Jackie hat Hirn erbrochen – bleibt die jetzt doof? - Jörg Nießen - E-Book + Hörbuch

Jackie hat Hirn erbrochen – bleibt die jetzt doof? Hörbuch

Jörg Nießen

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Beschreibung

Feuerwehrmann, Notfallsanitäter und Bestsellerautor Jörg Nießen ist seit vielen Jahren im Geschäft – und erlebt im Dienst immer wieder, dass die Notrufnummer 112 mit beachtlicher Gedankenlosigkeit gewählt wird. Das blockiert nicht nur Ressourcen, sondern frustriert auf Dauer auch die Retter*innen. In seinem sechsten Buch erzählt Jörg Nießen von erschütternden Zeugnissen menschlicher Leichtfertigkeit, die ihm dienstlich begegnet sind: Von Notrufen, weil jemand auf Google Maps eine Rauchsäule gesehen hat, von der Tatsache, dass Retter*innen dann manchmal doch nicht willkommen sind oder von Senior*innen, die Drogen ausprobieren und danach persönliche Betreuung wünschen. Eigentlich alles nix für die Notfallretter*innen – aber probieren kann man's ja mal, getreu dem Motto: Dreist kommt weiter. Mit über 250.000 verkauften Büchern ist Jörg Nießen der unangefochtene Spitzenreiter im Genre der Feuerwehrliteratur – und als aufmerksamer Beobachter und pointierter Erzähler beliebt. Mit seinen Geschichten beweist er, dass man auch die bizarrsten Situationen mit Humor nehmen kann – manchmal sind sie anders auch gar nicht zu ertragen.

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Zeit:5 Std. 40 min

Sprecher:Jörg Nießen

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»Kein Mensch tritt ohne Grund in dein Leben – der eine ist ein Geschenk, der andere eine Lektion.«

Quelle: unbekannt, gefunden im Portemonnaie von Marlene

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Ölspur

Zahnfee mit Blaulicht

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf

O Herr, wirf Hirn vom Himmel!

Der Rauswurf

Unglaublich, aber leider wahr

Hein und ich tauchen ab

Azrael

Partycrasher de luxe

Schwerkraft – die Anziehungskraft der Körper

Wo Rauch ist, da ist (vermeintlich) auch Feuer

Der Reiher am Weiher

Der Herr der Ringe

Bombenstimmung und andere Sorgen

Mondphasen

Nachwort

Vorwort

»Am Anfang war das Vorwort«, sagt ein Zitat von Ulrich Erckenbrecht. Doch wozu sind die wenigen Zeilen am Anfang eigentlich gut? Vorworte werden eh nicht gelesen, erzählt man sich in Schriftstellerkreisen. Allerdings sind sie für den Autor die einzige Möglichkeit, quasi in Kontakt mit den Lesenden zu treten, um von vornherein Missverständnissen vorzubeugen und die eigenen geistigen Ergüsse ins rechte Licht zu rücken.

Daher an dieser Stelle ein wichtiger Hinweis: Sie halten kein Fachbuch in der Hand! Dieses Werk dient ausschließlich der Unterhaltung und soll zum Lächeln, Lachen und Staunen einladen. Und sollten Sie hier und da nachdenklich werden, so ist auch das durchaus gewollt, obwohl es mir fernliegt, den erhobenen Zeigefinger in Gänze auszustrecken.

Weil ich in der Vergangenheit gute Erfahrungen mit O-Tönen gemacht habe, trägt dieses Werk den provokanten Titel: Jackie hat Hirn erbrochen – bleibt die jetzt doof? Um diesbezüglich eines vorwegzunehmen: Die menschliche Denk- und Steuereinheit hat keine direkte Verbindung zum Magen-Darm-Trakt; den Rest erfahren Sie in der schönen Episode O Herr, wirf Hirn vom Himmel.

Der Untertitel kokettiert damit, dass sich Rettenden hier und da Gedanken über den Sinn und Unsinn von Notrufen aufdrängen, obwohl jeder professionellen Einsatzkraft natürlich klar ist, dass Notrufende sich im Augenblick der Alarmierung in einer Ausnahmesituation befinden, die sich jenseits des normalen Erfahrungshorizonts abspielt. Von ein paar Stammkunden mal abgesehen. Wenn es also darum geht, die 112 anzurufen, gilt der unverrückbare Grundsatz: »Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig!«

»Nach der Lektüre dieser schriftlichen Beichte eines Berufsversagers* ruft doch niemand mehr die Rettung«, höre ich bereits die Kritiker schreien, aber genau das glaube ich keineswegs. Denn wenn auch nur ein Fünkchen Wahrheit in diesem Vorwurf glühen würde, hätte nach Ausstrahlung der Schwarzwaldklinik kein Mensch jemals wieder ein Krankenhaus betreten. Oder nach dem Konsum von Krimis mit korrupten Polizisten die 110 gewählt.

Aber worum geht es in Jackie hat Hirn erbrochen konkret? Hein, mein erklärter Lieblingskollege im inzwischen vierten Buch, steckt in einer gewissen Sinnkrise und ist über die Jahre etwas dünnhäutig geworden. Ölspuren, die keine sind, nagen an seinem beruflichen Selbstverständnis, genauso wie ihm eigene Missgeschicke zu schaffen machen. Es läuft halt nicht immer alles glatt, und die Kollegen kennen im Rahmen der Schadenfreude keine Gnade.

Darüber hinaus werden wir zwar meistens aktiv gerufen, sind manchmal jedoch nicht willkommen, wie sich in Der Rauswurf zeigt, und ein anderes Mal freut man sich zwar, wenn wir kommen, und dennoch sind wir völlig fehl am Platz. Lassen Sie mich so viel verraten: Senioren und Drogen ergeben einfach keine gute Kombination.

Zwischendurch gibt es einen Ausflug ins Privatleben, der Hein und mich tatsächlich fast das Leben gekostet hätte, aber auch herrenlose Mülltüten und mechanische Abflussstauungen an männlichen Geschlechtsteilen spielen eine Rolle. Zum Schluss mündet alles in einem dramatischen Höhepunkt, aber wer weiß, vielleicht ergibt sich dennoch ein Happy End.

Alle Übereinstimmungen mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig. Der rote Faden in den Geschichten ist zwar aus der Wolle des realen Lebens gesponnen, der Rest jedoch aus guten Gründen verändert, bewusst übertrieben und hier und da sogar frei erfunden.

Last but not least findet sich am Ende dieses Buches eine Art Bonustrack in eigener Sache. Weil viele Lesende meiner Bücher nicht meinem Berufsstand entstammen, liegt es mir am Herzen, ein wenig Aufklärungsarbeit zu leisten, um so manchen Notruf zu vermeiden. Womöglich leisten Sie damit einen Beitrag, wertvolle Ressourcen zu schonen und letztendlich Leben zu retten.

»Wenn ich im Dienst faul sein darf, dann gehts dem Bürger gut.« – getreu diesem Motto lade ich Sie ein, ein kleines bisschen über die Einsatztaktik von Rettungsdienst und Feuerwehr zu erfahren. Ich möchte nicht, dass Sie übervorsichtig werden oder gar zum Prepper mutieren, doch der ein oder andere Hinweis kann für den persönlichen Alltag durchaus von Nutzen sein – es müssen ja nicht immer Spatzen vor den Kanonen herumfliegen.

Und jetzt viel Spaß beim Lesen! Hein kann ihren Beistand gut gebrauchen …

Ihr Jörg Nießen

* Übrigens auch ein O-Ton. In diesem Fall aus einer Rezension eines meiner früheren Werke.

Die Ölspur

02.02.2020. Hein feierte Geburtstag. Zwar nicht auf den Tag genau, aber vor etwas mehr als einer Woche hatte sich das Jahrgedächtnis seines körperlichen Verfalls wiederholt. Auf meiner Wache ist es dann üblich, die Kollegen daran teilhaben zu lassen.

Da es zu üblen Missverständnissen führen kann, wenn man einfach eine Kiste Bier auf den Tisch stellt, hatte Hein sich entschlossen, für die versammelte Mannschaft ein opulentes Frühstück auszugeben. Den Tag hatte er allerdings nicht ohne Bedacht gewählt.

»Ich schmeiß doch keine Perlen vor die Säue!«, lauteten seine Worte, als er in Abhängigkeit des Dienstplans ausschließlich Lieblingskollegen zu Tisch bat.

Und wahrlich – Hein hatte sich nicht lumpen lassen. Rührei à la Marlene Dietrich, Rostbratwürstchen, Lachs mit Orangen-Senf-Soße, Käse, Eichelmastschinken von glücklichen Hohenloher Schweinen, drei Sorten Brot, Joghurt, Fruchtsaft und nicht zuletzt alkoholfreier Champagner zeigten sich seiner würdig. Der Anlass gab schließlich Grund zur dezenten Dekadenz, denn Hein wurde ja nur einmal 55 Jahre alt. Die anwesenden Hungerleider gratulierten mit einem einstudierten und sich wiederholenden: »Huch, ’ne Schnapszahl!«

Die Leitstelle indes nahm leider keine Rücksicht auf Heins persönliche Befindlichkeiten und alarmierte das Kleinlöschfahrzeug, auf dem er und ich heute eingeteilt waren, zu einer Ölspur.

»Das KLF der Westwache zu einer Ölspur in die Reißdorfer Allee. Öllache vor Hausnummer 44«, tönte es wiederholt aus dem Wandlautsprecher.

Hein ließ sich nichts anmerken, als die Kollegen mit vollem Mund zum Abschied winkten, aber natürlich war er enttäuscht. Gern hätte er mit Leo, Lars, Mattias und den anderen gemeinsam diniert, doch so ist das im Blaulichtmilieu – wenn der Bürger ruft, lässt man die Gabel fallen und ist zur Stelle.

»Vielleicht ist ja später noch was vom Schinken übrig«, versuchte ich, Hein aufzumuntern, wohl wissend, dass bei unserer Rückkehr nur noch ein paar verschrumpelte Trauben auf der Käseplatte liegen würden, was mein Lieblingskollege mit einem trockenen »Sei bitte nicht albern!« weissagend kommentierte.

Während der Anfahrt zur besagten Einsatzstelle schwieg Hein. Nach langen Jahren gemeinsamen Dienstes kannte ich ihn gut genug, um zu wissen, dass jetzt nicht der Moment für belanglose Konversation war. So nutzte ich die Gelegenheit, um über das Universum der Ölspuren nachzudenken.

Sie sind schmierig. Mache sind kurz, andere lang, manche sind breit, andere schmal, wieder andere überfordern die Feuerwehr mit ihrem Ausmaß, dann braucht es die Straßenmeisterei oder spezialisierte Unternehmen. Wie dem auch sei – keine Ölspur ist gut für die Korallenriffe dieser Welt. Und auch wenn Hein und ich jetzt lieber am Frühstückstisch gesessen hätten, fehlte es uns nicht an professioneller Motivation, um der ausgelaufenen Betriebsstoffe, wie es im Feuerwehrjargon heißt, Herr zu werden.

Im Normalfall werden diese, egal ob Öl oder Benzin, abgestreut, das verunreinigte Bindemittel aufgenommen und geeigneter Entsorgung zugeführt. Falls sich der Verursacher ausmachen lässt, klären die Einsatzkräfte die Kostenübernahme, fertigen einen Einsatzbericht an, und die Sache ist erledigt. Zumeist also nichts Spektakuläres, aber dennoch sinnvoll, denn Öl und Benzin gehören einfach nicht in die Kanalisation. Was viele nicht wissen: Umweltschutz ist seit vielen Jahren ein wichtiger Aufgabenbereich der Feuerwehr.

Nach etwa sechs Minuten Anfahrt bog Hein in die Reißdorfer Allee ein. Wir richteten unsere Augen konzentriert auf die Straße, um die gemeldete Ölspur und deren Ausmaße auszumachen und festzustellen, ob sie durch den fließenden Verkehr weitere Ausbreitung fand.

Doch sosehr wir uns bemühten, wir entdeckten nicht die geringste Verunreinigung der Fahrbahn. Zweimal fuhren wir die Straße ohne Feststellung ab, bis Hein das Kleinlöschfahrzeug vor der angegebenen Hausnummer zum Halten brachte.

»Vielleicht hat irgendein Drecksack einen Ölwechsel auf dem Bürgersteig veranstaltet«, mutmaßte er, bevor er das Fahrzeug verließ, um die Umgebung in Augenschein zu nehmen. »Dem werd ich was!«

Ich folgte unauffällig.

Häuser aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert bildeten den eigentlichen Straßenzug. Davor, getrennt durch kniehohe Mauern samt schmiedeeisernen Zäunen, schmiegten sich kleine Vorgärten aneinander, an die ein durch Platanen zum Slalomkurs mutierter Fußweg anschloss. Hein und ich liefen umher, um das nähere Umfeld zu erkunden, erneut ohne Erfolg. Weit und breit war keine Öllache oder Ölspur feststellbar. Das Höchste der Gefühle stellte eine dünne handtuchgroße Pfütze dar.

»Die kann ja wohl nicht gemeint sein«, kommentierte ich die minimale Wasseransammlung, und Hein nickte wortlos.

»Umso besser. Jemand hat sich einen schlechten Scherz erlaubt, aber zumindest brauchen wir nicht zu kehren, und in zehn Minuten verputzt du dein erstes Brötchen mit Remoulade, Rostbratwürstchen und Rührei«, ergänzte ich, und jetzt lächelte Hein sogar.

Wir saßen bereits wieder im Fahrzeug und Hein war dabei, die Tür ins Schloss fallen zu lassen, als ein Mittdreißiger aus der 44 stürzte und auf uns zustürmte. Zu kurze graue Hosen, gehalten von schmalen Lederhosenträgern, ein schwarzer Vollbart und eine übergroße rote Brille, gekrönt von einer Wollmütze, verliehen dem Mann schon von Weitem ein extravagantes Erscheinungsbild.

»Hierbleiben, hierbleiben, ich habe Sie gerufen!«, rief er lauthals, während er die letzten Meter zu uns zurücklegte.

»Ach du Scheiße, ein waschechter Vorstadt-Hipster. Jetzt wirds spannend«, entfuhr es Hein, und er sollte recht behalten.

Weil an Flucht natürlich nicht zu denken war, verließen wir unser Fahrzeug wieder und traten dem sich als Notrufer bekennenden Mann entgegen.

»Schmitz-Müller mein Name«, begrüßte er mich per Handschlag, und ich dachte noch über den langweiligsten Doppelnamen der Welt nach, als Hein schon an der Reihe war. Im Gegensatz zu mir allerdings ließ mein Lieblingskollege im wahrsten Sinne des Wortes nicht locker – statt den höflichen Körperkontakt wie üblich schnell zu beenden, behielt er die Hand von Herrn Schmitz-Müller fest im Griff.

»Es ist gut, dass Sie uns gerufen haben – und wenn Sie uns jetzt noch erklären, warum wir hier sind, kommen wir sogar einen Schritt weiter«, sagte er, ohne seinen Griff zu lockern. Sichtlich irritiert versuchte Herr Schmitz-Müller, seine Hand zurückzuziehen, doch Hein hielt mit vielsagend fragendem Blick dagegen beziehungsweise fest.

»Na, das ist doch offensichtlich! Hier! Die Ölpfütze!« Herr Schmitz-Müller deutete mit der freien Hand altklug auf die Wasseransammlung, die das Wort »Pfütze« im Grunde gar nicht verdiente.

Hein hielt immer noch die fremde Hand in seiner, und langsam machte ich mir Sorgen, er könnte übergriffig werden, als er endlich losließ und ihm ein fassungsloses »Das meinen Sie nicht ernst, oder?« entfuhr. Ab jetzt war ich Zuschauer im Kino der 1960er-Jahre. Kennen Sie die wunderbaren Dialoge aus alten Louis-de-Funès-Filmen? »Nein!« »Doch!« »Nein!« »Doch!« »Nein!« »Oohhh!«

Hein: »Das ist eine Pfütze.«

Schmitz-Müller: »Eine Ölpfütze!«

Hein: »Eine Wasserpfütze!«

Schmitz-Müller: »Eine Ölpfütze!«

Hein: »Wo soll das Öl denn herkommen?«

Schmitz-Müller: »Wo soll das Wasser denn herkommen?«

An dieser Stelle sei bemerkt, dass die unterschiedlichen Standpunkte keinesfalls aufgegeben wurden und sich die Fronten zunehmend verhärteten. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass besagte Pfütze so rein und klar war wie eine Bachquelle im Himalaja.

Hein: »Wie wäre es mit folgender Begründung: Hier stehen Bäume, von denen Raureif abtropft, da die Kronen morgens von der Sonne beschienen werden, während hier unten noch Schatten herrscht, sodass sich an diesem Punkt ein wenig Wasser sammelt. So weit logisch?«

Schmitz-Müller: »Wir wohnen hier seit zwei Jahren, und hier stand noch nie eine Pfütze!«

Hein ging in die Knie und durchstreifte mit dem Zeigefinger die Wasserlache. Er nahm seinen benässten Finger in Augenschein und zerrieb die Flüssigkeit zwischen Daumen und Zeigefinger, um anschließend sogar daran zu riechen.

»Wasser!«, konstatierte er.

»Öl«, gab Herr Schmitz-Müller nüchtern zurück.

In diesem Moment betrat leider, aber vielleicht auch zum Glück – wer weiß das schon im Nachhinein –, Schmitz-Müller junior, ungefähr zehn Jahre alt, die Bühne.

»Papa, warum machen die Männer von der Feuerwehr nichts? Oder sind die sonntags eh immer faul, so wie du gesagt hast?« Kindermund tut Wahrheit kund, und Hein atmete tief durch.

»Wasser! Und Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie sich vor Ihrem Sohnemann bis auf die Knochen blamieren!«, brummte er.

»Öl, mindestens Öl in einer Wasserpfütze!« Herr Schmitz-Müller verschränkte die Arme vor der Brust.

Weil ich ahnte, was als Nächstes passieren würde, lud ich Junior ein, ein Feuerwehrfahrzeug von innen zu besichtigen, was er begeistert annahm. Und während ich dem Heranwachsenden das Funkgerät, Schläuche, Strahlrohre und vieles Weitere erklärte, lief Hein draußen zur Hochform auf.

Zunächst schlug er, einem spielenden Kleinkind nicht unähnlich, mehrmals theatralisch mit der flachen Hand in die Wasserlache, bevor er aufstand und sich mit seinen 95 Kilogramm Lebendgewicht vor Herrn Schmitz-Müller aufbaute.

»Wollen Sie uns eigentlich verarschen?«, polterte er so leise wie möglich, aber trotzdem ungehalten, und hielt dabei seine nasse, tropfende Hand in die Höhe.

Die Replik des Anwohners war so unpassend wie anmaßend: »Ich bin Ingenieur!«

Hein ist ja bekanntlich nicht auf den Mund gefallen und parierte in seiner ihm angeborenen Eloquenz: »Ingenieur? In welchem Fachgebiet? Überraschungseier?« Und ehe Herr Schmitz-Müller Luft holen konnte, fuhr er messerscharf fort: »Dann betrachten wir das hier jetzt mal wissenschaftlich. Kein auffälliger Geruch, keine Schlierenbildung oder, wie Sie sagen würden, erkennbaren Interferenzfarben auf der Oberfläche. Darüber hinaus gibt es eine natürliche Erklärung, die für eine Wasserpfütze spricht. Jetzt sind Sie dran, Herr Ingenieur.«

In Erwartung eines verbalen Konters hielt Hein seine Hand nach wie vor wie ein Fanal in die Höhe und starrte Herrn Schmitz-Müller an. Der jedoch beschränkte sich auf ein fast hilfloses: »Öl. Kevin-Lucas, komm her. Wir gehen ins Haus.«

In der Zwischenzeit hatte ich mich mit S.-M. junior fast angefreundet. Er winkte zum Abschied, und als er seinen Vater erreichte, fielen kaum hörbar die folgenden Worte: »Papa, warum hast du die Feuerwehrmänner angelogen? Hier steht doch ständig eine Pfütze.«

Herr Schmitz-Müller blieb seinem Sohnemann die Antwort schuldig. Dafür konnte sich Hein das letzte Wort nicht verkneifen: »Falls Sie noch Fragen haben, wenden Sie sich bitte an die ›Sendung mit der Maus‹ oder den Mineralölhändler Ihres Vertrauens oder …«

»Ist gut jetzt, Hein. Nicht vor dem Jungen. Die Schmitz-Müllers rufen sonst nicht mal mehr die 112 an, wenn heute Nacht das Haus im Vollbrand steht«, unterbrach ich beschwichtigend, um dem Ganzen ein Ende zu setzen.

»Du hast recht, fahren wir nach Hause.« Hein klang niedergeschlagen, als er ins Fahrzeug kletterte. »Der Junge tut mir eh leid. Jedes Mal, wenn er später im Leben mit vollem Namen unterschreiben muss, wird er Vater und Mutter verfluchen.« Während er sich angurtete, stimmte mein Lieblingskollege ein uraltes Lied von Mike Krüger an: »Das mit der Ölkrise – das ist mir ganz gleich, ich kauf mir ’nen Bohrer, und dann werde ich Scheich …«

Nachdem Hein den Refrain gefühlt achtzig Mal wiederholt hatte, verfiel er zunächst in Schweigen, nur um kurz vor der Wache umso heftiger auszubrechen. Er hatte quasi gedanklich Anlauf genommen. »Was stimmt eigentlich nicht mehr mit den Menschen? Sind wir nur noch von Hilflosen umgeben? Ich bin ja gern bereit zu helfen, und ich habe auch Verständnis, wenn sich Notrufe hier und da als unnötig erweisen, aber so einen Schrott braucht kein Mensch. Hohoho, ich bin Ingenieur – aber früher im Sachkundeunterricht am Fenster gesessen, oder was? Von hundert Einsätzen sind höchstens noch dreißig relevant. Gott sei Dank leben wir in halbwegs friedlichen Zeiten, ansonsten würde uns Holland mit der Freiwilligen Feuerwehr überrennen. Weißt du was? Ich bin müde! Ich bin wirklich, wirklich müde.«

Nach über zwanzig Jahren gemeinsamer Einsätze, und beileibe nicht immer nur harmlose, machte ich mir zum ersten Mal Sorgen um Hein. Seine seelischen Schutzmechanismen schienen nachzulassen, und ich beschloss, mich ab heute besser um ihn zu kümmern.

Als wir die Wache betraten, waren vom Frühstücksbuffet erwartungsgemäß nur noch klägliche Reste übrig, doch das machte nichts. Für solche Fälle hatte ich in meinem Spind eine eiserne Reserve gebunkert, die wir brüderlich teilten: Sardinen in Öl.

Zahnfee mit Blaulicht

Der Aufenthaltsraum der Wache war eiskalt. Offensichtlich hatte in der Nachtschicht ein Frischluftfanatiker Dienst geschoben. Zwar ballerten alle Heizkörper im Raum auf höchster Stufe, zum Ausgleich standen jedoch alle Fenster sperrangelweit offen. Hein spekulierte fröstelnd über den Zusammenhang zwischen Klimawandel und dem Energieverbrauch von Feuer- und Rettungswachen, während ich Kaffee kochte.

»Wenn Greta Thunberg das mitkriegt, sind wir dran!«, meinte er, bevor er das letzte Fenster schloss, das Thermostat regulierte und sich zu mir an den Tisch setzte.

Wir waren heute unter uns, denn wir besetzten einen Rettungswagen auf einer sogenannten Satellitenwache, in Fachkreisen auch gern als »Dornröschenwache« bezeichnet.

Diese Standorte haben in der Regel eine wesentlich niedrigere Einsatzfrequenz als normale und existieren eigentlich nur, um auch in abgelegenen, meist ländlichen Stadtteilen die Hilfsfrist einzuhalten, also an jedem Ort der Stadt dem Bürger im Notfall innerhalb von maximal acht Minuten zur Verfügung zu stehen.

»Heiß, heiß …«, fluchte Hein, der sich in diesem Moment den Mund-Rachen-Raum verbrühte.

»Sorry, ist keine lauwarme Plörre aus der Pumpkanne, sondern handgemachte Barista-Qualität!« Ich konnte nicht anders, als hämisch zu grinsen. »Und wie gehts sonst so?«

Hein schmatze mehrmals, um den Grad der Verbrühung abzuschätzen, bevor er antwortete: »Wir sind hier im Blumenviertel, also im gelobten Land dieser Stadt. Es ist schon wieder Sonntag, und das Ende des Monats liegt in Sichtweite. Folglich haben die Menschen kein Geld mehr, um sich bereits tagsüber öffentlich zu betrinken, sodass es ein ruhiger Dienst werden könnte. Außerdem sitzen wir auf einem Rettungswagen, müssen also nicht mit sinnbefreiten Ölspuren rechnen. Um deine Frage zu beantworten: Es geht gut, könnte sogar nicht besser sein, wenn ich mir vor wenigen Augenblicken nicht die komplette Schnauze verbrannt hätte.« Ein vorwurfsvoller Blick in meine Richtung.

»Verbrüht«, gab ich altklug zurück, aber Hein wollte sich nicht an Wortklaubereien beteiligen, sondern kramte die Tageszeitung hervor, um sich den Schlagzeilen des Lokalteils hinzugeben.

Unser heutiger Dienst würde zwölf Stunden dauern, und nach der ersten Zeitung beziehungsweise Tasse Kaffee stand die tägliche Fahrzeugüberprüfung an. Eine gute Stunde später waren alle notwendigen Arbeiten und Formalitäten erledigt, also machten Hein und ich es uns auf einer alten, leicht siffigen schwarzen Ledercouch gemütlich. Vom Interieur auf Satellitenwachen darf man nicht allzu viel erwarten, aber im Laufe der Zeit lernt man Bescheidenheit. Außerdem war Luxus in diesem Augenblick nicht wichtig.

Ich hatte mir vorgenommen, mich besser um Hein zu kümmern, und jetzt und hier – quasi unter vier Augen – bot sich die ideale Gelegenheit, um ein klärendes Gespräch vom Zaun zu brechen.

»Was ich dich noch fragen wollte, Hein«, leitete ich das Thema ein. »Du hast es ja mehr oder weniger schon selbst angesprochen. Die Ölspur von letzter Woche – für einen Moment hatte ich das Gefühl, na ja, wie soll ich sagen, beinahe wärst du übergriffig geworden. Ich mache mir so meine Gedanken oder, besser gesagt, Sorgen. Früher hättest du über solche Einsätze, wenn überhaupt, gelacht. Gehts dir wirklich gut? Oder müssen wir reden?«

Hein schaute mich durchdringend an, atmete mehrmals tief ein und aus, dann setzte er zu einer Antwort an. »Mein Freund, du bist der Erste, der mich das fragt …« Bevor er fortfahren konnte, alarmierte uns der Funkmeldeempfänger zu einem internistischen Notfall in den Chrysanthemenweg 112, und Hein erhob sich mit einem tiefen Seufzen.

Als Autor finde ich nichts schwieriger, als Geräusche zu beschreiben. Das Knarren einer Eichendiele oder das Ticken einer Uhr mögen ja mit »knarrrzzzz« und »ticktack« noch phonetisch passend beschrieben sein, was ist jedoch mit dem Erbrechen eines durchaus kräftigen Mittvierzigers, der den Bass aus den tiefsten Tiefen der Magengrube erschallen lässt? Ist das eher ein »wourrggghhhh« oder mehr ein »bröööhhhh«? Man weiß es nicht, und womöglich gibt es außerdem geschlechtliche und/oder regionale Unterschiede, man sollte mal eine Studie …

Lassen wir das.

Herr Schumacher, den wir sechs Minuten später kennenlernten, interessierte sich nämlich nicht die Bohne dafür, ob Hauke aus Flensburg beim Kotzen anders klingt als Cindy aus Passau. Herrn Schumachers Aufmerksamkeit galt ausschließlich einem blauen Zehn-Liter-Eimer aus Plastik, den er, auf dem Boden kauernd, eng umschlungen festhielt, während er seinen Kopf zur Hälfte darin versenkte. Der Eimer wirkte ähnlich wie ein Subwoofer; sobald sich unser Patient das nächste Mal übergab, dröhnte es dumpf, und um ehrlich zu sein, übergab sich Herr Schumacher ohne Unterlass, weshalb Heins Befragung zunächst wenig fruchtbar war.

Wo die Eigenanamnese versagt, verlegt sich der kluge Notfallsanitäter auf die Fremdanamnese, sodass wir uns der Gattin zuwandten, um mehr über die Gesamtlage in Erfahrung zu bringen.

»Warum Sie hier sind, hören Sie ja«, antwortete die Blondine, die durchaus ein wenig an die Monroe erinnerte, mit einem Wink ihrer wohlmanikürten Hand in Richtung ihres Mannes. »Fragen Sie mich nicht nach der Ursache. Am Essen kann es nicht liegen, ich koche nicht!« Sie seufzte. »Es ist wie drangeschmissen! Vor einer Stunde war die Welt noch in Ordnung.«

Während Hein weitere Fragen stellte, verkabelte ich unseren Patienten. Nach Blutdruckmessung, Sauerstoffsättigung und EKG ermittelte ich die Körpertemperatur und den Blutzuckerspiegel, und zu guter Letzt leuchtete ich in Herrn Schumachers Pupillen, wobei mich eine gewisse Sorge begleitete, selbst mit Auswurf kontaminiert zu werden. Aber Herr Schumacher riss sich einen Moment lang zusammen, und mangels Masse wäre wohl auch keine ausreichende Wurfweite mehr zu erwarten gewesen. Eigentlich musste man inzwischen nicht mehr von Erbrechen, sondern von kontinuierlichem Würgen sprechen.

»Vorerkrankungen? Nein! Der Mann ist kerngesund. Der weiß zwar nicht, was er tut, aber er hat Ausdauer. Ich habe mir doch nicht umsonst einen jüngeren Kerl angeschafft. Entschuldigung.« Die Blondine schenkte uns ein zweideutiges Lächeln, das Hein kommentarlos und ich mit dem Hochziehen einer Augenbraue hinnahm. »Kein Herzinfarkt, kein Schlaganfall, kein nennenswerter Unfall, und auch sonst nichts, wonach Sie gefragt haben. Vor einer Stunde wurde ihm erst schwindlig und dann ging das Gewürge los. Schon ein wenig unschön.« Sie bedachte ihren Mann mit einem Stirnrunzeln, bevor sie hinzufügte: »Eben hat er sogar nach dem lieben Gott gerufen, das macht er sonst nur in anderen Zusammenhängen.«

Herr Schumacher nahm die Einlassungen seiner Frau indes zum Anlass, den Kopf erst mal ganz in den Eimer zu stecken und besonders kraftvoll zu würgen – zwar erneut nicht sonderlich produktiv, aber dafür besonders laut.

»Hein«, wandte ich mich an meinen Kollegen. »Schau mal in die Augen. Die zucken links,rechts, hin und her – ein Nystagmus vom Allerfeinsten!«

Hein prüfte meine Aussage und nickte.

»Haben Sie Stress? Oder waren Sie in den letzten Monaten erkältet, beziehungsweise hatten Sie einen Infekt?«, fragte er Herrn Schumacher.

»Beides!«, kam es aus dem Eimer.

Hein und ich hielten medizinischen Kriegsrat, und nach kurzem Austausch fasste ich zusammen: »Unser Patient kotzt sich aus subjektiv empfundener, völliger Gesundheit die Seele aus dem Leib. Kreislauf ist stabil, er ist zeitlich, örtlich und zur Person orientiert, außer dem vertikalen Nystagmus zeigt er keine neurologischen Auffälligkeiten. Blutzucker gut, Temperatur normal. Kein Trauma, keine bekannten Vorerkrankungen. Abgesehen von Infekt und Stress. Daher Verdachtsdiagnose: vestibuläre Störung. Innenohr und Gleichgewichtsorgan sind gezankt, was das dauerhafte Erbrechen erklärt. Vorstellung in HNO und weiterführend gegebenenfalls Neurologie empfehlenswert.«

Hein ergänzte die Diagnostik, indem er Herrn Schumacher bat, bei geschlossenen Augen mit dem Zeigefinger beider Hände die Nasenspitze zu berühren, und konstatierte nach gelungener Durchführung: »Nichts hinzuzufügen!«, sodass wir mit Vorbereitungen für den Transport begannen.

Während der Fahrt tauschte unser Patient seinen blauen Eimer gegen einen professionellen Brechbeutel, und zwanzig Minuten später waren die Übergabe an die Hals-Nasen-Ohren-Abteilung und die Wiederherstellung der Einsatzbereitschaft erledigt.

Der Rest des Tages verlief quirlig. Von einem ruhigen Sonntag konnte beileibe keine Rede sein; im Verlauf der Schicht ereilten uns weitere acht Einsätze, die sich alle im Spektrum von »Ich habe seit drei Wochen so ein fieses Ziehen in der Schulter« bis hin zu »Wenn ich zwei Stunden auf dem Laufband unterwegs bin, dann bubbert mein Herz so komisch« abspielten. Fünf der insgesamt neun Patienten transportierten wir mit gutem Willen in verschiedene Krankenhäuser, wobei uns, auch das sei erwähnt, niemand des aufnehmenden Personals zu unserer Leistung gratulierte.

Keine zehn Minuten vor Schichtende sprach uns der Leitstellendisponent erneut über Funk an: »RTW 3-1, einsatzbereit?«

»Natürlich, und das weißt du auch!«, antwortete ich in einem Tonfall, der zwischen Motivation und Resignation changierte. Hein seufzte nur.

»Das ist gut. In der Steinstraße 12 hat jemand Zahnschmerzen, auf den Namen Wurzel, kein Scheiß – habe es geprüft, schaut euch die Sache mal an.«

Auf der Fahrt zum Einsatzort riss Hein die Hutschnur.

»Zahnschmerzen? Ich glaube, es hackt! Demnächst fahren wir zu Fußpilz und Neurodermitis!« Schnaubend kramte er das Mobiltelefon des Rettungswagens aus dem Handschuhfach, weil Diskussionen über Funk, wo jeder Kollege mithört, wenig sinnvoll sind. Er wählte die interne Nummer der Leitstelle, um direkt mit dem zuständigen Disponenten zu sprechen. Kaum hatte der abgehoben, brach es aus Hein heraus: »Junge, gehts noch? Du schickst uns doch nicht ernsthaft zu einer rausgefallenen Plombe?«

Jäh wurde er unterbrochen: »Ich bin die Leitstelle – und ich schicke dich, wohin ich will! Ich kriege den Kerl seit zwei Stunden nicht aus der Leitung, und ich weiß selbst, wie es sich anhört. Hinfahren, angucken, entscheiden – dein Job! Und jetzt texte mich nicht länger zu!«

Mit einem Knurren warf Hein das Telefon zurück ins Handschuhfach, als ich den RTW an besagter Adresse zum Halten brachte. Hein stieg kopfschüttelnd aus, und kurze Zeit später betraten wir die Wohnung des Herrn Wurzel.

Einrichtungsstile gibt es ja viele. Eiche rustikal, modern in Glas und Stahl oder auch überladen oder karg. Herr Wurzel jedoch, geschätzte fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt, hatte sich offensichtlich für Horror entschieden. Die gesamte Wohnung war mit entsprechenden Filmplakaten tapeziert. In der Diele grinste uns der Clown aus Es entgegen, der sich in adäquater Nachbarschaft von Jigsaw befand. Die restliche Deko bestand aus Schwertern, Totenköpfen und Kunststoffdrachen. Entsprechend rechneten wir damit, sogleich dem Sohn von Chucky, der Mörderpuppe oder Sauron persönlich zu begegnen – doch weit gefehlt.

Uns begrüßte ein blasser, schmächtiger junger Mann, den ich eher in einem Familienfilm verortet hätte, in Die Schöne und das Biest zum Beispiel, wobei die Interpretation durchaus auf Letzteres gelegt werden darf, von den fehlenden Hörnern mal abgesehen.

»Ach du heilige Sch…, was ist denn mit Ihnen passiert?«, entfuhr es Hein, als er unseren Patienten im Wohnzimmer bei etwas besserem Licht in Gänze wahrnehmen konnte.

Die linke Gesichtshälfte des Herren war bis zum Hals dick geschwollen, und selbst wenn Herr Wurzel gewollt hätte, er hätte sein linkes Auge nicht öffnen können. Die eigentlich symmetrischen Proportionen waren komplett verschoben, und auf der betroffenen Seite spannte sich pralle, gerötete Haut.

»Bachenzfan afgkreboken!«, brachte unser Patient mühsam hervor, und mich durchfuhr tiefes Mitgefühl.

»Wann ist das passiert?«, fragte ich in dem Wissen, das der lateinisch als Dens bezeichnete Körperteil nicht erst heute Vormittag die Mundhöhle verlassen haben konnte.

Herr Wurzel: »Vohr drreih Wocken.«

Ich: »Das meinen Sie nicht ernst, oder?«

Hein: »Auuaaahhhh.«

Ich: »Waren Sie beim Zahnarzt?«

Herr Wurzel kopfschüttelnd: »Neeh – Ahngsft vor Zfanarzzt!«

Ich: »Nicht wirklich, oder?

Herr Wurzel: »Dochf!«

Hein: »Sie sehen zwar schlimm aus, und Sie brauchen auch sicherlich Hilfe, aber Sie wissen schon, wer wir sind, oder? Wir sind der Rettungsdienst! Verkehrsunfall, Amputationsverletzungen, Herzinfarkt und so weiter. Von Parodontose und Karies haben wir keine Ahnung. Ganz abgesehen davon, dass Aronal und Elmex keine Notfallmedikamente sind!« Hein sprach ruhig, doch glaubte ich, eine gewisse Anspannung in ihm zu spüren. »Also, wie sollen wir Ihnen helfen?«

»Nift zuum Zfanarzzt!«, antwortet Herr Wurzel inständig.

»Ja, aber was dann?«, hakte ich nach. »Ungeachtet der Frage, ob wir einen Zahnarzt finden, der sich am frühen Sonntagabend solchen Dimensionen hingibt.« Die Schwellung von Herrn Wurzels Gesicht war tatsächlich beeindruckend, und ein in diesem Moment aufgenommenes Selbstporträt, im Flur neben Pennywise und Jigsaw aufgehängt, hätte die beiden Filmgestalten blass aussehen lassen.

»If dachfte, Sfie könnten mal einen Blick darauf werfen«, gab Herr Wurzel zurück und starrte uns hoffnungsvoll an.

Hein versuchte es humoristisch: »Kennen Sie den blöden Spruch: Ich bin zwar kein Gynäkologe, aber ich kann es mir ja mal ansehen …?«

Unser Patient nickte gequält.

»Entspricht irgendwie Ihrer Erwartungshaltung uns gegenüber, ist allerdings leider so wenig sinnvoll wie zielführend«, erklärte mein Lieblingskollege. »An einem Zahnarzt werden Sie nicht vorbeikommen.«

»Nift zuum Zfanarzzt!«, stieß Herr Wurzel aus und begann zu wimmern.