Schizophrenie ist scheiße, Mama! - Janine Berg-Peer - E-Book
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Schizophrenie ist scheiße, Mama! E-Book

Janine Berg-Peer

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Beschreibung

»Ihre Tochter hat Schizophrenie!« Diesen Satz hört Janine Berg-Peer vor 16 Jahren das erste Mal. Von einem Tag auf den nächsten ist nichts in ihrem Leben so wie vorher. Der Kampf einer mutigen und starken Frau um das Wohl ihres Kindes beginnt. Selbstkritisch und mit großer Offenheit beschreibt sie, wie sie gemeinsam mit ihrer Tochter, manchmal auch gegen sie, lernt, mit deren Krankheit umzugehen. »Der Boden hat sich unter mir aufgetan. Schizophrenie? Meine Tochter? Das muss das Ende von unserem Leben sein. Die Unsicherheit über die Entwicklung der Krankheit erfasst alles, was ich tue, was ich denke und wie ich mit anderen Menschen kommuniziere. Es gibt keine Verhaltensanleitung für eine Angehörige. Es gibt kein Vorbild. Was darf ich, was mache ich richtig, was falsch? Darf ich überhaupt ein normales Leben weiterleben? Kann ich mich am Leben freuen?«

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Seitenzahl: 318

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Janine Berg-Peer

»Schizophrenie ist scheiße, Mama!«

Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter

Fischer e-books

1996Ein Anruf, der alles verändert

»Sie müssen Ihre Tochter sofort abholen«, sagt der verärgerte Direktor des Internats in England, in dem Lena seit einem Jahr lebt. »Ihre Tochter hat Drogen genommen, sie benimmt sich unmöglich und hört nicht auf die Lehrer. Und sie raucht, obwohl das streng verboten ist. Sie ist hier untragbar.« Man habe sie am Morgen ins Krankenhaus gebracht, um einen Drogentest machen zu lassen. Nun sei sie unter der Aufsicht einer Krankenschwester in der Krankenstation. Keinen Tag länger könne sie im Internat bleiben. Das sei den anderen Kindern nicht zuzumuten.

Ich bin fassungslos. Besorgt um Lena, aber auch wütend. Was hat sie bloß angestellt? Ich hatte doch gerade den Eindruck, dass es ihr im Internat bessergeht, dass ihr die klaren Strukturen dort guttun. Und ich hatte geglaubt, Lena an einen sicheren Ort gebracht zu haben, an dem sie von ihren kiffenden und Alkohol trinkenden Freunden getrennt ist. Ihre Versetzung war gefährdet, und der Wechsel aufs Internat sollte das Sitzenbleiben verhindern. Außerdem hätte Lena mit einem englischen Schulabschluss bessere Chancen für Studium und Beruf, dachte ich.

Lena war nur unter Tränen nach England gegangen. Anfangs hasste sie das Internat. Sie hatte Probleme mit den anderen Mädchen, sie räumte im gemeinsamen Zimmer nicht auf und wusch ihre Sachen nicht oft genug. Um sie zu trösten, besuchte ich sie, und gemeinsam verbrachten wir schöne Ferien im Süden Englands. Bei unseren letzten Telefonaten klang Lena zufrieden und vergnügt. Sie erzählte, dass sie die beste Schwimmerin sei, dass ihr das Hockeyspielen keinen Spaß mache, aber dass sie in Englisch und Französisch gute Noten habe. Sie habe nun Freundinnen aus Hongkong, und außerdem gebe es einen Jungen, der Marc heiße und schon 19 Jahre alt sei.

Als ich meine Tochter nach England ins Internat schickte, habe ich nicht nur an sie gedacht, sondern auch an mich. Ich wollte ihr eine gute Schulbildung ermöglichen, aber ich wollte auch endlich Ruhe haben vor den pubertätsbedingten Schwierigkeiten, die uns im Jahr davor in Atem gehalten hatten. Wir stritten uns oft, ich war mit meiner neuen Selbständigkeit beschäftigt, und Lenas Schulleistungen litten darunter.

Nach der Trennung von Lenas Vater lebte ich allein mit ihr, ich musste und wollte arbeiten und Geld verdienen. 1995 hatte ich mich als Beraterin selbständig gemacht. Es war aufregend, ein eigenes kleines Büro zu mieten und zum ersten Mal ein eigenes Schild an der Tür anzubringen. Schon vier Monate später bekam ich einen großen Auftrag, der über mehrere Jahre gehen sollte und mich zwang, mehr Mitarbeiter einzustellen. Sechs Monate danach bezog ich ein großes Loft als Büro in Berlin-Mitte. Jetzt arbeite ich begeistert bis zu 16 Stunden am Tag, bin oft vollkommen erschöpft und der glücklichste Mensch auf der Welt. Zum 1. Oktober 1996 habe ich eine herrliche Dachgeschosswohnung mit Terrasse und Blick über Berlin gemietet. Auch Lena soll dort ein schönes Zimmer bekommen. Ich freue mich auf den Umzug.

Der Anruf aus England bringt alle Planungen durcheinander. Lena muss sofort aus dem Internat abgeholt werden, aber wie soll ich das organisieren? Ich habe ein volles Programm und muss am nächsten Tag wegen eines Seminars nach Hamburg fahren. Ich habe Angst um Lena, bin aber auch wütend auf sie. Was ist bloß passiert? Ich rufe im Internat an, und nach langem Hin und Her werde ich zur Krankenstation durchgestellt. Lena freut sich, meine Stimme zu hören. »Bitte hol mich ab, Mama. Hier ist es schrecklich.« Ihre Stimme klingt normal. »Die anderen auf der Krankenstation schreien mich die ganze Zeit an und sind scheußlich zu mir. Sie lachen über mich. Auch die Krankenschwester brüllt mich an und gibt mir nichts zu trinken. Ich habe Durst.« Ich versichere ihr, dass ich sie abholen werde. »Bitte nicht böse sein, Mama, dass ich dir jetzt wieder Sorgen mache.« Sie weint. Wir reden noch eine Weile, und ich verspreche, sie wieder anzurufen und zu sagen, wann ich komme. Dann lege ich auf.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe Angst um Lena, aber auch Angst um meinen Auftrag und die gerade erst eingestellten Mitarbeiter. Ein Fehler – und sofort stehen größere und bekanntere Beratungsfirmen als meine dem Auftraggeber zur Verfügung. Die Konkurrenz ist mörderisch. Ich kann nicht einmal daran denken, den Auftrag abzusagen. Ohne ihn kann ich weder das Loft noch die neue Dachgeschosswohnung bezahlen. Aber ich muss Lena abholen. Langsam beginne ich zu ahnen, dass mein gerade begonnenes glückliches Leben ein Ende hat.

Die Begrüßung im Internat durch den Direktor ist frostig, Lenas Koffer stehen schon gepackt in der Eingangshalle. Sie wirkt müde, freut sich aber, mich zu sehen, und folgt mir wie in Trance zum Flughafen. Auch ich funktioniere seit dem Anruf wie mechanisch. Zu Hause in Berlin versuche ich erst einmal, sie zu beruhigen. Ich mache ihr etwas zu essen, lasse ihr ein Bad einlaufen und beobachte sie heimlich. Ist etwas an ihr merkwürdig? Ich habe keine Erfahrung mit den Auswirkungen von Drogen. Wieder erzählt sie von der schlechten Behandlung in der Krankenstation, den unfreundlichen Mädchen. Mir fällt auf, dass sie etwas albern vor sich hin kichert. Ich versuche, sie auf andere Gedanken zu bringen, aber sie erzählt dieselbe Geschichte immer wieder. Ich tröste sie, bin aber gleichzeitig wütend auf das Internat. Selbst wenn sie Drogen genommen hätte, wäre das doch kein Grund, eine Schülerin so zu behandeln. Nimmt Lena wirklich Drogen? Wie kann ich das herausfinden? Kann ich sie allein lassen?

Ich frage mich, wie es nun weitergehen soll. Für Lena muss ich in Berlin eine neue Schule finden. Im Büro muss ich mich um meine Klienten kümmern und eine Präsentation vor einem wichtigen Gremium vorbereiten. Für die nächste Woche ist der Umzug geplant, und die alte Wohnung muss renoviert werden. Wo soll Lena in dieser Zeit bleiben? Ich wage nicht, sie allein zu lassen. Eine Freundin weigert sich, Lena für ein paar Tage aufzunehmen, sie hat Angst. Lena muss also mit zu mir ins Büro. Meine Mitarbeiterinnen beschäftigen sich freundlich mit ihr und geben ihr kleine Aufgaben. Ein Kollege übernimmt selbständig die Organisation des Umzugs und der Renovierung. Ich versuche, den Seminarbetrieb aufrechtzuerhalten und mich abends um Lena zu kümmern. Ihr Verhalten schwankt zwischen infantilem Lachen und schlechter Laune, wenn ich ihr nicht sofort jeden Wunsch erfülle. Vor Anspannung schlafe ich schlecht, arbeite mehr denn je und habe ständig Angst, dass irgendetwas nicht klappt.

Keine Drogen

Wieder ein Anruf aus England: Der Test ist negativ, Lena hatte also doch keine Drogen genommen. Merkwürdigerweise bin ich nicht erleichtert, sondern noch beunruhigter als nach dem ersten Anruf. Wenn Drogen nicht die Ursache für Lenas seltsames Verhalten sind, was ist dann mit meiner Tochter los? Ich frage den Direktor, warum sie Lena überhaupt verdächtigt hatten, Drogen genommen zu haben, und er berichtet, dass man Lena abends rauchend am Seeufer im Park gefunden habe. Da Rauchen verboten ist, wurde sie von der Lehrerin streng ermahnt, worauf sie merkwürdig reagierte. Sie blieb einfach ruhig sitzen und rauchte weiter, lächelte vor sich hin und wollte nicht zurück in den Schlafsaal. Deshalb wurde Lena zum Drogentest ins Krankenhaus in die nächstgelegene Stadt gebracht und anschließend in die Krankenstation des Internats, um sie von den anderen Kindern zu isolieren. Warum sie auf der Krankenstation von den anderen Schülerinnen und der Schwester so unfreundlich behandelt worden sei, frage ich. Der Direktor ist erstaunt. Lena sei allein in der Krankenstation gewesen, nur die Krankenschwester habe sich freundlich um sie gekümmert. Aber Lena hat doch erzählt …? Warum berichtet sie glaubhaft von Schülerinnen, die sie auslachen, obwohl sie doch alleine dort war? Weshalb behauptet sie, dass die Krankenschwester sie anschreit und ihr nichts zu trinken gibt? Ich habe keinen Grund, an den Aussagen des Direktors zu zweifeln, der jetzt auch besorgt ist und fragt, ob ich nicht doch mit Lena zum Arzt gehen wolle. Ich bin verwirrt und beunruhigt, begreife aber, dass ich dringend etwas unternehmen muss. Ein Arzt muss herausfinden, was mit ihr los ist.

Als Lena und ich bei einer Psychiaterin kurzfristig einen Termin bekommen, ist Letzterer sofort alles klar. Lenas Zustand sei auf ihren früheren Haschischkonsum zurückzuführen, sagt sie nur. Sie ermahnt Lena, auf keinen Fall mehr Drogen zu nehmen. Lena verspricht alles. Ich bin immer noch ahnungslos, welcher Zustand gemeint sein könnte. Weitere Hinweise oder Ratschläge bekommen wir nicht.

Ein neuer Schock: Eine Mitarbeiterin bittet mich in einem vertraulichen Gespräch darum, Lena doch nicht immer so anzuschreien. Das würde meine Tochter sehr belasten. Ich bin fassungslos. Ich soll Lena anschreien? Jeden Abend versuche ich, sie mit Freundlichkeit und warmem Tee zu beruhigen, ihre Lieblingsgerichte zu kochen und sie aufzuheitern. Ich merke ja auch, dass sie extrem nervös ist. Weshalb erzählt sie solche Sachen? Meine Mitarbeiterin guckt mich skeptisch an, und ich spüre, dass sie mir nicht wirklich glaubt.

Wieder scheucht mich ein Anruf auf. »Mami, irgendetwas stimmt mit Lenas Ticket nicht«, sagt meine ältere Tochter Friederike.

»Mit welchem Ticket? Und wo seid ihr überhaupt?«

»Wir sind hier am Flughafen. Lena fliegt doch wieder nach England, und du hast das Ticket hinterlegt. Aber die Frau von der BA sagt, hier sei kein Ticket.«

Ich falle aus allen Wolken. Lena am Flughafen, auf dem Weg nach England? Mein Pulsschlag erhöht sich. »Wieso bist du überhaupt mit ihr am Flughafen?« Friederike hat Lena auf dem Bürgersteig vor dem Haus sitzend neben einem Koffer vorgefunden. Sie müsse zum Flughafen, erzählt sie, habe aber kein Geld für ein Taxi und könne mich telefonisch nicht erreichen. Friederike bietet sich an, ihr zu helfen und sie zum Flughafen zu begleiten. Ich hole tief Luft und bitte Friederike, sich nicht von der Stelle zu rühren, bei Lena zu bleiben und jede Aufregung zu vermeiden. Sie solle ihr sagen, ich käme gleich. Endgültig wird mir klar, dass ich die Hilfe der Psychiatrie in Anspruch nehmen muss. Hier ist etwas nicht mehr normal. Aber was ist, wenn Lena sich weigert mitzukommen? Ich bitte einen Cousin von Lena, mich zu begleiten. Noch nie bin ich, unter Missachtung aller Verkehrsregeln, so schnell zum Flughafen gefahren. Dort treffen wir auf Friederike und eine entspannte Lena, die ruhig im Wartebereich sitzt, Cola trinkt und raucht. Zu meinem Erstaunen steigt sie ohne jeden Widerstand ins Auto. Sie freut sich, ihren Cousin zu sehen, aber sie ist etwas unruhig, und sie fragt noch einmal nach dem Flug. Ich verspreche, dass wir am nächsten Tag nachfragen würden. Während wir ins nächstgelegene psychiatrische Krankenhaus fahren, fällt mir wieder auf, wie albern sie vor sich hin kichert. Im Gegensatz zu mir scheint sie keine Angst vor dem zu haben, was sie erwartet. Sie geht ohne Widerstand in das Gebäude, sieht etwas abwesend, aber entspannt aus. Ob sie noch eine Cola haben könne? Und sie müsse unbedingt noch eine rauchen, bevor wir mit einem Arzt sprechen. Wir warten geduldig mit ihr in der Krankenhauslobby. Wir machen alles mit, solange sie nicht wegläuft oder sich weigert, mit zu den Ärzten zu kommen. Aber Lena folgt uns problemlos zur Anmeldung.

Die Diagnose

Eine freundliche Ärztin empfängt uns, und ich beschreibe ihr vorsichtig, was vorgefallen ist und dass ich sehr besorgt bin. Lena sitzt neben mir. Wie soll ich in ihrer Gegenwart erklären, dass sie sich »verrückt« verhält? Wie wird das auf sie wirken? Frau Dr. B. beginnt, sich mit Lena zu unterhalten, fragt, wie es ihr gehe, wie lange sie in England gewesen sei und ob es ihr dort gefalle. Lena antwortet ruhig, aber etwas fahrig und unkonzentriert. Sie scheint abwesend, will rauchen, kichert und sagt, dass sie schnell ins Internat zurückmüsse, weil sie eine Englischarbeit vor sich habe. Nach kurzer Zeit greift die Ärztin zum Telefonhörer und fragt, ob noch ein Bett frei sei.

»Ihre Tochter hat Schizophrenie«, sagt die Ärztin sachlich. »Aber Sie brauchen keine Schuldgefühle zu haben.«

Der Boden tut sich unter mir auf. Meine Tochter – Schizophrenie? Ist Schizophrenie nicht diese entsetzliche Krankheit, mit der man rasende, gefährliche Menschen assoziiert, die mit abstehenden Haaren und wahnsinnigem Blick ihre Umgebung bedrohen? Stöhnende, lethargische Patienten, die in weißen Kitteln durch die Flure von »Irrenanstalten« schleichen? So wie Jack Nicholson in dem Film »Einer flog übers Kuckucksnest« oder Angelina Jolie in »Durchgeknallt«? Meine 17-jährige Tochter, die kindlich kichert und unverständliche Sätze vor sich hin murmelt, aber sicher für niemanden eine Bedrohung darstellt, soll an Schizophrenie erkrankt sein? Und was soll diese Diagnose mit Schuldgefühlen zu tun haben?

Ich ringe darum, die Diagnose zu begreifen und zu verstehen, dass meine Tochter nun auf die Station einer psychiatrischen Klinik gehen soll. Sie bekommt ein Zimmer zugewiesen, und ich muss sie dortlassen. Aus Filmen und Büchern habe ich entsetzliche Vorstellungen von psychiatrischen Anstalten. Wie wird es dort aussehen? Was wird mit Lena gemacht? Wird sie festgebunden werden? Wie wird der Umgangston dort sein? Darf ich sie begleiten?

»Ihre Tochter kann gleich hierbleiben, auf Station 4 steht ein Bett für sie bereit. Sie können mit ihr nach oben gehen, die Schwester weiß Bescheid. Sie können ihr ja später noch Sachen vorbeibringen.« Die praktischen Handlungsanweisungen der Ärztin bekomme ich kaum mit, ich stehe unter Schock. Dass Lena ein psychisches Problem hat, war irgendwie klar, sonst wäre ich nicht in die Psychiatrie gefahren. Aber niemals hätte ich mit der furchteinflößenden Diagnose Schizophrenie gerechnet. Es fühlt sich an, als ob dies das Ende unseres Lebens ist. Die Schuldgefühle, die ich nicht haben soll, nehme ich gar nicht wahr. Mein Kopf ist leer. Ich bin froh, dass die Ärztin mir erklärt, dass eine Schwester uns nach oben begleiten wird. Lena und ich brauchen jetzt jemanden, der uns sagt, was zu tun ist. Friederike und mein Neffe versprechen zu warten.

»Haben Sie Ihre DAK-Karte mit?«, fragt die Schwester. »Die brauche ich noch. Und dann müssen Sie dieses Formular ausfüllen.« Ich starre sie an. DAK-Karte? Formular? Ich bin unfähig, in diesem Moment über solche Dinge nachzudenken. Die Schwester bemerkt meine Verwirrung und murmelt, dass wir das später nachholen können.

Wir folgen der Schwester in den Fahrstuhl. Was erwartet uns auf der Station? Ich frage mich, ob es Anstaltskleidung gibt, abgeschlossene Flure und Zimmer ohne Fenster. Ob wir von stöhnenden und brüllenden Insassen und muskulösen Wärtern empfangen werden, die bereit sind einzugreifen, wenn jemand sich »verrückt« benimmt. Zu meiner Überraschung lässt sich die Glastür, die den Blick auf einen Flur freigibt, problemlos öffnen. Also keine verschlossenen Türen? Sie bittet uns höflich, im Aufenthaltsraum Platz zu nehmen. Kurz darauf erscheint ein freundlicher junger Mann in Jeans und Kapuzenpulli. »Haben Sie vielleicht Hunger?«, fragt er Lena. »Ich könnte Ihnen noch etwas warm machen.« Lena möchte gerne etwas essen. Ich bin überrascht, der junge Pfleger entspricht nicht meiner Vorstellung. Die Pfleger in Hollywoodfilmen sehen anders aus. Überhaupt ist alles anders, als ich – durch Literatur und Medien beeinflusst – gedacht habe. Niemand brüllt, es gibt keine verschlossenen Türen, und die Patienten werden höflich mit Nachnamen und »Sie« angesprochen. Niemand trägt Anstaltskleidung oder einen Schlafanzug. Lenas Zimmer sieht wie ein normales Krankenhauszimmer aus, nur das Fenster lässt sich nicht öffnen. Eine ältere Frau schläft im zweiten Bett. Es gibt einen großen Ess- und Aufenthaltsraum, in dem die Patienten rauchen können. Vom Gang aus kann ich in einen freundlich eingerichteten Fernsehraum blicken.

Als ich Lena in ihr Zimmer begleite und verspreche, gegen Abend wiederzukommen und ihre Sachen zu bringen, fängt sie an, bitterlich zu weinen. »Du kannst mich doch nicht hierlassen, Mama«, weint sie. »Ich will nicht in eine Irrenanstalt, ich will nicht hierbleiben. Ich will wieder mit dir nach Hause. Ich will wieder nach England ins Internat.« Mir kommen auch die Tränen. Soll ich sie wieder mitnehmen? Aber welche Gefahr besteht für sie, wenn sie wirklich Schizophrenie hat? Was kann passieren, wenn ich sie nicht hierlasse? Was ist jetzt richtig? Nur mit Hilfe der Schwester, die beruhigend auf Lena und mich einredet und mir erklärt, der Arzt käme gleich, kann ich mich von Lena losreißen. Sie bekäme gleich Medikamente, dann würde es ihr bessergehen. Ich weiß nicht mehr, wie ich, begleitet von Lenas Schluchzen und ihren Rufen »Mama, lass mich nicht hier!« über den Flur, durch die Tür und wieder aus dem Krankenhaus komme. Ich bin froh, dass Friederike und Hagen mich nach Hause begleiten und mir helfen, ein paar Sachen für Lena einzupacken.

Als ich wieder ins Krankenhaus komme, liegt sie angezogen im Bett und schläft tief. Ihre langen dunklen Haare sind über das Kopfkissen gebreitet, und ihr Gesicht ist von Tränenspuren und Eyeliner verschmiert. Zwei Stunden sitze ich an ihrem Bett und betrachte meine hübsche Tochter. Sie sieht so friedlich aus. Was geht in ihr vor? Weshalb wacht sie nicht auf, obwohl die andere Patientin lärmend ins Zimmer kommt, in ihren Sachen kramt und die Tür knallend wieder hinausgeht? Ich möchte wissen, was für Medikamente man ihr gegeben hat. Ich möchte mit der Ärztin sprechen und fragen, welche Mittel es gegen Schizophrenie gibt. Ich möchte wissen, ob Lena unter ihrem »merkwürdigen« Verhalten leidet oder ob sie vielleicht Schmerzen hat. Ich fürchte, dass sie mir nie verzeihen wird, dass ich sie hierhergebracht habe, sie habe einsperren lassen. Aber ich weiß auch nicht, was ich anderes hätte tun können.

Auf meine Fragen sagt die Schwester, man habe Lena ein Beruhigungsmittel gegeben, damit sie erst einmal schläft. Alles Weitere könne ich dann im Gespräch mit den Ärzten klären. Nein, heute natürlich nicht mehr, aber morgen. Oder übermorgen, wann genau, könne sie nicht sagen, die Ärzte seien sehr beschäftigt. Ich solle einfach kommen und warten, bis die Ärzte Zeit hätten. Ich solle mir keine Sorgen machen, meine Tochter sei hier gut aufgehoben. Die Schwester ist nicht unfreundlich, scheint aber wenig interessiert, mir wenigstens kurz zu erklären, was hier vor sich geht. Sie verhält sich normal, aber für mich ist es keine normale Situation. Ich soll mir keine Sorgen machen, nachdem unser bisheriges Leben gerade zusammengebrochen ist?

In dieser Nacht kann ich nicht schlafen. Noch immer begreife ich nicht wirklich, was passiert ist. Ich telefoniere mit meinen anderen Kindern, ich rufe eine Freundin an. Alle sind erschüttert und ratlos. Bei anderen Krankheiten würde man sofort gute Ratschläge erhalten, Empfehlungen für Ärzte und aufmunternde Erfahrungsberichte. Aber nicht bei Schizophrenie. Es existiert kein Alltagswissen über Schizophrenie, niemand hat von der Großmutter, Lehrerin oder praktischen Ärzten Tipps bekommen, wie man sich bei einer psychischen Erkrankung verhält. Dabei ist es das, was ich jetzt brauche. Rat, Hilfestellungen, Informationen, Menschen, die meine Fragen beantworten und mir versichern, dass es gute Therapien gegen psychische Krankheiten gibt.

Am nächsten Tag muss ich wieder ein Seminar halten. Kurz überlege ich, ob ich es absagen soll, aber ich habe Angst vor den Konsequenzen. Ich weiß nicht, wie ich das Seminar mit verheulten Augen und innerlich zitternd durchstehen soll, aber es funktioniert überraschend gut. Vielleicht ist es sogar besser, dass ich nicht ständig über Lena nachdenken kann, sondern mich auch noch auf andere Aufgaben konzentrieren muss. Es dauert vier Tage, bis ich ein Gespräch mit einem Stationsarzt führen kann, er ist einfach zu beschäftigt. Ich wundere mich, dass es für die Ärzte nicht wichtig zu sein scheint, mit mir zu sprechen.

 

Meine Besuche in der psychiatrischen Klinik werden zu praktischen Übungen in Durchsetzungsvermögen. Ich lerne, beharrlich oder auch mal unfreundlich zu sein, bis ich einen Arzt dazu bringe, mit mir zu sprechen. Oder eine Schwester dazu zu überreden, mir ein Handtuch für Lena zu geben. Es braucht viel Zeit und Geduld, um auch nur zu erfahren, wann Besuchszeiten sind oder wo ich das Taschengeld für Lena hinterlassen soll. »Ich habe jetzt keine Zeit!«, tönt es aus dem Schwesternzimmer. »Kommen Sie später wieder.« Ich mache die Erfahrung, dass »später« ein äußerst dehnbarer Begriff sein kann. Aber ich brauche doch Informationen über Lenas Zustand, und ich muss mehr über ihre Krankheit wissen.

Das erste Gespräch mit einem Arzt ist dabei wenig hilfreich. »Was wollen Sie denn wissen?«, fragt Dr. C. kurz angebunden und guckt nervös auf seine Armbanduhr. Ich hatte angenommen, dass Ärzte einer Mutter, die ihre Tochter wegen einer psychischen Erkrankung im Krankenhaus lassen muss, gegenüber zugewandter sind. Sie müssten sich doch vorstellen können, dass eine Mutter in so einer Situation genau wissen möchte, was mit ihrem Kind geschieht, und dass sie aufgeregt ist. »Ihre Tochter hat eine ernsthafte psychische Erkrankung, und wir behandeln sie zunächst mit Neuroleptika. Es wird ein paar Tage dauern, bis das anschlägt und wir sagen können, mit welchen Neuroleptika wir weitermachen und in welcher Dosis.« Ich habe noch nie etwas über Neuroleptika gehört. Dr. C. erklärt mir, dass Neuroleptika gegen Erregungszustände bei Schizophrenie eingesetzt werden. Mehr Zeit hat er nicht. Zu Hause lese ich nach, dass Neuroleptika oder auch Antipsychotika dämpfend auf Erregungszustände, aggressives Verhalten sowie psychotisches Erleben wie Sinnestäuschungen, Wahndenken und Ich-Störungen wirken. Neuroleptika blockieren Rezeptoren von Hirnbotenstoffen wie Dopamin, was zu der antipsychotischen Wirkung führt. Für mich ist das alles völlig neu und schwer zu verstehen, ich werde den Ärzten vertrauen müssen.

Wie lange Lena denn im Krankenhaus bleiben müsse, will ich wissen. Das, antwortet Dr. C., könne man nicht sagen. Es könne Wochen, aber auch Monate dauern, da es eine wirklich sehr ernste Erkrankung sei. Sie habe etwas mit der Fehlfunktion von Neurotransmittern zu tun. Ich verstehe nichts von dem, was Dr. C. mir erklärt. Bislang wusste ich nicht einmal, dass es Neurotransmitter gibt. Dennoch bin ich etwas beruhigt, denn wenn die Fehlfunktion der Neurotransmitter durch ein Medikament korrigiert werden kann, scheint es doch eine Heilungschance zu geben. Aber Wochen oder Monate? Ich schaue Dr. C. ungläubig an. Es kann doch nicht sein, dass Lena mehrere Monate im Krankenhaus bleiben muss? Mir laufen Tränen über das Gesicht. Der Arzt betrachtet mich nachdenklich. Damals dachte ich, dass er mich mitleidig ansah. Heute weiß ich, was er dachte: Aha, eine labile Mutter.

Obwohl ich über die Aussicht, dass Lena für Monate im Krankenhaus bleiben soll, entsetzt bin, stelle ich die Aussagen von Dr. C. nicht in Frage. Ich glaube ihm. Ich muss ihm glauben, ich habe ja sonst auch nichts, an das ich mich halten kann. Bei einer so dramatischen Krankheit kann alles, was ich gegen den Rat der Ärzte tue, furchtbare Konsequenzen haben. Ich habe Angst davor, auch nur einen falschen Schritt zu tun. Ich will, dass Lena die beste Behandlung erhält. Ich will sie trösten und ihr so viel Liebe wie möglich geben. Aber ich habe auch Angst, dass meine Tochter wütend wird, weil ich sie ins Krankenhaus gebracht habe. Und Lena wird wütend. Wie schaffe ich es, einerseits den Anordnungen der Ärzte zu folgen und andererseits die Beschuldigungen von Lena auszuhalten, dafür, dass ich sie in eine »Irrenanstalt« eingesperrt habe?

Was ist Schizophrenie?

Ich beginne zu lesen, denn ich muss wissen, um was für eine Krankheit es sich handelt. Vor mir liegen stapelweise Bücher über Schizophrenie, Therapien, Genetik, Jugendpsychosen, Ratgeber für Angehörige psychisch Kranker, Bücher über Antipsychiatrie, die Geschichte der Schizophrenie und der Irrenanstalten. Was ist Schizophrenie, wie entsteht sie, wie wird sie therapiert? Ich lese über unterschiedliche Ansätze bei den Therapien. Kalte Dauerbäder, Insulingaben oder Lobotomien werden heute nicht mehr angewandt, aber Elektroschocktherapie gibt es nach wie vor, sie soll vor allem bei Depressionen hilfreich sein. Ich erfahre, dass es unterschiedliche Klassifizierungssysteme für psychische Störungen gibt, dass die gleichen Symptome in einem Land ein anderes Etikett erhalten können als in einem anderen. Ich lese Berichte von Menschen, die persönliche Erfahrungen mit Schizophrenie gemacht haben, oder von Angehörigen, die miterlebt haben, wie ein Kind, ein Partner oder ein Elternteil mit dieser Krankheit fertig werden muss. Ich erfahre, dass psychische Krankheiten, vor allem Schizophrenie, in Familien, in denen diese Krankheit bereits vorkam, gehäuft auftreten können. Es gibt Wissenschaftler, die sagen, dass es »die« Schizophrenie nicht gibt, sondern vielmehr eine Reihe von Symptomen, die man dem schizophrenen Formenkreis zurechnet. Andere sagen, dass der Begriff Schizophrenie zu negativ belegt oder zu unspezifisch sei, so dass man den Namen in neuro-cognitive disorder ändern sollte. Es gibt Stimmen, die postulieren, dass es keine psychischen Erkrankungen gibt, sondern nur Menschen mit »anderen« Lebensformen und Erfahrungswelten, die mit dem Etikett »psychisch krank« aus der Gesellschaft ausgesondert und durch Medikamente ruhiggestellt werden sollen. Ganz besonders beunruhigen mich Berichte von Betroffenen, die über eine gleichgültige bis gewalttätige Behandlung durch Ärzte und Krankenhäuser berichten. Es ist verunsichernd, all diese Definitionen und unterschiedlichen Meinungen zu lesen. Welche von diesen Informationen sind glaubwürdig, und vor allem: Welche sind wichtig für mich und Lena?

 

Weiß ich nun, was Schizophrenie ist? Ich kann Symptomen einen Namen geben, ich weiß, dass es Halluzinationen, Stimmenhören, Manien und Depressionen gibt. Ich weiß, dass Denken und Fühlen bei Menschen mit Schizophrenie gestört sind. Aber ich weiß nicht, was das heißt und wie sich das anfühlt. Was geht in einem Menschen vor, der Wahnvorstellungen hat? Was genau bedeutet es, an kognitiven Störungen zu leiden? Der Psychiater Fritz Simon weist in seinem Buch Meine Psychose, mein Fahrrad und ich darauf hin, dass es etwas anderes ist, Verrücktheit zu erleben, als darüber zu lesen. Es sei wie der Unterschied zwischen einer Speisekarte und dem Essen. Wer eine Speisekarte verzehrt, fügt er hinzu, sei verrückt.

Ich stelle mir vor, wie schwierig es für Erkrankte sein muss, von Menschen umgeben zu sein, die nicht nachempfinden können, was sie selbst fühlen. Es muss einsam machen.

Dass Lena krank ist, lässt sich einfach nicht leugnen. Soll ich jetzt allen Ärzten misstrauen? Muss ich Lena verbieten, die verordneten Medikamente zu nehmen, aus Angst, dass sie schädlich für sie sind? Ich wollte etwas über psychische Krankheiten wissen, weil ich gehofft hatte, dass mir das – ein wenig – die Angst nimmt, aber meine neuen Erkenntnisse werfen neue Fragen auf, statt mich zu beruhigen.

Lena – unser Glückskind

Karim und ich waren lange Jahre sehr glücklich miteinander. In meiner zweiten Ehe fand ich die Geborgenheit und die gegenseitige Unterstützung, die ich mir immer gewünscht hatte. Wir hatten viele Freunde, studierten und arbeiteten gemeinsam und schauten zuversichtlich in die Zukunft. Lena war ein Wunschkind, auf das wir uns vom ersten Tag an gefreut haben. Die Schwangerschaft verlief problemlos, mir ging es gut. Ihre Geburt fand zu Hause statt und war ein Fest mit Freunden. Karim lief beruhigend durch die Wohnung und kochte für alle indischen Tee. Als Lena auf der Welt war, wurde sie mit Sekt und Pizza gefeiert, und wir waren glücklich. Sie war als Baby nicht schwierig, sondern freundlich, lachte viel und trank gut. Lena war unser Sonnenschein. Später blieben Menschen entzückt auf der Straße stehen und streichelten über ihr hüftlanges dunkles Haar. Im Kindergarten wurde sie von allen geliebt, und sie schloss schnell Freundschaften, die bis zum heutigen Tag anhalten. Sie war diejenige, die jedes weinende Kind tröstete, sie schlichtete Streit und bezog Kinder, die am Rande standen, in die Spiele mit ein. Wir hatten viele Freunde, bei deren Kindern Lena übernachtete, und ihre Freundinnen übernachteten bei uns. Die große Schwester liebte ihre kleine Schwester, trug sie in einem Pappkarton durch die Wohnung und setzte sie darin unter ihren Schreibtisch, wenn sie Schulaufgaben machte.

War Lena als kleines Kind nicht glücklich? Heute frage ich mich, ob unser Glück nur eine Täuschung war, ob ich mir etwas vorgemacht habe und irgendwelche Anzeichen nicht sehen wollte. Ich grübele darüber nach, welche Krankheiten Lena als kleines Kind hatte. Eine Woche nach ihrer Geburt wurde in einer orthopädischen Klinik festgestellt, dass ihre Hüftgelenke etwas rigide seien. Das sei nicht schlimm, wurde ich getröstet, aber präventiv solle sie intensives Bobath-Turnen machen. Die Bobath-Therapie geht davon aus, dass unser Gehirn eine »Umorganisationsfähigkeit« besitzt, dass gesunde Hirnregionen Funktionen der erkrankten Hirnregionen übernehmen können. Durch abgestimmte Bewegungen können die betroffenen Hirnregionen wieder aktiviert werden. Bei Lena muss das besonders gut gelungen sein. Die Physiotherapeutin legte das kleine braune Körperchen mit den dicken dunklen Haaren sanft auf den riesigen Gymnastikball, und reflexartig hob Lena ihr Köpfchen. Bobath-Turnen ist für ein vier Wochen altes Baby Hochleistungssport, erklärte mir die Therapeutin. Ein Jahr lang ging Karim vier Tage die Woche mit Lena zum Bobath-Turnen, und sie entwickelte sich gut. Diesem frühen intensiven Training ist es zu verdanken, dass Lena später beim Schwimmen und beim Fechten eine unglaubliche Kondition hatte.

 

Als Lena anderthalb Jahre alt war, wurde sie wieder krank und bekam eine Fazialisparese, eine Gesichtslähmung. Niemand konnte uns sagen, woher diese plötzliche Lähmung des Gesichtsnervs kam. Es gab einen Verdacht auf Hirnhautentzündung, der sich aber als unbegründet erwies. Etwa ein halbes Jahr später verschwand die Lähmung so spontan, wie sie erschienen war. Kann es einen Zusammenhang geben mit diesen schweren Erkrankungen in Lenas früher Kindheit und der späteren Psychose? Ich frage mich, ob es falsch gewesen war, eine Hausgeburt zu machen, obwohl eine sehr erfahrene Lehrhebamme mich begleitete. Vermutlich hätte ich frühzeitig einen Kinderpsychiater konsultieren sollen. Wenn in der Familie bereits psychische Erkrankungen vorkamen, dann kann man von einer Krankheitsdisposition sprechen, und je früher man eine Krankheit erkennt, desto besser kann man etwas dagegen tun. Mit einem hochsensiblen oder vulnerablen – verletzlichen – Kind muss und kann man anders umgehen als mit einem Kind ohne diese Belastung.

 

In der Grundschule war Lena schüchtern, und ihre Noten waren durchschnittlich. Eine Knospe, die sich erst noch öffnen muss, wie es ihre sanftmütige Lehrerin in der ersten Klasse in ihre Beurteilung schrieb. Hätte mir das zu denken geben müssen? Oft war ihr Interesse an einem Fach und ihre Begeisterung dafür abhängig davon, ob sie die Lehrerin als freundlich empfand oder nicht. Nach der 6. Klasse sagte mir die Lehrerin, dass Lena zwar auf das Gymnasium gehen könne, dass sie aber ihrer Schüchternheit und ihrer Kreativität wegen eher die nahe gelegene Realschule mit stark musischer Ausrichtung empfehlen würde. Leider betrachtete ich diese Empfehlung nicht als Option. Natürlich wollte ich, dass meine Tochter aufs Gymnasium geht. Wäre es besser für sie gewesen, wenn ich der Empfehlung der Lehrerin gefolgt wäre?

 

Zu Beginn lief es gut auf dem Gymnasium. Lena fand Freunde, und sie hatte Lieblingslehrerinnen, für deren Fächer sie gern lernte. Und sie ging regelmäßig zum Fechttraining. Im Alter von sieben Jahren hatte sie mit dem Fechten begonnen. Sie nahm an Wettkämpfen teil, trug eine Medaille nach der anderen nach Hause und freute sich auf jeden Trainingstermin. Ihr polnischer Trainer hatte die Gabe, seine Jungen und Mädchen zu begeistern. Sie fuhren zu Freundschaftsspielen in ganz Deutschland, zu Entscheidungskämpfen nach Polen, und sie fochten den Sommer über in einem Trainingslager in Tauberbischofsheim beim Bundestrainer. Lena war beliebt im Verein. »Unser Klassenclown«, nannte der Trainer sie liebevoll. Ich sehe immer noch vor mir, wie Lena nach gewonnenem Kampf strahlend auf mich zuläuft, ihre Maske vom Kopf reißt, ihr rotes, verschwitztes Gesicht hervorkommt und die langen dunklen Haare über die weiße Fechtmontur fallen. Wieder hat sie gewonnen! »Merde, Lena encore! – Mist, schon wieder Lena!«, schimpften die kleinen Französinnen, wenn sie Lena als Turnier-Gegnerin hatten. Nach jedem ihrer Siege rannte Lena auf die Verliererin zu, umarmte und tröstete sie.

Es war eine schöne Zeit. Lena hatte eine Gruppe, zu der sie gehörte, die Trainer waren streng, aber liebevoll, und sie hatte Erfolg.

Nach der Wende wurden die Fechtvereine zwischen Ost und West aufgeteilt, und nun musste Lenas Gruppe zum Training in das ehemalige DDR-Kader-Trainingszentrum fahren. Die dortigen Trainer hatten bereits DDR-Fechtkadern zu großen Erfolgen verholfen, aber ihr militärischer Ton und der Drill waren für unsere Jugendlichen ungewohnt. »Sie dürfen Ihre Tochter nicht trösten, wenn sie verliert«, schnauzte mich der neue Trainer an. »Sagen Sie nicht, dass es nichts macht, wenn sie verloren hat. Natürlich macht es etwas. Sie muss einen Killerinstinkt entwickeln!« Lena hatte eindeutig keinen Killerinstinkt, und die anderen Kinder der ehemaligen Gruppe wohl auch nicht. Viele der Jugendlichen aus dem Westen hörten mit dem Fechten auf. Schade, Lena hatte sieben Jahre lang große Freude an diesem Sport.

 

Ich weiß nicht, ob es einen Zusammenhang zwischen Lenas Leistungen in der Schule und dem Wegfall des Fechttrainings gibt – vorher hat sie dreimal wöchentlich trainiert und an fast allen Wochenenden an Turnieren teilgenommen. Auf jeden Fall werden danach ihre Schulnoten ständig schlechter. Lena bekommt in ihrer Klasse Probleme mit einer Mädchenclique und fühlt sich ausgegrenzt. Sie ist unglücklich, bleibt sitzen. Ich gehe zu den Lehrern, versuche, gut Wetter zu machen und um Verständnis für Lenas Schüchternheit und Probleme zu werben. Sie bekommt Nachhilfeunterricht. Wenn der Nachhilfelehrer kommt, telefoniert sie stundenlang mit ihren Freundinnen und beachtet ihn nicht. Ich bin wütend. Wenn wir mit Freunden beim Essen sitzen, fällt sie uns ins Wort und redet plötzlich über völlig andere Themen, die nicht im Entferntesten etwas mit unserem Gespräch zu tun haben. Ich spreche mit ihr darüber und bitte sie, nicht so unhöflich zu sein. Sie ist verwirrt und weiß nicht, wovon ich rede.

Es ist schwierig, sie morgens aus dem Bett zu holen. Jede Kleinigkeit regt sie auf. Fast jeden Morgen schreit und tobt sie durch die Wohnung, weil sie ihre Sachen nicht findet. »Wo ist meine Bürste?«, tönt es lautstark aus dem Bad. Ich höre Gegenstände zu Boden fallen. »Du hast meine Bürste weggenommen, Mama. Ich weiß genau, dass ich sie gestern auf das Fensterbrett gelegt habe.«

»Ich habe sie nicht genommen, Lena. Guck doch noch mal genau, du weißt doch, dass …« Wütendes Geschrei. »Nein, ich weiß genau …« Irgendwann findet sie die Bürste. Für mich ist der Morgen verdorben. Aber Lena hat ihren Ausbruch sofort vergessen und gibt mir fröhlich einen Abschiedskuss.

 

In dieser Zeit sind Lenas Freunde häufig bei uns, sie kochen gemeinsam und übernachten in unserer Wohnung. Immer ist Lena der Mittelpunkt, der Boss. Sie bestimmt, wer die Zwiebeln schneidet und wer den Tisch deckt, und nur sie selbst darf die Sauce abschmecken. Sie ist beliebt. Es sind nette Jugendliche, ich kenne sie und ihre Eltern schon seit langem und freue mich, dass Lena so viele soziale Kontakte hat. Leider hilft Lenas Clique der guten Stimmung mit Kiffen und später auch mit Alkohol nach. Ich hätte es bemerken müssen, aber vielleicht war ich zu sehr mit meinen beruflichen Herausforderungen beschäftigt. Die Situation in der Schule verschlechtert sich ständig, und es zeichnet sich ab, dass Lena die mittlere Reife nicht schaffen wird. Ich mache mir Sorgen um ihre schulische Zukunft und suche nach Möglichkeiten, Lena dennoch eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Aber ohne mittlere Reife sind ihre Chancen in Deutschland begrenzt. Und so komme ich auf die Idee, ein Internat in England zu suchen. Es ist nicht einfach, Lena von einem Schulwechsel zu überzeugen, vor allem schmerzt sie der Verlust ihrer Freunde, aber letztlich bleibt ihr nichts anderes übrig. Am Flughafen Tegel erscheint ein Pulk Jugendlicher mit Luftballons, der einer tränenüberströmten Lena zum Abschied winkt. Und ich habe ein schlechtes Gewissen.

1997Kontaktdiät in der Jugendpsychiatrie

Vierzehn Tage nach Lenas Krankenhauseinweisung entscheiden die Ärzte, dass sie in die Jugendpsychiatrie verlegt werden muss. Sie entscheiden, ich werde nicht gefragt. Dr. C. bittet mich zu einem Gespräch. »Wir haben entschieden, dass Lena in die Jugendpsychiatrie gehört. Die nächsten vier Wochen dürfen Sie keinen Kontakt zu Ihrer Tochter haben, Lena soll jetzt zur Ruhe kommen. Sie muss eine Zeitlang vor familiären Einflüssen geschützt werden. Sie dürfen sie weder besuchen noch sie anrufen oder ihr schreiben. Sie braucht eine optimale Umgebung. In der Jugendpsychiatrie wird man sich sehr gut um sie kümmern.« Das nennt man Kontaktdiät, lerne ich später. Ich bin keine optimale Umgebung für meine Tochter? Leider glaube ich das sofort. Die Ärzte wirken so ernst und überzeugt, sie machen sich wirklich Sorgen um Lena. Wenn sie sagen, dass ich den Heilungsprozess störe, kann ich mich dem doch nicht entziehen. Aber trotzdem bin ich unglücklich. »Wieso soll ich vier Wochen lang Lena nicht besuchen und sie nicht mal anrufen? Sie freut sich doch jedes Mal, wenn ich komme. Ich kann sie doch nicht im Stich lassen, sie ist ohnehin schon wütend auf mich, weil ich sie in die ›Irrenanstalt‹ gebracht habe, und jetzt darf sie doch nicht das Gefühl bekommen, dass ich mich gar nicht mehr um sie kümmere.« Dr. C. guckt mich nachdenklich an. »Es ist uns aufgefallen, dass Sie eine sehr symbiotische Beziehung zu Lena haben, und das ist für psychotische Menschen gar nicht gut. Jedes Mal, wenn Sie kommen, umarmen Lena und Sie sich und küssen sich. Das ist doch für eine normale Mutter-Tochter-Beziehung ungewöhnlich.« Ungewöhnlich? Ich bin erstaunt. Natürlich umarmen und küssen wir uns. Wie sollten wir uns denn sonst begrüßen? »Ich kenne das in unserer Familie gar nicht anders, wir küssen und umarmen uns immer. Meine Mutter als Französin hätte es sehr merkwürdig gefunden, wenn wir ihr nur die Hand geschüttelt hätten.« Ich ernte einen ernsten Blick. »Haben Sie nicht erzählt, dass auch Ihre Mutter manisch-depressiv war?« Das stimmt. Ich werde unsicher. Hat sich die Veranlagung zur psychischen Erkrankung in unserer Familie schon durch derartige Rituale gezeigt? War das Umarmen und Küssen ein Krankheitssymptom? Zum ersten Mal wird mir bewusst, dass in der Psychiatrie nicht nur die Patienten beobachtet und diagnostiziert werden, sondern ich als Mutter ebenfalls. Und dass kulturgeprägte Vorstellungen des Arztes über richtiges und falsches Verhalten in das Urteil mit eingehen. In meiner jetzigen Situation scheue ich davor zurück, Dr. C. zu widersprechen. Wenn ich ihn verstimme, verübelt er Lena vielleicht diese Mutter und behandelt sie weniger freundlich. Aber wenn ich diesen blassen, ernsten Mann mit den dünnen Lippen betrachte, denke ich mir, dass ihm ein paar Umarmungen und Küsse in seiner Jugend vielleicht ganz gutgetan hätten.

Beim nächsten Besuch gehe ich mit ausgestrecktem Arm auf Lena zu und reiche ihr die Hand. »Mama, was ist los? Bist du böse auf mich?« Lena ist verwirrt. Ich schließe sie in die Arme – allen negativen Auswirkungen symbiotischer Mutter-Kind-Beziehungen zum Trotz. Vielleicht kann eine »gesunde« Distanz zum eigenen Kind auch dann aufrechterhalten bleiben, wenn man sich bei der Begrüßung in den Arm nimmt.

 

Nach vier Wochen darf ich Lena zum ersten Mal besuchen. Ich muss klingeln, um mir die Tür aufschließen zu lassen. Freundlich werde ich nicht empfangen, sondern mit argwöhnischem Blick gemustert. Was ich wolle? Meine Tochter Lena besuchen, erwidere ich höflich. Ich muss vorsichtig sein, denn falls ich mich nicht als optimale Umwelt erweise, wird mir vielleicht der Kontakt zu Lena wieder verboten.