Scherbentod - Miriam Rademacher - E-Book

Scherbentod E-Book

Miriam Rademacher

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Beschreibung

Totgesagte leben länger … Berlin, 1928: Inmitten von Scherben liegt eine Leiche im Innenhof des Nobelhotels Esplanade. Kommissarin Billa Morgenthal geht von einem Verbrechen aus, immerhin war das Fenster durch das der Mann fiel, geschlossen. Ausgerechnet Leonard Reiter erhält einen Auftrag im gleichen Hotel. Sein Ruf als Hellseher liegt ebenfalls in Scherben, denn eine von ihm totgesagte junge Frau tauchte plötzlich wohlbehalten wieder auf. Daher kommt ihm die Bitte des Hoteldirektors, eine Serie von Diebstählen unter den Gästen aufzuklären, gerade recht. Währenddessen kennt Billa nicht einmal den Namen des Toten, der unter falscher Identität unterwegs war. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem namenlosen Toten und den Diebstählen im Hotel?  Der zweite Fall für Kommissarin Billa Morgenthal.

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Seitenzahl: 379

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Miriam Rademacher

Scherbentod

Kommissarin Morgenthal ermittelt

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Totgesagte leben länger …

Berlin, 1928: Inmitten von Scherben liegt eine Leiche im Innenhof des Nobelhotels Esplanade. Kommissarin Billa Morgenthal geht von einem Verbrechen aus, immerhin war das Fenster geschlossen, als der Mann hinausfiel. Ausgerechnet Leonard Reiter erhält einen Auftrag im gleichen Hotel. Sein Ruf als Hellseher liegt ebenfalls in Scherben, denn eine von ihm gerade erst totgesagte junge Frau tauchte am nächsten Tag plötzlich wohlbehalten wieder auf. Daher kommt ihm nun die Bitte des Hoteldirektors, eine Serie von Diebstählen unter den Gästen aufzuklären, gerade recht.

Währenddessen kennt Billa nicht einmal den Namen des Toten, der unter falscher Identität unterwegs war. Als dann auch noch eines der Zimmermädchen als vermisst gemeldet wird, schrillen bei der jungen Polizistin alle Alarmglocken. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem namenlosen Toten, der spurlos verschwundenen Angestellten und den Diebstählen im Hotel? Womöglich bringt Leonards Intuition Billa auch in diesem Fall weiter.

 

Der zweite Fall für Kommissarin Billa Morgenthal.

Vita

Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie hat zahlreiche Fantasy-Romane, Krimis und Kinderbücher in verschiedenen Verlagen veröffentlicht.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Jan Karsten

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung bürosüd, München

Coverabbildung Nicole Matthews/Arcangel Images; akg-images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01570-8

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Prolog

Berlin, Friedrichsfelde, 1924

Im Haus herrschte das Dämmerlicht eines früh hereingebrochenen Herbstabends. Die Kehrschaufel in einer dramatischen Geste emporgereckt, stand Lina in der Küche ihres Elternhauses und fühlte, wie warmes Blut über ihre Hand und den Unterarm rann. Sie erinnerte sich genau an die Dunkelheit, die noch kurz zuvor um sie herum geherrscht hatte. Doch nun waren draußen auf dem Gehweg die Gaslaternen angegangen, und ihr Schein warf rechteckige Lichtflecken auf den Küchenfußboden. Dort, zu Linas Füßen, lag ihre Mutter.

Ein heftiges Zittern überlief Lina und riss sie aus ihrer Starre. Sie ließ das blutbeschmierte Kehrblech sinken und kauerte sich neben den reglosen Körper vor ihr auf den Fliesen. Die Hand ihrer Mutter umschloss noch immer ein Gemüsemesser, doch in den Fingern war keine Kraft mehr. Nie hatte sich für Lina ihr Zuhause so fremd und falsch angefühlt wie in diesem Moment. Die Stille um sie herum hatte etwas Bedrohliches. Es war die Stille des Todes.

Eigentlich musste sie wissen, wie es so weit gekommen war, schließlich war sie hier am Ort des Geschehens. Doch wenn Lina versuchte, sich an Details zu erinnern, so fiel ihr zunächst der heutige Nachmittag ein, der sehr schön gewesen war. Gemeinsam mit ihrer Schulfreundin Lore hatte sie die Zeit im pulsierenden Herzen Berlins zugebracht, Kakao in einem schicken Café getrunken, auf dem Kudamm einen neuen, sehr erwachsenen Hut mit Reiherfeder erstanden und auf dem Rückweg in der Bahn die bewundernden Blicke gleich zweier junger Männer aufgefangen. Doch nun stand sie mit einem Mal zu Hause in der Küche, und der eben noch heitere Tag war abrupt einem albtraumhaften Abend gewichen.

«Mutti?» Sie erhielt keine Antwort. Lina überlegte, das Licht einzuschalten, doch eine innere Stimme riet ihr davon ab. Sie konnte das blutverschmierte Gesicht ihrer Mutter dank der Straßenlaterne gut genug erkennen. Ihr Mund war wie zu einem Schrei geöffnet, die Augen blieben starr auf einen beliebigen Punkt gerichtet, der weit hinter ihrer Tochter zu liegen schien. Kein Blinzeln gab Anlass zur Hoffnung, sie könnte noch am Leben sein.

Lina wusste sehr wohl, dass sie hier nicht einfach sitzen bleiben konnte. Sie musste irgendetwas unternehmen, irgendjemanden informieren. Doch wie so oft, wenn Besonnenheit gefordert war, fiel ihr das Denken schwer. Ihr wollte nicht einfallen, was nun zu tun war, und ihre Mutter konnte sie nicht mehr fragen. Dabei hatte diese doch immer Rat gewusst. Immer wenn Lina diese Momente der Leere in ihrem Kopf spürte, so wie jetzt, hatte ihre Mutter das Heft des Handelns in die Hand genommen und Entscheidungen für ihre Tochter getroffen.

«Mutti, sie werden Fragen stellen. Und ich weiß nicht, was ich antworten soll», flüsterte Lina und verwischte in einer zärtlichen Bewegung das Blut auf der schon sehr kühlen, toten Wange. «Ich weiß doch nichts, Mutti.»

Mit einem Mal erinnerte sie sich ihres Vaters. Er würde wissen, was zu tun war. Er musste jetzt helfen und die Führung übernehmen. Zögernd erhob sie sich und stieg über die Leiche ihrer Mutter hinweg. Durch die zum Hausflur hin offene Tür konnte sie einen großen dunklen Umriss auf dem Boden nahe der Vordertür liegen sehen. Er erinnerte an einen großen unförmigen Sack. Doch als dieser plötzlich zuckte und ein leises Stöhnen von sich gab, bewegten sich Linas Beine wie von selbst und trugen sie erbarmungslos näher zu dem, was manch einer ein Schlachtfeld genannt hätte. Ihre Schuhe rutschten über den feuchten Boden, sie registrierte das Muster frischer Blutspritzer auf der fröhlichen Tapete und sank erneut auf die Knie. Das, was sie für einen Sack gehalten hatte, war der Körper ihres Vaters.

«Papa», brachte sie heraus und tastete nach seiner Hand, während sie sich über ihn beugte.

Für einen kurzen Moment flatterten seine Lider, er stöhnte, und es schien, als wollte er ihr etwas sagen. Doch der Moment verstrich, und Lina ahnte, dass sie selbst das letzte lebendige Wesen in diesem Haus war. Es war nun an ihr zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Sie musste handeln. Oder hatte sie bereits mehr als genug getan?

Noch immer hielt sie das metallene Kehrblech umklammert. Vielleicht, so hörte sie ihr Unterbewusstsein flüstern, würde sie es noch einmal brauchen. Irgendjemand musste schließlich all das hier sauber machen, die Welt wieder in Ordnung bringen.

Vorsichtig versuchte Lina, sich aufzurichten. Ihre Schuhe rutschten über die blutverschmierten Kacheln, doch schließlich stand sie wieder senkrecht, bereit, irgendetwas zu tun. Da ihr Vater die Haustür blockierte, beschloss sie, erst einmal zur Hintertür zu gehen.

Unter ihren Sohlen knirschten die überall herumliegenden Glasscherben, die Tür stand offen und wies ihr den Weg in den dunklen Garten. Als die kühle Herbstluft sie umfing, war ihr für einen kurzen Moment, als würde die Zeit stehen bleiben und ihr eine Verschnaufpause gönnen. Lina setzte sich auf die Stufen der Treppe, die zu den abgeernteten Gemüsebeeten hinausführte, betrachtete noch einmal das Kehrblech in ihrer Hand und fühlte, wie ihre Gedanken schwanden und einer befreienden Leere wichen.

Kapitel 1

Berlin, Friedrichsfelde, 1928

Leonard Reiter, der Mann, der sich des Rufes erfreute, der beste Hellseher Berlins zu sein, seit es ihm vor kurzer Zeit gelungen war, mehrere Mordfälle aufzuklären, stand vor einem Problem. Seine heutige Kundin, eine korpulente Dame im demonstrativen Schwarz einer trauernden Witwe, kam einfach nicht zum Kern der Sache.

Seit er ihr hübsches Haus betreten hatte, das, wohin man auch blickte, von einem Leben ohne Geldsorgen erzählte, verwöhnte sie ihn auf jede erdenkliche Weise. Ihm waren winzige Häppchen mit Fisch und Gurke und einige edle Tropfen serviert worden, gefolgt von zuckrigem Gebäck und echtem Kaffee. Er hatte geduldig vier träge Katzen gestreichelt, die politische Weltlage und den neusten Klatsch mit ihr diskutiert und fühlte sich mittlerweile ausreichend genug informiert, was die Lebensumstände und Ansichten seiner Kundin betraf. Er war bereit, ihr eine Zukunft zu prophezeien, die sie hören wollte. Doch wann immer er versuchte, ihre Hand zu ergreifen, um mit der Vorstellung zu beginnen, entzog sie ihm diese.

Mittlerweile hegte er Zweifel, ob sie wirklich Interesse an ihm als Hellseher hatte oder einfach nur Gesellschaft suchte. Prinzipiell wäre ihm das durchaus recht gewesen. Nur warteten an diesem Tag noch weitere Verpflichtungen auf ihn. Kunden, die ebenfalls drauf brannten, ihr Geld für ein paar nette Worte und einen Hauch von Hoffnung lockerzumachen. Denn das war es, was Leonard üblicherweise verkaufte.

«Denken Sie, uns steht ein kalter Herbst bevor?» Josefa Redinger füllte ihm einen klebrig aussehenden Likör in ein viel zu großes Glas und setzte sich neben ihn auf das gestreifte Biedermeier-Sofa. Dies schien Leonard die passende Gelegenheit, endlich eine erste Prophezeiung anzubringen. Erneut griff er nach der Hand seiner Gastgeberin, hielt sie energisch fest und schwieg einen Moment lang andächtig, bevor er verkündete:

«Nebel werden wallen, Frost legt sich auf die Gräser, aber Sie werden es bis in den Frühling wohlig warm haben. Gibt es noch mehr, das ich Ihnen verraten soll?» Er sah von ihrer mit Altersflecken gesprenkelten Hand auf und schenkte ihr ein Lächeln. Wetterprognosen waren nicht dazu angetan, großen Eindruck zu hinterlassen, aber irgendwo musste er ja anfangen.

«Geben Sie mir bitte meine Hand zurück.» Ihr Blick war streng. «Darin befindet sich nichts, was von Interesse ist. Ich bin eine alte Frau und erwarte nicht mehr viel vom Leben. Nur eines treibt mich noch um: Ist meine Nichte noch am Leben? Oder hoffe ich vergebens?»

«Ihre Nichte?», wiederholte Leonard, um Zeit zu gewinnen, und beobachtete, wie Josefa Redinger sich schwerfällig erhob und auf eine Kommode zuging. Von der nahm sie einen Silberrahmen, in dem das Porträt eines Mädchens steckte.

«Das ist Lina.» Sie klang wehmütig, als sie zum Sofa zurückkehrte und ihm die Fotografie reichte.

Sie zeigte das schmale Gesicht einer sehr jungen Frau. Ein Mädchen auf der Schwelle zum Erwachsenenalter. Das Haar zu lang, um der Mode dieses Jahrzehnts zu entsprechen, ein verträumter Blick in den dunklen Augen, der die Romantikerin verriet. Durchaus apart, aber keine besonders auffällige Erscheinung. Sie wirkte auf Leonard wie ein noch unfertiger Mensch, der sich und die Welt bisher nicht recht verstanden hatte, und die nächsten Worte seiner Gastgeberin bestätigten dies.

«Sie war siebzehn, als ich sie zum letzten Mal sah. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich.»

Er legte das Bild auf den Tisch, ließ die Fingerspitzen seiner rechten Hand auf dem Glas ruhen und schwieg, um Josefa Redinger zum Weitersprechen zu animieren. Es funktionierte.

«Sie verschwand vor vier Jahren, in der Nacht, als ihre Eltern starben. Böse Stimmen behaupten, Lina hätte sie selbst umgebracht, aber das glaube ich nicht. Fakt ist, dass ich meine Schwester und meinen Schwager verloren habe, weil sie von dem fleischgewordenen Bösen aus dem Leben gerissen wurden. Was aus Lina wurde, wohin sie in dieser furchtbaren Nacht gegangen ist, kann niemand mit Gewissheit sagen. Ob sie noch lebt oder ebenfalls umkam, auch das entzieht sich meiner Kenntnis. Doch ich kann nicht aufhören, mir wieder und wieder ebendiese Fragen zu stellen.»

Leonard, der ihr aufmerksam zugehört hatte, nahm das Bild erneut an sich. Er suchte in dem Blick des Mädchens nach irgendetwas, das auf innere Abgründe hindeutete, und fand es nicht. Mochte man Lina auch nur vor die Stirn schauen können, die Augen waren trotzdem das Fenster zur Seele. Und diese schien Leonard eher die eines Kindes zu sein. Glaubte er daran, dass Kinder morden konnten? Nun, dieses bestimmt nicht. Und wenn Lina seit vier Jahren nicht mehr auf der Türschwelle ihrer sich sorgenden Tante gestanden hatte, so blieb nur die Schlussfolgerung, dass auch sie den Tod gefunden hatte, als ihre Eltern starben – oder möglicherweise auch bald darauf. Es tat Leonard ein wenig leid, dass er mit seiner Weissagung ihre letzte Hoffnung vernichten musste, doch alles andere wäre der Dame gegenüber nicht aufrichtig gewesen.

Diese fuhr fort: «Im ersten Jahr nach ihrem Verschwinden gab es vereinzelte Menschen, die Lina gesehen haben wollen. Manche von ihnen waren sich sogar völlig sicher, ihr begegnet zu sein. Doch ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Würde sie noch leben, was sollte sie daran hindern, zu mir zu kommen?»

Vielleicht ein Doppelmord, der auf ihrem Gewissen lastet?, dachte Leonard, behielt den Gedanken aber für sich. Jetzt wurde diese Angelegenheit langsam kompliziert, und er konnte Josefa Redingers Verwirrung nachvollziehen. Wenn das Mädchen wirklich gesehen worden war, und zwar gleich mehrfach, gab es berechtigte Zweifel an ihrem Tod. Auch ihn verunsicherte dieser Aspekt der Geschichte, trotzdem wurden von ihm jetzt Antworten erwartet, und wenn er sein Geld wert sein wollte, musste er eine Entscheidung treffen, welche der widersprüchlichen Informationen er glauben wollte. War das Mädchen, das ihn durch das Glas des silbernen Rahmens mit leerem Blick anschaute, eine untergetauchte Mörderin? Oder doch nur ein weiteres Opfer, das schon lange Zeit gut verborgen in ungeweihter Erde ruhte? Er war hin- und hergerissen.

«Mit ihrem Vater hat unsere Lina sich nicht besonders gut verstanden. Sie liebte Tiere, er aber wollte kein Viehzeug im Haus haben. Ein schwieriger Mann.» Sie strich einer besonders fetten Katze, die soeben aufs Sofa gesprungen war, über den Rücken. «Lina war nicht immer glücklich in ihrem Elternhaus, aber ihre Mutter hat sie geliebt. Nie hätte sie beide getötet. Allerhöchstens ihn, wenn er gedroht hätte, ihrem Ziegenbock etwas anzutun. Den habe ich ihr zum Geburtstag geschenkt. Seit der Schreckensnacht logiert er in meinem Garten.»

Leonard überlegte, ob nicht doch eine unverfängliche Prophezeiung, die möglichst viel Interpretationsspielraum ließ, in diesem Fall die beste Lösung war. Da konnte seine Auftraggeberin sich ihre eigene Wahrheit herauspicken, ohne dass er sich festlegen musste.

«Seit vier Jahren zucke ich bei jedem Klingeln an der Haustür zusammen, weil ich sofort denke, es könnte endlich Lina sein. Wenn ich die Post entgegennehme und eine Motivkarte zwischen den Umschlägen entdecke, hoffe ich auf einen Gruß meiner Nichte. Aber nie wird dieser Wunsch erfüllt. Ich warte. Tag für Tag, Woche für Woche, es lässt mich nie wirklich los. Inzwischen ist mir jede Antwort recht, wenn ich nur endlich Gewissheit bekomme. Deswegen habe ich sie zu mir gerufen.» Sie sah ihn bittend an, ohne das Streicheln der schnurrenden Katze zu unterbrechen. «Werden Sie mir meinen Seelenfrieden zurückgeben? Ich will doch nur eine Erklärung, damit die quälenden Fragen ein Ende haben.»

Leonard verfluchte sich und sein Mitgefühl. Alles sprach dafür, in diesem Fall keine allzu klare Vision abzuliefern, doch sein verzweifeltes Gegenüber tat ihm wirklich leid. Also sagte er: «Haben Sie einen persönlichen Gegenstand Ihrer Nichte? Ein Kleidungsstück vielleicht?»

Nun wurde die Katze auf den Boden gesetzt, und die korpulente Frau in der schwarzen Robe wallte zur Tür hinaus, nur um gleich darauf mit einem hellblauen Seidenschal in den Händen zurückzukehren. «Wird das ausreichen?»

Leonard nickte und nahm das Stück Stoff in seine Hände. Er schloss die Augen und fühlte das weiche Material zwischen den Fingern. Noch immer hatte er keine Entscheidung getroffen. Womit war Josefa Redinger eher gedient? Mit der Version einer flüchtigen Mörderin oder einer verscharrten Toten? Und wie weit war er bereit zu gehen?

«Ich spüre Schmerz inmitten von Finsternis. Und große Trauer.»

«Das muss die Trauer um ihre Eltern sein», rief seine Kundin dazwischen und klang plötzlich sehr aufgeregt.

«Es ist lange vorbei. Und es schmerzte nicht nur die Seele, auch der Körper», fuhr Leonard fort. «Alles Kämpfen war vergeblich, es gibt keine Hoffnung mehr, und die Dunkelheit verwandelt sich in Tiefe, die kein Leben mehr hält. Nur mehr Stille.»

«Sie ist also gestorben?», zog Josefa Redinger selbst ihre Schlüsse aus seinen Worten. «Mein armes Mädchen. Aber ich habe es ja immer befürchtet. Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie zu mir gekommen.»

Leonard öffnete die Augen und gab den Seidenschal an die Hausherrin zurück. «Sie wird niemals zurückkommen», bestätigte er. «Sie hat ihr Leben schon vor langer Zeit verloren, vermutlich in der Nacht, in der auch ihre Eltern starben. Und ich wette, sie hat Sie aufrichtig geliebt.»

Prompt brach Josefa Redinger vor seinen Augen zusammen. Ein Meer von Tränen floss über ihre faltigen Wangen, und einen kurzen Moment lang glaubte Leonard, zu weit gegangen zu sein.

Dann aber rief sie: «Ich bin Ihnen so unendlich dankbar, Herr Reiter. Nun hat das Warten ein Ende, und ich kann mein Leben weiterleben. Die gute Lina. Natürlich hat sie selbst niemanden getötet. Das konnte sie gar nicht. Sie war selbst nur ein Opfer.»

«Wenn ich noch etwas für Sie tun kann, Frau Redinger, sagen Sie es nur.» Er schielte zur wuchtigen Standuhr hinüber, die ihn wissen ließ, dass er bereits in Berlin Mitte erwartet wurde, um einer überdrehten Schneidergehilfin Auskunft über ihr zukünftiges Liebesleben zu geben. Inständig hoffte er, dass Josefa nun erst einmal Zeit für sich selbst benötigte und alles daransetzen würde, ihn so schnell wie möglich loszuwerden. Doch es dauerte noch viele Tränen und zwei Gläser Weinbrand, bis sie ihn schließlich bezahlte und zur Tür geleitete. Draußen beeilte sich Leonard, ungesehen an dem grasenden Ziegenbock vorbeizukommen, übersprang das niedrige Gartentor und eilte zur nächsten U-Bahn-Station. Noch als er in den gelben Nichtraucherwaggon sprang, versuchte er, Lina und ihre trauernde Tante auch gedanklich hinter sich zu lassen. Doch immer wieder kam ihm das Bild des hellhaarigen Mädchens mit dem leeren Blick in den Sinn. War es richtig von ihm gewesen, sie totzusprechen?

Die Unbehaglichkeit hielt den Rest des Tages über an und wich auch nicht, als er gegen Abend in die Cantianstraße zu seiner Zimmerwirtin Frau Zieginski zurückkehrte, die mit wichtiger Miene auf dem Treppenabsatz stand und mit einer Nachbarin schwatzte. Leonard hielt jede Wette, dass sich dieses Gespräch um seine Person gedreht hatte. Er erkannte es an dem speziellen Ausdruck von mütterlichem Stolz in Frau Zieginskis Blick, mit dem sie ihn bedachte, seit er regelmäßig seine Miete zahlen konnte.

«Der Herr Reiter ist wieder da. Na, dett ist doch erfreulich», empfing sie ihn und strahlte über das ganze Gesicht, während ihre Gesprächspartnerin Leonard mit einer Mischung aus Skepsis und Ehrfurcht musterte. Leonard kannte diesen Blick. Er begegnete ihm fast täglich, seit er sein Geld mit der Leichtgläubigkeit der Menschen verdiente.

«Haben Sie wieder einen Mord vorausgesehen?», fragte da auch schon die Nachbarin, und nun überwog in ihrer Stimme ganz klar die Neugier.

Leonard schüttelte den Kopf. «Nur ein paar flüchtige Liebesabenteuer für eine lebenslustige Dame.» Auf keinen Fall würde er heute noch ein Wort über die verschwundene Lina verlieren.

«Wie aufregend.» Euprosina Zieginski beugte sich auf ihren Schrubber gestützt vor. «Isse ledig oder verheiratet?»

Leonard lächelte nur und trat durch die Wohnungstür.

«Se ham ja ihren Hut aus dem Pfandhaus geholt», stellte seine Vermieterin lautstark hinter ihm fest.

«Es wird ja auch täglich kühler», antwortete Leonard und trat in die Kammer, die er seit Kurzem ganz allein bewohnte. Der Bäckergeselle, der das Bett in der ersten Nachthälfte für sich beansprucht hatte, war inzwischen zu seiner Verlobten gezogen.

Den Hut, dessen Rückkehr in seinen Besitz für ihn eine gewisse Symbolik besaß und das Ende des Sommers darstellte, fand einen Platz auf der Wäschetruhe, wo schon die tägliche Post auf ihn wartete. Fünf Briefumschläge, die für fünf weitere Aufträge standen. Sein Einkommen schien bis auf Weiteres gesichert. Während er den mittleren öffnete, dessen edles Grau ihm am vielversprechendsten erschien, stieg wieder das Bild der jungen Lina in ihm auf. Er konnte sich nicht helfen, irgendetwas sagte ihm, dass er einen Fehler begangen hatte, als er Josefa Redinger heute ihren Seelenfrieden zurückgab. Doch da ihm nichts ferner lag, als sich selbst die Zukunft vorauszusagen, verdrängte er diesen Gedanken sofort wieder. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Schreiben eines gewissen Herrn Bulduan, der nach eigenen Angaben Direktor des Hotels Esplanade war und derzeit mit einer Reihe von Diebstählen unter seinen Gästen zu kämpfen hatte. Was er sich diesbezüglich von Leonard versprach, war dem Schreiben nicht zu entnehmen. Leonard entschied, dass dies kein Auftrag für einen Hellseher, sondern eher für die Polizei war. Er legte den Brief beiseite und öffnete die übrigen.

Berlin, Alexanderplatz

«Was geht hier vor?» Misstrauisch beäugte Billa Morgenthal ihre Kolleginnen der Abteilung K, die über ihre Kaffeetassen hinweg miteinander tuschelten. Seit sie den Raum betreten hatte, wurde sie auf auffällig unauffällige Weise ignoriert. Doch mit ihrem geschulten Blick entdeckte sie rasch den kleinen Berg Münzen auf dem Tisch ihrer Kollegin, die nun eilig unter ein Formular geschoben wurden. «Ihr schließt Wetten ab? Darf man erfahren, worauf?»

Einen Moment lang dominierte albernes Gekicher die Geräusche im Großraumbüro. Dann erbarmte sich eine ältere Kollegin ihrer.

«Wir wetten darauf, ob die Nachricht auf deinem Platz dienstlicher oder privater Natur ist. Dein hübscher Freund von der Mordkommission war nämlich hier und hat etwas für dich dagelassen.»

Wortlos bahnte sich Billa einen Weg zu ihrem Schreibtisch im hintersten Winkel, gleich neben dem immer geöffneten Fenster, das die Frischluftzufuhr der ganzen Abteilung regelte. Sie war wie elektrisiert. Mit ihrem «Freund von der Mordkommission» konnte nur Julius Haak gemeint sein. Und da ihre Beziehung zu dem großen schlanken Mann mit dem stets ernsten Gesichtsausdruck rein beruflicher Natur war, schloss sie daraus, dass es sich um einen neuerlichen Einsatz für sie handeln musste.

Wochenlang hatte Billa Morgenthal nach der von ihr durchgeführten spektakulären Festnahme eines mehrfachen Mörders darauf gewartet, noch einmal angefordert zu werden. Doch der heiße Sommer war bereits von ersten klammen Herbsttagen abgelöst worden, ohne dass jemand nach ihr verlangt hätte. Dabei hatte sie bewiesen, was für eine gute Polizistin sie war, die sich mühelos unter der rein männlichen Belegschaft der Mordkommission behaupten konnte. Ihr Frust war von Tag zu Tag größer geworden und zu einem Groll auf Julius Haak, der sie offensichtlich ganz vergessen hatte, herangewachsen. Jetzt aber war sie wieder im Spiel, und da sie auch dieses Mal hervorragende Arbeit leisten würde, konnten Größen wie der legendäre Ermittler Ernst Gennat sie zukünftig weder übersehen noch übergehen. Hastig nahm sie die auf ihrem Tisch liegende Notiz an sich und faltete sie auseinander. Völlige Stille senkte sich über die Abteilung K des Polizeipräsidiums.

Sich der Tatsache bewusst, gerade von allen Anwesenden angestarrt zu werden, las Billa die wenigen Worte, mit denen sie aufgefordert wurde, sich unverzüglich bei Julius Haak zu melden. Lächelnd schob sie den Zettel in die Rocktasche ihres blauen Kostüms und machte sich unverzüglich auf den Weg.

«Dienstlich», lautete das spontane Urteil einer Kollegin. «Hab ich es doch gewusst. Mach uns keine Schande, Billa.»

Glückwünsche, demonstrativ gedrückte Daumen und Schulterklopfer begleiteten sie bis zum Paternoster, wo sie in eine der offenen Kabinen sprang, die nach oben schwebten.

Es war nicht so, dass Billa ihre Arbeit bei der einzig weiblich besetzten Abteilung der Polizei nicht zu schätzen wusste. Die Aufgabe der Sitte war sinnvoll und durchaus abwechslungsreich. Und wann immer bei einer Straftat Frauen oder Kinder involviert waren, kamen sie und ihre Kolleginnen ebenfalls zum Einsatz. Doch zumeist beschränkte sich ihre Tätigkeit darauf, Aussagen aufzunehmen, Händchen zu halten und einen starken Tee zu kochen. Wann immer es knifflig oder gefährlich zu werden drohte, wurden ihr die Dinge aus der Hand genommen. Und das war etwas, das Billa Morgenthal nun einmal überhaupt nicht leiden konnte.

Mit einem leidlich eleganten Hüpfer verließ sie den Paternoster auf der Etage, auf der ein Teil der Abteilung A residierte, und traf schon im Flur auf Julius, der sich gerade mit einem dunkelhaarigen Kollegen unterhielt, welcher ihr nur unter dem Namen Pippo bekannt war und dessen Gesichtszüge sie an ein Nagetier erinnerten. Mit einem leisen Räuspern machte sie auf sich aufmerksam.

Julius wandte sich ihr zu. «Ah, Billa. Wie schön, Sie zu sehen. Geht es Ihnen gut?»

«Lassen Sie uns auf die üblichen Höflichkeiten verzichten und gleich zur Sache kommen. Was haben Sie für mich?», erwiderte sie und konnte ihre Ungeduld kaum verbergen.

Augenblicklich verabschiedete sich Julius’ Gesprächspartner, wobei er Billa flüchtig zunickte, bevor er in einem der angrenzenden Büros verschwand.

«Billa, würde es Ihnen gefallen, einigen Vorfällen im Hotel Esplanade nachzugehen?» Julius lächelte noch immer unverbindlich auf sie herab. Fast kam es ihr vor, als spielte er ihr gegenüber die Rolle des Gönners.

«Seit wann muss mir denn ein Fall gefallen? Und um was handelt es sich bei ‹einigen Vorfällen›? Wir sind hier doch wohl immer noch in der Abteilung für Kapitalverbrechen, oder etwa nicht?»

Julius Haak stieß einen lang gezogenen Seufzer aus, bevor er die Arme vor der Brust verschränkte und sagte: «Ich suche jemanden, der sich mit einigen dort vermehrt auftretenden kleineren Diebstählen befasst. Ich dachte, es könnte Ihnen Freude bereiten, in einem der vornehmsten Hotels der Stadt zu ermitteln.»

«Spaß machen? Kleinere Diebstähle?», wiederholte Billa und versuchte, ihre Enttäuschung, die gerade in Ärger umschlagen wollte, im Zaum zu halten. «Was soll das? So etwas fällt weder in Ihren noch in meinen Aufgabenbereich.»

«Es wird ausgesprochen raffiniert vorgegangen, und eine der Angestellten meint, ein Kind gesehen zu haben, wie es auffällig durchs Foyer schlich, bevor es sich fluchtartig durch die Drehtür entfernte. Kinder fallen meines Wissens sehr wohl in Ihr Tätigkeitsfeld. Also: Wollen Sie, oder wollen Sie nicht?»

Billa schnaubte und strich sich das halblange aschblonde Haar hinter die Ohren. «Soll ich Ihnen mal etwas sagen, Herr Haak? Das Kind haben Sie sich gerade erst ausgedacht. Ich glaube, Sie wurden von jemandem im Esplanade, dem Sie nichts abschlagen können, um einen Gefallen gebeten. Und weil Sie selbst Ihre Zeit nicht mit diesem Kram verschwenden wollen, wälzen Sie die Sache jetzt auf mich ab.»

«Ganz recht.» Der Blick seiner Augen ließ die gefühlte Raumtemperatur deutlich sinken. «Es geht mir ausschließlich um meine Bequemlichkeit und eventuell noch darum, Sie zu verärgern. Sie haben mich durchschaut. Schicken Sie mir doch bitte eine Ihrer Kolleginnen, damit ich die mit meinem ‹Kram› belästigen kann.»

Einen Augenblick lang standen sie einander schweigend gegenüber. Genau so lange, bis Billa sich ihrer ungünstigen Position voll bewusst geworden war. Julius Haak hatte sich vertrauensvoll an sie gewandt und würde es zukünftig gewiss nicht wieder tun, wenn sie sich weiterhin aufführte wie eine Primadonna. Sich gegen diesen lächerlichen Auftrag zu sperren, bedeutete, sich es mit ihm zu verscherzen und dadurch sämtliche Kontakte in die Mordkommission einzubüßen. Zähneknirschend schluckte sie alles runter, was sie ihm gern noch an den Kopf geworfen hätte, und reduzierte ihre Antwort auf das Nötigste.

«Gut, die Sache wird zeitnah erledigt. Wäre Ihnen jetzt sofort genehm?»

«Am liebsten, ja.» Julius verzog keine Miene. «Natürlich nur, falls Sie im Dienst nichts Besseres vorhaben, als zu arbeiten.»

Da sie genau wusste, dass ihre Antwort ihn endgültig zur Weißglut bringen würde, presste Billa die Lippen zusammen und nickte nur. Dann wandte sie sich um und ging mit entschlossenen Schritten auf den Paternoster zu. Noch auf dem Weg abwärts zerknüllte sie seine Notiz und warf sie schwungvoll in den nächstbesten Flur. Den Kopf voller unterdrückter Flüche, machte sie sich auf den Weg zum Potsdamer Platz.

Kapitel 2

Berlin, Tiergarten, Hotel Esplanade

Billa schritt an dem Wagenmeister in Livree vorbei, der gerade die Türen einer Taxe für zwei Damen in weißen Pelzmänteln öffnete, und betrat durch die Drehtür des Esplanade eine ihr fremde Welt.

Ohne es zu wollen, hielt sie ehrfürchtig inne und ließ die Pracht aus leuchtenden orientalischen Teppichen, Stuckdecken und den dezenten Wandmalereien auf sich wirken. Es war einer der seltenen Momente, in denen sie sich fragte, ob ein zahlungskräftiger Ehemann dem täglichen Kampf um Anerkennung am Arbeitsplatz nicht doch vorzuziehen wäre. Zwar entsprach sie mit ihrer eher stämmigen Figur, dem praktischen Haarschnitt und den zweckmäßigen Schuhen nicht dem gängigen Schönheitsideal und wirkte eher reizlos auf Vertreter des männlichen Geschlechts. Doch sie konnte mit Bildung, Charakter und an guten Tagen sogar mit Humor aufwarten, das musste doch auch etwas zählen.

Der schwarzhaarige Mann mit dem schmalen Schnurrbart im kantigen Gesicht stand so unerwartet an ihrer Seite, dass Billa sich im ersten Moment durch seine bloße Anwesenheit überrumpelt fühlte. Sie zwang sich zur Konzentration, blendete den verschwenderischen Luxus um sich herum aus und richtete ihre Gedanken wieder auf das Wesentliche. Obwohl es irgendwie schade war, nicht als Gast in dieses Haus gekommen zu sein.

«Guten Abend», begrüßte er sie höflich und mit auffällig leiser Stimme. «Mein Name ist Grewe, und ich bin der Portier des Esplanade. Ich darf davon ausgehen, dass Sie Billa Morgenthal sind. Julius hat mir Ihren Besuch bereits angekündigt.»

«Julius.» Es war keine Frage ihrerseits, sondern eine Feststellung. Dieser Mann sprach Haak also gewohnheitsmäßig mit dem Vornamen an. Sie hatte es ja geahnt: Die persönlichen Kontakte ihres Kollegen hatten ihr diese Ermittlung eingebrockt.

«Ja, er versteht natürlich, in welcher Notlage ich mich befinde, und war so nett, mir diskrete und schnelle Ermittlungen zuzusichern. Ein Skandal muss in jedem Fall vermieden werden.»

«Natürlich.» Bila nickte und trat einen Schritt näher an den Portier heran. Herr Grewe sprach inzwischen so leise, dass sie Mühe hatte, ihn zu verstehen. Dabei befand sich niemand, der sie hätte belauschen können, in ihrer unmittelbaren Nähe.

«Wir sind das erste Haus am Platz, Fräulein Morgenthal, das Aushängeschild Berlins. Unsere Fürstenzimmer im ersten Stock sind für ihren Prunk berühmt. Bei uns nächtigen die Großen aus aller Welt.»

Billa dachte an das Adlon, das Excelsior und den Kaiserhof, die dies allesamt ebenfalls von sich behaupteten, schwieg aber wohlweislich und schritt auf die breite, mit roten Läufern ausgelegte Treppe zu, in deren Richtung der Portier sie wies.

Eine Hand an dem reich verzierten Geländer, stieg sie hinauf und wurde im ersten Stock des Hotels erneut vom strahlenden Glanz der Kronleuchter und Spiegel überwältigt. Als sie an eines der hohen Sprossenfenster trat, konnte sie in den Innenhof des Hotels blicken, wo trotz der Abendkühle noch reger Betrieb herrschte. Die Reichen und Schönen ließen ihre Champagnergläser und wohlgefälliges Lachen erklingen, während auf einer Bühne nahe dem steinernen Brunnen die Hauskapelle des Hotels gerade ein kleines Konzert gab.

«Kommen Sie bitte weiter», brachte sich ihr Begleiter mit einem Hauch von Ungeduld in der Stimme wieder in Erinnerung. «Wir wollen die bedauerlichen Vorkommnisse lieber in einer etwas intimeren Umgebung besprechen.»

Billa riss sich vom Anblick der Feiernden im Innenhof los und folgte dem Mann bis in ein verlassen wirkendes Hotelzimmer, das von einem prächtigen Messingbett dominiert wurde.

«Hier nächtigte bis vor drei Tagen ein amerikanisches Filmsternchen, welches, entgegen unserem ausdrücklichen Rat, wie ich betonen möchte, die persönlichen Wertgegenstände in der Nachttischschublade verwahrte, anstatt in dem dafür vorgesehenen, eingemauerten Tresorschränkchen. Es handelte sich größtenteils um Schmuck. Teure und weniger teure Stücke, aber auch ein mit echten Perlen bestickter, gut gefüllter Geldbeutel befand sich darunter. Es sind zwar nicht alle unsere Zimmer mit Tresoren ausgerüstet, aber in diesem Fall hätte die Dame vorsichtiger sein können.»

«Und der Dieb hat die Lade in der Abwesenheit dieser Berühmtheit komplett leer geräumt», fiel ihm Billa ins Wort. «Haben wir wenigstens eine genaue Beschreibung der Schmuckstücke?»

«Er hat eben nicht alles mitgenommen», widersprach Grewe und zog ein Gesicht, als hätte er einen bitteren Geschmack auf der Zunge. «Er nahm nur die kleine, jedoch sehr kostbare Geldbörse mit den Perlen an sich und ließ alles andere zurück, sodass die Geschädigte zunächst glaubte, das gute Stück irgendwo verlegt zu haben. Auch wir schlossen uns dieser Vermutung an und versicherten, ihr die Geldbörse unverzüglich nachzusenden, sollte sie sich in unserem Hause wieder anfinden. Keiner von uns hat zu diesem Zeitpunkt an einen Diebstahl geglaubt.»

«Und so konnte der Dieb weitere, möglicherweise vielversprechendere Diebstähle begehen, ohne die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt zu haben. Gar nicht dumm.»

«Nein, wirklich nicht dumm.» Der Portier wischte sich mit einem Taschentuch die Schweißtropfen von der Stirn. «Um ehrlich zu sein, gab es inzwischen fünf ähnliche Vorfälle binnen weniger Tage. Die ersten drei ereigneten sich, bevor wir auch nur misstrauisch wurden. Immer wieder fehlte ein einzelner Wertgegenstand aus einem der Zimmer, während der Rest nach wie vor an seinem Platz lag. Doch beim fünften Mal ist der Dieb zu weit gegangen und hat ein überaus wertvolles Collier gestohlen, das von seiner Besitzerin gar nicht während ihres Aufenthalts bei uns getragen wurde. Er hat es direkt aus ihrem noch nicht einmal ausgepackten Koffer entwendet. Die Dame ist natürlich außer sich, bewahrt aber Stillschweigen über diesen ungeheuerlichen Vorfall, in der Hoffnung, ihr Eigentum zurückzubekommen, wenn es uns gelingt, den Dieb rasch zu überführen.»

Er bedachte Billa mit einem flehenden Blick und tupfte sich ein weiteres Mal die Stirn ab. «Wir müssen den Schurken stellen, bevor er das Esplanade verlässt, ich zähle auf Sie, Frau Morgenthal. Unser guter Ruf hängt von Ihrem Erfolg ab. Finden Sie den Übeltäter.»

«Gern. Insofern Ihr Dieb noch hier ist. Jetzt, wo er das Collier als Volltreffer und noch einige kleinere Stücke dazu entwendet hat, wäre es ja mal an der Zeit für ihn, seine Zelte abzubrechen.»

«Bitte finden Sie ihn vorher», flehte der Portier nun etwas eindringlicher. «Und zwar schleunigst.»

Billa war nicht bereit, sich bei ihrer Arbeit auf irgendeine Weise unter Druck setzen zu lassen, und fragte gelassen: «Wurden denn die Türen der Hotelzimmer oder deren Schlösser beschädigt? Hat der Dieb sie aufgebrochen? Konnte einer Ihrer Angestellten dazu eine Beobachtung machen?»

Der Portier schüttelte den Kopf. «Es muss jemand sein, der sich frei auf den Fluren bewegen kann und die Zimmer rasch und unauffällig betritt. Entweder handelt es sich um einen Gast oder einen der Angestellten. Doch Letztere sind ausnahmslos schon seit mehreren Jahren bei uns, und bisher gab es noch nie Diebstähle in diesem Hotel.»

«Demnach sollte man einen prüfenden Blick in Ihr Fremdenbuch werfen, um den Übeltäter zu finden», schlug Billa vor, versprach sich jedoch nicht allzu viel davon. Ohne Augenzeugen konnte der Dieb allein oder mit einer Partnerin arbeiten. Er konnte alt, jung, ein angeblicher Geschäftsmann oder von Adel sein. Alles schien zu diesem Zeitpunkt möglich.

«Sie sollten sich besser notieren, wann genau welcher ihrer Gäste in den nächsten Stunden und Tagen abreist, um nachvollziehen zu können, mit welchem Besuch die Diebstahlserie ihr Ende findet. Auf diese Weise kann der Täter mit seiner Tat in Zusammenhang gebracht werden. Noch schöner wäre es natürlich, ihn in flagranti zu erwischen, bevor er einen uneinholbaren Vorsprung hat. Eine Gepäckkontrolle bei der Abreise könnte da Erfolg versprechen. Aber nur, wenn wir es mit einem Amateur zu tun haben sollten. Ist er klug, bringt er seine Beute bereits vor der Abreise auf Umwegen aus dem Hotel und versteckt sie an einem sicheren Ort.»

«Und wo könnte sich dieser sichere Ort befinden?», fragte ihr Gegenüber.

«Überall.» Billa zuckte mit den Schultern. «Beispielsweise in einem Postpaket, das er an seine nächste Adresse schickt. Soll alles schon vorgekommen sein. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich mich einmal auf den Fluren umsehen. Vielleicht landen wir ja einen Zufallstreffer, und mir sticht etwas oder jemand ins Auge.»

«Das klingt immerhin nach so etwas Ähnlichem wie einem Plan. Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Diskretion. Und Julius natürlich auch», beeilte sich der Portier zu versichern. «Er ist ein echter Freund.»

«Natürlich ist er das», erwiderte sie und versuchte, nicht allzu bissig zu klingen.

Die nächste Stunde verbrachte Billa damit, ziellos durch alle Stockwerke des Hotels zu streifen. Sie inspizierte jede Etage vom Keller bis zum Dach, doch der Zufall, auf den sie gehofft hatte, wollte sich einfach nicht einstellen. Nicht ein einziger Gast verhielt sich auffällig, niemand verharrte ungewöhnlich lang vor einer Zimmertür oder sah sich immer wieder verstohlen um.

Als der Abend voranschritt, erwischte Billa sich immer häufiger dabei, wie sie aus einem der zahlreichen Fenster in den Innenhof hinunterblickte. Dieser wurde noch immer von einzelnen Nachtschwärmern genutzt, um händchenhaltend an einem der runden Tische zu sitzen und in die Sterne zu blicken. Die Kapelle hatte aufgehört zu spielen, und eine friedliche Stimmung lag über der Szenerie.

Doch dann hörte Billa plötzlich ein Klirren, und ein schwarzer Schatten stürzte fast direkt an ihrem Fenster vorbei herab, gefolgt von einem Splitterschauer. Ein Schrei hallte durch die Nacht, endete abrupt mit einem dumpfen Aufschlag und wurde durch mehrere andere laute Rufe abgelöst. Billa stand wie erstarrt da, eine Hand auf die Brust gepresst, in der ihr Herz hämmerte. Sie war sich nicht völlig sicher, meinte aber gesehen zu haben, dass der Schatten einen dunklen Anzug trug. Demnach handelte es sich um einen Mann, der nun dort unten lag. Mit zitternden Händen öffnete sie die beiden Flügel des Fensters. Als sie sich vorbeugte, blickte sie hinab auf einen Menschenauflauf, in dessen Zentrum ein bewegungsloser Körper in einem Kiesbett ruhte. Stimmen schwirrten durch die Luft, riefen nach einem Krankenwagen und der Polizei. Letztere war in gewisser Weise durch sie bereits vor Ort, doch Billa entschied, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, um Julius Haak zu bitten, persönlich im Esplanade in Erscheinung zu treten. Zwar konnte es sich durchaus um einen Unfall handeln, doch ließ sich zum jetzigen Zeitpunkt auch ein Verbrechen nicht ausschließen. Auf jeden Fall bestand dringender Klärungsbedarf.

Eine halbe Stunde später wimmelte es im beliebten Innenhof des Berliner Hotels von Mitarbeitern der Abteilung A. Spuren wurden eingesammelt, der Tatort gesichert und die Lokalität mit Handlaternen bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet.

Billa stand fröstelnd ein wenig abseits des Geschehens und sah hinauf zu einem der Fenster im dritten Stock, aus dem eine weiße Gardine in die Nacht hinauswehte. Von dort musste der Mann hinabgestürzt sein. Die Höhe war beeindruckend, und daher schien es nicht weiter verwunderlich, in welch katastrophalem Zustand sich der Körper des Mannes befand.

«Völlig zerschmettert», brachte Julius Haak, der nun zu ihr herüberkam, die Situation auf den Punkt. «Er muss sofort tot gewesen sein, der arme Kerl.»

«Ich frage mich, warum er durch ein geschlossenes Fenster gestürzt ist.» Billa deutete nach oben. «Ich war nur ein Stockwerk tiefer und habe das Splittern von Glas gehört, bevor ich ihn fallen sah. Niemand, der Selbstmord begehen will, springt doch durch eine geschlossene Scheibe, oder? Damit bleiben als Todesursache nur Unfall und Mord. Bei welcher Art von Unfall fliegt man denn durch die Scheibe eines Hotelfensters? Ein wildes Liebesspiel wird es nicht gewesen sein, der Mann ist vollständig bekleidet.»

Julius Haak stieß einen tiefen Seufzer aus und blieb die Antworten auf ihre Fragen schuldig. «Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass jetzt zum zweiten Mal jemand den Weg aus dem Fenster gewählt hat, nachdem Sie Ihre Ermittlungen aufgenommen haben?»

«Was soll das denn heißen?», funkelte Billa ihn an. «Als ob alle Männer aus Fenstern springen würden, sobald ich irgendwo auftauche. Zumal dieser Herr, wie ich eben schon sagte, vermutlich eher nicht gesprungen ist. Denn dann hätte er das Fenster bestimmt zuvor geöffnet.»

«Es war nur eine Feststellung, keine Beleidigung», lenkte Julius Haak hastig ein und wandte sich noch einmal dem Körper im Kiesbett zu, um den Kollegen herumstrichen und jeden Zentimeter ausleuchteten, um nur nichts zu übersehen. «Er dürfte irgendwo in seinen mittleren Jahren gewesen sein. Das Kopfhaar ist zwar blutdurchtränkt, aber ich erkenne ein erstes Grau an den Schläfen. Außerdem war er sehr groß. Bestimmt über eins neunzig.»

«Und er hatte einen gesegneten Appetit», ergänzte Billa und deutete auf die hügelförmige Erhebung eines Bauches.

«Wissen wir schon seinen Namen?»

«Nein», Billa schüttelte den Kopf. «Ihr guter Freund, der Portier, steht unter Schock und hat sich bisher außerstande gesehen, Auskünfte über den Herrn zu geben. Es handelt sich aber allem Anschein nach um einen Gast, denn wie ein Kellner, Koch oder sonstiger Angestellter wirkt er nicht auf mich.» Sie hob ein weiteres Mal den Blick. «Soeben ist Licht in dem jetzt sehr zugigen Zimmer im dritten Stock angegangen. Wir sollten uns besser beeilen, um die Habseligkeiten des Toten selbst in Augenschein zu nehmen, bevor ihr Freund es tut. Nicht dass uns jemand zuvorkommt und wichtige Spuren zertrampelt.»

Anstatt ihr zu antworten, hastete Haak durch eine der weit geöffneten Flügeltüren zurück ins Hotel. Billa folgte ihm die Stufen hinauf bis in den dritten Stock, wo sie schwer atmend das offen stehende Zimmer mit der 311 am Türblatt erreichte.

«Keiner … fasst hier … irgendetwas an», hörte sie Haak japsen, der sich im Türrahmen abstützte und zu zwei Männern sprach, die ein wenig hilflos herumstanden. Bei dem einen der Herren handelte es sich um Grewe, den Portier. Die zweite Person kannte Billa nicht.

«Ich bin der Direktor des Hotels», klärte dieser sie umgehend auf. «Mein Name ist Bulduan. Wollen Sie mir in meinem eigenen Hotel Vorschriften machen?»

«Nun, es ist Ihr Hotel, aber unser Tatort», erwiderte Billa und stellte sich neben Haak. «Morgenthal mein Name, dies hier ist mein Kollege Haak. Wir beide leiten die Ermittlungen in diesem Fall.»

«Tun wir das?», hörte sie Haak flüstern, woraufhin Billa ihm einen bitterbösen Blick zuwarf, bevor sie fortfuhr: «Ich war Zeuge des Mordes und bestehe darauf, dass in diesem Raum nicht das Geringste verändert wird.»

«Mord?» Direktor Bulduan, dem das fortschreitende Alter nur noch wenige Haare auf dem Kopf, aber dafür umso mehr im Gesicht gelassen hatte, hob seine buschigen Brauen. «Wie kommen Sie auf Mord? Der Mann ist aus dem Fenster gefallen.»

«Durch die geschlossene Scheibe», bemerkte Billa und deutete auf die wehende Gardine im kühlen Wind. «Und sein Schwung reichte aus, um seinen Körper auch noch über das dahinterliegende Geländer zu wuchten. Dabei sollte wohl gerade dieses einen solchen Sturz verhindern.»

«Der Mann, der das Zimmer bewohnte, war sehr groß und ungewöhnlich schwer», bemerkte der Portier und wirkte fast ein bisschen beleidigt, dass ein Mord von Billa auch nur in Erwägung gezogen wurde. «Selbst wenn er bei seinem Sturz das Fensterkreuz getroffen hätte, glaube ich kaum, dass es ihm standgehalten hätte.

«Die Fensterscheibe jedenfalls hatte keine Chance.» Julius Haak, der mittlerweile wieder zu Atem gekommen war, durchquerte den Raum und musterte die wenigen verbliebenen Splitter im Rahmen. «Der Großteil von ihr ist glatt aus dem Kitt gehauen worden. Das dahinterliegende Geländer ist nicht besonders hoch. Sehr hübsch, aber nicht unbedingt ein Hindernis.»

«Hätte der Herr ein Zimmer zur Verkehrsseite hin bekommen, wäre das womöglich nicht passiert», bemerkte der Direktor. Und mit unverhohlenem Stolz in der Stimme ergänzte er: «Dort sind die Fenster nämlich mit einer Mehrfachverglasung ausgestattet, um den Lärm draußen zu halten.»

«Und ich erwähnte bereits seine ungewöhnliche Körpergröße und Fülle.» Der Portier wurde laut. «Da kann es einen schon über das Geländer ziehen, wenn man als ganzer Kerl erst einmal ins Trudeln geraten ist.»

«Möglich, das werden wir zu klären haben. Herr Grewe, ich fürchte, Ihr Haus hat jetzt ein sehr viel größeres Problem als ein paar kleine Diebstähle», verschaffte Billa sich mit ebenso lauter Stimme Gehör. «Hier ist ein Gast zu Tode gekommen, und wenn ein Mord auch auf den ersten Blick nicht eindeutig zu beweisen ist, so scheint ein solches Szenario doch recht wahrscheinlich.»

«Ich teile die Auffassung meiner Kollegin.» Haak warf seinem Freund Grewe einen scharfen Blick zu. «Der Mann könnte gestoßen worden sein. War die Zimmertür von innen verriegelt, als sie hier eintrafen?»

Der Direktor und sein Portier wechselten einen langen Blick.

«Also nicht», stellte Billa fest.

«Sie stand offen.» Der Direktor senkte verlegen den Blick.

Billa spürte, wie sie zornig wurde. «Dann hat er Ihrer Meinung nach wohl noch Anlauf genommen, um sich durch das Fenster zu werfen, ja? Liegt diese Theorie für sie näher als der Gedanke, sein Mörder könnte Hals über Kopf aus dem Zimmer geflohen sein?»

Die beiden Herren in ihren schwarzen Anzügen schwiegen betreten. Der Portier fand zuerst seine Sprache wieder. «Besteht die Möglichkeit, diese Angelegenheit trotzdem diskret zu behandeln? Könnte man eventuell die Presse außen vor lassen?»

«Dafür ist es vermutlich bereits zu spät», rief Haak, der gerade einen Blick durch das Fenster in den Innenhof warf.

Billa trat neben ihn, und er wies hinunter auf eine Gestalt, die sich Meter für Meter immer näher an den Toten heranschlich. Billa kniff die Augen zusammen, und in dem Moment, da der Blitz seiner Kamera den heimlichen Beobachter kurzfristig in grelles Licht tauchte, glaubte sie, einen alten Bekannten erkannt zu haben.

«Levi Kurz», brachte sie mit leisem Stöhnen hervor. «Ausgerechnet der.»

«Der Reporter, der für Geld einfach alles tut», ergänzte Haak. «Wie stehen unsere Chancen, ihn erfolgreich zur Diskretion zu bewegen?»

Billa verdrehte die Augen und empfand nun fast so etwas wie Mitleid mit den Herren Grewe und Bulduan. Vor ihnen lagen schwere Tage.

Kapitel 3

Berlin, Tiergarten, Hotel Esplanade

Levi Kurz konnte sich auf seine Buschtrommeln verlassen. Das Gerücht über einen tödlichen Zwischenfall im Hotel Esplanade erreichte ihn am Tresen einer seiner Lieblingsbars im Haus Vaterland. Vom mehrstöckigen Vergnügungstempel, der ebenfalls am Potsdamer Platz lag, war es nur ein Katzensprung bis zum Ort des Geschehens. Kurz entschlossen hatte er sein Bier im Stich gelassen und betrat das Esplanade durch dessen Drehtür. Binnen Sekunden erfasste er die Situation. Kellner, die demonstrative Ruhe zur Schau stellten, servierten nervenstärkende, alkoholische Gratisgetränke an teils sehr blasse, teils aufgeregt diskutierende Gäste. Polizisten, Uniformierte sowie Herren in Zivil, die er dennoch dank langjähriger Erfahrung sofort als das erkannte, was sie waren, kamen und gingen. Letzteres verriet ihm, dass das Zentrum des Bebens woanders liegen musste.

Beiläufig verbarg er seine um den Hals baumelnde Leica unter seinem Mantel und schlenderte betont lässig hinter einem Mann her, der den Eindruck erweckte, ein festes Ziel zu haben. Gleich darauf fand er sich im Innenhof des Hotels wieder, wo der wandernde Schein von Handlaternen ihm den Weg wies. Plötzlich trat er auf Glas, das vor ihm auf dem Gehweg lag, und hob den Kopf. Als er hoch über sich die Reste eines Fensters entdeckte, war ihm klar, was er zu sehen bekommen würde, und zückte die Kamera. Bei seinem ersten Versuch, den Leichnam im Kiesbett abzulichten, versperrten ihm eifrige Ermittler in Gummischürzen und dazu passenden Handschuhen den Blick, als sie gerade dabei waren, weitere Markierungstafeln aufzustellen. Der Radius der Spurensicherung hatte bereits eine beeindruckende Größe erreicht und wuchs noch immer. Levi stellte sich zu den abgedrängten Neugierigen, die vermutlich bereits mehrfach des Innenhofes verwiesen worden waren, sich aber durch eine Hartnäckigkeit auszeichneten, die ihnen im Moment einen der Plätze in den ersten Reihen sicherte. Von hier aus unternahm der Journalist den zweiten Versuch und bannte ein paar schwarze Herrenschuhe samt Hosenaufschlägen auf Film, die sich hervorragend vom hellen Untergrund abhoben. Als er zum dritten Schnappschuss ansetzen wollte, spürte er plötzlich eine feste Hand auf seinem Oberarm, die diesen hinunterdrückte und das nächste Foto wirksam verhinderte.

«Sie wollen Ihrer Zeitung ja wohl nicht allen Ernstes Bilder eines verwüsteten Körpers verkaufen?»

Levi erkannte die Stimme als jene von Julius Haak, dem persönlichen Assistenten der lebenden Polizeilegende Ernst Gennat. War der «volle Ernst» etwa ebenfalls vor Ort? Der Journalist sah sich um, bereit, das bildausfüllende Schwergewicht abzulichten. Doch Kriminalkommissar Gennat glänzte durch Abwesenheit.