier gibt es ein schönes überliefertes Zitat eines Chirurgen während einer rektalen Untersuchung: »Raus krieg ich das Ding so nicht, aber ausschalten kann ich es.« Über die Verletzungsmuster nach Masturbation mit einer bekannten Staubsaugermarke gibt es sogar eine Doktorarbeit.

Warum rufen Betroffene in derartigen Situationen eigentlich den Rettungsdienst? In den meisten Fällen wäre der Weg ins Krankenhaus auch selbstständig möglich. Ich denke, es ist die Hoffnung, dass das Malheur zu Hause, sozusagen im kleinen Kreis, behoben werden kann. In der Regel müssen wir diese Hoffnung leider enttäuschen. Unter der Rubrik »Ich war dabei« kann ich nun Folgendes berichten: Zwei sehr sympathische schwule Mitbürger unserer Stadt hatten unsere Hilfe erbeten. Auf die obligatorische Frage »Was ist denn passiert?« kam eine knappe und präzise Antwort: »Ich hab zwei Billardkugeln im Arsch, die Drei und die Vier!«

»Warum um alles in der Welt Billardkugeln?«, fragte mein Kollege Hein verdutzt. »Wir haben früher schon mal andere Kugeln vergessen, da mussten wir auch ins Krankenhaus – Darmverschluss und so. Billardkugeln sind wenigstens nummeriert, da weiß man, was man hat, die Eins und die Zwei sind ja da, aber die Drei und die Vier wollen einfach nicht raus«, antwortete einer der Schwulen. »Aber die sind so groß!«, stellte Hein mit leidendem Gesichtsausdruck fest. Wir wurden aufgeklärt, dass Dehnungspausen bei analen Spielereien das A und O sind und dass da noch ganz andere Sachen reinpassen. Anschließend brachten wir die beiden Poolspieler gut gelaunt ins nächste Krankenhaus. »Und denkt immer dran, der Mensch nutzt nur zehn Prozent seines Dickdarms!« Mit diesem frechen, aber dennoch schönen Schlusssatz verabschiedete sich das Pärchen von uns.

Schlimmer getroffen hatte es einen jungen Mann, der uns bereits am Straßenrand erwartete. Mit blassem Gesicht und die Hände im Schritt vergraben, stammelte er schmerzverzerrt: »Ich hab mir den Schwanz gebrochen!«

Hein antwortete herzlos: »Das Ding kann nicht brechen, hat ja keine Knochen. Erst mal rein ins Auto und Hosen runter!« Der Anblick, der sich uns nun bot, war fürchterlich. Hein hatte natürlich recht, ein Penis kann nicht brechen, aber das Muskelgewebe kann reißen. Zwei Zentimeter hinter dem Penisschaft war der restliche Schwellkörper in einem 45-Grad-Winkel abgeknickt. Das dahinterliegende Gewebe war hühnereidick geschwollen und schillerte in bläulichen Farben. »Klassische Penisruptur«, sagte Hein ungerührt.

Kennen Sie Fremdschmerzen? Allein schon der Anblick bescherte mir die gleiche Pein wie dem Betroffenen, mein kleiner Freund schrumpelte auf Minimalgröße zusammen, aus Angst, ihm könne Ähnliches geschehen. Die immer wiederkehrende Frage »Wie ist das denn passiert?« hätte ich mir in diesem Fall besser gespart. »Meine Freundin und ich haben nett gefickt«, schilderte der junge Mann sein Dilemma, »irgendwann lag ich unten und sie hat mich ziemlich wild geritten, zwischendurch ist mein Schwanz wohl rausgerutscht, und in der nächsten Abwärtsbewegung hat es dann einfach nur noch höllisch wehgetan.« Sie werden lachen, aber bis heute habe ich bei der eben beschriebenen Stellung gewisse Hemmungen, mich der Lust vollkommen unkontrolliert hinzugeben.

Hein machte unserem Patienten auf seine Weise Mut: »Jetzt aber ab in die nächste Urologie, da müssen sechs, sieben Nadeln rein, Druckentlastung, das Blut muss da raus, sonst geht das Gewebe kaputt und das Ding fault ab.« Mit Blaulicht und Martinshorn fuhren wir ins Krankenhaus. Nur der Vollständigkeit halber: Am Ende blieb die Manneskraft des jungen Mannes erhalten.

Mein persönliches Highlight der Sexunfälle geht nah an die Grenzen der Vorstellungskraft. Ich kannte unseren Patienten, ich hatte ihn nämlich schon mehrmals amüsiert beobachtet. Sie werden es nicht glauben, und eigentlich geht es Sie auch gar nichts an, aber ich bin ein großer Freund klassischer Musik und besitze seit Jahren ein Abo unseres örtlichen Konzerthauses. In einem Zyklus über sechs Konzerte zum Thema »Ravel – Bolero mit einem Unbekannten« war mir ein weiterer Stammgast wieder einmal aufgefallen. Er wirkte wie ein typischer Bankangestellter: Um die fünfzig, Brille, Seitenscheitel und in einen billigen C&A-Anzug gepresst, saß der Typ stets in der zweiten Reihe. Unaufhörlich wippte er im Takt, nickte wohlwollend, als ob die Fortführung des Konzertes seiner körperlich dargestellten Zustimmung bedürfte. Das Kassengestell der Brille, von dicken, speckigen Ohren getragen, rutschte dabei immer weiter zur Nasenspitze, nur um jedes Mal kurz vor dem Absturz durch eine heftige Kopfbewegung zurück zur Nasenwurzel geschleudert zu werden. In den Pausen trank der Kerl nur stilles Wasser ohne Eiswürfel, aber mit Strohhalm. Zum Konzertende verließ er prinzipiell als Erster seinen Platz, die Applausordnung ignorierend, um nicht zwei Minuten an der Garderobe warten zu müssen.

Es dauerte nur eine Woche, bis ich unseren Biedermann beruflich bedingt wiedersah. Mir ging es gut, ihm ging es dreckig. Sie fragen warum? Das kann ich Ihnen erklären. Verbrennungen der Harnröhre, verursacht durch Stromstöße, sind nun mal eine schmerzhafte Sache. »Ja, wie kommt man denn zu solch einer Verletzung?«, werden Sie berechtigterweise fragen. »Bestimmt an einen Weidezaun gepisst!«, mutmaßen Sie? Nein, ich muss Sie enttäuschen, es war schon etwas mehr Kreativität im Spiel. Unser Ganzkörperdirigent hatte sich die gute alte Perlenschnur des Wannenstöpsels in die Harnröhre eingeführt. Nur um Ihrer Frage zuvorzukommen: Doch, das geht! Anschließend wurde der Trafo der Modelleisenbahn an das Ende der Perlenschnur angeschlossen, um sich gemeinsam mit den Herren Watt, Ohm und Volt hemmungslos der sexuellen Erregung hinzugeben.

Reizstrom ist keine Erektionshilfe! Mit Strom spielt man nicht! Vor Nachahmung des hier Gelesenen rate ich dringend ab! Der Mensch ist ein komisches Tier, oder haben Sie schon mal von einem Schwein gehört, das mit Modelleisenbahnen masturbiert?

2. NOTFALL

Verzerrte Eigenwahrnehmung

Jupp

DER MENSCH LEBT NICHT VOM BROT ALLEIN. NACH EINER WEILE BRAUCHT ER EINEN DRINK. WOODY ALLEN

Alarmfahrten werden irgendwann zur Routine, ja fast langweilig. Hat man im Zivildienst noch vor Glück gesabbert, wenn man mit Blaulicht und akustischer Warneinrichtung eine rote Ampel überfahren hat, so stellt sich doch irgendwann Gewohnheit ein. Auch Sie als Leser sollen nicht mehr als nötig mit der Beschreibung von Alarmfahrten gelangweilt werden. Natürlich versaue ich mir als Autor hiermit eine geschmeidige Einleitung in die Geschichte, indem ich alle Liebhaber von Alarmfahrtenbeschreibungen enttäusche, aber so unterhaltsam die Paragrafen 35 und 38 der StVO auch sein mögen, lassen Sie sich von mir direkt an den Ort des Geschehens entführen. Wir treffen uns an einem regnerischen Novemberabend gegen 17:45 Uhr in der schönen Einraumkneipe ZUM BLASIERTEN.

Blut tropft langsam, aber stetig auf den Boden. Tropfrate circa 120/Minute. Kennen Sie den Begriff »Tropfrate«? So sachlich und doch so völlig bescheuert. Tropfrate 120/Minute, darunter kann man sich ja noch etwas vorstellen. Aber was ist mit der Tropfrate 7500/Minute? Entspricht das dem Morgenurinstrahl einer jung gebliebenen 82-jährigen Bodenturnerin mit Blasenschwäche, oder ist damit vielmehr der Ölverlust nach dem Platzen eines Hydraulikschlauchs an einem handelsüblichen Schaufelradbagger passend beschrieben? Man weiß es nicht – ich lade Sie ein, vielleicht bestimmen Sie mal Ihre eigenen Tropfraten. Wenn man aufmerksam durchs Leben geht, bieten sich da einige Möglichkeiten …

Doch zurück zu unserer Kneipengeschichte. Tropfrate 120/Minute bedeutet, dass circa zwei Tropfen Blut pro Sekunde die Platzwunde am Hinterkopf unseres Patienten verlassen. Unser Patient heißt Jupp und sitzt gelassen auf einem Hocker am Tresen. Diese Sorte Kneipe liebe ich, leider findet man sie kaum noch. Halten Sie mich ruhig für nostalgisch, aber heute gibt es nur noch Clubs, Lounges oder Konzeptgastronomie. Diese modernen Läden haben Namen, die an Modellreihen japanischer Motorradhersteller erinnern, verkaufen Produktpaletten, die aus dem Chemielabor stammen, und schließen schneller, als der Vorrat an Bier- und Fruchtsaftmischungen sein Mindesthaltbarkeitsdatum erreichen kann.

Im ZUM BLASIERTEN werden Sie schon schief angeguckt, wenn Sie nur ein Alster oder Radler bestellen. Hier wird Bier bestellt beziehungsweise so lange hingestellt, bis Sie als Gast aktiv die flüssige Nahrungsaufnahme verweigern. In dieser Kneipe finden Sie Menschen, die in Eckbänken und auf Barhockern lachen und lästern, weinen und jammern. In dieser Kneipe finden Sie Menschen, die wissen, dass fünf Bier (0,33 l) ein Schnitzel sind – das bestätigt Ihnen auf Nachfrage auch jede Ökotrophologin. In dieser Kneipe hängen Wimpel an der Wand, es gibt einen Sparverein, der Toilettenbesuch ist kostenlos, selbst gemachte Frikadellen kosten 1,10 Euro inklusive Senf, und der Geruch von kaltem Rauch wird als gemütlich empfunden. In dieser Kneipe treffen Sie Innenarchitekten, Maurer, Hartz-IV-Empfänger, den Besitzer einer Schreinerei, die Labortante aus dem Krankenhaus gegenüber, einen Stammtisch von betagten Segelfreunden und einen psychotischen Handwerker, der Ihnen erklärt, wer Kennedy wirklich erschossen hat. Ein stets schlecht gelaunter Wirt mit abgebrochenem Germanistikstudium, der lieber Sommelier geworden wäre, rundet das sympathische Ensemble ab. Sie merken, ich war privat auch schon mal hier. In diesem Biotop für Biertrinker mit Niveau stillt auch Jupp gerne seinen Durst. Jupp fährt seit 22 Jahren hauptberuflich Taxi, leider verlief sein Tag heute nicht ganz unfallfrei.

Nicht, was Sie gleich wieder denken, mit dem Taxi ist alles in Ordnung. Nach einer äußerst profitablen überregionalen Fahrgastbeförderung hatte Jupp beschlossen, bereits um 15:30 Uhr den Feierabend einzuläuten, um das gesamte Trinkgeld des heutigen Tages in seine Stammkneipe zu reinvestieren. Ein Fünfzigeuroschein wechselte mit den Worten »Sach Bescheid, wenn der fertig is, un jez zap ersmal zwei Bier, isch hab Brand« im Voraus den Besitzer. Jupp ist ein sogenannter »Wirkungstrinker«, d. h., er will was merken, wenn er säuft. Mit anderen Worten, der Verlust der Muttersprache ist hier erklärtes Ziel. Wie heißt es im Volksmund doch so schön: »Halb betrunken ist rausgeworfenes Geld.« Rechnen Sie mal aus, wie viel Bier Sie in Ihrer Stammkneipe für 50,00 Euro konsumieren dürfen. Nun heißt es, Angst und Ekel überwinden, und immer rein mit dem Zeug. Zwischendurch mal einen klaren Schnaps, nur für den Magen versteht sich; immerhin hatte Jupp gegen 16:55 Uhr bereits umgerechnet circa drei Schnitzel getrunken.

Es muss 17:35 Uhr gewesen sein, als Jupp ein Saufspiel gegen sich selbst verlor und nun sieben Magenbitter auf ex trinken musste. Mit den Worten »Mein Vater wäre stolz auf misch, meine Mutter weniger« schüttete Jupp den letzten Schnaps in sich hinein. Da geschah das Unglück: Den Kopf noch im Nacken stürzte Jupp samt Barhocker ungebremst rückwärts zu Boden. Das Geräusch des Aufpralls konnte im Nachhinein niemand beschreiben, war auch eigentlich nicht nötig. Eine Kopfplatzwunde wie mit einer Axt geschlagen zierte als stummer, aber blutender Zeuge Jupps Hinterkopf.

Kopfplatzwunden bluten ja erst mal wie frisch abgestochene Schweine, mit der Zeit lässt die »Tropfrate« dann nach. Auch wenn Kopfplatzwunden in der Regel keinen lebensbedrohlichen Zustand darstellen, so sind sie doch häufig so beeindruckend, dass das Umfeld des Opfers sich genötigt fühlt, den Rettungsdienst zu alarmieren. So auch in unserem Fall. Volker, unser Wirt, wollte Erste Hilfe leisten, er kniete sich neben Jupp und blickte auf eine circa zehn bis zwölf Zentimeter lange vertikal verlaufende klaffende haarige Wunde. Überfordert von diesen Dimensionen sagte er nur: »Das erinnert mich an die Geburt meiner ersten Tochter«, gab allen Gästen einen Schnaps aus und rief die Notrufnummer 112.

Als mein Kollege Peter und ich die Kneipe betraten, war das Schlimmste anscheinend schon vorbei. Jupp saß wieder auf seinem Hocker und trank Bier, er schaute kurz auf, bemerkte uns, nahm einen großen Schluck und erklärte mit dem schönen Wort »Reparaturbier« die gesamte komplexe Situation. Meinen Kollegen Peter muss ich Ihnen noch kurz vorstellen. Peter ist Gewichtheber aus Leidenschaft, all seine Gedanken kreisen um Hanteln, Gewichte, Körperfettwerte und Muskelaufbau. Mit anderen Dingen beschäftigt sich Peter kaum. Diese einseitige Interessenlage führt dazu, dass Peter auf den ersten Blick nur über unterdurchschnittliche geistige Ressourcen verfügt. Auf die Frage »Wie heißt Angela Merkel mit Vornamen?« dürfen Sie keine schnelle Antwort erwarten.

Verstehen Sie mich nicht falsch, Peter ist nicht dumm, er weiß halt nur wenig. Die Qualitäten von Peter werden in anderen Momenten deutlich. Wenn sie einen 140 kg schweren Patienten aus dem 4. Obergeschoss schleppen, dann fragen Sie sich nicht mehr, ob Peter aus Schillers Glocke rezitieren kann. Wie dem auch sei, so langsam sollten wir uns mal um Jupp kümmern.

»Was ist denn überhaupt passiert, und wie ist Ihr Name?«, begann ich ganz klassisch mein Patientengespräch.

»Misch nenne se Jupp, un et is nix passiert!«, gab Jupp mürrisch zurück. Volker, der Wirt, mischte sich ungefragt ins Geschehen ein: »Besoffen vom Hocker gefallen ist er.«

»Halt du doch, halt du doch et Maul, du has doch keine, keine Ahnung, du Bierschubse, du has ja nich mal ne richtige Schankkonsistenz«, erwiderte Jupp lallend, ganze Sätze fielen ihm mittlerweile schwer.

Herrlich, nicht wahr? »Schankkonsistenz« – eine derartige sprachliche Schöpfungsgabe ist nur Besoffenen vorbehalten. Bemerkenswert ist aber auch das Zusammenspiel zwischen Gehör und Gehirn der Zuhörer. Bis zur Sinnlosigkeit verzerrte, gelallte Wortgebilde werden trotzdem verstanden, wahrscheinlich wird der Schwachsinn mit schon einmal Gehörtem abgeglichen und das Ähnlichste als Übersetzung angenommen. Falls Sie sich öfter mit Besoffenen unterhalten müssen: Ein gutes Training ist das Hören von alten Langspielplatten mit falscher Geschwindigkeit.

»Sie haben eine große Platzwunde am Hinterkopf, die aufgrund möglicher Infektionsgefahr ärztlich versorgt werden muss.« Dieser Satz klang mir in unserer Situation etwas zu geschwollen. Ich entschloss mich daher zu folgender Aussage: »Jupp, du hes ne ordentliche Ratsch im Kappes, kum mit nach et Spital, dat mot jenieht wede!« Übersetzt heißt der Satz: »Josef, du hast einen ordentlichen Riss im Kopf, komm mit ins Krankenhaus, das muss genäht werden.«

Jupp holte tief Luft: »Du bis in Ordnung, Jung, aber isch kum nit mit!«

»Jupp, sei vernünftig, die Wunde säubern und nähen, kurze Röntgenkontrolle vom Schädel, und in einer Stunde sitzt du wieder hier«, versuchte ich, Jupp umzustimmen. Er blieb hart und wiederholte nur: »Du bis in Ordnung, Jung, aber isch kum nit mit!« Auch die restlichen Gäste der Kneipe versuchten, Jupp zu überzeugen, uns ins Krankenhaus zu begleiten. Einer der Segelfreunde fand besonders motivierende Worte: »Jupp, fahr mit, und wenn du gleich den BH von der Ambulanzschwester mitbringst, geb ich einen aus.«

Peter wurde es zu blöd, er versuchte, die Situation auf seine Weise zu lösen. Er fasste Jupp kräftig am Arm und sagte: »So, mein Freund, dann wollen wir mal!« Doch er hatte nicht mit Gegenwehr gerechnet. Jupp drehte seinen Arm aus Peters kräftigem Griff und brüllte: »Freund, isch geb dir gleich Freund – isch hau dir die Kartoffel vom Hals, du Klappstuhl.« Der Ton wurde rauer. Ähnlichkeit mit einem Klappstuhl hatte Peter sicherlich nicht, mit einem angetrunkenen Jupp war auch nicht zu spaßen. Dennoch hätte ich bei einer körperlichen Auseinandersetzung keine Zweifel an Peters Überlegenheit gehabt. Die Gäste in der Kneipe warteten gespannt, ob die Situation jetzt eskalieren würde. Die Luft knisterte, aber Peter war cool genug, um keine Schlägerei vom Zaun zu brechen. Leider war das zarte Band der Freundschaft zwischen Jupp und uns nun zerrissen, er würdigte uns keines Blickes mehr.

Wir waren in einer schwierigen Situation. Auf der einen Seite musste Jupp mit ins Krankenhaus, eine Platzwunde dieser Größenordnung sollte medizinisch versorgt werden. Infektionen, z. B. Tetanus (Wundstarrkrampf), musste vorgebeugt werden. Ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, womöglich eine Hirnblutung, war auszuschließen. Nüchtern sieht das auch jeder Patient ein, nach dem neunten Bier schaut die Welt dann schon wieder anders aus.

Als Rettungsdienstpersonal darf ich Patienten nicht mit Gewalt zu ihrem Glück zwingen, schließlich leben wir in einem freien Land. In der Regel gestalten sich derartige Situationen unproblematisch. Wenn Sie als Patient nicht medizinisch versorgt werden möchten, unterschreiben Sie, dass Sie auf eigene Verantwortung einen Transport in ein Krankenhaus verweigern. Alle Beteiligten sind fein raus. Das funktioniert aber nur, solange der Patient voll geschäftsfähig ist. Bei Jupp durfte berechtigt bezweifelt werden, ob er in der Lage war, seine eigene Situation zu seinem Besten einzuschätzen. Was also tun? Die Lösung heißt Polizei. Unser aller Freund und Helfer hat nämlich einen riesigen Vorteil. Wenn Verhandlungen, Argumente und Diplomatie kein Ergebnis bringen, kann, falls nötig, auch körperliche Gewalt ausgeübt werden.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich hetze nicht jedem angetrunkenen Patienten gleich die Staatsmacht auf den Hals, aber Jupps Kopfplatzwunde war keine kleine Schramme, über die man hinwegsehen konnte. Da ich aber weder dafür ausgebildet bin noch dafür bezahlt werde, uneinsichtige Patienten unter Zwang ins Krankenhaus zu verfrachten, sah ich mich gezwungen, die Polizei um Hilfe zu bitten. Selbst wenn ich im Vorhinein gewusst hätte, was durch das Eintreffen der Polizei ausgelöst werden würde – ich hätte doch keine andere Wahl gehabt.

Konnte man bisher noch von einer konstruktiven Grundstimmung in der Kneipe sprechen, so war mit dem ersten Fuß, den die Polizisten in den BLASIERTEN setzten, eine gewisse Feindseligkeit spürbar. Vergleichen Sie den Moment mit einer Hochzeitsfeier, wenn auf dem Höhepunkt der Zeremonie der ungeliebte und selbstverständlich offiziell nicht eingeladene Exverlobte das Standesamt betritt. Da ist der Raum im gleichen Augenblick kniehoch voll mit Scheiße. Die beiden Polizeibeamten, die das Schicksal zu uns gespült hatte, waren sympathische Vertreter ihrer Art. Der eine ein wenig untersetzt mit schütterem Haar, der andere groß und schlank mit Hochwasser in der Diensthose.

»Wie können wir helfen?«, fragte einer der Kollegen freundlich und neutral.

»Sie können mal kurz die Tür vom Bierkeller aufschießen – haha«, grölte ein ebenfalls angetrunkener Gast und lachte sich mehrere Minuten über seine eigene Bemerkung kaputt. Die Polizisten ignorierten den Vorschlag und wandten sich mir zu. Kurz und knapp erklärte ich die Gesamtsituation und bat um Hilfe beim Transport von Jupp ins zuständige Krankenhaus.

»Kein Problem, wir sprechen mal mit dem Herrn«, erwiderte der untersetzte Polizist mit einem Mienenspiel, als wäre diese Kleinigkeit in zehn Sekunden erledigt und außerdem seine leichteste Übung.

»Die Herren vom Rettungsdienst sind der Auffassung, Sie sollten sich ärztlich versorgen lassen. Würden Sie uns nun bitte begleiten!«, sprach der Polizist an Jupp gewandt. Jupp drehte sich um, erblickte den Beamten, schaute mit seinen versoffenen Augen noch mal genauer hin und schüttelte abfällig den Kopf. Seine Antwort kam prompt: »Du bis doch de vollgeschissene Strumpf, de misch letzte Woche angehalten hat, disch erkenne isch wieder, du kannst misch mal da küssen, wo nie Licht scheint.« Auch dieser kurzen Konversation war anzumerken, dass gemeinsame Positionen und harmonisches Miteinander eher untergeordnete Rollen spielen würden.

»Ich werde nicht lange mit Ihnen diskutieren, ins Krankenhaus werden Sie uns so oder so begleiten. Entweder auf die eine oder auf die andere Art«, erwiderte der Mann in Uniform ungerührt.

Um die nun folgende Diskussion zu verkürzen: Es blieb bei den bekannten Standpunkten. Also musste die Polizei einen alternativen Weg der Problemlösung beschreiten – sanfte Gewalt. Jupp hatte sich leider jeden Respekt vor der Staatsmacht versoffen, er wehrte sich mit Händen und Füßen. Während dieser körperlichen Auseinandersetzung schlug die Stimmung in der Kneipe um. Hieß es eben noch: »Jupp, fahr mit ins Krankenhaus«, so grölte die versammelte Bagage nun: »Polizeistaat, Folterknechte, Scheiß-Pflasterkleber« etc. Das Ganze endete in einem Dreifrontenkrieg. Die Polizei war in einen Ringkampf mit Jupp verwickelt. Peter war damit beschäftigt, mehrere Gäste des BLASIERTEN daran zu hindern, Jupp aktiv zu helfen. Mit anderen Worten, er schubste sich mit der halben Kneipe, und ich versuchte, unser Equipment unbeschadet von der Einsatzstelle zu entfernen. Zugegeben, meine Aufgabe klingt nicht besonders ehrenvoll, aber wenn eine nette Kneipe zum Mob wird, sollte man sich seiner Grenzen bewusst sein. Körperlich einschreiten musste ich dennoch, beim unauffälligen Verpissen bemerkte ich einen circa siebzigjährigen militanten Rentner, der einen Barhocker umgedreht hatte, um ihn einem Polizisten ins Kreuz zu schlagen. Das konnte ich nicht tatenlos geschehen lassen, ich nahm all meinen Mut zusammen und trat dem Mann von hinten ins Kreuz. Samt Hocker brach der alte Recke in sich zusammen. Gewalt gegen Senioren verabscheue ich, aber dieser zunächst unschuldig scheinende Doppelherzkämpfer hatte es selbst provoziert.

Ich kann gar nicht mehr beschreiben, wie es genau geschah, jedenfalls waren wir alle, d. h. Jupp, die Polizisten, Peter und ich, plötzlich auf dem Bürgersteig vor der Kneipe und somit dem meuchelnden Mob entkommen.

Die Fahrt zum Krankenhaus war unspektakulär. Jupp lag, die Arme mit Handschellen auf dem Rücken fixiert, seitlich auf der Trage. Zunächst strampelte er noch wütend mit den Beinen, doch das beruhigende Fahrgeräusch und die dämpfende Wirkung des Alkohols gewannen langsam die Oberhand. Sie werden es nicht glauben, aber nach circa fünf Minuten Fahrzeit schlief Jupp friedlich auf der Trage, ja er schnarchte sogar leise. Der Polizist, der den Transport begleitete, schüttelte ungläubig den Kopf: Eben noch eine um sich schlagende Bestie, und jetzt ein friedlich schnarchendes Lämmchen.

Im Krankenhaus angekommen, wurde Jupp mit vereinten Kräften aus dem Rettungswagen geladen und samt Trage in die Ambulanz geschoben. Uns begrüßte Dr. Aramidis, eine grobschlächtige griechische Chirurgin, die erst eine subtotale Amputation von Gliedmaßen als ernstzunehmende Verletzung einstuft.

»Was bringt ihr mir Schönes? Ah, den Verlierer! Von wem hat der Kirmesboxer die Platzwunde? Fahrt ihn erst mal zum Röntgen. Bei uns zu Hause näht so was die Putzfrau! Warum trägt der Mann Handschellen?«, schwadronierte sie mit unüberhörbarem griechischen Akzent.

»Der Herr war unkooperativ und gewalttätig«, erklärte einer der Polizeibeamten die Handschellen.

»Und jetzt schläft er und sabbert die Trage voll, machen Sie bitte die Dinger ab, die stören nur beim Röntgen«, gab Dr. Aramidis zurück. Beim Umlagern auf den Röntgentisch wurde Jupp wach. Alles in allem ließ er die Prozedur aber relativ friedlich über sich ergehen.

Interessanter wurde es beim Nähen. Unterstützt durch den schwulsten Pfleger, den das deutsche Gesundheitswesen zu bieten hat, begannen die vorbereitenden Maßnahmen. Was ist eigentlich der korrekte Superlativ von schwul? Darüber hat der Autor an dieser Stelle lange nachgedacht. Wie dem auch sei, die Desinfektion und Rasur der Wundränder waren ein Schauspiel. Die Desinfektionslösung brannte wie der Teufel, Jupp jaulte, als würde er gerade von dem rosa Krankenhausteekännchen defloriert. Wenn alles vorbei ist, wird er ne Mütze brauchen«, kommentierte Peter die großzügige Rasur, die Jupp rund um die Wunde verpasst bekam. Ausgerüstet mit sterilen Handschuhen und Nadel und Faden machte sich Dr. Aramidis nun ans Werk. Da Jupp ordentlich Alkohol intus hatte, wurde bewusst auf eine örtliche Betäubung verzichtet. Bei jedem Stich verzog Jupp leidend das Gesicht und jammerte.

»Erst den wilden Max machen, und wenn es mal zwickt, quieken wie ein Schulmädchen beim ersten Mal, das hab ich gern!«, frotzelte Frau Dr. süffisant. »So, fertig, nicht schön, aber selten!« Mit diesen Worten beendete die Chirurgin ihre Wundversorgung. Insgesamt waren 19 Stiche nötig, um die klaffende Wunde zu schließen. Die Röntgenbilder trafen in der Ambulanz ein und wurden begutachtet. Jupp hatte Glück gehabt, es war keine Fraktur zu erkennen. »Gut, nix gebrochen! Trotzdem werden Sie wegen Verdacht auf Gehirnerschütterung diese Nacht hier im Krankenhaus verbringen!«, entschied Dr. Aramidis.