Schlaflos - Anders Bortne - E-Book

Schlaflos E-Book

Anders Bortne

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Beschreibung

An einem schönen Frühlingstag stellt der Autor Anders Bortne beim Beziehen des Ehebettes fest, dass seine Seite der Matratze so aussieht, als hätte er kaum darauf gelegen – und er muss sich eingestehen, dass das stimmt: Anders Bortne leidet seit 16 Jahren an Schlaflosigkeit. Viele Nächte schläft er überhaupt nicht, manchmal findet er für wenige Stunden Ruhe auf der Couch. Teilweise ist er so müde, dass er seine Kinder nicht im Auto zur Kita bringen kann, aus Angst davor, am Steuer einzuschlafen. Wie er selbst leiden auch seine Familie und sein Umfeld unter seinen Stimmungsschwankungen. Bortne erkennt, dass es so nicht weitergeht, er will eine dauerhafte Lösung für sein Schlafproblem finden und zwar ohne Medikamente.Und so nimmt uns der Autor mit auf eine Odyssee, bei der er Wissen über Schlaf und Insomnie aus der ganzen Welt zusammenträgt, Ärzte und Schlafforscher besucht und an deren Ende er wirklich eine Lösung für seine Schlafprobleme findet. Ein klug und unterhaltsam erzähltes Buch für alle, die ihren Schlaf besser verstehen und vielleicht endlich einmal wieder fest schlafen möchten.

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Table of Contents

TITEL

WIDMUNG

VORWORT

APRIL. TABLETTEN.

MAI. SO SCHLÄFT MAN BESSER.

JUNI. TAG UND NACHT.

JULI. DIE REISE.

AUGUST. ALL DIE ANDEREN.

SEPTEMBER. MORD UND ANDERE SCHLAFSTÖRUNGEN.

OKTOBER. POLARNACHT.

NOVEMBER. DER FRÜHSTÜCKSCLUB.

DEZEMBER. WIR SEHEN UNS MORGEN.

NACHWORT

LITERATURVERZEICHNIS

DANK

BIOGRAFIE - ANDERS BORTNE

IMPRESSUM

Anders Bortne

Schlaflos - Wie ich nach tausend Nächten endlich Ruhe fand

Aus dem Norwegischen von Sabine Richter

 

Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, dass Schlaflosigkeit eines der vordringlichen und am meisten verbreiteten Gesundheitsprobleme der modernen Gesellschaft darstellt. Dennoch sprechen nur wenige darüber, erkennen es gar als Problem an, oder denken, dass man dagegen unbedingt etwas machen sollte.

Matthew Walker, Schlafforscher und Professor für Neurologie und Psychologie, in Das große Buch vom Schlaf

 

 

Eines der am meisten unterschätzten Gesundheitsprobleme des Menschen.

Norwegisches Gesundheitsamt über Schlafstörungen

 

 

 

 

 

 

 

Für alle, die schlafen können.

Und für all die anderen.

VORWORT

Dieses Buch ist für all diejenigen gedacht, die Probleme mit dem Schlafen haben. Es stellt jedoch kein Programm vor, es gibt auch keine konkreten Ratschläge, wie zum Beispiel Bananen zu essen oder vor dem Schlafengehen zu meditieren. Das hier ist die Geschichte über ein Leben ohne Schlaf, aber auch über das Verhältnis der Menschen zum Schlaf überhaupt. Wie hat man früher geschlafen? Was passiert, wenn wir schlafen? Und die allerwichtigste Frage von allen, falls Sie selbst – oder jemand, den Sie kennen – Probleme mit dem Schlafen haben: Was hilft?

Nach sechzehn Jahren wurden meine eigenen Schlafstörungen – nahezu über Nacht und ohne dass ich verstand, warum eigentlich – schlimmer. Womit ich bis dahin irgendwie leben konnte, funktionierte nicht mehr. Wenn ich jetzt nichts unternahm, würde ich vor die Hunde gehen. Ich begann mit den Behandlungsmethoden, die die meisten schlaflosen Menschen ja nur allzu gut kennen: zuerst Tabletten, dann Kräuter, Meditation, Akupunktur, Yoga. Gleichzeitig begann ich, Bücher über den Schlaf und Schlafstörungen zu lesen, und zwar nicht nur Selbsthilfebücher, sondern auch medizinische, psychologische und historische Fachliteratur zum Thema Schlaf. Ich fand kein einziges Buch, das für Leute mit ernsthaften Schlafstörungen gedacht war. Die meisten Bücher richten sich an die, die schlafen können, sich aber dagegen entschieden haben, oder an solche, die begriffen haben, dass sie mehr schlafen sollten. Schlaflosigkeit ist bestenfalls ein untergeordnetes Thema und all die wohlmeinenden, aber auch oberflächlichen Ratschläge für Schlaflose sind natürlich nicht als Behandlung für chronische und ernsthafte Gesundheitsprobleme gedacht. Das Merkwürdigste dabei ist jedoch der Hauch des Geheimnisvollen, mit dem wir den Schlaf und unsere Probleme damit immer noch 10 umgeben. Noch nie zuvor haben die Wissenschaftler beziehungsweise wir Menschen im Allgemeinen mehr über den Körper und die Gesundheit gewusst als heute. Warum verhalten wir uns also dem Schlaf gegenüber so, als wäre er etwas so Geheimnisvolles?

Ich bin weder Arzt noch Schlafexperte. Ganz im Gegenteil. Aber dieses Buch wurde von jemandem geschrieben, der selbst viele Jahre lang an Schlaflosigkeit gelitten hat – und immer noch schlecht schläft. Wenn Sie also nach etwas suchen, das leichtherzig Tipps zum besseren Schlafen gibt – so in der Art: Trinken Sie weniger Kaffee! Treiben Sie mehr Sport! Nehmen Sie sich täglich eine Stunde zum Meditieren! usw. –, dann müssen Sie leider weitersuchen.

Wenn Sie dieses Buch dennoch lesen, dann lernen Sie etwas über Schlaf und Schlaflosigkeit, machen sich selbst einen Reim und bekommen eine Idee davon, wie es anderen schlaflosen Menschen ergeht. Und wenn Sie mich fragen: Was kann man mehr von einem Buch erwarten?

 

Anders Bortne, Oslo, den 30. Januar 2019

APRIL. TABLETTEN.

Über Arztbesuche und Schlafmittel, Fakten und Aberglauben zum Schlaf, wie meine Probleme vor sechzehn Jahren einsetzten und warum schlaflose Leute keine Eierpfannkuchen machen.

 

1

Das war ja wieder mal klar: In der Nacht, bevor ich zum Arzt will, schlafe ich wie ein Stein. Ich wache ausgeruht auf. Ich schwitze nicht, friere nicht, mein Kopf ist klar, weder Muskeln noch Gelenke tun mir weh. Soll ich absagen? Ich gehe nicht gern zum Arzt, ich sitze nicht gern einem Fremden gegenüber und erläutere meine Schwachstellen. Solange ich nichts Handfestes vorweisen kann – Fieber oder Wunden oder ein gebrochenes Bein –, habe ich Angst, dass das Ganze auf Gefühlsduselei reduziert wird. Ich kann nicht schlafen. Jetzt habe ich ja geschlafen. Und ich fühle mich so gut wie schon lange nicht mehr.

Ich schaue im Wartezimmer in den Spiegel: Mein Blick ist fest und klar. Meine Haut sieht so frisch und normal aus wie die derjenigen, die lange und tief geschlafen haben und um die ich sie nach meinen eigenen schlaflosen Nächten immer so beneide.

Vielleicht bin ich geheilt?

Vielleicht ist es endlich vorbei?

Als ich vor einer Woche den Arzttermin ausmachte, glaubte ich das noch nicht. Da hatte ich gerade Lines und mein Bett bezogen. Niemand außer mir darf das machen. So wie jemand mit Essstörungen auf den Kühlschrank fixiert sein kann, bin ich es in Bezug auf unser Bett. Die Kopfkissen- und Bettbezüge müssen Knöpfe haben, damit in der Nacht nichts herausrutschen kann. Der Matratzenschoner darf keine Falten werfen oder schief aufgezogen sein. Wenn auf dem Bett Kleidung oder Sachen liegen, wenn ich abends ins Bett will, muss ich wieder aus dem Zimmer und es später noch einmal angehen. Die Kabel für die Nachttischlampen müssen an der Wand befestigt sein, damit sie nicht verrutschen, wenn sich jemand im Bett umdreht. Schon der Gedanke, dass die Glühbirne in der Nachttischlampe zu grell sein könnte, kann mir den Schlaf rauben.

Als ich gerade das Laken abzog, schien die Sonne durchs Fenster in der Kelleretage auf den aufgewirbelten Staub und den Matratzenschoner. Ich blieb stehen, starrte auf das unbezogene Bett und spürte, wie sich mir die Haare im Nacken sträubten. Ich hatte das Bett schon oft neu bezogen, doch das hier hatte ich noch nie bemerkt: Auf der linken, das heißt auf Lines Seite entdeckte ich Risse im abgenutzten Stoff, wie sie bei normaler Benutzung halt entstehen. Dieses Bett hatten wir schon viele Jahre, das waren also ganz normale Abnutzungserscheinungen. Aber auf der anderen, auf meiner Seite des Bettes sah man nichts! Der Matratzenschoner sah völlig unbenutzt aus! Als ob meine Frau in all diesen Jahren ihr Bett mit einem Gespenst geteilt hätte. Ich war zwar wie besessen von diesem Bett, doch hatte ich bis dahin kaum darin gelegen.

Ich ließ das Bettzeug liegen, setzte mich auf die Matratze und tat etwas, was ich bis dahin noch nie getan hatte: Ich zog mein Handy raus und googelte Schlafmangel und Langzeitschäden. Dann fand ich einen Artikel mit dem Titel Hier eine Liste der ernst zu nehmenden Gesundheitsprobleme, die durch zu wenig Schlaf ausgelöst werden können. Darin stand: Diabetes. Erhöhte Cholesterinwerte. Schlaganfall. Herzinfarkt. Krebs. Unter der Liste war ein eingeschobener Block mit Fakten und der Anzahl der Stunden Schlaf, die man benötigt, um seine Gesundheit zu erhalten. Demzufolge brauchten Erwachsene täglich sieben bis acht Stunden Schlaf.

Da bekam ich es also mit der Angst und besorgte mir einen Arzttermin.

Am Tag darauf hatte ich schon keine Angst mehr und wollte den Termin absagen. Ich wusste aber, dass meine Angst zurückkommen würde. Meine Gefühle schwankten wie die Schlafstörungen, die auftauchten und dann wieder verschwanden. Ich wurde krank, erholte mich wieder, wurde wieder krank und wieder gesund. Jetzt war ich ja nicht mehr krank, ich hatte in der Nacht zuvor ganz gut geschlafen – also hatte ich auch keine Angst mehr. Ein Allgemeinmediziner konnte mir ohnehin nicht wirklich helfen, also warum sollte ich auch meine Zeit mit einem Arztbesuch vergeuden?

»Dieser Arzttermin – ich glaub, den sag ich ab«, meinte ich zu Line.

Sie schaute mich an.

»Sicher?«

»Das Einzige, was ein Arzt machen kann, ist, mir Schlaftabletten zu verschreiben. Und die will ich nicht.«

»Aber wenn man dir irgendwie anders helfen soll, müsstest du zuerst schon noch mit dem Hausarzt reden.«

Im Wartezimmer des Arztes sitzt mir eine Frau mit Krücken und Halskrause gegenüber. Ihr Blick ist hilflos nach oben gerichtet. Neben mir sitzt ein Mann, der alle zwanzig Sekunden tief und rasselnd hustet. Drüben, neben der Tür, versucht eine Frau ihr schreiendes Baby zu beruhigen. Und mittendrin ich, ausgeruht und gesund und in der Hoffnung, dass man mich nicht vor den anderen aufruft.

Und dann taucht der Arzt auf:

»Herr Bortne?«

Meine Ausführungen mache ich ungefähr so, wie ich es vorab vorbereitet habe: »Ich leide seit sechzehn Jahren an chronischer Insomnia«, sage ich als Erstes. In dem Buch, das ich mir vor zwei Tagen aus der Bibliothek geholt habe, verwendet man den Begriff Insomnie, nicht die lateinische Bezeichnung Insomnia. Ich habe Angst, er könnte glauben, ich hätte mir so etwas nur herausgepickt, um mich krank zu stellen. Auch, weil ich will, dass der Arzt derjenige ist, der am meisten über das Thema weiß, bleibe ich vorläufig bei der eher volkstümlichen, wenn auch nicht ganz korrekten Variante: »In letzter Zeit ist meine Insomnia schlimmer geworden und ich bekomme langsam Angst, wenn ich an die langfristigen Auswirkungen von zu wenig Schlaf denke. Und dann mache ich mir auch noch Sorgen um mein Herz. Und ich habe Angst vor Krebs.«

Ich versuche, meiner Angst Ausdruck zu geben, so wie ich sie noch vor einer Woche gespürt habe. Ich versuche, mich noch mehr an sie zu erinnern, damit ich meinem Gegenüber davon berichten kann, auch wenn sich das wie eine Lüge anfühlt.

»Ich muss herausfinden, warum ich nicht schlafen kann«, sage ich. »Vielleicht gibt es keine einfache Erklärung dafür, vielleicht gibt es mehrere Ursachen. Ich bin bereit, das meiste auszuprobieren. Ich suche jetzt nicht mehr nur nach einer schnellen Problemlösung.«

Der Arzt und ich sehen uns an. Er ist jung – auf jeden Fall jünger als ich, mit dunklen Locken und einer rundlichen, schwarzen Brille. Er ist die Vertretung der Vertretung meines Hausarztes, die ich noch nie getroffen habe. Das Gesicht des Mannes ist leer, ausdruckslos. Vielleicht ist er an Patienten gewöhnt, die an Medikamente kommen wollen und ihn nur als zu überwindendes Hindernis betrachten. Ich will aber nicht mit Schlaftabletten nach Hause geschickt werden. Da fahre ich lieber wieder heim und mache so weiter wie bisher.

Der Arzt legt seine Finger auf die Computertastatur und schreibt, während ich rede, dann legt er seine Hände in den Schoß und hört weiter zu.

»Ich versuche auch, selbst daran zu arbeiten«, sage ich.

»Und wie?«

Mein Handy klingelt. Ich ziehe es aus meiner Jackentasche und weise den Anruf ab.

»Ich surfe nicht mehr im Internet, gehe nicht mehr auf Facebook, versuche, mehr Bücher zu lesen. Ich versuche auch, mir mehr Zeit zum Nachdenken zu nehmen. Ich habe mir einen Kalender zum Notieren meiner Termine zugelegt. Ich habe angefangen zu trainieren. Und ich versuche, öfter mein Handy wegzulegen.«

Das Handy klingelt schon wieder.

»Und wie funktioniert das für Sie?«, fragt der Arzt.

Ich nehme das Handy, schalte es ganz ab und murmele eine Entschuldigung.

»Ich versuche, etwas über Schlaf und Schlafstörungen herauszufinden«, sage ich. »Deshalb habe ich mir auch aus der Bibliothek ein Fachbuch geholt.«

Der Arzt blickt nur auf seinen Computerbildschirm, zu mir schaut er nicht mal rüber. Das Letzte, was ich gesagt habe, bereue ich schon wieder. Es stimmt schon, dass ich in der Mittagspause in der Bibliothek war und mir ein Buch – Schlaf und Schlafstörungen – ausgeliehen und darin über Tag-Nacht-Rhythmus, Insomnie und andere Schlafstörungen gelesen habe, aber soll ich das jetzt dem Arzt erzählen?

Ich muss vorsichtig sein, denke ich. Ich muss den Arzt Arzt sein lassen und den Patienten Patient.

»Haben Sie Einschlafprobleme?«, fragt er. Es sieht aus, als lese er etwas vom Bildschirm ab. »Oder wachen Sie zu früh auf, ohne wieder einschlafen zu können? Oder wachen Sie in der Nacht oft auf?«

Ich muss nachdenken. Schon schwierig, das so – zusammen mit dem Arzt – von außen zu betrachten. In den ersten Jahren war die Schlaflosigkeit genau das: ein Leiden, eine Krankheit, etwas, was man betrachtet. Doch in den letzten sechs, sieben Jahren bestimmte die Krankheit mein ganzes Dasein, sie war ich. Ich denke an die letzten Wochen: Letzte Nacht habe ich gut geschlafen, doch in der Nacht davor? Da habe ich gar nicht geschlafen. Auch nicht in den drei Nächten davor. Es fällt mir schwer, mich zu erinnern; die schlaflosen Nächte und Tage gehen ineinander über, es gibt nichts, was einen Unterschied machen würde, nichts, woran ich mich orientieren könnte. Wie ein langer, dunkler Tunnel, bei dem man nur merkt, wenn er beginnt und wenn man durch ist. Ist das alles jetzt schlimmer als früher? Habe ich deshalb eine solche Angst? Hat Line deshalb so darauf bestanden, dass ich nun endlich zum Arzt gehe?

»Alle vier Nächte nicht?«, fragt der Arzt.

Ich nicke.

»Gibt es noch andere Sachen, neben den Schlafstörungen, die Ihnen aufgefallen sind?«

»In letzter Zeit hatte ich wirklich emotionale Gefühlsschwankungen«, sage ich. »Mehr als sonst. Ich werde schnell wütend. Oder aufgeputscht. Oder deprimiert.«

Ich versuche, den Begriff Laune zu vermeiden.

»Arbeiten Sie?«

»Ja.«

»Als was?«

»Ich arbeite für ein Ministerium und schreibe Reden. Und dann bin ich auch noch Schriftsteller – und mache auch noch eine Comic-Serie für eine Tageszeitung. Und dann habe ich da noch ein paar Musikprojekte.«

»Klingt viel«, sagt der Arzt.

»Vor ein paar Wochen musste ich mich krankschreiben lassen. Es ging nicht mehr. Das war das erste Mal, dass ich wegen meiner Schlafstörungen zu Hause bleiben musste.«

»Wie lange waren Sie krankgeschrieben?«

»Vier Tage.«

Meinem Chef hatte ich etwas von einer Magenverstimmung erzählt. Hätte ich die Wahrheit gesagt, dass ich nämlich wegen meiner Schlafstörungen krankgeschrieben worden war, hätten sie sich bei der Arbeit wohl gefragt, was eigentlich mit mir los sei. Ich verschweige meine Schlafstörungen nicht, aber bisher bin ich noch nie damit hausieren gegangen, schon gar nicht, wenn ich mit Leuten zu tun hatte, die mir nicht nahestehen. Wenn ich sage Ich schlafe nicht, dann ist das, als ob ich sagte Ich blute. Alle wollen dann wissen, wie es dazu gekommen sei. Und weil ich das nicht beantworten kann, kann sich jeder etwas anderes zusammenreimen: Anders ist deprimiert, Anders hat irgendein Trauma, Anders geht’s nicht gut auf Arbeit – oder zu Hause oder beides. Solange ich selbst keine Antwort für mich gefunden habe, habe ich Angst, dass die anderen mich als Weichei abschreiben.

Ich weiß nicht, warum ich blute, ich blute einfach.

Sich selbst krankzumelden, wenn auch nur für ein paar Tage, ist schon eine Niederlage. Meine Schlaflosigkeit tauchte vor sechzehn Jahren auf und fühlte sich zunächst an wie ein großer Stein, der mitten auf meinen Weg geplumpst war. Ich fand jedoch immer einen Weg drumherum: Mal bin ich mittags nach Hause gefahren, um etwas zu schlafen, mal kam ich eine Stunde später zur Arbeit oder ich ging eine Stunde früher oder hielt ganz einfach durch, bis ich wieder schlafen konnte. Es war nicht das erste Mal, dass ich wegen der Schlafstörungen alles langsamer angehen musste, aber ich war noch nie wegen Schlafmangel arbeitsunfähig gewesen. Ich habe keine Kraft mehr, weiterzukämpfen. Deshalb gibt es nun keinen Weg mehr drumherum.

»Hat jemand Ihre Schlafstörungen denn schon mal genauer untersucht?«, fragt der Arzt.

»Nein. Meinen Sie denn, das würde helfen?«

Untersuchung der Schlafstörungen ist eine Formulierung, die immer wieder auftauchte, wenn ich in den letzten Jahren mit Freunden oder der Familie über meine Beschwerden sprach. Hast du deine Schlafstörungen schon untersuchen lassen? Ist das etwa meine große Hoffnung? Bin ich eigentlich deshalb hier? Ich weiß nicht einmal, wie das gemacht wird, außer, dass ich eine Nacht unter Beobachtung im Krankenhaus sein müsste. Das hört sich an wie der Titel einer Doktorarbeit: Untersuchung von Schlafstörungen.

Der Arzt schiebt sich mit seinem Bürostuhl vom Schreibtisch weg und rollt zu einem Regal, aus dem er einen dünnen Ordner zieht. Sind das vielleicht seine eigenen Notizen? Er sucht in dem Ordner nach etwas, liest ein bisschen, sucht weiter. Letztes Mal, als ich mit einem meiner Kinder hier war, schaute er mich nicht ein einziges Mal an. Ich bin an Ärzte gewöhnt, die schon alles erlebt, alles gehört haben, die nie wirklich daran glauben, dass etwas Schwerwiegendes vorliegen könnte, ganz egal, mit welchen Beschwerden man ankommt. Aber jetzt ist er neugierig und engagiert. Vielleicht bin ich an diesem Tag für ihn der interessanteste Patient. Vielleicht waren vor mir heute nur Leute mit Migräne und Grippe hier und dann komme ich mit meinen sechzehn Jahren Schlaflosigkeit. Vielleicht war es gerade solch ein Fall, der ihn ursprünglich zum Medizinstudium motiviert hat? Vielleicht wird er jetzt in seinen alten Ordnern aus dem Studium blättern, seine Professoren von damals anrufen, die ebenfalls aus dem akademischen Dämmerschlaf erwachen und ihn dann des Nachts mit Vorschlägen zu innovativen Lösungen anklingeln. Spätabends noch schnell etwas essen, wissenschaftliche Formeln, die eine Wandtafel füllen, halbe Nächte im Archivkeller der Bibliothek.

»Ich weiß nicht, aber normalerweise schaut man sich schon die zugrunde liegenden Probleme an«, sagt er, noch immer über den Aktenordner gebeugt.

»Was meinen Sie?«

»Also, woran liegt es denn, dass Sie nicht schlafen können? Dafür kann es viele Gründe geben, wie Sie ja selbst sagen. Vielleicht wird eine Untersuchung dazu beitragen, die aufzuspüren.« Er klappt den Ordner zu, stellt ihn zurück ins Regal und rollt wieder zurück zu seinem Computer.

Indem ich dem Arzt von meinen Beschwerden berichte, indem ich um Hilfe bitte, merke ich etwas, das ich schon lange nicht mehr wahrgenommen habe: Hoffnung. Hoffnung und Angst. Gibt es die immer nur im Doppelpack? War ich deshalb so zögerlich gewesen, einen Arzt aufzusuchen? Hatte ich Angst davor, wieder einmal ein bisschen Hoffnung zu hegen?

»Für die nächste Zeit habe ich etwas für Sie, das, glaube ich, helfen könnte«, sagt er. »Das sind keine Schlaftabletten, das ist ein Medikament, das man bei bipolaren Störungen nimmt.«

»Glauben Sie denn, ich habe eine bipolare Erkrankung? Schlafe ich deshalb nicht?«

»Es sieht nicht nach einer bipolaren Erkrankung aus – Sie funktionieren bei Ihrer Arbeit. Und ein paar kleinere Episoden dann und wann besagen noch gar nichts. Es ist aber nicht unüblich, Medikamente, die eigentlich für etwas Bestimmtes gedacht sind, für etwas ganz anderes einzusetzen. Und das hier kann man zum Einschlafen nehmen. Es bremst das Gedankenkarussell.«

»Es bremst das Gedankenkarussell?«

»Es verlangsamt das Ganze. Nur nachts.«

»Ich werde also nicht zu einem sabbernden Idioten?«

»Nein, das sind Schlaftabletten.«

Ich nicke, verstehe aber nicht. Sind das nun Schlaftabletten oder nicht? Wovor ich am meisten Angst habe, sind Medikamente, die meine Fähigkeit, zu schreiben oder Musik zu machen, begrenzen oder ausschalten. Verliere ich die, dann ist es egal, ob ich in allen anderen Bereichen funktioniere.

»Wie lange soll ich das einnehmen?«

»Eine Woche und dann kommen Sie wieder. Dann besprechen wir, wie es Ihnen gegangen ist, und ich sehe mal, ob ich Sie an einen Spezialisten überweisen kann.« Er stellt ein Rezept aus und bedeutet mir, dass unser Gespräch nun zu Ende sei. »Lassen Sie sich von der Packungsbeilage nicht beunruhigen!«, sagt er noch, als ich schon aus dem Sprechzimmer gehe.

Als ich ein paar Stunden später in der Apotheke stehe, um mir mein Medikament zu holen, sehe ich, dass ich meine Bankkarte nicht mithabe. Die muss ich auf Arbeit liegen gelassen haben. Ich radele zur Arbeit, finde die Karte auf meinem Schreibtisch, radele wieder zurück zur Apotheke und wedele außer Atem mit der Karte in Richtung der Apothekerin, die verhalten zurücklächelt. Ich, der ich mich gegen Medikamente entschieden hatte und zum Arzt gegangen war, um eine dauerhafte Lösung zu finden, stehe jetzt wie ein Idiot vor der Apothekerin und schreie schon beinahe: »Schauen Sie mal, ich kann sogar für meine Pillen bezahlen!«

Die Apothekerin schiebt die Tablettenschachtel über den Ladentisch und tippt den Preis in die Kasse ein. Ich bezahle mit Karte. Die Schachtel sieht aus wie alle anderen, eine weiße, flache, rechtwinklige Tablettenschachtel.

»Und lassen Sie sich von der Packungsbeilage nicht beunruhigen!«, sagt sie noch.

Ich hole die Kinder aus dem Kindergarten, setze sie in die Box vorn am Lastenfahrrad und radele nach Hause. Während die beiden draußen spielen, koche ich Tomatensuppe, mache Eierpfannkuchen und lade unser Nachbarkind zum Essen ein. Nach dem Essen renne ich mit den restlichen Pfannkuchen zu unseren Nachbarn von oben. Hätte ich letzte Nacht schlecht geschlafen, hätten wir uns mit Schinkenpizza und Cola begnügt. Die Nachbarn hätten nichts abbekommen. Aber jetzt habe ich die Kraft, mich wie ein gut funktionierender, leistungsfähiger Mitmensch zu benehmen.

Line macht heute Überstunden und kommt erst nach Hause, als die Kinder schon im Bett sind. Ich erzähle ihr vom Arztbesuch und dem Medikament, das ich verschrieben bekommen habe.

»Aber das ist ja genau das, was du nicht wolltest!«, sagt sie. »Du hast selbst gesagt, du bist gegen Schlaftabletten!«

»Aber das sind doch keine Schlaftabletten!«, sage ich.

»Ach nein?«

»Der Arzt sagt, sie verlangsamten das Gedankenkarussell. Er möchte sehen, ob mir das was bringt.«

Line schaut mich an. Sie denkt nach, sehe ich, sagt aber nichts mehr. Das hier ist meine Entscheidung. Ich lege die Medikamentenschachtel auf den Tisch, an dem wir sitzen, falte den Beipackzettel auseinander, bis er so groß wie eine Tischdecke ist, und lese: Antipsychotika. Zur Einnahme bei Schizophrenie, Manie und bipolaren Erkrankungen.

 

2

Mit der Schlaflosigkeit fing es an, als ich mit Ende zwanzig mein Studium abgeschlossen hatte und wegen der neuen Arbeit von Bergen nach Oslo gezogen war. Morgens ging ich zur Arbeit, nachmittags probte ich mit einer meiner beiden Musikbands, abends war ich mit Freunden unterwegs. An den Wochenenden schrieb ich an meinem ersten Roman. Mein soziales Netzwerk war groß, meine Ambitionen riesig und dann traf ich auch noch Line.

Ich wohnte in einer kleinen, schmuddeligen, aber dafür eigenen Zweizimmerwohnung, ganz am Ende des Trondheimsveiens. Ich erinnere mich, wie sehr ich diese Wohnung liebte, auch wenn ich heute daran denken muss, dass dort meine Schlaflosigkeit ihren Anfang nahm. In dem kleinen Schlafzimmer, auf einem Boxspringbett von IKEA, lag ich nächtelang wach, hörte die letzte Tram, die nachts um eins vorbeiratterte, und die allererste morgens um fünf. Danach saß ich zitternd auf der Bettkante und war von einer unerklärlichen Unruhe erfüllt. Es war nichts Schlimmes passiert und würde auch nicht passieren. Ich würde genau dasselbe machen wie am Tag zuvor: mich duschen, anziehen, mir die Zähne putzen und zur Arbeit gehen, wo ich für das interne Informationsblatt der norwegischen Post Artikel schrieb. Die allergrößte Dramatik dieses Jobs bestand darin, Fotos von der Übergabe der riesigen Checks für die Angestellten des Monats zu knipsen. Wovor hatte ich Angst? Warum konnte ich nicht schlafen? Ich schaute in den Spiegel: Nichts davon zu sehen, dass ich die ganze Nacht über wach gelegen hatte. Und die Tage nach diesen schlaflosen Nächten verliefen überraschend gut. Und in der nächsten Nacht würde ich mit Sicherheit ja wieder schlafen können.

Doch ich konnte nicht mehr schlafen, es ging nichts mehr. Kein Schlaf – zwei, drei, vier Nächte hintereinander weg! Ich war so überrascht über dieses plötzliche Ausbleiben des Schlafes, dass ich es allen Bekannten erzählte, die mir über den Weg liefen, so wie nach einem Überfall auf offener Straße: Ich habe die beiden letzten Nächte nicht schlafen können! Wirklich wahr! Und ich habe keine Ahnung, warum!

Aber ich wollte auch gar nicht wissen, warum ich nicht schlafen konnte, ich wollte einfach nur schlafen. Ich ging wieder zum Arzt, dieses Mal zu einem anderen, der mir aber auch nur Schlaftabletten verschrieb. Was könnte denn noch helfen? Schlaftabletten waren das Einzige, das uns beiden einfiel – natürlich würde ich Tabletten nehmen müssen. Und anfangs halfen sie auch. Imovane, Apodorm, Stilnoct. Ich ging zum Arzt und bekam mein Rezept. Hatte ich die Tabletten aufgebraucht, schrieb mir ein Freund, der gerade sein Medizinstudium abgeschlossen hatte und nun zugelassener Arzt war, abends und am Wochenende neue Rezepte aus. Ab und an bekam ich von Freunden Schlaftabletten, die sie noch zu Hause rumliegen hatten. Wenn mein Pillendealer keine Zeit hatte, mich zu treffen, verabredeten wir ein Versteck, wo ich die Pillen einsammeln konnte. Ich hatte die Fantasie und die Überredungskunst eines Pillenjunkies. Ich konnte mir immer Tabletten beschaffen, versuchte aber auch immer, nicht durchblicken zu lassen, wie verzweifelt ich war. Einmal verabredete ich mich mit einer Freundin, die erzählt hatte, sie hätte noch eine Tablette bei sich zu Hause. Ich hatte drei Nächte hintereinander nicht schlafen können, es gab keine Alternative. Sie musste verreisen, also überredete ich sie, bevor sie losfuhr, die Tablette in einer Plastiktüte unter die Müllcontainer vor der Haustür zu legen. Ich lief im Sturzregen durch die Stadt zum vereinbarten Platz, legte mich auf den Boden und suchte so lange unter den Müllcontainern nach der Plastiktüte, bis ich sie fand. Glücklich lief ich nach Hause und hatte dabei die ganze Zeit meine Hand in der Hosentasche um den Blister gekrampft, der noch eine einzige Tablette enthielt.

Eine kleine Tablette nur und schon konnte ich nachts schlafen. Hatte ich am nächsten Tag in Bestform zu sein, konnte ich mich mit einer der kleinen Schlaftabletten begnügen. Als ich mein erstes Buch herausbrachte, ging es in der Nacht vor einem Interview gar nicht ohne Schlaftabletten. Ich hatte riesige Angst davor, wie ein Zombie dazuhocken, ich wollte als smart, cool und wach rüberkommen. Und ich wollte auf den Fotos gut aussehen. Das war in der Zeit, in der ich mir noch nicht eingestehen wollte, dass meine Schlafstörungen nicht aufhören wollten. Für mich waren die Schlafstörungen eine Extrabürde, die ich eine Weile tragen, aber eines Tages würde abwerfen können. In der Zwischenzeit versuchte ich, das anderen gegenüber so gut wie möglich zu verheimlichen und durchzuhalten. Also schluckte ich eine Schlaftablette, schlief fest, schlief lange und war am nächsten Tag ausgeruht.

Das war zu gut, um auch auf lange Sicht zu funktionieren. Die Tabletten verloren nach und nach an Wirkung und hatten am Ende gar keine mehr. Stattdessen wurde ich wirr und apathisch und mein Mund trocken.

Schlafmittel bringen keinen natürlichen Schlaf. Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen, die nur mit Schlaftabletten schlafen können, nicht genug jener tiefsten Gehirnwellen erzeugen, die Auskunft über die Tiefe und Qualität des Schlafes geben können.1 Schlaftabletten greifen die Rezeptoren an, die die Gehirnzellen daran hindern, Impulse auszusenden. Schlaftabletten, genau wie Alkohol, betäuben, darauf lässt sich kein Lebensstil aufbauen. Und dann gibt es auch noch all die anderen ungewollten Nebenwirkungen von Schlaftabletten, über die ich mir, als ich abhängig war – und abhängig war ich wirklich –, nicht im Klaren war: Schlaftabletten können vergesslich machen. Man macht Sachen, ohne sich darüber voll bewusst zu sein. Das Reaktionsvermögen kann am Tag darauf eingeschränkt sein, man kann zu einer Gefahr für den Straßenverkehr werden. Wenn man die Schlaftabletten dann absetzt, schläft man mitunter schlechter als vor Beginn der Einnahme. Und es kann noch schlimmer kommen. Eine große amerikanische Studie verglich 10.000 Patienten, die Schlaftabletten nahmen, um schlafen zu können, mit 20.000 anderen, die keine nahmen.2 Diejenigen, die Schlaftabletten einnahmen, hatten eine 4,6-prozentige Wahrscheinlichkeit, während der zweieinhalbjährigen Testphase zu sterben. Die Sterblichkeitsrate wurde größer, je mehr Tabletten man einnahm. Die Studie zeigte auch, was frühere Untersuchungen bereits angedeutet hatten, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Verbrauch von Schlaftabletten und Krebserkrankungen gibt. Diejenigen, die Schlaftabletten einnahmen, hatten eine 30–40 % höhere Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken!

Schlaftabletten funktionieren nicht und können mich das Leben kosten. Doch obwohl ich das jetzt weiß, hätte ich sie trotzdem genommen, wenn ich gewusst hätte, dass sie helfen. Ein Mensch, der drei Tage lang nichts zu essen bekommen hat, würde doch auch egal was essen, nur um keinen Hunger mehr haben zu müssen – und das trotz aller Warnungen zu den möglichen Nebenwirkungen, oder? Wenn man nicht schlafen kann, tut man wirklich alles, um doch nur ein paar Stunden schlafen zu können. Sie brauchen bloß die halbe Million Norweger – bei einer Bevölkerung von 5,2 Millionen – zu fragen, die heutzutage Schlaftabletten einnehmen, um schlafen zu können. Und der Verbrauch steigt. Von 2000 bis 2010 stieg der Verbrauch an Schlafmitteln allein in Norwegen von 6,9 % auf 11,1 %.3

Ich weiß nur von einem einzigen Menschen, der so wie ich an chronischer Insomnie leidet, aber fast alle anderen, die ich kenne, haben irgendwann einmal Schlaftabletten genommen. Und man braucht dafür nicht einmal, so wie ich, unter Müllcontainern herumzusuchen. Ein Freund von mir nahm das erste Mal während eines Krankenhausaufenthaltes Schlaftabletten – und nimmt sie immer noch. Jedes Mal, wenn er wieder alle aufgebraucht hat, loggt er sich auf der Internetseite seines Hausarztes ein, schreibt als Stichwort nur Schlaftabletten, und schon bekommt er sein Rezept. Nachgefragt wird nicht.

Auch wenn die Wirkung nachließ, nahm ich aus reiner Verzweiflung auch die folgenden zwei Jahre noch Tabletten. Einmal versuchte ich, die Schlaftabletten auszusetzen, um das System wieder auf null zu stellen und den Körper auf eine neue Runde vorzubereiten, aber das funktionierte nicht. Ich probierte auch sogenannte Einschlaftabletten, die noch weniger Wirkung hatten, aber nicht weniger belastende Nebenwirkungen. Die Medikamente arbeiteten nun gegen mich. Mein Gehirn hatte Stopp signalisiert. Nach drei Jahren Insomnie musste ich die Tabletten absetzen. Ohne sie ging es mir besser – auch wenn ich in der Zeit danach noch schlechter schlief. Das wiederum ließ mich sehr schnell nach anderen Dingen suchen, die meinem Schlaf helfen konnten. Aber bloß keine Schlaftabletten mehr, dachte ich. Es ist nun mehr als zwölf Jahre her, seit ich das letzte Mal Medikamente genommen habe, um schlafen zu können. Sollte ich nun wieder damit anfangen?

 

3

Bald ist es Nacht. Ich telefoniere mit einem Freund, der Arzt ist und dessen bessere Hälfte ebenfalls Schlafstörungen hat. Er hat mir schon mal geholfen, mit Ratschlägen und Rezepten. Ich fasse meine Krankengeschichte zusammen und lese ihm Abschnitte aus dem Beipackzettel vor.

»Wovor hast du Angst?«, fragt er mich.

»Das Medikament ist für psychisch Kranke. Ich will einfach nur schlafen! Ich möchte nichts nehmen, was mich irgendwie verändert.«

»Der Arzt hat dir ein Medikament in einer sehr niedrigen Dosierung verschrieben. Das solltest du probieren. Du hast nichts zu verlieren.«

Ich schlucke eine der kleinen Tabletten um halb elf, das ist viel zu früh am Abend für mich. Ohne Hilfsmittel würde ich um diese Zeit nicht schlafen können. Aber ich denke mal, wenn ich schon schummele, dann kann ich genauso gut versuchen, einen langen Schlaf rauszuschlagen. Ausnahmsweise gehe ich mal zusammen mit Line schlafen; sie schließt bald die Augen und wird ruhig. Das war eine der ersten Sachen, die ich von ihr kennenlernte, nämlich was für ein gutes Verhältnis zum Schlaf sie hatte und wie viel Schlaf sie brauchte. In den Phasen, in denen ich normal schlafen kann, scheint sie aber sogar noch doppelt so viel Schlaf zu brauchen wie ich. Jetzt schaue ich zu, wie sie einschläft, … jetzt kommt das leichte Zucken, als würde sie über eine Schwelle stolpern. Sie liegt in ihrer Lieblingshaltung mit gekreuzten Armen auf der Seite. Die Bettdecke verdeckt die untere Hälfte des Gesichts, lediglich die Nase schaut raus. Mucksmäuschenstill. Sie schläft und wird das auch noch viele weitere Stunden tun. Sie ist auf einer nächtlichen Reise, die jeder Schlafende unternimmt und die aus verschiedenen Abschnitten oder Schlafphasen zusammengesetzt ist: Zuerst die Einschlafphase, das Dösen zwischen Wachsein und Schlaf, dann die Leichtschlafphase, in der sie die Hälfte der Nacht verbringen wird. Das ist das Schlafniveau, zu dem wir jedes Mal, wenn wir von einer Schlafphase in die nächste wechseln, zurückkehren. Wir schlafen. Nach der ersten halben Stunde gehen wir in die Tiefschlafphase, den sogenannten Deltaschlaf über. In der Tiefschlafphase ist das Tor der Sinne zu. Ob die Kinder nun jammern oder nach uns rufen, Line würde nicht wie ich aus dem Bett hochfahren, denn ich scheine fast nie Tiefschlafphasen zu haben. Im Tiefschlaf bewegen sich die Augen nicht, die Muskeln entspannen sich zunehmend, das Gehirn ändert seinen Rhythmus und arbeitet nun in langsamen und tiefen Wellen, den sogenannten Deltawellen, die 0,5 bis 3 Zyklen pro Sekunde ausmachen. Das könnte man mit den sich bewegenden Wellen eines Schwimmbeckens vergleichen. Wenn das Becken voller Leute ist, die sich viel bewegen, entstehen viele kleine Wellen. Sind da weniger Leute, die sich auch noch weniger, aber im gleichen Takt bewegen, entstehen weniger, aber dafür höhere Wellen.4 So arbeitet unser Gehirn, wenn die Reize der Außenwelt des Nachts ausgeschaltet werden. Nach dem Tiefschlaf, der circa anderthalb Stunden andauert, gleiten wir wieder für einige Minuten zurück in den Leichtschlaf, bevor der REM-Schlaf oder Traumschlaf einsetzt, der sich wiederum von den anderen Schlafphasen unterscheidet: Die Gehirnwellen werden wieder kleiner und kürzer, die Augenbewegungen schneller, die Atemzüge unruhig und die Muskeln erschlaffen. Nachdem wir uns eine Weile in der ersten von mehreren REM-Schlafphasen befunden haben, wiederholt sich der Zyklus: Leichtschlaf, Tiefschlaf, Leichtschlaf, REM-Schlaf, Leichtschlaf, Tiefschlaf, Leichtschlaf, REM-Schlaf. Wachen wir nachts auf, dann höchstwahrscheinlich irgendwann zwischen diesen Phasen, die sich bis zum Aufwachen wiederholen. Diese sind jedoch nicht gleich lang. Je näher wir dem Punkt des Aufwachens kommen, desto kürzer werden die Tiefschlafphasen und desto länger die REM-Schlafphasen. Fast den gesamten Tiefschlaf bekommen wir in der ersten Nachthälfte. Kurz vor dem Aufwachen durchlaufen wir die längsten REM-Phasen.