Schillerwiese (eBook) - Lotte Kinskofer - E-Book

Schillerwiese (eBook) E-Book

Lotte Kinskofer

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Beschreibung

Ein hervorragend recherchierter, an einen wahren Fall angelehnter Kriminalroman über die politisch turbulenten 1920er Jahre in Regensburg Die junge Vroni Haberl erhängt sich im Mai 1925 an einem Baum auf der Schillerwiese an der Donau in Regensburg. Oder ist es doch kein Selbstmord? Immerhin ist die Schillerwiese die alte Richtstätte der Stadt. Den Münchner Oberkommmissär Benedikt Wurzer muss das eigentlich nicht kümmern. Er und seine Frau besuchen ihre Tochter Anna, die in Regensburg verheiratet ist, anschließend wollen sie weiter zur vorgezogenen Sommerfrische. Doch Anna interessiert sich sehr für die Tote, immerhin waren sie Nachbarinnen und die Geschichte kommt ihr seltsam vor. Denn hätte Vroni wirklich ihren zwölfjährigen Sohn Karl alleine auf der Welt zurückgelassen? Wurzer wird aktiv, als Anna unter rätselhaften Umständen verschwindet und das den Kollegen in Regensburg so egal ist wie der vermeintliche Selbstmord der jungen Nachbarin …

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Seitenzahl: 204

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Ein spannender und berührender Kriminalroman über die turbulenten 1920er-Jahre, über politische Kräfte, die ihre Ziele mit allen Mitteln erreichen wollen, und junge Frauen, die sich mit aller Kraft zu behaupten versuchen

© Christiane Neukirch

Lotte Kinskofer, geboren in Langquaid/Niederbayern, lebt und arbeitet als Journalistin und Autorin in München. Sie schreibt Kinder- und Jugendbücher, Kriminalromane sowie Drehbücher für Fernsehserien.

Bei ars vivendi erschien ihr Roman Zum Sterben zu viel.

Umschlagabbildung:© mauritius images / United Archives / Karl Heinrich Lämmel

Umschlaggestaltung:Burkhard Finken, finken & bumiller

LOTTE KINSKOFER

SCHILLERWIESE

KRIMINALROMAN

ars vivendi

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Februar 2024)

© 2024 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

www.arsvivendi.com

Umschlaggestaltung: Burkhard Finken, finken & bumiller

Umschlagabbildung: © mauritius images/United Archives/Karl Heinrich Lämmel

eISBN 978-3-7472-0600-3

INHALT

1. DIENSTAG, 12. MAI – ABEND

2. DIENSTAG, 12. MAI – ABEND

3. DIENSTAG, 12. MAI – NACHT

4. MITTWOCH, 13. MAI – MORGENGRAUEN

5. MITTWOCH, 13. MAI – MORGEN

6. MITTWOCH, 13. MAI – MORGEN

7. MITTWOCH, 13. MAI – MORGEN

8. MITTWOCH, 13. MAI – VORMITTAG

9. MITTWOCH, 13. MAI – VORMITTAG

10. MITTWOCH, 13. MAI – VORMITTAG

11. MITTWOCH, 13. MAI – NACHMITTAG

12. MITTWOCH, 13. MAI – ABEND

13. MITTWOCH, 13. MAI – ABEND

14. DONNERSTAG, 14. MAI – MORGEN

15. DONNERSTAG, 14. MAI – VORMITTAG

16. DONNERSTAG, 14. MAI – NACHMITTAG

17. DONNERSTAG, 14. MAI – NACHMITTAG

18. DONNERSTAG, 14. MAI – NACHMITTAG

19. DONNERSTAG, 14. MAI – NACHMITTAG

20. DONNERSTAG, 14. MAI – ABEND

21. DONNERSTAG, 14. MAI – ABEND

22. DONNERSTAG, 14. MAI – ABEND

23. FREITAG, 15. MAI – MORGEN

24. FREITAG, 15. MAI – VORMITTAG

25. FREITAG, 15. MAI – NACHMITTAG

26. FREITAG, 15. MAI – NACHMITTAG

27. FREITAG, 15. MAI – NACHMITTAG

28. FREITAG, 15. MAI – NACHMITTAG

29. FREITAG, 15. MAI – NACHMITTAG

30. FREITAG, 15. MAI – NACHMITTAG

31. FREITAG, 15. MAI – ABEND

32. FREITAG, 15. MAI – NACHT

33. FREITAG, 15. MAI – NACHT

34. SAMSTAG, 16. MAI – MORGEN

35. SAMSTAG, 16. MAI – MORGEN

36. SAMSTAG, 16. MAI – VORMITTAG

37. SAMSTAG, 16. MAI – VORMITTAG

38. SAMSTAG, 16. MAI – VORMITTAG

39. SAMSTAG, 16. MAI – MITTAG

40. SAMSTAG, 16. MAI – ABEND

41. SAMSTAG, 16. MAI – ABEND

42. SAMSTAG, 16. MAI – NACHT

43. SONNTAG, 17. MAI – MORGEN

44. SONNTAG, 17. MAI – VORMITTAG

45. MONTAG, 18. MAI – VORMITTAG

46. MONTAG, 18. MAI – MITTAG

47. SONNTAG, 31. MAI – NACHMITTAG

SCHILLERWIESE

1

DIENSTAG, 12. MAI – ABEND

Sie hört eine Kirchturmuhr. Vier Schläge für die volle Stunde, neun für die genaue Uhrzeit. Jetzt sollt er eigentlich kommen, der Gustl. Veronika Haberl sitzt am Ufer der Donau, die Füße im Wasser, und schaut den Weg entlang nach rechts und links, aber er ist nicht zu sehen. Das Paar, das vorhin eng umschlungen dagesessen hat, ist inzwischen gegangen. Die Badeanstalt an der Schillerwiese wirkt verwaist. Ab und zu schlendert noch ein Spaziergänger vorbei. Die Sonne geht unter, und es wird dämmrig.

Überhaupt ist heut kaum was los an der Donau. Das liegt sicher an dem Fackelzug, der durch die Stadt führen soll – zu Ehren des Amtsantritts von Reichspräsident Generalfeldmarschall von Hindenburg. Das wollen gewiss alle sehen.

Seltsam, dass er sie jetzt warten lässt. Er ist bisher immer so zuverlässig gewesen. Nach ihrem ersten Gespräch hat er jeden Abend Punkt zehn Uhr das Wirtshaus betreten, noch etwas getrunken, immer mit dem Blick zur Tür, die in die Kuchl führt. Von dort aus hat sie ihn manchmal gesehen, wenn der Wirt in die Kuchl gekommen ist, hat ihm zugelächelt, und er hat genickt und gewartet. Wenn sie um Mitternacht fertig war, ist er neben ihr hergegangen, von Reinhausen zum Arnulfsplatz, da waren sie eine gute halbe Stunde unterwegs, und sie hat jede Minute davon genossen.

Schon am vierten Abend hat sie das Gefühl gehabt, dass er zu ihrem Leben dazugehört. Sie hat ihm von ihrem Buben erzählt, und er hat nicht gefragt, wo der Vater war. Sie ist froh drum gewesen, es hätt sie in Verlegenheit gebracht.

Erst nach einer guten Woche hat sie ihm erzählt, dass sie als ganz junges Mädchen in einem Haushalt gewesen war. Vornehme Leute, er von Beruf Ökonom, sie damit beschäftigt, das Personal herumzuscheuchen. Vroni hat sich vor ihren Schikanen weitgehend sicher gefühlt, weil mit einer wie ihr, die in der Kuchl nur die Kartoffeln schälte, hat sich die gnädige Frau gar nicht abgegeben. Aber der Sohn, auf den die Herrschaften so stolz gewesen sind, der ist sich nicht zu fein gewesen, ihr ein Kind anzuhängen. Freilich haben seine Eltern behauptet, Vroni habe sich das nur ausgedacht und das Balg sei von einem anderen, und haben sie mit Schimpf und Schande weggejagt. Sie hat dann auf einem Gutshof gearbeitet, und seit Lichtmess ist sie im Wirtshaus als Küchenhilfe.

Der Gustl wiederum hat ihr von dem Gasangriff im Krieg erzählt, dass er seitdem Probleme mit der Lunge habe und es deshalb schwierig für ihn sei, noch als Bäcker zu arbeiten, weil er den Mehlstaub nicht mehr so gut vertrage. Ja, und dann noch die Granatsplitter, aber das habe sie ja gewiss schon gesehen, dass er da ein paar Andenken am Hals hat.

Freilich hatte sie die Narben über dem Hemdkragen gesehen, aber die machen ihr gar nichts aus – und das hat sie ihm auch gesagt.

»Wichtig ist nur, dass es ned wehtut.« Sie hat ihn unsicher angeschaut, wie er reagiert, aber er hat erst lange nichts gesagt und dann: »Dank dir für die guten Worte.« Und beim Du sind sie dann auch geblieben.

Wie ihr Herz geklopft hat, als er sie gefragt hat, ob es denn nie einen freien Abend gebe, an dem sie sich mal früher treffen könnten. Wie sie zugesagt und unruhig der Verabredung entgegengesehen hat. Denn sie will auch einmal was vom Leben haben, in den Arm genommen werden, einen Kuss oder zwei und später vielleicht auch ein bisserl mehr, wenn er verspricht, vorsichtig zu sein.

Endlich sieht sie ihn den Weg entlangkommen. Er ist es doch, oder? Er hinkt ein bisserl, vielleicht hat er sich wehgetan und ist deshalb spät dran. Rasch zieht sie die Füße aus dem Wasser, schlüpft in ihre Klapperl, steht auf und eilt ihm entgegen.

Es ist nicht der Gustl. Doch hat sie das Gefühl, den Mann schon mal gesehen zu haben. Er starrt sie an, sagt kein Wort. Ein unheimliches Schweigen. Sie bekommt Angst, sieht sich um. Kein Mensch mehr weit und breit. Ganz schnell ist die Dunkelheit gekommen, fast finster schaut es für sie plötzlich aus, gerade ist es doch noch hell gewesen. Sie blickt in seine schwarzen Augen, ahnt das Unheil. Aber da ist es schon zu spät.

2

DIENSTAG, 12. MAI – ABEND

Ein paar Jahre muss ich noch ins Polizeipräsidium, denkt Oberkommissär Benedikt Wurzer. Die werde ich hoffentlich auch noch überstehen.

Nein, an Gewissenhaftigkeit fehlt es ihm nicht. Und der Einsatz für Recht und Gerechtigkeit ist ihm auch immer noch wichtig. Aber er packt den Alltag nicht mehr so gut wie früher, er ist müd, und manchmal hat er auch keine Freud mehr an der Arbeit. Es hat sich einiges verändert, denkt er, als er sich ins Schlafzimmer zurückzieht.

Nach dem Krieg hat er geglaubt, es kann nur besser werden. Aber dann hat er so viel Armut und Elend sehen müssen; für ihn, seine Frau und seine Tochter ist’s auch gelegentlich knapp geworden. Dann ist die Inflation gekommen, das Brot hat Millionen gekostet, und der Schubkarren ist mehr wert gewesen als das Geld, das man damit transportiert hat.

Seufzend legt er sich ins Bett, will sich die Gedanken an die letzten Jahre verbieten, aber das ist halt nicht so einfach.

Denn wie die Rentenmark im November 1923 eingeführt worden ist, da hätte es doch wieder aufwärtsgehen können. Aber genau zur gleichen Zeit hat es den Putsch in München gegeben. Dieser Hitler und seine Kumpane – eine nationale Diktatur ist ihr Ziel gewesen. Von München aus nach Berlin marschieren … aber erst mal sind sie in Richtung Feldherrnhalle, und dabei sind Schüsse gefallen – das hat auch Kollegen von ihm das Leben gekostet.

Ihn hat das arg getroffen, aber sein Vorgesetzter Markstein, der hat von Berufsrisiko geredet und dass die nationale Erneuerung eben auch Opfer fordere vom Einzelnen. Von Markstein selber freilich nicht, der ist in seinem schönen Arbeitszimmer geblieben, bis alles vorbei gewesen ist.

Wurzer dreht sich auf die andere Seite, in der Hoffnung, dass er endlich an etwas anderes denken kann, aber die trüben Betrachtungen holen ihn schnell wieder ein.

Hätten sie diesen Österreicher doch abgeschoben! Aber Wurzer hat gehört, dass ihn nicht einmal mehr sein Heimatland hat nehmen wollen. In München haben sie ihn zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Dabei hätte der Prozess doch ans Reichsgericht in Leipzig gehört. Aber die damalige bayerische Staatsregierung wird schon gewusst haben, warum sie das Verfahren lieber hier durchziehen wollte. Da hat’s gewiss einiges zum Vertuschen gegeben.

Hat nicht der Tenner, also der Stellvertreter von seinem obersten Chef, dem Münchner Polizeipräsidenten, selber gesagt, dieser Hitler sei die Seele der ganzen völkischen Bewegung und er werde seiner Idee die Massen zuführen? Da kann man bloß hoffen, dass der Tenner nicht recht behält.

Denn leider ist der Hitler schon vor einem halben Jahr wieder aus dem Gefängnis entlassen worden und hat seine Partei bald danach aufs Neue gründen können. Dass er Redeverbot in Bayern hat – das wird ihn gewiss nicht aufhalten.

Wurzer richtet sich auf, denn im Liegen sind die Gedanken noch viel schlimmer als im Sitzen. Er ist eigentlich ein Anhänger der Bayerischen Volkspartei, ein Konservativer also. Bisher sind das auch die meisten seiner Kollegen gewesen. Aber er merkt schon, wie sich im Polizeipräsidium in der Münchner Ettstraße der eine oder andere darauf einrichtet, dass es doch recht gut wäre, ein Nationaler zu sein.

Heute erst haben wieder mal ein paar von ihnen das Politisieren angefangen, und ihm hat schon beim Zuhören gegraust. Freilich erhoffen sie sich was für die eigene Karriere, wenn sie auf Volk und Vaterland setzen, auf die Sozis und die Kommunisten schimpfen und die Juden für alle Probleme im Land verantwortlich machen. Auch der Markstein wird von Tag zu Tag nationaler, und ihm, dem Wurzer, fehlt es oft an Schneid, da noch dagegenzuhalten, auch wenn das alles mit Recht und Gesetz gar nichts mehr zu tun hat.

Wurzer steht auf und tritt ans Fenster. Fast jeden Abend plagen ihn die Gedanken an die Zukunft. Ist das eine Alterserscheinung, oder ist sein ungutes Gefühl berechtigt? Er war früher ein Mensch voller Zuversicht, wird aber zunehmend enttäuscht und bitter. Er mag sich selber nicht, wenn er alles so düster sieht. Aber leider bestätigen die Ereignisse immer wieder seine Ahnungen.

Seufzend legt Wurzer sich wieder hin. Er muss jetzt an was Schönes denken, sonst wird das nichts mit dem Einschlafen. Zum Beispiel daran, dass sie morgen in eine frühe Sommerfrische fahren, die Marei und er. Zum ersten Mal seit vielen Jahren. Seine Frau ist immer noch am Einpacken, aber Hilfe hat sie nicht gewollt.

»Du vergisst doch sowieso die Hälfte«, hat sie gesagt.

Wurzer hat auf die vollen Koffer geschaut. »Die andere Hälfte tät ja auch langen, so viel brauchen wir doch gar ned.«

Ein Blick seiner Frau hat genügt – er ist schlau genug gewesen, sich zu verzupfen.

Nach Kallmünz soll es gehen, wo Barbara, die Schwester seiner Frau, vor zwanzig Jahren in den Habersetzer-Hof eingeheiratet hat. Erst aber fahren sie noch nach Regensburg zu ihrer Anna, die dort mit Mann und Kindern lebt. Mehr als ein halbes Jahr hat Wurzer sie nicht mehr gesehen, seine Tochter und die zwei Enkel, er freut sich drauf. Der fünfjährige Kaspar und die Sophie, die auch schon drei Jahre alt ist, sind gewiss recht gewachsen. Immer wieder hat die Anna mit den Kindern zu ihnen nach München kommen wollen, immer wieder haben auch Marei und er überlegt, nach Regensburg zu fahren. Aber ständig ist was dazwischengekommen.

Der Walter ist freilich auch noch da. Mit ihm haben sie einen tüchtigen Schwiegersohn bekommen, der ihnen eine neue Familie und auch ein bisserl Hoffnung geschenkt hat, nachdem ihre beiden Buben, Annas Brüder, im Krieg gefallen sind. Auch kein guter Gedanke, um in den Schlaf zu finden, denkt Benedikt Wurzer. Er dreht sich zur Seite und konzentriert sich ganz auf das Annerl, ihre Kinder und die Freude, sie morgen zu sehen.

3

DIENSTAG, 12. MAI – NACHT

Anna Kreitmayr sitzt in der Küche und stopft die Socken ihres Mannes, der noch beim Stammtisch ist. Die Kinder schlafen. Der Lärm von draußen stört die beiden Kleinen nicht. Lust hätte Anna schon, rauszugehen und zuzuschauen beim Fackelzug für Hindenburg. Die Frau Gschwendtner, die unter ihnen wohnt, hat ihr davon erzählt, dass ganz viele Parteien und Vereine mitmachen und auch die Bevölkerung aufgerufen ist, sich zu beteiligen. »Stellen S’ Ihnen vor, die ziehen vom Kasernplatz in die Stadt, am Dom und am Rathaus vorbei bis zu uns. Und aufm Bismarckplatz, da soll dann eine Serenade mit Ansprache stattfinden.« Ja, ein bisserl was von der Musik hört Anna schon, auch die vielen Stimmen und den Jubel, dafür hat sie eigens das Fenster aufgemacht.

Das wär mal was anderes gewesen, denkt Anna, wenn sie das auch hätte sehen können. Wär der Walter bei den Kindern geblieben, hätte sie rübergehen können zum Bismarckplatz, sind ja nur ein paar Schritte. Oder der Bub von der Vroni, die schräg über ihnen unterm Dach wohnt, der Karl, hätte auf ihre Kinder aufgepasst, die ja sowieso tief und fest schlafen – und sie wär gemeinsam mit ihrem Mann raus zum Zuschauen. Miteinander was machen, so wie früher. Nicht der eine hier und die andere da und nur ein paar Worte gewechselt in der Früh und manchmal noch am Abend.

Mit der Vroni hat sie sich gleich gut verstanden, wie die im Februar eingezogen ist. So ein lebensfroher und fleißiger Mensch, immer hilfsbereit, immer freundlich. Wie sie das allein packt mit dem Buben! Eine Schand ist es, dass ihr der Vermieter oben bloß das Kammerl neben dem Speicher gegeben hat und dafür auch noch Miete nimmt! Aber die Vroni sagt, als einschichtiges Weibsbild mit einem ledigen Kind, da kriegst du nicht so leicht eine gute Bleibe, da wirst du behandelt wie ein Flitscherl. Wenigstens in dem Punkt hat sie der Vermieter in Ruhe gelassen, dem ist es bloß ums Geld gegangen.

Der Walter ist dagegen, dass der Vroni ihr Bub öfter auf ihre Kinder aufpasst. Dabei ist der Karl mit seinen zwölf Jahren schon recht gescheit und verständig. Aber für den Walter ist die Vroni ein unsolides Weibsbild. Dass seine Frau sich mit so einer versteht, das kann er gar nicht haben. Gut, dass er es meistens nicht mitbekommt, denkt Anna. Entweder ist er in der Arbeit oder im Wirtshaus.

Die Kirchturmuhr schlägt schon elf. Vor einer halben Stunde hat sie den Karl im Flur die Treppe raufgehen hören, wahrscheinlich hat er sich den Fackelzug nicht entgehen lassen. Bestimmt freut er sich, wenn er sieht, dass sie ihm ein Brotscherzl auf den Tisch gestellt hat. Der Bub hat immer so viel Hunger, und nicht jeden Tag kann seine Mutter um Mitternacht was vom Wirtshaus mit heimbringen.

Anna ist mit den Socken fertig, nimmt sich eine Näharbeit vor. Allmählich könnte er heimkommen, der Walter, denkt sie. Er muss doch nicht jeden Abend im Wirtshaus bleiben, bis sie zumachen und ihn wegschicken. Wie sehr er sich doch in all den Jahren verändert hat! Mit Wehmut denkt sie an den feschen Burschen, den Freund ihrer beiden Brüder, zurück, den sie noch vor dem Krieg kennengelernt hat. Eisenbahner hat er werden wollen, das ist sein großer Traum gewesen. Als Einziger von den dreien ist er aus dem Krieg heimgekommen, hat sie getröstet, wo es für ihre Eltern keinen Trost mehr gegeben hat. Sie haben geheiratet, und er ist wirklich Eisenbahner geworden. Sie sind deswegen nach Regensburg gegangen, weil man ihm da eine gute Stelle versprochen hat. Und dann, weil es nicht ganz so lief, wie er sich das vorgestellt hat, hat er alles hingeschmissen und arbeitet jetzt als Mechaniker für Automobile und Fahrräder.

Die schöne Wohnung in der Engelburgergasse haben sie vor einem halben Jahr aufgeben müssen. Anna schaut sich in der schlecht beleuchteten Wohnung um, in der sie jetzt leben. Ein Zimmer für die Kinder, eins für sie beide, und die Kuchl. Es zieht, und von Zeit zu Zeit muss sie den Schimmel von der Wand kratzen.

Das Geld kommt nicht mehr so verlässlich herein wie früher. Mal ist es mehr, meistens weniger, und immer öfter trägt der Walter es gleich ins Wirtshaus. Sie könnte was dazuverdienen, immerhin hat sie Näherin gelernt. Er müsste ihr nur eine Singer-Nähmaschine kaufen, vielleicht gebraucht, das wär gar nicht so teuer. Aber der Walter sagt, seine Frau müsse nicht arbeiten, da hat er seinen Stolz. Freilich muss sie arbeiten. Im Haushalt, mit den Kindern, und dass sie ab und an für eine Näherin kleinere Sachen zu Hause erledigt, um etwas eigenes Geld zu haben, hat sie ihm nicht gesagt, weil sie seinen Zorn fürchtet.

Was werden ihre Eltern denken, wenn sie die kleinere und schäbigere Wohnung sehen, in der sie jetzt lebt? Die ganzen schiefen Treppen hinauf fast unters Dach? Wenn es ihr gar zu düster ums Herz ist, so wie jetzt gerade, dann denkt sie an den Zauber der ersten Verliebtheit. Ja, sie haben auch schöne Zeiten gehabt. Ob sie jemals wiederkommen?

Jetzt schlägt’s schon Mitternacht, und der Walter ist immer noch nicht da. Die Vroni kommt normalerweise um diese Zeit heim, das kriegt Anna jeden Abend mit. Das Knarzen der Treppen, und wie die Tür zu ihrem Kammerl quietscht, wenn sie aufschließt …

Anna räumt ihr Nähzeug weg, viel hat sie nicht geschafft. Morgen früh will sie noch was backen, extra zum Besuch der Eltern. Aber jetzt wird sie schlafen gehen. Sie denkt an einen Spruch ihres Vaters, der Kriminaler ist: Wer um diese Zeit nicht schläft, der hat ein schlechtes Gewissen. Sie hofft sehr, dass das nicht für ihren Mann gilt.

4

MITTWOCH, 13. MAI – MORGENGRAUEN

Es ist ein Gefühl, als wär die Welt untergegangen. Und das grad in dem Moment, wo er gedacht hat, dass sein Leben neu anfängt. Wie sie da gehangen hat am Baum auf der Schillerwiese. Es ist schon fast dunkel gewesen, aber er hat sehen können, dass da was ist. Beim Näherkommen hat er erst gedacht, ein paar Kinder hätten sich einen Spaß gemacht und eine Puppe hingehängt. Aber dann, wie er schon fast da gewesen ist, hat er das beunruhigende Gefühl gekriegt, dass er das Muster von dem Kleid kennt. Er ist gerannt, aber zu spät gekommen. Die Vroni, seine Vroni … was für ein grauenvoller Anblick.

Sie hat auf ihn gewartet, er ist nicht rechtzeitig gekommen – und jetzt ist sie tot.

Sosehr ihn der Anblick entsetzt hat, er konnte die Augen nicht von der Gestalt wenden, die da leicht im Wind hin- und hergeschwungen ist. Er hat nicht gewusst, was er tun soll. Sie abnehmen, in seinen Armen halten? Die Polizei rufen? Ja, das schien eine gute Idee zu sein. Denn hier war ein Verbrechen geschehen, da ist er sich ganz sicher. Und das musste rückhaltlos aufgeklärt werden.

Doch dann hat er innegehalten. Er war mit der Vroni verabredet gewesen, er hatte die Leiche gefunden. Würden sie nicht ihn als Allerersten verdächtigen? Man hörte doch immer wieder, dass Unschuldige verurteilt wurden. Wenn er also jetzt das Verbrechen meldete, dann war er der erste und wahrscheinlich auch einzige Verdächtige – und ein Motiv hätten sie auch schnell erfunden.

Er ist ein paar Schritte zurückgewichen, hat dabei auf die Vroni gesehen, weil er es nicht glauben konnte, weil er immer noch gehofft hat, dass es bloß ein böser Traum war. Er trat mit dem Schuh auf etwas, bückte sich, hob es auf. Ein Taschenmesser. Er führte es ganz nah an seine Augen. Soweit er erkennen konnte, war das ein gewöhnliches Taschenmesser, wie er auch eines hatte, wie es viele Leut hatten. Hat der Mörder es im Kampf mit der Vroni verloren? Hat sie sich gewehrt? Hatte sie ihn gekannt? Warum brachte man überhaupt eine so gute Seele wie die Vroni um?

Aus der Ferne hörte er Stimmen. Die Panik erfasste ihn. Er durfte hier nicht gesehen werden. Er musste sich retten, für die Vroni konnte er jetzt nichts mehr tun.

Er warf das gefundene Taschenmesser in die Donau, weil seine Fingerabdrücke drauf waren. Schnell lief er weg, weit weg von der Schillerwiese.

Gustl Gottswinter rennt bis zum Arnulfsplatz und setzt sich dort auf eine Bank. Hier hat die Vroni gewohnt, hierher hat er sie die letzten Abende begleitet. Jetzt ist sie tot.

Gustl will sich eine Zigarette anzünden, aber seine Hände zittern so stark, dass ihm die Streichhölzer zerbrechen, sobald er sie an die Reibefläche legt. Er merkt gar nicht, dass er weint.

Hinlegen kann er sich nicht. Er hat Angst, dass die Bilder immer wieder vor seinen Augen auftauchen. Er schämt sich jetzt, dass er einfach davongelaufen ist, nicht wenigstens der toten Vroni geholfen hat, wenn er sie schon zuvor nicht vor ihrem Mörder hat schützen können. Wäre er doch pünktlich zu ihrer Verabredung gekommen, vielleicht wäre das alles gar nicht passiert!

Er weiß vom Krieg, dass nicht alle schnell sterben, die an einen Baum gehängt werden. Je leichter einer ist, desto länger dauert’s. Wie sie kämpfen, wie sie an der Schlinge ziehen wollen – es ist schon entsetzlich, wenn’s einer von den Feinden ist.

Nur einen kurzen Moment kommt ihm der Gedanke, die Vroni könnte sich das selber angetan haben. Aber das kann nicht sein, sie sind frisch verliebt gewesen und haben doch eine gemeinsame Zukunft vor sich gehabt.

Es ist doch eine glückliche Fügung gewesen, dass er vor zwei Wochen in der Blauen Traube in Reinhausen eingekehrt ist. Eigentlich hat er sich bei einem Metzger dort in der Nähe als Helfer verdingen wollen, bis der Alois sein Versprechen wahrmacht und ihn auf dem Gutshof vom Höllrigl bei Hainsacker unterbringt, wo sein Bruder selber eine schöne Arbeit hat. Aber der Metzger hat einen Gesellen gesucht, der sich schon auskennt mit dem Schlachten und Zerlegen. Also ist es wieder nichts gewesen, nicht einmal für ein paar Wochen. Er hat nur ein Bier in der Blauen Traube trinken wollen – und da hat er sie gesehen. Dem Wirt sind ein paar Gläser vom Tablett gerutscht, und sie ist aus der Kuchl gekommen, um das aufzuwischen. Gustl hat sie beobachtet, und vielleicht hat sie das gemerkt, denn sie hat zu ihm hochgeschaut. Da hat er ihr helfen wollen, aber sie hat nur gelacht und gesagt: »So weit kommt’s noch, dass die Gäste da herin arbeiten müssen.«

Er hat gewartet, bis sie mit ihrer Arbeit fertig gewesen ist, dann hat er sich vorgestellt und ihr angeboten, sie heimzubegleiten. Auf dem Weg zum Arnulfsplatz hat er versucht, mehr über sie zu erfahren.

»Sind S’ schon lange in dem Wirtshaus?«

»Nein, ich hab erst im Februar angefangen.«

»Ich war heut das erste Mal da. Obwohl ich ein Regensburger bin, hat’s mich bisher selten nach Reinhausen verschlagen.«

Sie hat gar nichts dazu gesagt, deshalb hat er einfach weitergeredet. »Wo haben S’ denn vorher gearbeitet, wenn ich das fragen darf?«

»Ich bin auf einem Gutshof in der Nähe gewesen, auch in der Kuchl.«

»Hat’s Ihnen da nimmer gefallen?«

Er hat schon gemerkt, dass sie ihm ausweichend antwortet, aber das ist ihm nicht so wichtig gewesen. Er hat ja in dem Moment schon gewusst, dass er dieses Mädl jetzt jeden Abend abholen wird, bis sie Ja zu ihm sagt. Denn er wollte mit ihr leben, und wenn der zwölfjährige Bub, von dem sie ihm erzählt gehabt hat, dazugehörte, dann sollte es ihm recht sein.

So stolz ist er gewesen, wie er dem Alois von der neuen Bekanntschaft erzählt hat. Erst ist der große Bruder gar nicht so interessiert gewesen, ein Weibsbild wie andere auch, hat er gesagt, und dass der Gustl bittschön nicht gleich ans Heiraten denken soll.