Rettungsgasse ist kein Straßenname - Jörg Nießen - E-Book

Rettungsgasse ist kein Straßenname E-Book

Jörg Nießen

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Rettungsgassen können nachweislich Leben retten.« Theoretisch wissen wir das alle. Dass es in der Praxis oft nicht funktioniert, erlebt Jörg Nießen fast täglich. Immer wieder wird der Notfallsanitäter und Feuerwehr -mann von seinen Mitmenschen herausgefordert – nicht nur im Straßenverkehr. Der Retter von heute muss die großen und kleinen Probleme unserer Gesellschaft verhandeln, und das zu jeder Tages- und Nachtzeit. Da backt die liebe Frau Braun im Pflegeheim rauchstark Haken kreuze, der liebe Herr Nachbar verliert gänzlich die Kontrolle über seine Emotionen, und ein tiefen-entspannter Schwan legt den Stadtverkehr lahm. Jörg und sein Lieblingskollege Hein sind dennoch nicht aus der Ruhe zu bringen – jedenfalls nicht, bis ein Kindergarten ins Spiel kommt. Jörg Nießen legt nach mehreren Bestsellern im Rettungsmilieu (»Schauen Sie sich mal diese Sauerei an«) endlich wieder einen Band mit neuen skurrilen Erlebnissen vor – und bildet damit eine literarische Rettungsgasse der besonderen Art.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jörg Nießen wurde 1975 im Rheinland geboren und kam über seinen Zivildienst vor über zwanzig Jahren zum Rettungsdienst. Heute ist er als Berufsfeuerwehrmann und Notfallsanitäter in einer nordrhein-westfälischen Großstadt tätig und hat neben mehreren Büchern über seinen Alltag im Rettungswagen auch ein Kinder- und Jugendbuch verfasst. Mit seinem Debüt »Schauen Sie sich mal diese Sauerei an« und dem Nachfolger »Die Sauerei geht weiter ...« stand er monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

Inhalt

Vorwort

Aller guten Dinge sind drei

Nicht jedes Kompliment ist angebracht

Rettungsgasse ist kein Straßenname

Der Weg ist manchmal doch nicht das Ziel

Ein Mann mit Eiern

Was war eigentlich zuerst da? Der Ärger oder das Ei?

Alter schützt vor Torheit nicht

Frau Braun will’s nicht gewesen sein

Die Natur hat ihre Tücken

Eine unerwartete Begegnung endet schmerzhaft

Nichts sehen – nichts hören – nichts sagen

Wenn das System versagt

Mit 66 Jahren …

… da fängt das Leben an

Tierisches

»… ich habe ihm nur die Augen zugehalten.«

Wer heilt, hat recht

Alternative Heilmethoden vs. Schulmedizin

Die lästige Verwandtschaft

Wahre Liebe gibt es nur unter Brüdern

Unfälle passieren nicht

– sie werden verursacht

Man(n) braucht auch mal Urlaub

Hein und ich auf großer Fahrt

Eine Feuerwache ist kein Kindergarten

– manchmal eben doch

Die Tücken der Technik

Warum man an modernen Errungenschaften zweifeln darf

Advent

Saisongeschäft für Feuerwehr und Rettungsdienst

Herr Reinsch, ein OP-Hemd und ein Koffer

Befriedigung und Enttäuschung liegen oft nah beieinander

Privatsphäre

Ist Zimmer 7 noch frei?

Danksagung

Vorwort

»Am Ende wird alles gut. Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es auch noch nicht zu Ende.«

Dieser wunderbare Satz wird wahlweise als indisches Sprichwort, als Zitat von Oscar Wilde, John Lennon oder auch Fernando Sabino gehandelt. Für mich spielt es nur eine untergeordnete Rolle, wer in diesem Fall tatsächlich der Urheber ist. Ich favorisiere die Inder, viel interessanter finde ich jedoch die eigentliche Bedeutung, denn sowohl viele Rettungsdienst- und Feuerwehreinsätze als auch meine schriftstellerische Arbeit spiegeln den Sinn dieses Satzes hervorragend wider.

Wann ist ein Einsatz »gut«? Auf diese Frage werden Notrufer, Leitstellenmitarbeiter, Einsatzkräfte, Patienten und Angehörige wahrscheinlich sehr unterschiedliche Antworten geben. Natürlich habe auch ich mir diese Frage gestellt, und meine Antwort lautet: Solange ich den menschlichen und fachlichen Herausforderungen im Einsatz gerecht werden konnte und nach Schichtende gesund an Körper und Geist nach Hause fahre – so lange ist alles gut!

Was meine Bücher angeht, da darf der Leser entscheiden, ob sie gut sind. Tatsache ist: Ich bin noch nicht am Ende. Erstens habe ich noch ein paar literarisch verwegene Ideen, und zweitens gibt es immer eine Menge Potenzial, eine Sache noch besser zu machen.

Auch nach mehreren Bestsellern und anderen Veröffentlichungen ist es mir erneut nicht gelungen, ein Fachbuch zu schreiben. Unterhaltung und ein schelmischer Blick auf das Blaulichtmilieu stehen wieder im Vordergrund. Darüber hinaus begleitet ein leicht erhobener Zeigefinger das Thema Rettungsgasse. Udo Jürgens ist zwar tot, spielt aber trotzdem eine Rolle. Kollege Hein macht Erfahrungen mit der Brandschutzerziehung, ein Fasan verschuldet beinahe einen Herzinfarkt, und im Advent treten, wie soll es anders sein, die typischen Notfälle auf. Ganz zu schweigen von Herrn Reinsch, der uns auf besondere Weise belastet. Wer so viel arbeitet, der darf auch mal Urlaub machen, und so sind Sie als Leser herzlich eingeladen, Hein und mich auf einen Segeltörn in die Türkei zu begleiten – Meuterei nicht ausgeschlossen.

Die Geschichten in diesem Buch beruhen auf tatsächlichen Begebenheiten, sie haben einen wahren Kern, sollten aber nicht mit dem Gros der Routineeinsätze verwechselt werden. Selbstverständlich wurden auch in diesem Buch Namen, Personen, Orte und Handlungsabläufe verändert, verflochten, übertrieben oder verfremdet. Übereinstimmungen mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

Sollten Sie in der Rettungsgasse oder im Einsatz auf Kollegen von mir treffen – bestellen Sie bitte beste Grüße. Bis bald mal in diesem wundervollen Leben …

Ihr Jörg Nießen

PS: Bilden Sie im Stau von Anfang an eine Rettungsgasse und nicht erst, wenn Sie dazu aufgefordert werden. Dann haben Sie im Rahmen einer Vollsperrung Zeit und vielleicht sogar Muße, in diesem Buch zu schmökern.

Aller guten Dinge sind drei

Nicht jedes Kompliment ist angebracht

Treppenhäuser sind für den Rettungsdienst eine hochinteressante Sache. Natürlich gibt es eine Idealvorstellung, wie dieser Bauteil eines Hauses gestaltet sein sollte: breit, sauber, hell – das wären die ersten Adjektive, die mir einfallen würden. Leider sieht die Realität oft anders aus.

In vielen Treppenhäusern herrschen Zustände, die an einen Parcours moderner Hindernisläufe erinnern. Nachdem man im Eingangsbereich über sieben bis acht Fahrräder beziehungsweise Kinderwagen geklettert ist, beginnt ein kraftraubender Aufstieg durch einen engen dunklen Schlund. Vorbei an fragwürdigen Graffitis, immer darauf bedacht, nicht in benutzte Windeln zu treten, gilt es, aus hygienischen Gründen möglichst wenig mit dem Geländer oder den Wänden in Kontakt zu kommen. Falls Sie meine ganz persönliche Meinung zu diesem Thema interessiert: Treppenhäuser als Fluchtweg sind ganz okay, ansonsten bevorzuge ich großzügige vertikale Transportanlagen für Personen oder Güter aller Art, im Volksmund auch gern als Aufzug oder Lift bezeichnet.

Es ist zwar unnötig zu erwähnen, dass das Gebäude mit der Hausnummer 45 in der Mainhofstraße nicht über ein solches Transportmittel verfügte, aber der Vollständigkeit halber sei es hiermit getan. Die Sonne ging gerade auf und mein Lieblingskollege Hein und ich waren auf dem Weg ins vierte Obergeschoss, als uns auf halbem Weg ein Hindernis der besonderen Art begegnete. Begleitet von unverständlichem Brüllen und dem Geräusch einer zuschlagenden Tür polterte uns ein junger Mann entgegen, der es offensichtlich äußerst eilig hatte, das Haus zu verlassen.

Kontrolliertes Fallen – damit wäre sein Bewegungsablauf wohl passend beschrieben. Hein konnte gerade noch ausweichen, der Zusammenstoß mit mir war allerdings nicht mehr zu vermeiden. Ungefähr achtzig Kilogramm Mensch trafen mich unvorbereitet an der linken Schulter und brachten mich aus dem Gleichgewicht. Um nicht selbst zum Patienten zu werden, überließ ich die medizinische Ausrüstung der Schwerkraft und fand letzten Halt am gedrechselten Holzgeländer. Der Fliehende eilte wortlos weiter.

»Ein einfaches ›Entschuldigung‹ hätte gereicht …«, rief ich wütend hinter ihm her, bevor unten die Haustür ins Schloss fiel.

Auf der Treppe hatte sich der Defibrillator in verschiedene Einzelteile zerlegt, und auch die mitgeführte Absaugpumpe hatte ordentlich was abbekommen.

»Ich, ich, ich hab, ich hab mir den Kerl genau gemerkt«, rief Hein erschrocken. »Anfang dreißig, einsachtzig groß, blonde Haare, blaues T-Shirt mit orangefarbener Aufschrift.«

Genervt unterbrach ich ihn: »Hervorragende Arbeit, Watson! Und wer sucht nach dem Typ? Richtig! Niemand. Der will wahrscheinlich nur den nächsten Bus erwischen. Ist ja auch scheißegal! Lass uns das Zeug hier einsammeln, und dann ab in den vierten Stock. Da wartet ein Patient auf uns.«

Wenig später erreichten wir eine Wohnungstür, deren Namensschild mit dem Alarmschreiben übereinstimmte. Erwartungsvoll klingelte Hein bei Herrn oder Frau Dürstel. Ein sonores Brummen schallte durch den Flur, und eine Millisekunde später wurde die Tür nicht nur geöffnet, sondern förmlich aufgerissen.

»Gottlob! Da sind Sie ja! Ich habe Sie gerufen. In der Nachbarwohnung gab es Tumult vom Allerfeinsten, nicht zum ersten Mal – ich weiß! Aber diesmal waren auch weibliche Hilfeschreie zu hören. Ich bin sicher, Sie werden gebraucht!«, ereiferte sich ein schmächtiges Männlein mit hektischer Stimme.

»Jetzt mal ganz in Ruhe. Das heißt, bei Ihnen ist gar nichts passiert, sondern Sie machen sich Sorgen über Vorkommnisse in Ihrer Nachbarwohnung – richtig?«, fragte ich.

»Ja genau!« Der Notrufer nickte. »Da ging es wieder mal hoch her. Geschrei und Geräusche, als würde das ganze Haus abgerissen … nicht zu vergessen die Hilferufe.«

»Mag ja sein, dass wir hier gebraucht werden. Aber haben Sie außer uns auch die Polizei angerufen?«, warf Hein ein. »Ihre Schilderung lässt den Eindruck entstehen, dass unser aller Freund und Helfer hier ebenfalls gebraucht werden könnte.«

Herr Dürstel antwortete nicht sofort. Zunächst strich er sich mit der linken Hand mehrfach durch einen kaum vorhandenen Schnäuzer und überprüfte zeitgleich mit der Rechten, ob der Reißverschluss seiner Hose auch wirklich geschlossen war.

»Der Gründer vom Roten Kreuz, dieser Henry Dunant, der hat auf dem Schlachtfeld doch auch nicht die Polizei gerufen, sondern das Verbandszeug ausgepackt!«, konterte er schließlich und blieb erwartungsvoll im Türrahmen stehen. Dem war nichts hinzuzufügen. Der Gute machte zwar einen merkwürdigen Eindruck, aber was blieb uns übrig?

Hein und ich machten eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad und standen vor einer Tür ohne Namensschild. Hein klingelte, es vergingen circa zehn Sekunden, und Hein klingelte erneut. Diesmal mit Erfolg. In diesem Haus schien es üblich, die Wohnungstüren aufzureißen. Allerdings stand nun kein schmächtiges Männlein, sondern ein geschlechtsreifes, ausgewachsenes Mannsbild im Türrahmen.

»Was kann ich denn gegen euch tun? Hat der Idiot von nebenan wieder um Hilfe gerufen? Verpisst euch! Ihr habt mit Sicherheit Besseres zu tun«, begrüßte uns ein Hüne mit geschätzten hundert Kilo Lebendgewicht, der trotz der frühen Stunde einen betörenden Duft nach Mariacron verströmte.

»Es hieß, eine Frau habe um Hilfe gerufen«, entgegnete Hein, um eine selbstbewusste Ausstrahlung bemüht.

»Das ist jetzt nicht so ungewöhnlich!«, meinte der leicht ungepflegt wirkende Mittvierziger. »Die ruft ständig um Hilfe. ›Schatz, kannst du mal den Kasten Sprudelwasser aus dem Keller holen? Schatz, kannst du heute mal die Wohnung saugen?‹ Und so weiter. Für gewöhnlich ruft meine Alte aber nicht so laut, dass die dämliche Nachbarsfigur davon was mitkriegt. Vielleicht zwischendurch mal nachts, aber das hat dann andere Gründe – haha, knick-knack!« Der Hüne zwinkerte vielsagend mit dem linken Auge.

»Herr Schmitz! Sie sind so was von ekelhaft – gewalttätig, frauenverachtend und oft schon morgens betrunken …«, echauffierte sich Herr Dürstel aus dem Hintergrund.

»Boah, mach den Kopf zu, du Plagegeist!«, unterbrach Herr Schmitz. »Bei dir hat die Schaukel früher auch zu nah an der Hauswand gestanden. Mein Gott, du gibst jetzt Ruhe, sonst bist du heute schon der Zweite, dem ich ’ne Fünf auf die Backe male.«

Obwohl die Stimme des Hünen durchaus ernst zu nehmend klang, traute sich Hein scharfsinnig nachzufragen: »Wer war denn der Erste? Etwa Ihre Frau?«

»Bis gerade konnte ich euch ja ganz gut leiden, aber von mir aus …« Herr Schmitz warf Hein einen langen Blick zu, bevor er fortfuhr: »Mein angeblich bester Kumpel hat sich eben an meine Herzdame rangemacht. Da musste der König dem Buben mal zeigen, wer hier die Asse im Ärmel hat. Und was macht der Typ? Sagt glatt zu meiner Frau, so was wie mich hätte sie gar nicht verdient – da fragt man sich doch, wer hier beleidigt wird?! Ich mag es gar nicht, wenn ich nachdenken muss. Also hab ich mal kurz kurzen Prozess gemacht.«

»Und Ihrer Frau geht’s wirklich gut?« Die Seelenruhe, mit der der selbst ernannte König den Grund für den Tumult erklärte, machte mich nervös.

»Ahhh …« Ein genervtes Stöhnen verließ Herrn Schmitz, und ich rechnete damit, mindestens verbal verprügelt zu werden. Stattdessen zitierte der Hüne seine Angebetete herbei. »Peggy! Schwing deinen hübschen Hintern sofort nach hier! Hier sind ein paar Clowns vom Lotto, die wollen sich vom ordnungsgemäßen Zustand des Ziehungsgerätes überzeugen.«

Es vergingen einige Augenblicke, bis sich herausstellte, dass Herr Schmitz bezüglich des Hinterteils von Frau Schmitz keinesfalls übertrieben hatte und dass auch sonst anatomisch alles in bester Ordnung war.

Herr Dürstel bekam beim Anblick der Dame einen extrem verklärten bis glasigen Blick, und ich musste mich zurückhalten, um ihm keine Packung Papiertaschentücher anzubieten.

»Äh, hier sieht ja alles ganz hervorragend aus«, bemerkte Hein, ebenfalls von Frau Schmitz’ optischem Eindruck geblendet, bevor Herr Schmitz ihn warnend unterbrach.

»Ganz vorsichtig jetzt, Herr Rettungssanitäter! Ganz dünnes Eis!«

»Ich meine die Gesamtsituation.« Hein lächelte versöhnlich. »Wir wollen hier noch mal Gnade vor Recht ergehen lassen. Im Prinzip ist ja auch gar nichts passiert. Betrachten wir das Ganze einfach mal als vorausschauende Alarmierung. Herr Dürstel, Sie beruhigen sich, und wenn es schlimmer wird, rufen Sie einfach noch mal an.« Mit diesen Worten entließ Hein uns unprätentiös aus der Einsatzstelle.

Während der Rückfahrt schwärmte er zwar noch farbenfroh von Frau Schmitz und erwähnte sogar mehrfach, dass er sie, falls nötig, sehr gern medizinisch versorgt hätte, aber schon zehn Minuten später in der Küche der Wache war die Hochglanzblondine vergessen.

Stattdessen erzählte ich Hein von meiner bevorstehenden Pilgerreise durch Spanien. »Das Motto lautet: Gehe in dich, auch auf die Gefahr hin, dass du dort niemanden antreffen wirst«, was Hein mit einem trockenen »Religion ist was für Leute, die keinen Alkohol vertragen« kommentierte. Gerade wollte ich ihm erklären, dass das Pilgern heutzutage nur eingeschränkt mit Religion zu tun hat, als Bernie, einer unserer Kollegen, unsere Aufmerksamkeit erregte.

Der Gute stand vor einer Batterie aus Pumpkannen, vier an der Zahl, die für gewöhnlich frischen Kaffee beinhalteten. Bernie hatte die Dinger zerlegt und mit der Reinigung der Einzelteile begonnen. Als er mit einer frischen Klobürste das Innere der Kannen schrubbte, unterbrach Hein ihn perplex: »Was machst du da?«

»Das siehst du doch, ich mach diese Scheiße hier sauber! Hier kommt ja kein Kaffee mehr raus, ohne dass man die halbe Tasse voller Brocken hat. Einfach widerlich! Aber außer mir interessiert das ja keinen!«, antwortete Bernie ungehalten.

»Das sind keine Brocken, du Ignorant – das ist bestes Fruchtfleisch!«, meinte Hein mit gespielter Fassungslosigkeit.

Damit hatte er den Bogen überspannt. Bernie, in Fachkreisen auch gern als »Küchenhitler« bezeichnet, eskalierte vollkommen. Als Autor möchte ich mir an dieser Stelle eine Aneinanderreihung von Beleidigungen und Schimpfwörtern ersparen. Denken Sie sich bitte einfach eine Sprechblase aus einem Comicstrip, gefüllt mit Totenköpfen, Messern, Pistolen, Bomben und Explosionen.

Bevor es handgreiflich werden konnte, hatte der Bürger ein gnädiges Einsehen und alarmierte uns zu einem chirurgischen Notfall in den Drosselweg.

»Ich hab kein gutes Gefühl!«, meinte Hein, als wir in den Rettungswagen stiegen.

»Warum das? Bernie beruhigt sich schon wieder«, entgegnete ich verdutzt.

»Das meine ich nicht. Der Drosselweg geht direkt von der Mainhofstraße ab, da waren wir vor ungefähr einer halben Stunde – du erinnerst dich an Herrn und Frau Schmitz? Das ist doch kein Zufall!«

Hein sollte recht behalten. Der Hinweis der Leitstelle, das Eintreffen der Polizei abzuwarten, ertönte aus dem Funklautsprecher, als wir in besagten Kreuzungsbereich einbogen.

Die Reize, die mein Gehirn ab nun verarbeiten musste, glichen willkürlich zusammengestellten Einzelszenen aus irgendwelchen Hau-drauf-Filmen, die ich irgendwo irgendwann mal angeschaut hatte. Schlechte Kung-Fu-Szenen aus Fernost, Filme mit Bud Spencer und Terence Hill, Prügeleien aus Das A-Team und nicht zuletzt die Rocky-Filme dürften als geistige Vorlage dienen.

Der Blonde im blauen T-Shirt, mit dem wir auf der Treppe Bekanntschaft geschlossen hatten, und Herr Schmitz standen sich mit geballten Fäusten gegenüber. Von einem staatlichen Schiedsrichter in Uniform war noch nichts zu sehen, und so ließen Hein und ich den Kampf zunächst auf uns wirken.

Allerdings muss man sagen, dass von einem wirklichen Kampf noch keine Rede sein konnte; beide Kontrahenten schienen in der Zwischenzeit mächtig an ihrem Promillegehalt gearbeitet zu haben, und so handelte es sich eher um einen aggressiven Ausdruckstanz. Jedenfalls wechselten sich um sich selbst kreisende, unkontrollierte Angriffsbewegungen mit spektakulären Manövern zum Gleichgewichtserhalt ab. Wenn man die Situation vorteilhaft beschreiben mochte, konnte man von zwei extrem schlecht trainierten Boxern sprechen, die verzweifelt versuchten, sich besoffen aufs Maul zu hauen.

Und immer dann, wenn man meint, das Leben hätte keine Aufwertung der Situation, keine Steigerung parat, dann ergießt sich das Füllhorn der Unmöglichkeiten mit brachialer Gewalt.

Ein übergewichtiger Motorradpolizist erreichte die Szenerie, bei dessen Anblick ich berechtigt bezweifelte, dass er leichter als seine eigene Maschine war. Nichtsdestotrotz wusste er das Gerät gekonnt einzusetzen. Die Kämpfenden sprangen mit knapper Not auseinander, bevor mindestens einer von beiden vom Kraftrad samt Polizisten überfahren worden wäre. Ob Absicht oder nicht – im Nachhinein kann es nicht verifiziert werden. In jedem Fall hatte der Beamte die Situation zunächst geklärt. Das Absteigen vom Motorrad glich zwar einer ausgesprochen schwierigen akrobatischen Zirkusnummer, aber weder seine Ankunft noch der vorherige Kampf hatten Verletzte gefordert. Mit anderen Worten: Es handelte sich um eine reine Polizeilage, bei der es Platzverweise und Belehrungen hagelte.

»Willst du noch mal mit Herrn Schmitz reden?«, fragte mich Hein, während wir das Schauspiel beobachteten.

»Nicht zwingend. Worüber sollten wir auch sprechen? Es ist ja nichts passiert«, antwortete ich mit einer Mischung aus Selbstschutz und gespielter Naivität.

»Jo!«, resümierte Hein und startete den Rettungswagen. Erneut konnten wir wieder einrücken, ohne von unseren Qualitäten wirklich Gebrauch gemacht zu haben.

Indes hofften Hein und ich, dass Bernie die Küche inzwischen verlassen hatte und eine konfliktfreie Tasse Kaffee möglich war. Die Luft auf der Wache schien tatsächlich rein zu sein – alle beide bemerkten wir die bohrenden Blicke, die hätten töten können, viel zu spät. Ein flüchtig geworfenes Auge in die Küche war als Erkundung einfach nicht ausreichend gewesen. Wir hätten es besser wissen müssen.

Bernie stand unbemerkt in einem angrenzenden Vorratsraum und beobachtete uns aufmerksam. Verdeckt durch eine offene Schranktür wurde er Zeuge, wie ich einen Topfdeckel nach dem anderen anhob. Jeder mit einem koffeinhaltigen Heißgetränk in der Hand, steckten Hein und ich unsere Nasen analytisch in die Töpfe auf dem Herd.

»Riecht eigentlich ganz gut. Kochen kann der Wahnsinnige ja, das muss man ihm lassen«, lobte ich anerkennend, als Bernie wie ein wütender Dämon über uns herfiel. Ein wie ein Diskus geworfener Topfdeckel, der Heins Kopf nur knapp verfehlte, um dann scheppernd an einem Küchenschrank abzuprallen, läutete das Inferno ein.

»Ihr kleine Bande von undankbaren Nichtsnutzen! Was glaubt ihr eigentlich, warum Deckel auf den Töpfen liegen? Hä? Keine Antwort? Dachte ich mir, ihr dämlichen, hungrigen Schmarotzer! Raus aus meiner Küche! Jawohl, meine Küche! Was habt ihr beiden hier verloren? Das ist heute mein Reich! Ihr seid so nützlich wie ein Sonnendeck auf ’nem U-Boot. Wenn einer von euch noch einen Topf anpackt, dann schmeiße ich den ganzen Rotz auf den Hof, dann hab ich hier zum allerletzten Mal gekocht! Zu blöd und dämlich für ein simples Spiegelei, aber mir in die Töpfe gucken! Ich glaub, mir platzt der Arsch!« Mit diesen Worten trat Bernie mir in den selbigen, bevor er dem flüchtenden Hein eine altmodische Käsereibe hinterherwarf.

Erneut rettete uns nur knapp der Bürger. Ein Alarm ertönte, und wir flohen weiter Richtung Rettungswagen. Beide hatten wir uns nicht getraut zurückzublicken, womöglich war Bernie mit der Küchenmessersammlung hinter uns her. Andererseits hätten wir davor keine allzu große Angst haben müssen, denn die Dinger sind auf allen Rettungswachen dieser Welt vom Spülmaschinengebrauch so stumpf, dass die Bezeichnung »sehr flacher Löffel« passender wäre.

»›Mein Reich‹! Der Kerl hat sie doch nicht alle!«, rief Hein, während er in den Rettungswagen sprang. »›Küchenhitler‹ ist schon der passende Spitzname!«

»Diesmal haben wir Glück gehabt, aber pass bloß auf und sei froh. Leo hat schon mal den großen Holzlöffel abbekommen, da waren zwei Finger gebrochen«, erklärte ich warnend, als der Rettungswagen sich endlich in Bewegung setzte.

»Wo geht’s eigentlich hin?«, erkundigte sich Hein, noch außer Atem von der Flucht. »Schon wieder in die Mainhofstraße«, antwortete ich sorgenvoll, und Hein ergänzte ebenfalls Böses ahnend: »Ohh, ohh.«

Und so kam es auch. Unsere wiederkehrenden Protagonisten, Herr Schmitz und der Unbekannte aus dem Treppenhaus, hatten Ernst gemacht. Bei unserer Ankunft stand Herr Schmitz bereits breitbeinig, aber leicht schwankend an einer Hauswand und wurde von einem Polizisten durchsucht. Sein Opfer war diesmal nicht mit einer Ohrfeige davongekommen. Eine geplatzte Unterlippe und eine beeindruckend geschwollene Nase waren offensichtliche Zeichen seiner körperlichen Unterlegenheit.

»Ich wollte doch nur nett sein!«, brachte der Geschlagene lallend und lispelnd hervor, bevor er unterbrochen wurde.

»Wer sich verteidigt, klagt sich an!«, zeterte Herr Schmitz ebenfalls im Alkoholdialekt. »Von wegen nur nett sein. Nett! Nett ist die kleine Schwester von Scheiße. An den Arsch von meiner Alten wolltest du ran. Sei froh, dass ich voll bin wie ein Eimer. Alkohol offenbart immer mein gutmütiges Wesen, nüchtern hätte ich dir ins Gesicht geschlagen … du … du …«

»Ahh, ich verstehe, der wollte seinem Kumpel nur mal pädagogisch wertvoll in den Bauch boxen, hat ihn besoffen verfehlt und dabei unabsichtlich zweimal mitten ins Gesicht getroffen. Ja, so was kann passieren …«, klärte Hein den wahrscheinlichen Tathergang auf.

»Hein – wenn ich dich nicht hätte …«

»Dann hättest du einen anderen.«

Der Rest ist schnell beschrieben: Wir kümmerten uns um den Verletzten und brachten ihn in ein geeignetes Krankenhaus. Die Polizei kümmerte sich um Herrn Schmitz und brachte ihn in eine Ausnüchterungszelle.

Vielleicht noch ein kleiner Blick in die Statistik: Früher oder später fahren wir jeden Mitbürger mal ins Krankenhaus. Also kann jeder einmal Grund für einen Notruf sein. Aber dreimal innerhalb weniger Stunden? Fetten Respekt!

Rettungsgasse ist kein Straßenname

Der Weg ist manchmal doch nicht das Ziel

Hein war gut drauf, sehr gut sogar. Untrügliches Zeichen seiner guten Laune war ein etwa halbstündiger, semiwissenschaftlicher Vortrag über die Zusammenhänge der menschlichen Evolution und dem teilweise prachtvollen Haarwuchs auf Männerrücken mittleren Alters. Mit präziser Leichtigkeit zerfetzte mein Kollege überholte Ansichten über männliche Entwicklungsprozesse und pulverisierte veraltete Lehrmeinungen.

»Also, es ist so: Fell und Wärmeerhalt mögen ja vor Jahrmillionen mal eine Rolle gespielt haben. Heutzutage allerdings ist der einzige Grund, warum wir noch Haare auf dem Rücken und am Arsch haben, das koffeinhaltige Haarwaschmittel von Dr. A. Klenk.«

»Ach, ist das so?«

»Doch, in der Tat! Du weißt schon. Wir spülen uns das Zeug nur viel zu schnell vom Kopf. Und wo läuft es dann lang? Richtig, langsam über den Rücken, in die Kimme hinein, und da tropft es dann ab. Man macht sich keine Gedanken drüber, aber unter der Dusche stehen wir dann ja auch in der Suppe. Mit vierzig sehen die Füße aus wie die von einem Hobbit, bloß keiner weiß, warum.«

Meinen eigenen Haarwuchs im Geiste rasierend, lachte ich Tränen. Angst, das Lenkrad des Rettungswagens zu verreißen, hatte ich keine, denn seit fünfzehn Minuten ging es maximal im Schritttempo voran. Hein und ich standen auf der Autobahn am Stadtrand im Stau. Glücklicherweise gab es keinen Grund zur Eile. Der Feierabend lag noch Stunden entfernt, die Leitstelle wusste, wo wir steckten, und von Hunger oder Durst konnte auch keine Rede sein.

Hein hatte das Thema Körperbehaarung inzwischen beendet und widmete sich stattdessen dem Zusammenhang einer seiner Meinung nach extrem aufwendigen Weiterbildung, zu der man uns verdonnert hatte, und den damit verbundenen Erfolgsaussichten bei Online-Dating-Portalen. Er war wirklich in Hochform, und ich fühlte mich prächtig unterhalten.

»Es ist wie überall. Die wirklich wichtigen Informationen behält der Arbeitgeber für sich. Da geht’s immer um Kompetenz, Geld und Verantwortung. Aber warum ich als Endvierziger noch eine Weiterbildung zum Notfallsanitäter machen soll, obwohl ich seit zwanzig Jahren hervorragende Arbeit als Rettungsassistent leiste, das erklärt mir keiner. Der Job bleibt doch derselbe – grippale Infekte und eingerissene Fingernägel nachts um drei Uhr mit Alarm ins Krankenhaus fahren. Die echten Argumente werden leider verschwiegen. Was keiner sagt: Als Rettungsassistent kannst du bestenfalls parshippen! Aber als Notfallsanitäter, da bist du Elite und kommst auch bei den Singles mit Niveau rein!«, erklärte Hein in elitärem Tonfall und mit vielsagendem Blick.

Langsam wurde er albern. Die Staumeldung im Radio teilte mir indes unmissverständlich mit, dass ich mich noch auf mindestens neunzig Minuten unfreiwilliges Comedy-Programm einstellen konnte, als ein Disponent der Leitstelle uns über Funk ansprach: »RTW 3-1 mit der Frage nach Standort.«

Was für Hein eine Störung im Redefluss darstellte, war für mich eine Frage der Hoffnung. So amüsant mein Lieblingskollege auch sein konnte, irgendwann ging er mir dann doch auf die Nerven. Meinen Griff zum Funkhörer beäugte Hein dann auch fast vorwurfsvoll.

»Immer noch auf der Autobahn, kurz hinter der Stadtgrenze. Sehr zäh fließender Verkehr, teilweise Stau«, antwortete ich in der Erwartung, den restlichen Weg durch den Stau mit Blaulicht und Martinshorn zurücklegen zu können. Verstehen Sie mich nicht falsch. Nach über zwanzig Jahren im Beruf bin ich weit entfernt vom alarmgeilen Rettungsrambo. Doch ich gebe gern zu: Sonder- und Wegerechte sind im Stau eine extrem nützliche Sache.