Schicksal Kriegsenkel - Günter Schäfer - E-Book

Schicksal Kriegsenkel E-Book

Günter Schäfer

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Beschreibung

Quälende Träume, Ängste und Schuldgefühle sind ein Nachlass, auf den jeder wohl gerne verzichten würde. Doch wie geht man mit einem Erbe um, das gar nicht abgelehnt werden kann, da es einem einfach in die Wiege gelegt wurde?

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Bis zu einem gewissen Zeitpunkt war ich der Meinung, dass es zwei Möglichkeiten gibt, mit einem Erbe umzugehen. Man freut sich darüber, etwas zu bekommen und nimmt in diesem Fall das Erbe gerne an. Sollte dieses allerdings nur aus Schulden bestehen, kann man es ablehnen, um unerwünschten Problemen von Anfang an aus dem Weg zu gehen. Inzwischen habe ich persönlich jedoch festgestellt, dass es noch einen dritten Weg gibt, um in den Besitz einer Hinterlassenschaft zu gelangen. Ein Erbe, das nicht abgelehnt werden kann, denn diese Frage stellt sich überhaupt nicht. Es wird dir ungefragt einfach aufgezwungen, ohne Wenn und Aber. Dabei geht es nicht um Materielles, nicht um Gut oder Geld. Es handelt sich vielmehr um von anderen Erlebtes, um unverarbeitete Emotionen, Traumata. Weitergegeben ohne zu fragen, ob man diesem Nachlass, dieser Bürde aus einer Zeit des Schreckens und des Terrors gewachsen ist.

Dies ist meine Geschichte, in der ich nach mehr als sechzig Jahren nicht nur feststellen musste, dass sich Geschehenes nicht mehr ändern oder gar rückgängig machen lässt, es manchmal nicht möglich ist zu verzeihen, solange man nicht verstehen kann. Dass man trotz manchem Verständnis nicht verzeihen kann, da man der Vergangenheit machtlos gegenübersteht und nur die eine Möglichkeit bleibt: Der Versuch, mit diesem Erbe umzugehen.

Dieses Buch soll weder Anklage, noch Schuldzuweisung sein und stellt auch kein politisches Statement dar, sondern dient der Aufarbeitung meines bisherigen Lebens. Einen genau passenden, zeitlichen Ablauf kann ich sicherlich nicht detailgetreu herstellen. Dafür hat sich über die Jahre zu viel zugetragen, um es zeitgerecht nacheinander sortieren zu können.

Schon oft in meinem Leben habe ich mich gefragt, warum ich so bin, wie ich bin? Immer wieder sehe ich mich in Alltagssituationen den ungläubigen Gesichtern von Bekannten oder Freunden gegenüber ausgesetzt, wenn es darum geht, dass ich mir nur schwer vorstellen kann, möglichst viel von unserer Welt zu sehen. Dabei geht es in erster Linie gar nicht einmal darum, dass ich kein Interesse daran habe, auch wenn ich das meinem Gegenüber meist so zu verstehen gebe. Dieses kein Interesse haben entspringt Wurzeln, die man seinen Mitmenschen nur schwer erklären kann, ohne gleich auf eine bestimmte Schiene geschoben zu werden.

Seit ich mich erinnern kann, leide ich unter Ängsten, deren Ursprung für mich bis vor Kurzem nicht auszumachen war. Man wacht auf, spürt eine Traurigkeit in sich, die nicht erklärbar ist. Man bricht in Tränen aus, grundlos, um den inneren Druck loszuwerden. Dies hilft, allerdings nur temporär. Es fällt mir in sehr vielen Situationen schwer, loszulassen, mich Neuem gegenüber aufgeschlossen zu zeigen, Unbekanntes auszuprobieren, oder das Verlangen mancher Menschen nachzuvollziehen, am liebsten die ganze Welt kennenlernen zu wollen. Vor circa einem Jahr entschloss ich mich letztendlich dazu, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, indem ich mich zu einer Psychotherapie anmeldete. Im Laufe der Therapiestunden wurde natürlich auch über Kindheit und Familie gesprochen. Ich erzählte meiner Therapeutin, dass meine Eltern aus Ostpreußen, beziehungsweise aus Schlesien stammen und gegen Ende des zweiten Weltkriegs aus ihren Heimatorten vertrieben wurden. Eine Überlegung von ihr war, dass meine Ängste möglicherweise auch im Zusammenhang mit der Flucht und Vertreibung meiner Eltern eine Rolle spielen könnten.

Im Gespräch mit einer Heilpraktikerin erwähnte ich unter anderem auch die Angst, mich länger oder weiter aus meiner gesicherten Umgebung herauszuwagen. Angst vor Abschied, vor Trennung, vor Unbekanntem. Aber auch das dadurch entstehende Schuldgefühl, Mitglieder in der Familie oder im Freundeskreis öfter vor den Kopf zu stoßen, wenn ich wieder einmal feststellen muss, dass ich mir gewisse Dinge oder Situationen beim besten Willen nicht vorstellen oder sie nicht mitmachen kann. Als ich dabei das Schicksal meiner Eltern erwähnte, stellte auch sie für mich einen möglichen Zusammenhang mit dieser Vergangenheit dar. Nachforschungen meinerseits über das Thema Trauma bei Heimatvertriebenen brachten so für mich das Schicksal der Kriegsenkel zutage. Ein Thema, das, wie ich inzwischen erkannt habe, schon seit langen Jahren immer wieder in der Gesellschaft und Wissenschaft diskutiert und erforscht wird, da es scheinbar unzählige Menschen gibt, die Ähnliches erlebten oder immer noch erleben. Nun bin ich weder Wissenschaftler, noch Therapeut oder Psychologe, um über transgenerationale Traumata, epigenetische Auswirkungen oder Fremdbestimmung zu sprechen. Jedoch habe ich meinen ganz persönlichen Lebensweg, sowie meine jetzige Lebenssituation hinterfragt, wonach ich inzwischen zu der Überzeugung gelangt bin: Auch ich bin ein Kriegsenkel und trage das Erbe meiner Eltern.

Eine Möglichkeit, dieses Erbe aufzuarbeiten ist, darüber zu schreiben. Aber jetzt stellte sich die Frage: Womit fange ich am besten an und wie kann ich dabei vermeiden, mich in Selbstmitleid zu verlieren? Meine Eltern über ihre Vergangenheit zu befragen, ist mir leider nicht mehr möglich, da beide bereits seit vielen Jahren verstorben sind. Es gab nur wenige Einzelheiten, die innerhalb der Familie in meiner Anwesenheit über die Zeit des Krieges und der Heimatvertreibung gesprochen wurde.

Der Entschluss, dieses Buch zu beginnen, fiel am Karfreitag. Da war am frühen Morgen wieder dieser Traum, in dem ich meine Mutter sah. Ihr Gesichtsausdruck war am besten zu beschreiben mit verhärmt, vergrämt gezeichnet von Trauer, doch irgendwie auch hilfesuchend. Ich hatte Angst, fühlte mich überfordert und schrie sie an, mich endlich in Ruhe zu lassen. Ich wachte auf mit Tränen im Gesicht, außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Der Vorschlag meiner Frau, das Grab meiner Eltern zu besuchen, brachte etwas Ablenkung, aber keine Besserung. Immer wieder fragte und frage ich mich: Was will sie von mir?

Es gab nie ein inniges oder besonders enges Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir. Das mag einerseits daran liegen, dass sie mit der Erziehung von sechs Kindern überfordert war. Ich selbst bin der Fünfte von uns Geschwistern, wobei ich irgendwann erfahren habe, dass ich im Grunde genommen nicht mehr geplant war. Heute würde man dies wohl mit einer ungewollten Schwangerschaft vergleichen. Doch über Abtreibungen machte man sich damals keine Gedanken. Andererseits fehlte scheinbar das Bewusstsein für die Folgen. Man kannte es vielleicht auch nicht anders. Schließlich gab es ja fast vier Jahre nach mir einen weiteren Sohn in der Familie. Mein Vater sagte wohl einmal, dass man schon alle irgendwie durchkriegen würde.

Trotz dessen, dass es wohl ein Bekenntnis zum Leben war, ich dies damals sicherlich noch nicht richtig verstehen konnte, kommt es mir im Nachhinein manchmal wie Resignation vor. Vielleicht war es aber auch die Schule des Lebens, die ihn irgendwann zu dieser Auffassung kommen ließ, denn mein Vater war ein lediges Kind. Er war zwei Jahre alt, als seine Mutter seinen Stiefvater heiratete. Das war am 10.10.1920 in Szabienen, im Kreis Angerapp, circa zwanzig Kilometer entfernt von Christiankehmen, dem Geburtsort meines Vaters. Heute verläuft zwischen diesen beiden Orten die Grenze zwischen Polen und der russischen Exklave Kaliningrad. Dort wurde der Heimatort meines Vaters laut einer Dorfchronik nach 1945 eingeebnet, es existiert wohl lediglich noch eine gepflasterte Dorfstraße. Die ehemals deutsche Bevölkerung wurde vertrieben. Von meiner Mutter selbst weiß ich lediglich, dass sie wohl auf einem Pferdegestüt gearbeitet hatte, als eines Tages Soldaten kamen, um die Tiere und alles Hab und Gut zu beschlagnahmen, den Hof und seine Bewohner in einem Alptraum mittellos zurückließen.

Es sind zwar nicht immer Alpträume, die mich in vielen Nächten um so manche Stunde Schlaf bringen, doch oft stehen sie im Zusammenhang mit dem Wort Heimat. Ein Begriff, der für mich zwanzig Jahre lang mit der Stadt Rain am Lech in Verbindung stand. Achtzehn Jahre davon konnte ich mir nicht vorstellen, diese irgendwann als meinen Wohnort gegen einen anderen einzutauschen. Siegmund Freud sagte ja einmal, dass Träume der Spiegel der Seele sind. Im Laufe dieser Geschichte wird deutlich, durch welche Umstände ich meinen einstigen Heimatort verlassen habe und ich mich an manchem Tag zurücksehnte.

Inhaltsverzeichnis

Die Schwabensiedlung

Der Ernst des Lebens

Das fünfte Schuljahr

Da fehlt doch was

Die letzten Schuljahre

Die zwei Seiten der Medaille

Eine verhängnisvolle Begegnung

Zukunft oder Vergangenheit?

Ein neuer Start

Der Weg ist das Ziel

Epilog

Die Schwabensiedlung

Die ersten Erinnerungen an meine Kindheit beginnen im Alter von drei oder vier Jahren. Es war der Tag, an dem ich in den Kindergarten gehen sollte. Doch schon beim Eintreffen stand für mich fest, dass dies mein erster und auch letzter Aufenthalt in diesem Gebäude werden sollte. Ein Grund dafür waren die mir fremd vorkommenden Klosterschwestern, die dort als Erzieherinnen beschäftigt waren. Sicherlich konnte ich dies in meinen jungen Jahren nicht objektiv beurteilen, sondern gab in diesem Moment lediglich meinen Empfindungen nach. Schwarz gekleidet, für mich weltfremde Namen, dazu viele Gesichter, die mir unbekannt waren.

Mancher mag dieses Empfinden vielleicht als kindlichen Trotz oder auch als Unerfahrenheit bezeichnen. Für mich war es die erste bewusste Begegnung mit der Angst. Ich hätte es damals wohl nicht anders bezeichnen können. Die Angst, fremdbestimmt einfach weggegeben zu werden.

Kein Schimpfen und kein Wettern brachte mich dazu, diesen Ort ein zweites Mal zu betreten. Also ging es zurück nach Hause. Dieses war eine von sechs Sozialwohnungen, die sich in einem Wohnblock befand. Von diesen Gebäuden gab es elf Stück, die heute noch, natürlich modernisiert, in der Preußenallee stehen. Schwabensiedlung, so nannte man diese Häuser, die damals noch dreistellige Hausnummern hatten. Unsere Wohnung lag im ersten Stock, verfügte über drei Zimmer, eine kleine Wohnküche und ein Bad mit Toilette. Im Kinderzimmer standen zwei Stockbetten und ein Einzelbett. Der Älteste von uns hatte sein eigenes Zimmer.

Die ersten Jahre meiner Kindheit verliefen relativ sorglos. In der Nachbarschaft lebten einige Familien, deren Nachname ebenfalls auf das Schicksal von Heimatvertriebenen schließen ließ und mit denen sich meine Eltern öfter einmal auch in einem Dialekt unterhielten, der für mich kaum verständlich war. Von den wenigen Ausnahmen mit kleineren Reibereien, die es wohl überall in solchen Wohngebieten gibt, verstanden sich die Menschen ansonsten