Wer früher plant, ist nicht gleich tot - Janine Berg-Peer - E-Book

Wer früher plant, ist nicht gleich tot E-Book

Janine Berg-Peer

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Beschreibung

Die Kunst, gelassen alt zu werden

Das Alter trifft viele Menschen immer noch völlig unvorbereitet. Janine Berg-Peer (74) will nicht warten, bis es zu spät ist. Mit Witz und Schwung macht sie vor, was getan werden muss: Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht, Testament, Rollator oder Fritzstock? Sie kämpft mit Ärzten und ärgert sich über Hürden, die alten Menschen in den Weg gelegt werden, prüft Wohnmöglichkeiten: Mehrgenerationenhaus, Alten-WG oder lieber Demenzdorf? Entrümpeln mit Methode, aber mit welcher? Und was passiert eigentlich im Sarg-Club? »Jetzt denken wir den Tod mal vom Ende her« ist die Devise der einstigen Unternehmensberaterin. Je mehr sie sich kundig macht, desto geringer wird ihre Angst vor den letzten Jahren.

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Seitenzahl: 341

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Buch

Janine Berg-Peer ist über siebzig und dem Gedanken, dass ihr Leben endlich ist, begegnet sie mit Neugierde, entwaffnender Selbstironie und Entschlossenheit. Höchste Zeit, die Dinge zu regeln, bevor es zu spät ist: die Wohnung von allem Unnötigen befreien, Unterlagen ordnen und mit den Kindern über letzte Wünsche sprechen, damit sie nach ihrem Tod nicht mit schwierigen Entscheidungen allein zurückbleiben. Janine Berg-Peer prüft passende Wohnformen für ihre letzten Jahre, kämpft sich durch das Gesundheitssystem, findet einen persönlichen Bestatter und entwirft ihre Bestattungschoreographie. Ihr Buch spendet Trost, macht Mut und zeigt, dass man gar nicht früh genug beginnen kann, an die letzten Jahre zu denken, um sie entspannt zu genießen.

Autorin

Janine Berg-Peer, geboren 1944, ist Mutter von vier Kindern mit drei Enkeln und einem Urenkelkind und lebt zusammen mit zwei Katern. Bevor sie sich auf das Coaching von Angehörigen von psychisch Erkrankten konzentrierte, war sie als Unternehmensberaterin tätig. Heute bietet sie Vorträge und Workshops zum Thema Alter an.

Janine Berg-Peer

WERFRÜHERPLANT, ISTNICHTGLEICHTOT

Meine Vorbereitung auf ein entspanntes Leben im Alter

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Originalausgabe April 2020Copyright © 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagfoto: privatRedaktion: Antje SteinhäuserSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenKF · Herstellung: kwISBN: 978-3-641-25065-2V001www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

»Liebe Omama, sei nicht traurig, wir werden alle alt.«

Mein Enkelsohn Gero mit elf Jahren

Inhalt

1. »Neu ist das alles nicht mehr!«

So weit ist es jetzt – Ich bin alt

Mittagsschläfchen und Greifstock

Gesundheitstipps aus der Apotheken Umschau

Der Schock sitzt tief

Früher war alles besser

Ich habe keine Zukunft mehr

Mein letzter Plan

2. »Da sind doch nur alte Leute!«

Altersdiskriminierung – und niemand beschwert sich?

Die tolle Oma liest lieber ein gutes Buch

Kein Aufschrei wegen Altersdiskriminierung

Essen ist der Sex des Alters?

Wir sind Oma!

Oma benutzt Skype – süß!

Die coole Oma

Pfeifen sie noch oder pfeifen sie nicht mehr?

Statt Schönheit: Authentizität und Charisma

Nur Ausnahmealte sind gute Alte

Meine Empfehlung

3. Erfolgreich und kostengünstig altern

Was haben Sie denn bloß mit Ihrem Körper gemacht?

Nie wieder Krankenhaus!

Gemüse und Optimismus

Ich bin gesund genug

Ich kenne einen großartigen Osteopathen

Mein innerer Schweinehund will sich nicht überwinden

Sterben wir jetzt alle an Einsamkeit?

Armut und Schicksalsschläge machen einsam

Erfolgreich altern als Lebensaufgabe?

Blaue Zonen oder der Zwang, glücklich zu altern

Erfolgreiches Altern – ökonomisch sinnvoll?

Meine Empfehlung

4. »Mami, ich will nicht, dass du stirbst!«

Überalterung und Pflegenotstand!

Mutter, wann stirbst du endlich?

Wir schulden unseren Eltern nichts?

»Ich kann dich nicht waschen!«

Bring mich nie in ein Heim!

Zu große Nähe kann schwierig werden

Wenn wir alten Eltern »schwierig« werden

»Meine Kinder müssen finanziell nicht für mich sorgen!«

»Bitte schreib alles genau auf«

Wer wird mich denn nun pflegen?

Vor der Pflege kommt der Kampf um den Pflegegrad

»Jetzt hören Sie mir doch erst mal zu!«

Der Kampf um die Schwerbehinderung

»Was, Sie haben Pflegegrad 5? Toll!«

Das neue Vorsorgemodell: Unser Lebens-Bonusheft

Meine Empfehlung

5. »Das hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen!«

Wo gibt es Hilfe für mich?

Welcher Fritzstock steht mir zu?

Hilfsmittel sind unser ästhetischer Tod

Die maßgefertigte Zumutung

Jetzt auch noch ein Rollator!

Augen auf bei der Wahl der Krankenkasse

Meine Rechte als Patientin

Es darf niemals bequem sein

Was die Krankenkasse nicht zahlt

Rollator-Training bei der BVG

Sockenanziehhilfe und Badewannenlift

Meine Empfehlung

6. Nicht einfach mit dem Alterswohnsitz

Pflegeheime – ein Milliardengeschäft

Ein Häuschen am Meer in Pondicherry

Reise durch Berliner Seniorenresidenzen

Alters-Wohngemeinschaft mit Prinzipien

Alterswohnen à la carte? – Ein frommer Wunsch

Kulturvorträge und Leipziger Allerlei

Auszug und Umzug sind viel zu teuer!

Die graue Wohnungsnot für uns Alte

Die schönen Alters-Modelle gut situierter Ruheständler

Ab sechzig wird es höchste Zeit!

Meine Alten-WG über den Flur

Meine Empfehlung

7. »Sie sind doch kein Demenztyp!«

»Wissen Sie, welcher Tag heute ist?«

Was kann ich jetzt noch gegen Demenz tun?

Welches Demenzheim für mich?

»Auf Wiedersehen, gnädige Frau!«

»Dumme Pute!«

Bitte keine gut gemeinte Bespaßung!

Brief an meine Pflegerin oder Biografie im Passformat

Die ultimative Prävention: Champagner gegen Demenz

Meine Empfehlung

8. Mein Wille geschehe

Wie muss eine Patientenverfügung aussehen?

Wann gilt die Patientenverfügung?

Die Familie einbinden

Wo sollte die Verfügung aufbewahrt sein?

Erstinformation für Ärzte oder Rettungssanitäter

Vorsorgevollmacht – Betreuungsverfügung – Bankvollmacht

Das Testament

Was muss unmittelbar nach meinem Tod getan werden?

Wo um alles in der Welt ist der Mietvertrag?

Mein digitales Erbe

Meine Empfehlung

9. Wer will das 24-teilige Service mit Goldrand?

Death Cleaning nach Frau Magnusson

Nicht Aufräumen – Abschied nehmen!

Vor dem Tod noch eine Freude machen

Tupperparty oder Internet-Trödelmarkt?

Und die Liebesbriefe?

Was wird mit meinen Büchern?

Meine Empfehlung

10. Friedhof, Charité oder Diamant?

»Ich stelle mir den Tod erholsam vor«

Schnell und schmerzlos sterben?

Bekomme ich einen Platz in einem Hospiz?

Meine Lebensverfügung

Finde ich Ärzte, denen ich vertrauen kann?

Der neue Trend: Erfolgreich sterben

Kann ich mich auf mein Lebensende vorbereiten?

Friedhof, Charité oder Diamant?

Sarg-Club, Liquid DNA oder Urnen-Saatbombe?

Oder doch eine Feuerbestattung?

Bestattungsgesetze verhindern die Wunschbestattung

Und welcher Friedhof?

Hipsterisierung der Bestattung?

Die virtuelle Bestattung oder R. I. P. – Rest in Pixeln

Meine persönliche Bestattungs-Choreografie

Eine »Ende-des-Lebens-Tour«?

Meine Empfehlung

Nachwort

Danksagung

1. »Neu ist das alles nicht mehr!«

Neu ist das alles nicht mehr«, sagt der Orthopäde mit kritischem Blick auf die Röntgenbilder meines linken Fußes. »Viele Optionen haben wir da nicht.«

Wir? Er lehnt sich entspannt zurück. Für ein neues Sprunggelenk sei es jetzt zu spät. Es gäbe nichts mehr, woran er das neue Sprunggelenk befestigen könne. »Im Prinzip sind gelenkerhaltende Operationen kein Problem. Hüfte ist das Einfachste, das macht inzwischen meistens der Pförtner.« Er lacht fröhlich. »Das war natürlich nicht ernst gemeint«, fügt er hinzu, als er merkt, dass sein Witz bei mir nicht wirklich ankommt. »Knie ist schon ein bisschen heikler, vor allem bei älteren Leuten.« So wie Sie, sagt sein Blick. »Aber meistens funktioniert es«, beeilt er sich hinterherzuschicken, als er mein entsetztes Gesicht sieht. »Danach ein bisschen Reha, intensiv üben und bewegen, dann wird das in den meisten Fällen wieder.«

»Sie haben eben gesagt, beim Knie sei es mit ein bisschen Reha nach ein paar Wochen wieder in Ordnung?«, frage ich besorgt. »Und was ist nun mit meinem Fußgelenk? Es gibt doch die Möglichkeit, ein künstliches Fußgelenk einzusetzen, oder?«

Er runzelt die Stirn. »Ja, aber ein Fußgelenk ist schon eine ganz andere Geschichte. Ein neues Fußgelenk geht bei Ihnen nicht mehr, das sagte ich bereits. Das obere Fußgelenk ist kaputt, das untere auch. Bei Ihnen könnten wir nur versteifen«, fährt er fort.

Versteifen klingt furchtbar, aber ich hatte mich schon im Internet intensiv über diese Prozedur schlaugemacht. Das scheint kein so ganz großes Problem zu sein. Auch junge Leute lassen das machen, erzählt ein vergnügter junger Mann in Sportkleidung im Fußversteifungs-Video. »Ich kann auch wieder jeden Sport treiben. Ich jogge jeden Tag zehn Kilometer und mache auch andere Sportarten.« Das klingt gut. »Nur mit dem Skateboarden geht es nicht mehr so richtig«, sagt der junge Mann im Video mit leichtem Bedauern. Ich könnte auf das Skateboarden nach der Versteifung gut verzichten, zumal ich nie damit angefangen habe.

Das mit dem Versteifen könne er natürlich machen, fährt der Orthopäde fort, »aber«, er macht eine Pause, »wenn ich das mal so sagen darf, Sie sind ja auch nicht mehr die Jüngste, das ist eine ziemlich aufwendige Prozedur. Hinterher müssen Sie mehrere Monate im Rollstuhl sitzen. Danach erst mal Reha und dann langsam, langsam wieder das Gehen üben. Ich sage Ihnen ganz ehrlich, die meisten in Ihrem Alter werden mit so einer Fußgelenkversteifung nicht richtig froh.«

Der Fußspezialist greift nach dem Fußskelett auf seinem Schreibtisch und hebt an zu längeren Ausführungen über die Feinheiten der Fußgelenkchirurgie. Das hat er schon oft erzählt, merkt man, und ich habe den Eindruck, dass er wirklich gern über Fußgelenke spricht. Sie liegen ihm am Herzen. Er holt tief Luft und beginnt, mir minutiös zu erklären, wie diese Operation vor sich geht. Ich unterbreche ihn schnell. Vielen Dank, aber ich habe mir bereits Videos über Fußgelenkversteifungen im Internet angesehen, lasse ich ihn wissen. Entsetzlich, wenn man sieht, welchen riesigen Bohrer der Orthopäde benutzt und wie er sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Patienten stützt, um die Schrauben fest anzuziehen. Mit dem angewiderten Gesicht, das Ärzte immer dann bekommen, wenn unmündige, alte Patienten sich im Internet Informationen geholt haben, wehrt er das ab. »Ach Gott, das Internet, da bekommen Sie doch nie fundierte Informationen. Das macht Sie nur verrückt, das lassen Sie lieber mal.« Ich will mich nicht mit ihm streiten, obwohl ich ihn darauf hinweisen könnte, dass das von mir angesehene Video vom Chefarzt einer renommierten Universitätsklinik stammt.

Aber dann kommt er endlich zum Schlimmsten. Nicht die Operation sei das Problem, sondern die Nachbehandlung. »Hinterher sitzen Sie mindestens drei Monate im Rollstuhl, in vielen Fällen eher sechs bis neun Monate, danach muss man sehen, wie es verheilt. Dann stationäre Reha für ein paar Wochen, dann weiter ambulante Reha. Aber Sie müssen wissen, dass es – vor allem in Ihrem Alter, wenn ich das mal sagen darf – (ich bringe ihn um, wenn er noch ein einziges Mal ›Wenn ich das mal sagen darf‹ sagt) manchmal mit der Fußgelenkoperation nicht optimal klappt und es muss nachoperiert werden. Aber machen kann man alles.« Er guckt mich erwartungsvoll an. Vermutlich wartet er auf meinen Startschuss zur Operation. Als der nicht kommt, weil ich diese schrecklichen Nachrichten erst mal verdauen muss, ist sein ärztliches Interesse an mir erloschen. Er hat keine Informationen mehr, die er mir anbieten könnte, nachdem ich seine Fußgelenkerklärung abgelehnt habe und noch nicht bereit zu sein scheine für eine Operation.

Aber ich gebe noch nicht auf. Was er mir denn empfehlen könne, ich kann doch nicht dauerhaft so gehbehindert sein?

Er könne mir einen orthopädischen Maßschuh verschreiben, mit dem würde das Gehen dann viel leichter. Orthopädischer Maßschuh?

»So ein Klumpfußschuh?«, frage ich entsetzt. Okay, das ist jetzt politisch nicht korrekt, aber das ist das Erste, was mir spontan dazu einfällt.

Der nette Orthopäde kichert, er findet es gut, dass ich nicht politisch korrekt bin. »Ein orthopädischer Maßschuh klingt erst einmal nicht gut«, räumt er ein. »Ich weiß, aber es geht sich damit sehr viel besser.«

Was nicht stimmt, wie ich noch feststellen werde.

»Wenn Sie ins Theater gehen wollen, dann ziehen Sie eben Ihre Ballerinas an und schlucken vorher ein paar Schmerztabletten.« Ansonsten empfiehlt er gegen die Dauerentzündung in den Fußgelenken Quarkumschläge. Er grinst. »Sagen Sie das bitte nicht weiter.«

»Was?«, frage ich.

»Das mit dem Quarkumschlag. Aber es hilft wirklich. Auch Weihrauchtabletten, also Boswellia serrata, helfen. Sie haben doch erzählt, dass Sie gern nach Indien fahren. Da bekommt man wirklich gute Weihrauchtabletten.« Unglücklich denke ich darüber nach, wie meine schönen schwarzen Kleider und farbenfrohen Pashminas mit einem Klumpfußschuh als Accessoire aussehen werden. Aber wenn ich damit weniger Schmerzen hätte?

Seine Zeit drängt, die nächsten Patienten warten im Sprechzimmer. Ein Blick auf die Uhr, dann lehnt er sich zurück und sagt das, womit sich Ärzte immer aus der Affäre ziehen: »Denken Sie in Ruhe darüber nach. (Aber bitte nicht auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch.) Entscheiden müssen Sie selbst.«

Frustriert humpele ich die Eingangstreppen hinunter. Warum sind Orthopädiepraxen so oft nur über Treppen zu erreichen? Im nächsten Zeitungsladen kaufe ich mir ein Magnum Mandel mit weißer Schokolade. Neun Monate im Rollstuhl mit der Aussicht, die Operation eventuell wiederholen zu müssen, ist selbst für eine Bewegungsfeindin wie mich erschreckend. Aber wenn dann die Schmerzen wieder weg wären? Könnte ich nicht auch mit kaputtem Fußgelenk und Klumpfußschuh weiterleben? Und dazu starke Schmerztabletten?

Meine Entscheidung fällt am Abend, als mein Nachbar aus der vierten Etage mit Susi an der Tür steht. Susi ist drei und liebt Katzen, daher kommt sie ab und zu zum Katzenstreicheln zu mir. Während sie vergeblich versucht, Giacometti, meinen übergewichtigen mausgrauen British-Shorthair-Kater, zu fangen, fragt mein Nachbar, was denn mit meinem Fuß los sei. Ich erzähle ihm alles, und, wie so oft, hat er auch etwas zum Thema beizutragen. Sein Vater, nur ein paar Jahre älter als ich, hatte auch Arthrose in einem Fußgelenk. Nach der Operation, also nach dem Versteifen, konnte er ein Jahr nur mit einem Rollstuhl bewegt werden. Die Mutter des Nachbarn hatte viel damit zu tun, dem Vater aufs Klo oder ins Bett zu helfen. Anders als ich ist der Vater schlank und leicht. Es wird noch schlimmer: Jetzt kann sein Vater zwar wieder gehen, aber er hat Schwierigkeiten, weil er ab und zu einfach nach vorne kippt. »Mein Vater würde Ihnen sofort davon abraten«, sagt mein Nachbar. Ich will mir gar nicht vorstellen, was ich alles organisieren müsste, wenn ich ein halbes oder ein ganzes Jahr mein Leben im Rollstuhl verbringen müsste. Ich habe ja nicht mal einen Ehemann, der mich ins Bett heben könnte!

So weit ist es jetzt – Ich bin alt

Missmutig meinen Prosecco mit Aperol schlürfend sitze ich beim Italiener gegenüber meiner Wohnung. Der Spruch des Fußgelenkspezialisten hat mich nachdenklich gemacht. Er hat recht, an mir ist nichts mehr neu, sondern alles ist vom Verfall oder dem natürlichen Alterungsprozess gekennzeichnet. Sein Satz »In Ihrem Alter lohnt sich das eigentlich nicht mehr!« macht mich unglücklich. Das geht ja weit über meinen kaputten Fuß hinaus.

Es ist also so weit, ich bin jetzt alt. Ich bin fünfundsiebzig Jahre, habe ein zerstörtes Fußgelenk, eine Spinalkanalstenose und eine Hüftarthrose. Jetzt kam noch eine Makuladegeneration im linken Auge hinzu. Nichts ist mehr neu, und nichts wird sich regenerieren. Alt sein bedeutet, dass Sprüche wie »Wenn man älter wird …« auf mich nicht mehr zutreffen. Ich werde nicht alt, ich bin eindeutig alt.

Ich fühle mich zwar nicht richtig alt, aber auch das ist ein typisches Zeichen des Alters. Wie oft denke ich erstaunt, wenn ich Politiker oder Schauspieler im Fernsehen sehe, die schon siebzig oder sogar älter sind, dass so alte Menschen doch nun wirklich abtreten und ihren wohlverdienten Ruhestand, wie es immer heißt, genießen sollten. Besonders bei Politikern vertrete ich schon lange die Meinung, dass wir die Politik den Vierzigjährigen überlassen sollten. Die sind zwar auch nicht viel klüger, aber zumindest müssen sie aus Eigeninteresse die Folgen ihrer Entscheidungen bedenken. Denn sie und ihre Kinder werden diese Folgen tragen müssen. Das macht sie vielleicht vorsichtiger. Bei den über Siebzigjährigen frage ich mich oft, weshalb so alte Menschen noch Entscheidungen treffen dürfen, deren Konsequenzen sie gar nicht mehr erleben werden. Ich wundere mich auch, dass diese alten Menschen nicht von ihren Funktionen zurücktreten wollen, obwohl es doch einfach nicht mehr ihre Zeit ist. Präsident Trump ist bereits dreiundsiebzig, also jünger als ich, und ich frage mich, warum dieser ungesund aussehende, übergewichtige alte Mann sich diesen Job noch aufhalst. In dem Alter! Gut, das Alter ist nicht das Schlimmste an Trump. Unser ehemaliger Finanzminister Schäuble ist sogar noch älter, siebenundsiebzig Jahre. Warum tut er sich diese oft langweiligen Parlamentsdebatten noch an? Warum genießt er nicht seine Pension?

Ich merke, dass auch ich einen negativen Blick auf alte Menschen habe: Ich traue anderen Alten nicht mehr viel zu. Entweder ist es erstaunlich, dass sie überhaupt noch etwas tun können, oder ich halte sie nicht mehr für voll funktionsfähig, glaube, dass sie sich aus dem aktiven Leben zurückziehen und schonen sollten. Nur bei mir selbst sehe ich das natürlich ganz anders: Ich selbst fühle mich der Altersgruppe, die zu alt für vieles ist, noch nicht wirklich zugehörig. Gefühlt hat sich bei mir noch nicht viel verändert. Aber ich weiß, dass ich alt bin, fünfundsiebzig ist eindeutig alt. Die Beteuerungen, dass ich für mein Alter noch ganz gut aussähe, zeigen nur, dass Frauen eigentlich mit fünfundsiebzig scheußlich aussehen müssten. Alte Menschen, besonders Frauen, sind hässlich. Andererseits ist das auch eine komfortable Position: Gemessen daran, wie hässlich ich inzwischen eigentlich sein müsste, sehe ich noch ganz gut aus.

Mittagsschläfchen und Greifstock

Auch wenn ich es nicht wahrhaben will, merke ich mein Alter täglich. Ich brauche mehr Ruhe, ich schlafe früher ein, mir werden Besuche oft zu viel. Manchmal halte ich sogar ein Mittagsschläfchen – für mich immer der Inbegriff des Spießigen. Ich finde es in vielen Restaurants zu laut und bitte die Kellner, die Musik etwas leiser zu stellen, was mir selten Freunde einbringt. Mich strengen große Menschenmengen an, und Unterhaltungen, bei denen alle durcheinandersprechen, finde ich ermüdend, selbst wenn ich zu dem Durcheinander beigetragen habe. Mit dem Gehen ist es inzwischen richtig schwierig, sogar in meiner kleinen Wohnung tut jeder Weg in die Küche oder das Bad weh. Wege zum Supermarkt und zur Bibliothek werden genau überlegt. Schaffe ich das heute?

Es fällt mir schwer, mich zu bücken und unter meinen großen Schreibtisch zu kriechen, um das gelbe Noppenbällchen herauszuholen, das Basquiat, mein schokoladenbrauner British-Shorthair-Kater, dorthin gerollt hat. Natürlich muss ich das nicht, soll er den Ball doch selbst holen. Das habe ich ihm auch gesagt. Aber wenn er erwartungsvoll neben meinem Schreibtischstuhl sitzt und mich mit seinen orangefarbenen Augen fixiert, dann kann ich nicht anders. Ich muss unter den Schreibtisch kriechen und das Noppenbällchen holen. Denn es ist meine Aufgabe, das Bällchen weit wegzuwerfen, damit er es apportiert und mir wieder zu Füßen legt. Oder eben wieder in die hinterste Ecke unter dem Schreibtisch rollt. Dieses Spiel hat mir noch im letzten Jahr viel Spaß gemacht, auch wenn es durchaus beim Schreiben stören kann. Aber Basquiat hat die unangenehme Angewohnheit, seine scharfen Krallen in meine Hüfte zu schlagen, wenn ich nicht reagiere und das Spielzeug hole. Ich muss also reagieren. Jetzt habe ich mir einen Greifstock gekauft, ein scheußliches Ungetüm aus Plastik, schwarz mit grünem Griff, mit dem ich sowohl unter dem Schreibtisch als auch oben im Schrank alles herausziehen kann. Wenn ich damit nach dem Noppenbällchen angele, betrachtet Basquiat mich belustigt. Ich bin nicht belustigt.

Obwohl, es gibt einen jungen Menschen, den mein Greifstock freut: Gero, meinen elfjährigen Enkel. Als er mich besuchte, hat er sogar mit dem Greifstock neben sich geschlafen. Er hat auch versucht, sein Leberwurstbrot mit dem Greifstock zum Mund zu führen, aber das ging daneben.

Gesundheitstipps aus der Apotheken Umschau

Mein Alter merke ich auch daran, dass ich inzwischen sogar die Apotheken Umschau lese. Wenn dort steht, dass Kaffee nicht gesund sei für uns Alte, dann bemühe ich mich zumindest ein paar Tage lang, morgens Früchtetee zu trinken, was mich wirklich Überwindung kostet. Nie hätte ich mir als junge Frau Gedanken über Gesundheit gemacht – auch das fand ich spießig – , aber plötzlich wird Gesundheit wichtig. Ich ertappe mich dabei, dass ich die Apotheken Umschau schnell einstecke – ich hoffe, dass das niemand sieht – und sie zu Hause sorgfältig durchlese. Ich suche nach Lebensmitteln oder Ratschlägen über Verhaltensweisen, die gesund oder vielleicht sogar lebensverlängernd sind. Je älter ich werde, desto eher befolge ich Ratschläge in Zeitschriften, denen wir in den Wartezimmern von Ärzten ausgesetzt sind. Seitdem ich alt bin, muss ich immer öfter dort sitzen, und meistens ist die Wartezeit so lang, dass ich voller Verzweiflung sogar Zeitschriften wie Vital oder Welt der Frau von vorne bis hinten durchlese und dort Gesundheitsempfehlungen begegne, die als redaktionelle Beiträge getarnt, aber tatsächlich nur Werbeanzeigen sind von Firmen, die Lebertabletten, Verdauungsoptimierer oder Nahrungszusatzpulver verkaufen wollen. Ich weiß, dass das alles nur Werbung ist, aber sie ist oft verführerisch, weil ich – vielleicht altersbedingt – noch im letzten Moment etwas Gesundes für meinen Körper tun will. Wenn ich meinen Arzt befrage, ob diese Mittelchen sinnvoll seien, dann lacht er nur. Das kann er, denn er ist erst vierundvierzig Jahre alt. Er wird schon noch darauf kommen, dass man sich als alter Mensch an den letzten Strohhalm (natürlich aus Pappe) klammert, der einem in Form einer Werbeanzeige für Herzkräftigungstabletten angeboten wird.

Manchmal zwinge ich mich inzwischen, Dinge zu essen, die angeblich für uns alte Menschen gesund sein sollen. Ich mag Kiwis überhaupt nicht, aber aus Gesundheits- und Altersgründen versuche ich seit einiger Zeit, jeden Tag eine Kiwi zu essen, weil in der Apotheken Umschau stand, dass Kiwis gesund sein sollen. Allerdings bin ich der Meinung, dass Kiwis eigentlich nicht für den menschlichen Verzehr geeignet sind und es den Neuseeländern nur mit einer cleveren Marketingkampagne gelungen ist, uns Europäer glauben zu lassen, dieses Obst sei auch für Menschen gesund. Dass ich auf solche Versprechungen hereinfalle, zeigt, dass ich wirklich alt bin, obwohl fünfundsiebzig eigentlich zu spät ist, um mit Lebensmitteln, die nicht gut schmecken, meine Gesundheit anzukurbeln. Überhaupt weiß ich bei diesen vielen Gesundheitsratschlägen nicht, was sie eigentlich bewirken sollen: Sollen wir uns besser fühlen, gesund sterben oder länger leben? Aber wenn ich dauernd etwas essen und tun muss, das ich nicht gern esse oder tue, dann lohnt es sich doch eigentlich nicht, länger zu leben?

Der Schock sitzt tief

Auch wenn ich versuche, mit heiteren Anekdoten über meine Altersdefizite anderen Menschen Vergnügen zu bereiten, sitzt der Schock über die lockere Bemerkung des Fußspezialisten tief. Mich beschleicht Angst. Ich merke an nachlassenden Fähigkeiten, aber auch an veränderten Verhaltensweisen und Gefühlen, dass ich alt bin. Ich registriere jedes kleine Anzeichen meines körperlichen Verfalls. Ich kann das Gurkenglas nicht mehr aufschrauben, mir fehlt die Kraft. Wenn ich auf dem Bahnhof eine Flasche Mineralwasser für die Fahrt kaufe, freue ich mich, wenn die junge türkischstämmige Bedienung mir die Flasche gleich aufschraubt. »Meine Eltern schaffen das auch nicht mehr«, sagt sie fröhlich. »Ich helfe älteren Menschen gern dabei, aber ich muss auch aufpassen, manche werden böse, wenn ich sie so etwas frage.«

Nein, ich werde nicht böse, im Gegenteil, ich bin ihr dankbar. Vor ein paar Wochen kam ich nur mit Mühe wieder aus der Badewanne heraus. Ich hatte das Wasser mit einem wunderbaren pflegenden Öl angereichert und dort bei schöner Musik und einem Buch entspannt. Als ich aus der Wanne steigen wollte, musste ich feststellen, dass sich ein öliger Film auf dem Badewannenboden gebildet hatte, der mich hin und her rutschen ließ wie einen gestrandeten Wal. Ich geriet in Panik. Ich stellte mir vor, dass mich meine Putzfrau nach drei Tagen müde und ausgekühlt auffinden würde. Oder dass meine Schreie die Nachbarn aufschrecken würden, die mich dann nackt und nass in die Freiheit ziehen müssten. Verzweiflung verleiht Kräfte. Nach langen vergeblichen Versuchen, mich mit der Kraft meiner Arme herauszuziehen, gelang es mir schließlich, mit Hilfe mehrerer Handtücher, die ich aus dem Regal zerren konnte, eine stabile Unterlage zu schaffen, auf der ich mich dann erheben konnte. Jetzt liegt vorsichtshalber eine knallrote Gummimatte mit dicken Noppen in der Badewanne.

Gerlinde will mich beruhigen.

»Wir sind doch die jungen Alten, das haben Gerontologen herausgefunden. Erst über neunzig gehören wir zu den richtig Alten«, sagt sie tröstend.

Diese Einteilung mag für Forschungszwecke von Gerontologen nützlich sein, an meiner Befindlichkeit ändert sich dadurch nichts. Ob ich nun zu den jungen Alten (bis fünfundsechzig Jahre), den mittleren Alten (fünfundsechzig bis achtzig Jahre) oder den Hochbetagten oder Hochaltrigen (ab achtzig Jahren) gehören soll, ich spüre mit fünfundsiebzig täglich, dass Alter mit dem Verlust vieler Fähigkeiten verbunden ist. Was früher ging, geht jetzt nicht mehr. Das, was an meinem Körper nicht mehr neu ist, das regeneriert sich auch nicht mehr. Da wächst nichts mehr nach, das bleibt alles so oder wird sogar noch weniger, noch schwächer, noch schmerzhafter. Es geht nicht nur um die Schmerzen, dagegen gibt es Schmerzmittel. Es geht vor allem um das, was ich nicht mehr kann, was für mich nicht mehr möglich ist. Die physischen Einschränkungen, die durch die Erosion meines Bewegungsapparates bedingt sind, hindern mich an vielem. Das Gehen wird immer schwieriger. Nicht, dass ich vorher eine begeisterte Spaziergängerin gewesen wäre. Aber so gar nicht gehen zu können, ist auch nicht schön.

Außerdem ist alles, was mir heute weh tut, was ich nicht mehr kann, ein Symptom meines endgültigen körperlichen Verfalls, ein Vorbote meines nahenden Todes. Ich hoffe nur, dass wenigstens meine kognitiven Fähigkeiten noch nicht in gleicher Weise abgebaut haben, obwohl ich mich manchmal nicht mehr an den Titel eines Films erinnere oder mir nicht einfällt, wie die Straße heißt, in der eine Freundin wohnt. Vielleicht ist das nicht nur eine normale Altersvergesslichkeit, sondern schon eine Vorstufe zu Alzheimer? Ein kognitiver Abbau macht mir mehr Angst als meine körperlichen Defizite.

Oft lese und höre ich von Menschen, die ihr Alter als die wunderbare Möglichkeit wahrnehmen, jetzt endlich alles tun zu können, was vorher nicht möglich war. Mit fünfundsechzig beschreiben Menschen die Freuden ihrer beginnenden Rentenzeit. Endlich frei, endlich Zeit für etwas Neues, Nachholen, was ein arbeitsreiches Leben verhindert hat. Aber zwischen fünfundsechzig und fünfundsiebzig besteht ein großer Unterschied. Mit fünfundsiebzig begreifen wir langsam, dass es nicht mehr um den ganz großen neuen Aufbruch geht, sondern allenfalls darum, wie ich die Zeit bis zum Tod für mich so angenehm wie möglich gestalte. Sicher, mit fünfundsiebzig können wir zwar immer noch viel Neues unternehmen, wenn es unsere Gesundheit und vor allem unsere Finanzen erlauben. Aber seitdem ich die siebzig hinter mir gelassen habe, denke ich immer öfter an mein Ende. Ich bilanziere, denke an mein Leben zurück, an die schönen Zeiten, an das, was ich versäumt habe, und an die Fehler, die ich gemacht habe. Ich fange allmählich an, mich vom Leben zu verabschieden.

Früher war alles besser

Zu dem langsamen Abbau gehört es auch, dass nicht nur meine Knochen alt und morsch werden, sondern auch mein Verhalten und Denken sich verändern – nicht immer unbedingt zum Besseren. Es gibt ein untrügliches Anzeichen für fortgeschrittenes Alter, das ich leider auch bei mir entdeckt habe: Wenn wir feststellen, dass früher alles besser war, dann sind wir alt. Die heutige Jugend interessiere sich nur noch für iPhones, Facebook, Instagram und Klamotten, die sie einer sechzehnjährigen Influencerin abgeguckt hat, sagt meine Freundin Tamara. Ich kritisiere die heutige Jugend nicht, vor allem, weil ich iPhone und Facebook selbst interessant finde. »Politisch sind sie völlig desinteressiert«, sagt sie noch, was, wie wir wissen, nicht stimmt, wenn man die vielen Klimademonstrationen sieht.

Ich fürchte, dass wir die Jugend von heute vor allem kritisieren, weil sie sich für etwas anderes interessiert als wir damals; und weil wir das, was wir damals gemacht haben, fabelhaft fanden, kann das, was junge Menschen heute machen, nur weniger gut sein. Leider entdecke ich dieses Altersmerkmal auch manchmal bei mir. Wir haben damals – freiwillig! – Kapitalkurse besucht, um Karl Marx wirklich zu verstehen. Haben Adorno gelesen und uns Diskussionsschlachten über die Strategien zur Befreiung der Welt vom Imperialismus geliefert. Gut, so richtig erfolgreich waren wir nicht, aber es ging uns um etwas Wichtiges. Dass es dabei literweise billigen Rotwein und auch das ein oder andere Liebesverhältnis gab, erwähnen wir nicht immer, weil das den Anschein unseres selbstlosen Engagements trüben könnte.

Ich glaube, dass unsere Bewertungen der Jugend von heute oft eine beleidigte Reaktion darauf sind, dass sie sich für das, wofür wir uns damals begeistert haben, einfach nicht interessiert. Es kränkt uns, wenn es den jungen Leuten vollkommen gleichgültig ist, dass wir in Wohngemeinschaften wohnten, um gegen das kleinbürgerliche Familienidyll zu protestieren, dass es bei Partys mit Rotwein – Roter Adler für 1 Mark 90 die Zweiliterflasche – und politischen Diskussionen heiß herging und dass wir bei der Demo damals – weißt du noch? – von dem Wasserwerfer nass gespritzt wurden, der auch Rudi Dutschke getroffen hatte.

Auch in anderen Bereichen war angeblich früher alles besser. Früher, sagt meine Freundin Gudrun, gab es beim Rundfunk noch Redakteure, die wirklich etwas von Literatur verstanden. Und »früher wollten die Kinder noch etwas lernen, aber heute …«, sagt Ayse, die Lehrerin ist. Auch als Eltern waren wir besser. »Früher«, sagt meine Freundin Ursula, »haben wir mit den Kindern nach dem Abendessen gemeinsam Mensch-ärgere-Dich-nicht gespielt oder ihnen vorgelesen.« »Heute«, klagt sie – und wenn das kommt, wissen wir, dass es heute viel schlechter ist –, »sitzen die Kinder nur vor dem Fernseher oder hören auf ihrem iPhone Musik über Spotify, oder sie haben sogar – ganz schlimm – einen eigenen Fernseher im Zimmer.« Ich selbst bedauere, dass die Jugend heute nicht mehr so viel liest. Ich hatte schon mit dreizehn den ganzen Shakespeare gelesen. Aber meine Kinder gähnen nur, wenn ich immer wieder davon erzähle.

Tatsächlich war früher nicht alles besser, nur waren wir jung und hielten uns für unendlich wichtig. Wir schauen auf etwas zurück, das uns – wenn wir Glück hatten – in unserer Jugend Freude gemacht hat, und können das, was Jugendlichen heute Freude macht, oft nicht nachvollziehen.

Auch emotional verändere ich mich: Ich werde sentimental. Die Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen hat schon vor Jahren in ihrem wunderbaren Buch »Älter werden« beschrieben, wie man sich beim Älterwerden plötzlich dabei ertappt, Tierfilme im Fernsehen anzuschauen. Das stimmt. Habe ich früher jeden Menschen spießig gefunden, der sich Tierfilme ansieht und bei der Ankündigung einer Tier-Dokumentation umgehend umgeschaltet, schaue ich heute geduldig Krokodilen in den Everglades zu. Aber es kann immer noch schlimmer kommen: Auf Facebook sehe ich mir mehrmals hintereinander einen Clip an, in dem große, muskulöse US-Cops, die man ansonsten eher aufgrund ihrer Schießbereitschaft gegenüber schwarzen Amerikanern kennt, sich flach auf die Straße legen, um geduldig sieben Entenküken aus einem Gully zu retten und sie vorsichtig auf die andere Straßenseite zur Mutterente zu bringen. Vor ein paar Tagen habe ich sogar mit gerührtem Lächeln den Schluckauf unserer neu geborenen Pandabärchen beobachtet.

Ich habe keine Zukunft mehr

Was ist so schlimm daran, alt zu sein? Im Spiegel werde ich mir fremd, wie Carl Amery in »Über das Altern: Revolte und Resignation« schreibt, ich erkenne mich selbst nicht mehr. Es ist die Erkenntnis, dass ich keine Zukunft mehr habe, die mich traurig macht. Ich bin nicht mehr unsterblich. Das, was ich bis jetzt in meinem Leben erlebt habe, das war alles. Mehr kommt nicht. Ich kann nicht mehr davon träumen, dass ich für zwei Jahre in Indien wohne oder eine lange Reise zu allen Literaturfestivals mache, die ich im Leben gern besucht hätte. Ich werde wohl nicht einmal mehr das internationale Literaturfestival in Jaipur besuchen. Ich werde keine neue Sprache mehr lernen. Und eine große Liebe wird auch nicht mehr kommen. Vielleicht ist dieses Buch sogar mein letztes. Nein, das ist keine Depression, das ist eine realistische Einschätzung meiner Möglichkeiten. Ich werde noch vieles tun könne, was mir Spaß macht, aber die ganz großen Projekte werden nicht mehr gelingen. Noch schlimmer, ich habe auch keine große Motivation mehr, sie zu beginnen. Als ich jung war, habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, was ich im Leben noch alles erleben könnte. Nie dachte ich daran, dass auch meine Zeit endlich sein würde. Ich bin spontan nach Kairo geflogen und habe dort zwei Jahre gelebt, mit dreißig habe ich angefangen zu studieren, mich mit fünfzig erfolgreich selbständig gemacht. Selbst die psychische Krankheit meiner jüngsten Tochter hat mir eine weitere späte Karriere gebracht: Meine Bücher werden auch sechs Jahre nach Erscheinen gern gelesen, und ich werde zu vielen Vorträgen und Lesungen eingeladen. Aber dieses Gefühl, noch unendlich viel Zeit zu haben, ist nicht mehr da. Ich beginne, darüber nachzudenken, was noch möglich ist.

Oft wird es als Vorteil des Alters gepriesen, dass man sich auf das Wesentliche konzentriert, dass man wirklich nur das tut, was wichtig ist. Ich finde das schade. Die vielen produktiven und unproduktiven Umwege, die mir manchmal Freude bereitet und manchmal nur zu mehr Erkenntnis verholfen haben, waren es, die das Leben lebenswert machten. Das Gefühl, noch alles tun zu können, noch unendlich viel Zeit zu haben, alles ausprobieren zu können, noch den interessantesten Dingen nachgehen zu können, dieses Gefühl ist nicht mehr da.

Aber es macht wenig Sinn, mich zu bedauern. Stattdessen werde ich mit Freude auf die schönen Aspekte meines Lebens zurückblicken und die weniger schönen einfach vergessen. Es wird mir besser gehen, wenn ich meine jetzige Situation akzeptiere, mich auf das freue, was noch möglich ist, und das, was nicht mehr geht, einfach vergesse oder mir dabei Hilfe suche.

Mein letzter Plan

Um mich selbst zu motivieren, werde ich die letzten Jahre meines Lebens auf eine Weise planen, die mir so weit wie möglich die Kontrolle über mich und mein Leben lässt. Ich möchte nicht, dass in ein paar Jahren andere Menschen darüber bestimmen (müssen), was mit mir geschieht. Ich habe weniger Angst vor dem Tod als vor dem Verlust an Selbständigkeit und vor einer langen schweren Krankheit. Was wäre das Schlimmste für mich? Ich habe große Angst vor Schmerzen und vor Situationen, die ich nicht mehr in meinem Sinne beeinflussen kann. Weitgehende Selbständigkeit ist für mich das Wichtigste.

Mein Versuch, mit Freundinnen darüber zu sprechen, ist nicht immer erfolgreich. Die meisten scheuen davor zurück, intensiv an das Lebensende zu denken. »Man kann doch nicht alles planen«, sagt Ayse. »Ich will einfach nicht über den Tod reden.« Wenn ich über Altersheime, Seniorenheime oder andere Wohnformen spreche, finden viele das grundsätzlich richtig, wollen sich aber nicht damit beschäftigen. Meine Absicht, einen Demenztest machen zu lassen, finden viele komisch oder originell.

Vielleicht will ich auch die letzte Zeit meines Lebens planen, weil ich erfahren habe, dass nichts so bleiben muss, wie es ist. Die Erkrankung meiner Tochter vor zweiundzwanzig Jahren hat mein Leben tief erschüttert, von einem Moment zum anderen war plötzlich nichts mehr so, wie es vorher war. Lange Jahre haben mich ihre Krankheit und deren Auswirkungen in Atem gehalten. Ich habe dieses Grundvertrauen, dass schon alles in meinem Leben gut werden wird, nicht mehr. Daher habe ich das Bedürfnis, mich mit dem zu beschäftigen, was auf mich und auf meine Kinder zukommen kann, und möglichst wenig dem Zufall zu überlassen.

Viele Menschen haben dieses Bedürfnis nicht, weil sie darauf vertrauen, dass alles in ihrem Leben gut laufen wird. Mein Freund Thomas, der Mitte sechzig ist, lacht, als ich von meinem Buchvorhaben spreche. Darum müsse man sich doch wirklich nicht kümmern, es sei doch klar, dass seine Frau sich um ihn kümmern werde, wenn es nötig sei oder er sich um sie. Er erzählt von Freunden im gleichen Alter, die ihre Dachgeschosswohnung verkauft hätten, um sich für das Alter eine Erdgeschosswohnung zu kaufen. »Wenn die nun nie Probleme mit dem Gehen bekommen, dann haben sie völlig umsonst die schönere Wohnung aufgegeben. So etwas würde ich nie tun.«

Auch die Horrorgeschichten, die uns von den Medien geliefert werden, können dazu beitragen, dass wir uns hilflos fühlen und nichts unternehmen. Armut im Alter, Pflegenotstand, entsetzliche Zustände in Altersheimen, Sedierung mit Neuroleptika oder Pfleger mit Todesspritzen machen Angst und lassen daran zweifeln, ob wir tatsächlich Einfluss darauf nehmen können, wie unsere letzten Jahre, Monate und Tage sein werden. Die Altersarmut steigt an, vor allem bei Frauen, sodass viele alte Menschen entweder bei der Tafel anstehen oder im Müll nach Essen suchen müssen, lesen wir. Auch für alte Menschen, deren Finanzen nicht ganz so knapp sind, kann eine plötzliche Krankheit im Alter zu großen Problemen führen. Diese Szenarien sind beunruhigend und können uns das Gefühl geben, hilflos zu sein. Alten Menschen ohne Internet wird es schwerfallen, sich die Informationen zu holen, die für unser Alter wichtig sind. Viele kennen auch ihre Rechte auf Unterstützung in Krankheitssituationen nicht oder wissen nicht, wie sie diese durchsetzen können. Immer noch haben viel zu wenige Menschen eine Patientenverfügung verfasst, die ihnen eine gewisse Sicherheit gibt, dass ihre Wünsche am Ende des Lebens berücksichtigt werden.

Viele alte Menschen wissen auch nicht – oder wollen nicht wissen – , dass nach ihrem Tod zahlreiche, nicht immer einfache Entscheidungen von ihren Kindern getroffen werden müssen, und dass sie daher besser frühzeitig selbst festlegen, was nach ihrem Tod passieren soll. Ich glaube, dass es auch uns selbst hilft, wenn wir uns mit unseren letzten Jahren und unserem Tod beschäftigen. Ich bin überzeugt davon, dass sich die Angst vor dem eigenen Alter, vor Armut, Krankheit und dem Tod verringert, wenn wir realistisch auf unsere Situation schauen und damit beginnen, die vielen unüberwindlich scheinenden Aufgaben in kleine, zu bewältigende Aufgaben einzuteilen. Man kann nicht alles planen, wie meine Freundin Ayse sagte, aber das muss uns nicht daran hindern, das Planbare zu planen. Oder wie es vor ein paar Wochen ein Freund ausdrückte, der langjährige Erfahrung als Projektmanager hat: »Ich habe meiner Familie gesagt: Jetzt denken wir den Tod mal vom Ende her.«

Der Besuch beim Fußspezialisten war der letzte Anstoß, um mein Altersprojekt beherzt anzugehen. Den brauchte ich, um mir einzugestehen, dass es höchste Zeit für mich wird, meinen geordneten Rückzug zu organisieren. Ich möchte nicht, dass meine Kinder irgendwann vorwurfsvoll oder verzweifelt fragen: »Du bist jetzt wirklich alt, Mami, hast du denn schon eine Vorsorgevollmacht? Weißt du, in welches Altersheim du gehen willst? Möchtest du künstlich ernährt werden oder nicht? Und wie möchtest du beerdigt werden?«

Ich setze mich vor meinen iMac und beginne mit einer Exceltabelle. Es gibt nichts Besseres als Exceltabellen, wenn man in Ruhe etwas planen möchte. Ich werde eine Liste der Dinge machen, die ich organisieren muss. Kann ich in meiner Wohnung bleiben, oder sollte ich besser nach einem passenden Altersheim suchen? Wie lange reichen meine Finanzen oder wie vorsichtig muss ich mit Geld umgehen, damit es nicht irgendwann kritisch wird? Muss ich Sozialhilfe beantragen? Was mache ich mit all den Dingen, die immer noch in meiner Wohnung sind? Einfach aufbewahren oder lieber schon zu Lebzeiten meinen Kindern oder anderen Menschen damit eine Freude machen? Könnte das Leben als Alleinstehende irgendwann ein wenig einsam werden, und was kann ich jetzt schon dagegen tun? Wie will ich betreut werden, und wie sollen Ärzte mit mir umgehen dürfen?

Und last but not least: Wie will ich sterben und kann ich das beeinflussen? Und wie will ich bestattet werden? Sarg in der Erde oder Krematorium? Oder unter einer schönen Buche ruhen? Ob meine Töchter meine Überreste als Diamant an einer Kette tragen möchten, oder ist das morbide? Darf ich mir auch in Deutschland meinen Sarg selbst basteln oder wenigstens anmalen? Finde ich einen schönen Friedhof mit angegliedertem Café, in dem ich selbst gern spazieren gehen und Kaffee trinken würde?

Plötzlich freue ich mich auf mein Altersprojekt.

2. »Da sind doch nur alte Leute!«

Furchtbar«, sagt meine Freundin Ursula, »da sind doch nur alte Leute«, als ich von meiner Altersheimsuche erzähle. Gemeinsam mit Freunden, die alle über siebzig oder bereits achtzig sind, sitzen wir bei einem fröhlichen Abendessen zusammen. Wir haben interessante Themen, unterhalten uns gut. »Ich fände es schrecklich, immer nur alte Leute um mich zu haben«, fährt sie fort. Ich bin erheitert. Hier sitzen wir Siebzig- und Achtzigjährigen und stellen fest, dass wir nicht gern unter alten Leuten sein wollen?

»Da baust du ganz schnell ab«, sagt Carla, die auch schon über achtzig ist. »Es ist nicht gut, immer unter alten Leuten zu sein. Du siehst nur diese gebrechlichen Alten und fühlst dich dann schnell selbst auch alt und krank. Worüber willst du dich denn mit denen auch unterhalten?«

»Aber ich bin doch selbst alt«, wende ich vorsichtig ein.

Carla wirft mir einen Blick zu, den man einem uneinsichtigen Kind zuwirft. »Aber das ist doch etwas ganz anderes, Janine, du bist doch keine typische Alte, du bist eigentlich überhaupt nicht alt.« Sie lächelt mich freundlich an. »Ich auch nicht. Aber diese Alten, die in so einem Seniorenheim sitzen …« Sie muss es nicht aussprechen, aber es wird klar, dass die Alten in einem Seniorenheim zu einer Sorte alter Menschen gehören, zu der wir nicht gehören wollen.

»Aber wir sind doch alle alt …«, versuche ich es noch einmal.

»Aber das meint Ursula doch nicht«, sagt Gesine. »Sie meint doch nicht solche Leute wie uns.«

Denken alle alten Menschen so über andere alte Menschen? Alle Alten sind also gebrechlich und haben geistig abgebaut, nur natürlich nicht die Alten, mit denen man gerade spricht? Ich werde neugierig. Was halten andere Leute davon, in ein Altersheim zu ziehen? Die Alten, die noch gar nicht alt sind, weil sie erst etwas über siebzig sind? Ich beginne mit einer Befragung meiner Nachbarinnen.

»Altersheim? Um Gottes willen. Gehen Sie mir damit bloß weg! Um Gottes willen! In ein Seniorenheim kriegen mich keine zehn Pferde!« Die resolute Dame aus der dritten Etage guckt mich empört an. Ich möchte mich nicht mit ihr streiten, da würde ich den Kürzeren ziehen. Auch rein optisch wird schnell deutlich, dass sie sich nicht zu den Alten zählt. Im Sommer wie im Winter ist sie stark gebräunt – wir haben im Haus ein Solarium – , trägt einen dottergelben Lackmantel und dazu hohe schwarze Lackstiefel.