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Viele Menschen fühlen sich von Beschleunigung, Leistungsdruck und Konsumzwang erdrückt. Sie suchen nach Möglichkeiten, ein "gutes Leben" zu führen, ohne sich von anderen erzählen zu lassen, was das ist. Denn ihre Hoffnungen, die sie in vermeintliche Richtungsgeber wie Religion, gesellschaftliche Norm, rationale Erklärungsmuster oder esoterische Ansätze gesetzt haben, sind über die Jahre enttäuscht worden. Die Orientierung "von außen" hat also die Erwartungen nicht erfüllen können, die Sehnsucht nach der Orientierung "von innen" steigt. Und die Frage, die die Menschen mit dieser Erkenntnis quält, ist: "Wie kann ich die Orientierung finden?" Claudia E. Weinspach ist überzeugt: Die Antworten auf die Fragen, die uns bewegen, finden wir im Dialog mit uns selbst in unserem Inneren. Wegweiser sind unsere Gefühle, Gedanken und innere Erlebniswelten. Wir müssen nur den Zugang zu ihnen wieder finden. Ihre dahinterstehende Grundhaltung ist: Jeder Mensch ist ein Individuum mit ganz eigenen Talenten, Ressourcen, Träumen wie auch Ängsten und Schwächen, eingebunden in einen spezifischen Lebenskontext. Das Buch ist gefüllt mit psychologischer Kompetenz, aber auch reich an persönlichen Gedanken und Geschichten. Geschichten aus der beruflichen Praxis der Autorin von Menschen, die sie berät, und aus ihrem eigenen Leben. Zusätzlich enthält das Buch den Zugang zu vier Audio-Hypnosereisen.
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Seitenzahl: 327
Veröffentlichungsjahr: 2023
Claudia E. Weinspach
Schildkröte trifft Schneekristall
Wie wir Leben neu entdecken
Mit 4 musikalischen Hypnosereisen zum Mittelpunkt Ihrer Seele
Edition Schildkröte
© 2022 Claudia E. Weinspach
Covergrafik von Hannah Bousardt
Verlagslabel: Schildkröten-Edition
ISBN Hardcover: 978-3-347-77896-2
ISBN E-Book: 978-3-347-77343-1
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig.
Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der
Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Gespräch mit meiner Schildkröte I
Teil I Die Reise ins Unbekannte
1. All-Inclusive
2. Wie fühlst du dich?
3. Fehlermeldung
4. Die steinerne Schildkröte
5. Wächter alter Wunden
6. Schneeflocke in der heißen Wüste
7. Die innere Heimat
8. Der Riss in der Staumauer
9. Wenn Helden reisen
10. Helden ihrer Zeit
11. Eine neue Welt
12. Der Weg der Schönheit
Gespräch mit meiner Schildkröte II
Teil II Können Seelen fliegen? (Vier Lebensthemen)
13. Der Thron am Mamuba
14. Viel mehr Verschiedenes
15. Das elektrische Garagentor
16. Good Day Sunshine
Gespräch mit meiner Schildkröte III
Hypnosereisen - Zugangsdaten
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Gespräch mit meiner Schildkröte I
Hypnosereisen - Zugangsdaten
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Gespräch mit meiner Schildkröte I
Immer wieder werde ich gefragt, was es mit der Schildkröte auf meiner Homepage und meinem Logo auf sich hat. Wie ich eigentlich dazu kam, warum gerade dieses Tier?
Angefangen hat alles mit Michael Endes Jugendbuch „Momo“. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das außerhalb eines Dorfes lebt. Momo bemerkt, dass die Menschen aus dem Dorf keine Zeit mehr finden, sie wie sonst zu besuchen, um ihr ihre Geschichten zu erzählen. Bei ihren Nachforschungen trifft sie die Schildkröte Kassiopeia, die als eine gemütliche Vertreterin ihres Geschlechts die Ruhe weg hat. Kassiopeia zeigt ihr den Weg zu „Meister Hora“, dem Hüter der Zeit, und gemeinsam geben sie den Menschen nach vielen Abenteuern zurück, was ihnen finstere Mächte gestohlen hatten.
Ich fand die Geschichte bereits beim ersten Lesen mit 15 faszinierend, vor allem, weil Kassiopeia mit ihrer Langsamkeit so ganz anders war als ich und damit an meine Grenzen rührte, doch zugleich einen Schlüssel für die Lösung meiner Probleme bereithielt.
Denn ich war zwar mit einer schnellen Auffassungsgabe versehen, dadurch aber auch häufig ungeduldig und ungerecht in der Beurteilung langsamerer Menschen in meiner Umgebung. Langsamkeit erschien mir negativ – und meiner Meinung nach hätten die Menschen in der Welt viel mehr Wichtiges viel schneller bewegen können. Mir war einfach noch nicht klar, dass ich als junger, zielstrebiger Mensch häufig mit automatisierten Denkschemata arbeitete. Damit war ich zwar schnell unterwegs, aber eben nicht auf dem Weg, eine komplexe Welt mit allen Sinnen bewusst wahrzunehmen.
An Kassiopeia erinnerte ich mich später wieder, als mir in der Phase meines stressigen beruflichen Aufbaus eine Postkarte mit hebräischen Schriftzeichen in die Hände fiel. Darüber die Zeichnung einer Schildkröte, die auf mich den Eindruck machte, dass sie mir etwas Wichtiges sagen wollte.
Ich verstehe zwar kein Hebräisch und konnte deshalb nicht lesen, was dort stand, fühlte mich aber sofort wieder an Momo und Kassiopeia erinnert. Also legte ich die Karte zunächst als Lesezeichen in meinen Kalender und beschloss, bei allem beruflichen Aufbau-Ehrgeiz das Zuviel meiner Arbeitsstunden im Blick zu behalten.
Manchmal schien die Schildkröte lebendig zu werden und mir etwas sagen zu wollen. Aber ich wusste ja, dass Schildkröten auf Postkarten nicht sprechen können, und so hörte ich ihr nicht zu. Diese hier schien allerdings tatsächlich eine Ausnahme mit dem Sprechen zu machen. Immer mal wieder hörte ich sie leise vor sich hin murmeln. Wahrscheinlich war ihr klar, dass ich die Schriftzeichen nicht lesen konnte. Bei einer weiteren Gelegenheit, bei der ich ihr Bild etwas ruhiger betrachtete, flüsterte sie mir sehr deutlich zu: „Nimm dir die Zeit, die du brauchst.“
Ich hörte für die folgenden Jahre erfolgreich weg und arbeitete ehrgeizig weiter. Dennoch erreichte ihre Botschaft damals schon einen kleinen Winkel meines Geistes. Und ich fühlte bei jedem Blick auf die Postkarte: Sie hatte Recht! Mir so viel Zeit zu nehmen, wie ich brauchte – das war genau das, was ich nicht tat.
All das hätte mich vermutlich nicht so sehr beeindruckt, wenn sie sich nicht immer wieder in Erinnerung gebracht hätte. Ab dem Moment begegnete sie mir überall auf der Welt und schärfte meinen Blick für ihre Botschaft.
Inzwischen hat die Kröte, wie ich sie liebevoll nenne, einen festen Platz in meinem Leben, und mein Logo stellt eine Weltenschildkröte dar, weil sie als weise Botschafterin überall auf der Welt in allen Klimazonen zu Wasser und zu Land zu finden ist. Eine Anpassung über mehr als 200 Millionen Jahre hat sie geleistet!
Wenn sie sich ausruhen muss, um neue Kraft zu schöpfen, kann sie sich einfach in ihren Panzer zurückziehen, den sie wie ihr Haus mit sich herumträgt. Sobald sie sich gestärkt fühlt, streckt sie ihren Kopf und alle Gliedmaßen wieder heraus und begibt sich in die Welt. Und da draußen in der Welt haben Vertreterinnen ihrer Spezies einen inneren Kompass, der sie zielsicher die Weltmeere durchschwimmen und immer wieder zu „ihren Wurzeln“ – nämlich dem Strand, an dem sie geschlüpft sind – zurückkehren lässt.
In Arizona wie auch im gesamten nordamerikanischen Raum glauben viele indigene Völker, dass ihre „Turtle“ die Welt auf ihrem Panzer getragen hat. Sie wird als Urmutter von „Turtle Island“ gesehen (dem Namen der indigenen Völker für die Großmutter Erde) und hat die Welten über Jahrtausende hinweg beschützt.
Immer wieder habe ich auf meinen Reisen überlieferte Schildkrötengeschichten gehört, in Kaua´i (der ältesten Insel des hawaiianischen Inselarchipels) wie auch im Okawango Delta in Botswana, in den Nationalparks von Südafrika und Namibia, im japanischen Kyoto und im mexikanischen Oaxaca. In allen diesen Geschichten hatten die Schildkröten Humor und Grips. Kulturübergreifend steht diese große Überlebenskünstlerin für bedeutungsvolle menschliche Eigenschaften. Für mich verkörpert sie vor allem Weisheit.
So trafen wir, die Kröte und ich, uns also wie zufällig wieder und wieder. Jedes Mal hatte sie mir etwas zu sagen. Immer mehr erreichte sie mit ihren Worten mein Herz und tiefere Schichten meines Bewusstseins. Unmerklich hatte sie sich in meinem Leben breitgemacht und verkörperte für mich ein wichtiges Gegenüber, mit dem ich mich in vielerlei Weise austauschen konnte.
Wie es zu einer längeren innigen Beziehung dazugehört, ging sie mir auch hin und wieder auf die Nerven mit ihrer Weisheit, doch das tat dem Band, das wir miteinander knüpften, keinen Abbruch.
Meine Schildkröte ist inzwischen meine vertraute Gefährtin, der ich immer wieder neu begegne und die dabei ihr eigenes Schildkröten-Leben führt. Und seit einigen Jahren ist es mir auch so, als würde ich immer mal wieder richtig ausführlich mit ihr sprechen, wie mit einer Freundin – wie es dazu kam, werde ich später noch erzählen.
Auch bei der Arbeit an diesem Buch hat sie mich immer wieder über all die Zeiten des Schreibens und Überarbeitens beobachtet, und einmal hat sie mich gefragt: „Worum geht es eigentlich in dem Buch, das du da schreibst?“
Ich freute mich über ihre Frage, musste einen Moment überlegen, um eine schildkrötengerechte Antwort zu formulieren und sagte dann: „Ich versuche den Menschen einen Weg zu zeigen, wie sie auf ihre Art etwas Ähnliches tun können, was du immer machst, wenn Du Regenerationszeit benötigst: sich in sich selbst zurückziehen, um neue Kraft zu schöpfen, um sich dann wieder gestärkt heraus und in die Welt zu wagen. Die Menschen haben es da etwas schwerer, sie haben keinen schützenden Panzer wie du, sie müssen somit einen anderen Weg finden, innere Räume zu entdecken, sich darin zu spüren, sich selbst zu begegnen und aufzutanken..“
Die Schildkröte hatte die ganze Zeit während meiner Erklärungen bewegungslos zugehört, doch nun neigte sie ihren Kopf leicht zu mir und meinte: „Das macht mich wirklich neugierig! Ich bin gespannt, wie die Menschen das anstellen können! Sag ihnen auf jeden Fall, sie sollen sich bloß nicht krampfhaft suchen. Dann werden sie sich finden.“
Sichtlich außer Atem verschnaufte sie für einen kleinen Moment nach diesem langen Satz, dann fragte sie mich: „Und was hat es mit diesen musikalischen Hypnosen auf sich, die Du aufgenommen hast?“
„Die sollen den Menschen den Schlüssel für das Tor zu ihrem Inneren geben und beim Erkunden ihrer selbst helfen. Indem sie meine Geschichten zu den vier Lebensthemen lesen und sich die Hypnosen anhören, entsteht in ihnen neues Bewusstsein für sich selbst, und sie erinnern sich mühelos an alles was sie brauchen, um zu finden, wonach sie sich gesehnt haben …“.
Sie nickte. Dann streckte sie ihren langen Schildkrötenhals so weit es ging nach vorn und drehte den Kopf gemächlich in die vier Himmelsrichtungen, wie um die Temperatur der Umgebung zu prüfen.
Nun trottete sie langsam und bedächtig fort und murmelte mir zurückblickend zum Abschied noch leise, fast flüsternd zu: „Überstürze die Dinge nicht. Nimm dir für dieses Buch und die musikalischen Hypnosen für die Menschen all die Zeit, die du brauchst.“
Und diesen Rat habe ich tatsächlich befolgt. Danke, liebe Schildkröte!
Teil I Die Reise ins Unbekannte
1. All-Inclusive
Münster, Juli 2020
Am vergangenen Wochenende habe ich zum ersten Mal seit vier Monaten wieder meinen Liebsten sehen können, der in Salzburg lebt. Unsere Fernliebe war nach dem Lockdown den europäischen Maßnahmen im Umgang mit Corona zum Opfer gefallen. Die Grenzen waren geschlossen worden, Quarantäneregeln verhinderten eine Begegnung.
Als es nun endlich so weit war und auch sein Flug nicht (wie zweimal vorher) storniert worden war, stand ich mit meiner Maske im Flughafengebäude und überlegte, wie wir uns wohl begrüßen würden. Natürlich stand es nicht zur Debatte, als Paar bei 1,5 m Abstand zu bleiben. Aber würden er und ich uns sofort mit Mund- und Nasenschutz im Terminal oder lieber ohne Maske erst draußen in die Arme schließen?
Glücklicherweise kam Erwin nach der angezeigten Landung des Flugzeugs sehr schnell durch die Schutztüren, so dass meine Gedankenkreise bald beendet waren. Unsere Hände fanden sich wie von selbst. Ohne Worte waren wir uns sofort darüber einig, den Terminal zu verlassen und unsere eigentliche Begrüßung an die frische Luft zu verlegen. Da der Flughafen in Münster sehr klein ist, standen wir in ein paar Sekunden draußen und nahmen unsere Masken ab.
Was dann mit mir passierte, hatte ich nicht im Entferntesten erwartet: In dieser ersten Umarmung nach vier Monaten Internettelefonie fiel ich vom 43. Stock meines Funktions-Selbst in die Tiefe meiner Seele und tauchte dort ein. Eine Anspannung, die ich bis dahin nicht einmal in Ansätzen bemerkt hatte, löste sich in Sekunden und wurde davon geschwemmt. Ganz plötzlich fühlte sich mein Körper so schwer an, als könnte ich auf der Stelle vor meinem Auto im Stehen einschlafen.
Unglaublich, dieser Effekt, dachte ich, war ich vorher doch in wacher Vorfreude zum Flughafen gefahren …
Glücksbringer für alle
Die unterschwellige Anspannung hatte ich bei anderen Menschen in diesen ersten Monaten der Pandemie oft beobachtet: Sie war wie ein kaum hörbarer, aber doch vorhandener Ton, der nicht in die Umgebung passte und dabei nicht enden wollte, wie ein irritierender, latenter Geschmack im frisch gebackenen Brot, fast nicht wahrnehmbar, aber in jedem Bissen vorhanden.
Seit Monaten hatte Covid Einfluss auf uns alle, auch auf die ohne direkten Kontakt zum Virus. Die Menschen in meiner beruflichen wie privaten Umgebung erzählten mir davon, wie es sie in unterschiedlicher Weise beeinflusste. Sei es, dass sie Zeit für sich selbst und für Gartenaktivitäten gefunden oder ihre Keller ausgemistet hatten und ihnen die Situation damit irgendwie auch Gutes gebracht hatte.
Doch insgesamt konnte man merken, dass unter allem eine Anspannung lag. Die Gesamtstimmung war mit einer Anstrengung versehen, die immer da war, aber zum Teil unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle lag. Sicherlich kann sich jeder Einzelne daran gewöhnen, wann immer erforderlich einen Mund-Nasenschutz zu tragen oder andere Hygieneregeln zu beachten. Aber was macht das mit der eigenen Sensitivität? Wie werden die Angst und Anspannung uns als Personen und als Gesellschaft verändern? Wie so oft im Leben werden wir die Folgen dieser Lebensereignisse in ihrem gesamten Ausmaß möglicherweise erst erkennen, wenn wir sie aus der Distanz betrachten können.
Nach den ersten Monaten mit den Schreckensbildern der vielen Toten in Italien und den täglichen Expertisen zu Ausbreitung und Gefahr hörte ich auf, wie besessen die aktuellen Zahlen zu verfolgen.
Stattdessen befasste ich mich nun mit einer Reihe anderer Fragen. Sie lauteten: Wie definieren wir Glück? Was ist uns wichtig, was definieren wir als relevant? Wie begegnen wir Risiken? Und wie gehen wir um mit Unsicherheit, Ungewissheit und Ambivalenz?
Trat in unserem Umgang mit der Pandemie besonders deutlich eine Haltung zutage, die ohnehin kennzeichnend für unsere Überfluss- und Wohlstandsgesellschaft ist?
Als ich dieses Buch zu schreiben begann, waren Epidemien kein europäisches oder weltweites Thema. Aber unsere Haltung zum Leben hat mich auch da schon beschäftigt. Unsere Form von leistungs- und konsumorientierter, durchgetakteter, auf Sicherheit und Kontrolle ausgerichteter Lebensgestaltung, für die ich den Begriff „all inclusive“ sehr passend finde, lässt etwas sehr Wichtiges auf der Strecke bleiben. Was das ist und wie wir unsere Haltung so ausrichten können, dass wir es wiederfinden, ist die Frage, der dieses Buch nachgeht.
Wie im Schlaraffenland
Viele von uns, die sich vom anstrengenden Alltag erholen und Urlaub machen wollen, suchen kein Abenteuer, sondern wünschen sich eine problemfreie, erholsame Zeit. Mit Lieblingsessen und -getränken, dem idealen Wetter und natürlich Ferienstimmung. Ideal dafür: die Buchung einer „Allinclusive“-Reise. Alles, was die Reise hergeben kann und soll, ist bereits vorher organisiert und bezahlt. Bei einer Allinclusive Reise ist das Risiko, sich in der Fremde zu verirren, übers Ohr gehauen zu werden, zu verhungern, zu verdursten oder sich zu langweilen, weitestgehend minimiert. Nur das Wetter ist nicht hundertprozentig steuerbar. Aber der Rest gibt die wohlige Sicherheit, nicht unangenehm oder überhaupt überrascht zu werden.
Nun, in der „neuen Normalität“ der Pandemie, ist unser entspanntes Sicherheitsgefühl insgesamt brüchiger geworden, sogar bei All-inclusive Reisen. Die immer anwesenden Mahnungen der Infektionsschutzregeln erinnern jetzt jeden Touristen daran, dass hundertprozentige Sicherheit auch im attraktivsten Angebot nicht garantiert werden kann.
Dennoch boomten die All-inclusive-Reisen schon wieder im Sommer 2020. Es gab zwar statt den opulenten Selbstbedienungsbüffets die Ausgabebuffets, und die Infektionsgefahr schwebte immer über allem, aber als Grundversprechen wurde allen Gästen weiterhin – oder vielleicht noch deutlich offener als je zuvor – versprochen: no risk!
Und entgegen dem gerne zitierten Spruch bedeutete das schon bisher und auch nun keineswegs no fun. Ich weiß, dass viele diese Form von Urlaub sehr lieben, sonst würden sie sich nicht auch jetzt immer noch gerne dazu entschließen. Der Urlaub verspricht eben die Erfüllung aller Bedürfnisse und Wünsche in dieser besonderen Zeit im Jahr.
Aber auch früher schon haben mir Urlauber berichtet, dass sie nach einigen Tagen „All-inclusive“ plötzlich von Anspannung, Schwermut und Überdruss befallen waren. Zu perfekt, zu vorhersehbar und zu durchorganisiert war die Zeit, zu wenig Raum zum freien Atmen oder für Neugier und Überraschungen. Und dass die Fülle der Angebote auf dem Büffet und im Animationsprogramm zugleich etwas Lähmendes hatte. Woran kann das liegen?
Das Versprechen, alle Bedürfnisse passgenau zu befriedigen, ohne dass wir uns um irgendetwas sorgen oder gar aktiv kümmern müssen, erinnert ein bisschen an die Geschichte vom Schlaraffenland, in der unter anderem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Die Idee hinter dieser Utopie ist, dass ein Mensch, der jederzeit aus dem absoluten Überfluss frei wählen kann, zufrieden sein wird, weil er immer alles verfügbar hat, was er braucht.
Doch ist das tatsächlich so? Kommt das Glück aus dem Überfluss? Kommt es von außen in uns hinein, so wie eine Welle ans Ufer rollt? Ist die permanente vororganisierte Verfügbarkeit aller Möglichkeiten wirklich das, was wir brauchen, damit es uns gut geht?
Die Fülle der Angebote ist im All-inclusive-Urlaub wie auch in der Wahl von Lebensformen und Lebensentwürfen in unserer Gesellschaft riesig. Ich kann als Vegetarier oder Veganer oder als Fleischesser, allein oder heterosexuell oder homosexuell, monogam oder polyamor leben, die Roten, die Schwarzen oder die Grünen wählen, oder einfach als Nichtwähler zuhause bleiben …
In dieser Kultur der überbordenden Möglichkeiten stellt sich nämlich irgendwann Überforderung ein. Wie finde ich denn heraus, was ich tun soll? Soll ich – wie beim All-inclusive Buffet – das nehmen, was am meisten angepriesen, oder das, was von der Mehrheit als sehr gut bewertet wird? Oder probiere ich einfach von allem etwas? Wie finde ich in der Fülle von Angeboten und Informationen das für mich Richtige, und woher weiß ich überhaupt, was zu mir passt und wie viel mir guttut, was entgeht mir, wenn ich falsch entscheide?
Das Leben in der All-inclusive-Gesellschaft scheint also schon vor der jetzigen großen Verunsicherung gar nicht so einfach gewesen zu sein, sondern durchaus anstrengend und belastend. Für immer mehr Menschen scheint die Fülle des Angebotes und der Möglichkeiten nicht beglückend und befreiend gewirkt zu haben.
The Show Must Go On
Das All-inclusive-Versprechen mit seinen Vor- und Nachteilen prägte auch den Corona-Sommer 2020. Jetzt unterwegs zu sein, bedeutete nicht nur, in unterschiedlichem Ausmaß mit Mund- und Nasenschutzregeln konfrontiert zu sein, sondern auch eine Konfrontation mit dieser feinen, unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegenden Anspannung bei gleichzeitiger Botschaft: Es ist alles in Ordnung, Leute, entspannt euch und genießt eure Ferien!
Eigentlich haben Erwin und ich zu Ostern nach Punta Sabbione fahren wollen, aber da ist uns Corona dazwischengekommen. Eine gefühlte Ewigkeit hat es gedauert, bis wir uns endlich für zehn Tage in Salzburg treffen konnten. Das Wetter ist allerdings mit kühlen 13 Grad und vorhergesagtem Dauerregen im August noch nicht auf unserer Seite gewesen, und so haben wir uns kurzentschlossen in Erwins Bus gesetzt und uns auf den Weg nach Italien gemacht … Camping in der Natur nahe dem Naturreservat am Meer…
Da sind wir nun – mit Sommersonnenferienstimmung! Unser Campingplatz, den ich von zwei Osterbesuchen kenne, liegt ganz am Ende der venezianischen Bucht. Von hier aus kann man bis nach Venedig Lido schauen und auch mit dem Busboot über Murano und Burano nach Venedig schippern. Wir bekommen den Wahlplatz im Schatten, nicht zu weit weg vom Badehäuschen. Fehlt nur noch, dass unsere Lieblingspizzeria geöffnet ist, nur eine Viertelstunde mit dem Fahrrad – si! Unsere geliebten eingelegten Sardinen mit Zwiebeln und Zitrone stehen zehn Minuten später auf dem Tisch. Traumschön!
Am nächsten Morgen nehmen wir das erste Bad im warmen Mittelmeer, sitzen mit Cappuccino in einer Strandbude und machen dann einen Campingplatz-Erkundungsgang. Groß ist er, unser Platz, und doch sehr gemütlich. Neben den verschiedenen Arealen für Zelte, Wohnwagen und Apartmenthäuschen hat er eine Art Einkaufsbereich. Es gibt Shops aller Couleur: vom Campingequipment über Bademoden bis zu Sportgeräten, und natürlich Supermärkte, dazu mehrere Restaurants und Eisdielen sowie eine Cocktailbar.
Was mir bei unseren beiden Osterbesuchen bisher nicht aufgefallen ist: hier gibt es ein All-inclusive-Entertainment-Programm! Tauchen lernen kann man, Boccia und Darts spielen, Beach Volley und Ping Pong. Neu gebaut haben sie neben den beiden bereits vorhandenen Familien-Spaßbädern auf dem Campinggelände einen neuen Wasserspaßpark im Meer mit Rutschen für größere Kinder und Jugendliche. Es gibt sogar eine Anleitung, für welche Altersgruppe welche Rutsche zu benutzen ist, natürlich viersprachig. Das Entertainmentprogramm ist für alle Altersgruppen und die Bühne im Campingdorf für die vielfältigen abendlichen Karaoke- und Comedyveranstaltungen. Herz, was begehrst du? Alles da!
Erstaunlicherweise hat Corona hier offensichtlich keinerlei Einfluss auf die Urlaubsstimmung der Besucher. Wäre die Maskenpflicht der Angestellten nicht gewesen, hätte ich bei dieser reibungslosen Rundumversorgung im Sonnenschein schlicht vergessen können, dass auch in Italien vor wenigen Wochen noch Weltuntergangsstimmung geherrscht hatte.
„The Show must go on“ kommt mir in den Sinn, aber ist es wirklich Show? Eher macht die Stimmung in der Marina auf mich den Eindruck, dass hier alles ist wie immer. Perfekt organisiert und an alles gedacht, gute Laune beim Staff, Gespräche auf Italienisch, Deutsch, Französisch und Englisch inkludiert.
Am nächsten Tag hat die Wettervorhersage für den frühen Abend Sommergewitter angekündigt. Die angekündigte Karaokeshow fällt trotzdem nicht aus, die Bühne ist ja überdacht – hier ist wirklich alles sorgfältig durchgeplant. Bis ins letzte Detail, auch mit einem umfassenden, gut funktionierenden Sicherheitskonzept für den Umgang mit Corona, einschließlich der kleinen Desinfektionsmittelspender an den Waschräumen und allen Eingängen der Restaurants und Shops. Wir haben sogar eine Broschüre bekommen, in der uns in vier Sprachen erläutert wird, was für die Sicherheit der Besucher getan wird.
Sicherheit ist garantiert.
Beängstigende Fülle
Ich vergleiche Aspekte unserer Gesellschaft gerne mit solchen All-inclusive-Angeboten, die uns Sicherheit zu garantieren scheinen – auch jetzt, in Corona-Zeiten. Im Vergleich zu früheren Jahrhunderten und zu anderen Ländern und Erdteilen lebt die Mehrzahl der Menschen in Deutschland trotz aller mit Corona verbundenen Risiken, Belastungen und Einschränkungen in einem nie gekannten Wohlstand, in Sicherheit und Freiheit. Bis zum Ausbruch des Virus gab es angesichts der niedrigsten Arbeitslosenquote seit vielen Jahren auch genug Beschäftigung für die meisten von uns und für die großen Lebensrisiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Berufsunfähigkeit solide staatliche Absicherungen. Wir sind medizinisch gut versorgt. Verglichen mit früheren Zeiten geht es uns allen materiell viel besser, auch wenn die Schere zwischen Arm und Reich schon vor der Pandemie weit auseinanderging.
Auffällig ist vor diesem Hintergrund die wachsende Anzahl psychischer Erkrankungen. Ich habe mich oft gefragt, wie es sein kann, dass in einer Gesellschaft, die von materieller Fülle und durch ein hohes Maß an Möglichkeiten individueller Selbstbestimmung geprägt ist, so viele krank werden.
Die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland an einer Depression zu erkranken, lag schon vor der Corona-Krise bei 40 Prozent, während sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch bei zehn Prozent lag. Und die Krankschreibungen auf der Basis von Angst oder Depression haben sich laut aktueller Studien der Krankenkassen in den letzten 15 Jahren um 90 Prozent erhöht. Das könnte natürlich zum Teil auch an der besseren Diagnostik liegen und an der Befreiung des Themas aus der Tabuisierung, dass also auch mehr Menschen es wagen, sich Hilfe zu holen. Dennoch finde ich es besorgniserregend, dass sich offenbar sehr viele Menschen sehr schlecht fühlen.
Warum machen sich so viele Menschen Sorgen und wovor haben sie Angst? Ohne ein vorschnelles Bild aller Ursachen für eine solche Entwicklung zeichnen zu wollen, scheint es mir, dass zwei unserer gesellschaftlichen Grundpfeiler hier eine wichtige Rolle spielen: zum einen die ständig zu steigernde Produktivität und Leistungsorientierung. Und zum anderen der Konsum, der uns eine permanente Befriedigung unserer Bedürfnisse verspricht.
Doch die Frage bleibt: Funktioniert das überhaupt – dauerhafte Befriedigung aller Bedürfnisse? Und ist das wirklich dauerhaft befriedigend?
Bedürfnisse befriedigen
Eins meiner Lieblingsgerichte seit meinen Dreißigern sind Spagetti mit in Olivenöl angebratenen Cocktailtomaten, etwas Peperoni und natürlich Knoblauch. Die Spagetti am besten al dente und darüber frisch geraspelter Parmigiano. Beim Schreiben läuft mir gerade das Wasser im Mund zusammen, und es ist eine der Speisen, die ich mehrmals pro Woche essen könnte.
Erstaunlich dabei ist für mich allerdings jedes Mal, wie mein großer Appetit auf die Spagetti sich mit zunehmendem Sattwerden verändert: Während ich sie am Anfang genüsslich in all ihren Geschmacks-Facetten aufnehme, so entsteht im Laufe des Essens eine Art Gewöhnung an den Geschmack, und irgendwann kommt beim aufmerksam kauenden Schmecken oder spätestens beim Schlucken der Moment, an dem mir meine Geschmacksnerven signalisieren, dass ich nun wirklich genug gegessen habe. Die Spagetti schmecken jetzt anders und sind lange nicht mehr so lecker wie am Anfang meines Mahls. Ich weiß: Ich habe eben genug gegessen und bin satt.
Dieses instinktive Empfinden ist biologisch verankert und funktional, es dient dazu, mir glaubhaft zu signalisieren, dass ich aufhöre, Spagetti zu essen, weil der Bauch nun voll ist.
Meine „Spagetti aglio e olio“ sind ein Beispiel für die erfolgreiche Befriedigung eines meiner biologischen Bedürfnisse. Das Allerbeste an dieser Angelegenheit: Um wahrzunehmen, dass ich aufhören sollte zu essen, weil ich genug habe, brauche ich weder eine Expertise über die Kalorienzahl von Spagetti, ich benötige auch keine Berechnung der passenden Spagetti-Menge als Teilmenge der täglich aufzunehmenden Kohlenhydrate, die ein Kind/Jugendliche(r)/Erwachsene(r) idealerweise zu sich nehmen sollte, und auch keine Lektion in Ernährungslehre – sondern ausschließlich die bewusste Wahrnehmung meiner Geschmacksempfindung und meine Bereitschaft, ihren Signalen zu folgen.
Es gibt eine Reihe von biologischen Grundbedürfnissen, bei denen es vereinfacht gesagt darum geht, einen aufgetretenen Mangelzustand zu befriedigen. Sobald der Mangel ausgeglichen ist, ist das Bedürfnis gestillt. Dazu gehören eben Hunger und Durst, sowie die Bedürfnisse nach Sicherheit, Bewegung, Schlaf, Körperkontakt im Sinne von menschlicher Wärme und Nähe, Bindung und Sexualität.
Daneben gibt es eine weitere Palette von Bedürfnissen, die sich in ihrer Verschiedenheit gegenseitig ergänzen: Auf der einen Seite steht hier die Autonomie, zum Beispiel in Form des kreativen Selbstausdrucks, der Entdeckerfreude oder der Eigenständigkeit von Ideen und deren Umsetzung.
Auf der anderen Seite steht das Bedürfnis nach Geborgenheit in der Gemeinschaft, die sich zum Beispiel im Streben nach sozialer Anerkennung oder dem Wunsch nach Zugehörigkeit zeigt. In der Psychologie nennt man sie Wachstumsbedürfnisse. Sie umfassen das Bedürfnis nach Lebenssinn, Berufung oder Selbstverwirklichung und stellen sich bei jedem Menschen individuell etwas anders dar.
Bedürfnisse und die Wahl der Mittel für ihre Befriedigung sind in der Regel kulturspezifisch geprägt, das heißt, sie werden in einer Gesellschaft mindestens zum Teil kollektiv definiert und bewertet. In unserer Kultur bewerten wir beispielsweise Sicherheit, Autonomie, Leistungsorientierung und Gewinnstreben positiv. Unser Mittel, unseren Erfolg auf diesen Gebieten darzustellen und uns für unsere Leistungen zu belohnen, ist der Konsum von idealerweise unbegrenzt verfügbaren Angeboten. Nach getaner Arbeit dient er der Entspannung oder dem Genuss, aber auch der Ablenkung von negativen Empfindungen oder der Vermeidung von Langeweile.
Doch die Idee, dass die Fokussierung auf die Kombination von Leistung und Konsum für uns Menschen generell befriedigend und erfüllend ist, stößt mit zunehmender Fülle an ihre Grenzen. Über den Ausgleich des Mangels hinaus hat eine weitere „Versorgung“ keinen zusätzlichen Wert. Niemand profitiert davon, auf Vorrat zu schlafen, niemand wird sich besonders wohl fühlen, wenn er sich dauerhaft riesige Mengen einverleibt. Es ist im Gegenteil sogar so, dass ein Zuviel die gewünschte Zufriedenheit genauso gefährdet wie ein Zuwenig. Und das gilt eben offenbar nicht nur für die biologischen Bedürfnisse.
Wir selbst – beziehungsweise unser Körper – geben uns permanent darüber Auskunft, wie viel wir wovon brauchen und wann es „genug“ ist. Wenn wir eine Verbindung zu uns selbst haben und gesund sind, wissen wir instinktiv, wann wir ausgeschlafen sind, uns genug bewegt haben, Nähe spüren oder lieber allein sein wollen – oder eben genug „Spagetti aglio e olio“ hatten …
Unsere Wachstumsbedürfnisse habe leider keine so einfache körperliche Regulierung, keinen so leicht erkennbaren „Sättigungsgrad“. Ich bin trotzdem der Meinung, dass wir auch hier wahrnehmen, wann etwas genug ist. Genug geleistet, genug erwirtschaftet, genug gekauft. Wir hören nur viel schlechter auf die Signale, vielleicht haben wir auch verlernt, sie zu erkennen. Was brauche ich wirklich? Wie viel von dem, was ich zu brauchen glaube, tut mir wirklich gut? Und wie reagiere ich auf kleine Einschränkungen meines Zugriffs auf diese Überfülle? Bin ich abhängig geworden vom Überfluss, wenn ich mich beim Verzicht fühle, als sei ich auf Entzug? Orientierung tut Not.
Verunsicherte Menschen
Ich treffe in meiner Arbeit immer wieder auf Menschen, die materiell gut versorgt sind, aber doch nicht zufrieden und ausgeglichen, sondern voller Anspannung und unsicher darüber, was ihnen fehlt. Ihre Empfehlung vom Hausarzt oder manchmal auch ihre Eigeninitiative führen sie dann zu mir. Und in den letzten Monaten macht sich bei allen, die zu mir kommen, nochmals eine verstärkte Verunsicherung bemerkbar.
Ich kenne diese Anspannung auch von mir selbst – wie die am Flughafen in Münster, die mir erst bewusst wurde, als sie von mir abfiel und in Müdigkeit umschlug. Aber ich weiß auch, dass diese Anspannung und Verunsicherung nicht etwas sind, was erst der Virus hervorgebracht hat. Und dass nicht erst die Entwicklungen im Jahr 2020 diese Anspannung und Verunsicherung ausgelöst haben. Aber die Begegnung mit einer Pandemie und ihren Folgen hat verstärkt, was wir schon lange alle spüren und mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.
Ich will Ihnen in den nächsten Kapiteln von einigen dieser verunsicherten Menschen der All-inclusive-Gesellschaft erzählen – und auch immer mal wieder von mir selbst. Vielleicht kennen Sie vergleichbare Geschichten von Freunden, Familienmitgliedern oder Bekannten, denen es ähnlich geht.
Alles, was ich Ihnen erzählen werde, habe ich erfahren und erforscht und manches davon durchlebt.
Meine eigenen Erfahrungen sind meine Erfahrungen und nicht Ihre. Manche davon habe ich zur Illustration gewählt, manche halte ich für bedeutend, habe sie deshalb aufgeschrieben. Doch ein anderer Teil in mir weiß, dass nicht ich, sondern Sie darüber entscheiden werden, was bedeutend für Sie ist. Und das ist genau richtig.
Vielleicht – und das wünsche ich mir – können meine Geschichten dazu beitragen, eine Bewusstseinsbildung zu fördern. Bewusst zu leben bedeutet nicht ein Abonnement auf Glücklichsein zu haben. Es ermöglicht aber, seine eigene innere Quelle ausfindig zu machen, die Gelassenheit, Orientierung, kraftvolle Ruhe, Freude und lebensbejahende Ausgeglichenheit spendet – eine Hilfe in allen Lebenslagen, die in uns selbst wächst – und die nicht von außen für uns bereitgestellt werden kann.
Nur wenn es uns gelingt, unsere menschlichen Eigenschaften bewusster als bisher wahrzunehmen, können wir die humanistischen Werte pflegen und uns weiterentwickeln. Dazu gehören auch der Erhalt und die Pflege unseres Lebensraums.
Für mich als Therapeutin steht immer die individuelle Lebensgeschichte im Mittelpunkt meiner Arbeit, und die Geschichten der Menschen, die ich berate, sind nicht eins zu eins vergleichbar mit gesellschaftlichen Krisensymptomen. Jeder Mensch ist einzigartig. Dennoch sind diese Geschichten gute Anknüpfungspunkte für die Auseinandersetzung mit dem, was wir in unseren Leben nur zu gern an den Rand drängen wollen: Anspannung, Unruhe, Schmerz, Wut, Trauer, Zweifel, Angst, Einsamkeit.
Deswegen erzähle ich Ihnen einige dieser persönlichen Erfahrungen. Sie sind Beispiele für Einsichten und Wendepunkte, an die jeder von uns früher oder später in seinem Leben geraten kann. Denn irgendwann im Lebensfluss des Alltags bemerken die meisten von uns, dass sich im Zuviel der Glücks(an)gebote unserer All-inclusive-Gesellschaft ein Zuwenig an Orientierung versteckt. Dann wachsen (mindestens unbewusst) Zweifel und Unbehagen statt Sicherheit und Garantie für ein gutes Leben.
Dieser Mangel an Orientierung lässt uns nun auch mit der neuen unerwarteten pandemischen Bedrohung umso angespannter und umso hilf- und ratloser umgehen. Schon bisher, und nun erst recht, entwickeln wir Muster von kurzfristigen Lösungen und Ablenkungen, die denen meiner Patienten ähneln. Diese Muster stecken voller Potential, auch wenn sie uns zunächst ungewollt immer weiter weg führen von dem, was unser eigenes Leben sein könnte – wenn wir es nur besser wüssten und uns trauten, uns diesem Potential, diesen Gaben und unbewussten Hinweisen an uns selbst zu widmen. Wenn wir wieder zu unseren eigenen, individuellen, abenteuerlichen Lebensreisen aufbrechen würden. Doch davon später mehr!
2. Wie fühlst du dich?
Ich bin ein Egoist. Ein Psychopath. Ein Narzisst.
Ich habe keine Moralvorstellungen.
Ich habe kein Rückgrat.
Man kann mir nicht vertrauen.
Der junge Mann, der so schlecht über sich gesprochen hat, ist 25 Jahre alt, und ich nenne ihn hier Ben. Er hat das zu mir bei einem seiner ersten Besuche in meiner Praxis gesagt. Ben kommt nun schon seit einiger Zeit zu mir und hat eine bewegte Vorgeschichte: übermäßiger Konsum von Cannabis und Computerspielen, Psychose, heftige Wutanfälle mit verbalen Ausrastern gegenüber Freunden, das Gefühl, alles kurz und klein schlagen zu wollen. Und parallel dazu oft eine völlige Gefühlsleere, die er mit den Videospielen und Internetkonsum zu überdecken versucht hatte. Schließlich war er in der Hoffnung auf Hilfe in eine Klinik gegangen, die Ärzte hatten eine Depression diagnostiziert und ihm Medikamente verschrieben.
Die hatten ihm tatsächlich geholfen und ihn ruhiger gemacht. Aber gerade das hatte sein Misstrauen geweckt. Denn er war überzeugt von seiner negativen Selbsteinschätzung, die er mir da gegeben hatte, er traute sich selbst nicht über den Weg. Dass es ihm nun viel besser ging, schrieb er ausschließlich den Medikamenten zu:
Ich bin gerade nur so gut drauf, weil ich Medikamente nehme und daher meine Probleme mit mir und der Umwelt nicht an die Oberfläche kommen. Nach dem Absetzen werde ich mich wieder zum Arschloch verwandeln.
Mein Eindruck von ihm nach den ersten Begegnungen aber ist ein ganz anderer gewesen. Ich habe ihn als einen ernsthaften jungen Mann erlebt, mit vielen Gedanken über die Welt und über sich. Aber eben auch sehr kritisch mit sich selbst, sehr verzweifelt und zweifelnd. So hat er seither Woche für Woche vor mir gesessen, in der Anfangszeit immer
ein bisschen starr und sichtbar bestrebt, bloß Haltung zu bewahren.
In unseren Gesprächen habe ich schnell mehr von ihm erfahren: dass er ein Scheidungskind ist und eine einerseits überfürsorgliche Mutter hat, die ihn andererseits zu wenig beschützen konnte, weil sie mit sich selbst zu beschäftigt war. Und einen Vater, der nach seiner Schilderung für ihn eher wie ein Kumpel ist, der aber seine große Arbeitsbelastung regelmäßig in Alkohol ertränkt und seine Wohnung völlig verkommen lässt. Ben hat noch einen Bruder, auch dieser den Drogen zugewandt.
Vor einiger Zeit hat ihn seine Freundin verlassen, die er sehr geliebt hat. Er hat sich deswegen geschworen, sich nie wieder auf einen Menschen einzulassen. Seine Trauer hat er erfolgreich mit noch mehr Cannabis- und Medienkonsum zu kompensieren versucht. Da fehlte ihm kurzfristig nichts und er fühlte seinen Schmerz nicht mehr.
Sein Studium hat er an den Nagel gehängt und jobbt nun als Teilzeitbuchhalter, um Geld für eine Work and Travel-Reise nach Australien „zusammenzubekommen“.
Sein Wunsch für die Therapie mit mir ist: Er will wieder mehr zu sich selbst finden. Will verstehen, warum er in die Cannabis-Medien-Abhängigkeit geraten ist. Ihm ist klar, dass ihn das in einen Teufelskreis hineingebracht hat, aus dem er alleine nicht mehr herausfinden kann. Er will bei mir seine Persönlichkeit besser kennenlernen und weiterentwickeln und seine Emotionen wiederentdecken:
Ich will wieder was fühlen!
Wilde Schießerei
Im vergangenen Dreivierteljahr haben wir deswegen für ihn nach einem Weg gesucht, wie er wieder mehr von sich fühlen und gleichzeitig seine Medikamentendosis reduzieren kann. Ohne dass er wieder so unruhig wird wie in den Zeiten vor ihrer Einnahme. Er hat für sich die sehr individuelle Lösung darin gefunden, dass er seine Medikamentendosis in Minischrittchen grammweise heruntergefahren hat. Jeder Psychiater hätte ihm von diesem extrem langsamen Weg abgeraten, aber er hat es konsequent durchgezogen und es so aus seiner eigenen Überzeugung heraus geschafft, wieder ohne sie zurechtzukommen.
Heute sitzt er wieder vor mir und wir sprechen über seine Schlafstörungen und Albträume, die ihn in der vergangenen Woche belastet haben. Er erzählt mir von einem Traum, den er vor einigen Tagen hatte und der ihn seitdem sehr beschäftigt:
Ich habe geträumt, dass ich auf einer Party bin. Viele meiner Freunde sind auch da, es ist sehr lustig, die Stimmung richtig gut. Ich fühl mich wohl.
Plötzlich, nach einigen ausgelassenen Stunden, ziehen zwei meiner Freunde Pistolen, schießen wild um sich und knallen die meisten von uns ab.
Ich höre noch, wie einer sagt: „Jetzt haben sie es schon wieder gemacht…!“ Dann bin ich aufgewacht.
Als wir nun darüber sprechen, versucht er, das ganz rational zu erklären. Er denkt, dass ihm ein Dopaminmangel im Gehirn oder etwas Ähnliches diesen Traum beschert hat. Eine naheliegende Erklärung für jemanden wie ihn, der schon mehrfach erlebt hat, welchen Einfluss chemische Substanzen auf sein Gehirn haben können.
An einen konkreten Anlass, ein Erlebnis in den Tagen vor dem Traum, das mit Gewalt zu tun hatte, kann er sich nicht erinnern. Also ändere ich den Blickwinkel. In dem Traum haben doch zwei Freunde, denen er eigentlich vertraut, die er gut zu kennen meint, plötzlich etwas ganz Schreckliches, für ihn völlig Unerwartetes getan. Und dann behauptet noch jemand, die beiden Freunde hätten es „schon wieder“ getan, und er hat aber doch davon gar nichts gewusst und ist völlig arglos gewesen.
So sind wir unvermittelt beim Thema Vertrauen, und ich stelle die Vermutung in den Raum, dass sein Traum etwas damit zu tun haben könnte. Das ist ein Volltreffer, denn er wird ganz nachdenklich und sagt nur:
Ja, das ist ein Thema …
Kein Vertrauen
Ich sehe, wie es in ihm arbeitet, und nun erzählt er mir von einigen Kollegen, die mehrfach hinter deren Rücken schlecht über eine andere Kollegin gesprochen haben – nicht einfach mal nur so aus der Situation heraus, sondern als ernstzunehmendes Mobbing zu werten. Ben hat das mit Unbehagen registriert und gespürt, wie die Frage in ihm aufgekommen ist:
Wie reden die wohl hinter meinem Rücken über mich?