Schloss Liebenberg. Hinter dem goldenen Schatten - Hanna Caspian - E-Book
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Schloss Liebenberg. Hinter dem goldenen Schatten E-Book

Hanna Caspian

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Beschreibung

Gefährliche Geheimnisse & neue Allianzen auf Schloss Liebenberg: Im 3. Teil der historischen Saga spitzt sich sowohl die Situation für die Dienstboten als auch der Skandal um Philipp Fürst zu Eulenburg bedrohlich zu.  Schloss Liebenberg in Brandenburg, 1908: Während die Familie des Fürsten politisch immer weiter unter Druck gerät, sucht das Dienstmädchen Adelheid nach gefälschten Beweisen gegen Eulenburg, um ihre Geldquelle nicht versiegen zu lassen. Als Viktor sie eines Tages überraschend küsst, wähnt sie sich im siebten Himmel – nicht ahnend, dass der Kammerdiener sie nur von dem Geheimnis ablenken wollte, das ihn seine Stelle kosten könnte. Dann erkundigt sich die Fürstin persönlich nach Adelheids Mutter und ist geschockt, als sie von deren Tod erfährt. Adelheid beginnt zu ahnen, was damals wirklich geschehen ist – und muss entscheiden, wem ihre Loyalität in Zukunft gelten soll …  »Schloss Liebenberg. Hinter dem goldenen Schatten« ist der 3 Teil der großen historischen Saga von Bestseller-Autorin Hanna Caspian: Anfang des 20. Jahrhunderts hat der sogenannte »Eulenburg-Skandal« das deutsche Kaiserreich in seinen Grundfesten erschüttert und Kaiser Wilhelm II. fast zu Fall gebracht.  Die Saga ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Schloss Liebenberg. Hinter dem hellen Schein - Schloss Liebenberg. Hinter dem falschen Glanz - Schloss Liebenberg. Hinter dem goldenen Schatten   

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Hanna Caspian

Schloss Liebenberg

Hinter dem goldenen Schatten

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Schloss Liebenberg 1908: Während die Familie des Fürsten politisch immer weiter unter Druck gerät, sucht das Dienstmädchen Adelheid nach gefälschten Beweisen gegen Eulenburg, um ihre Geldquelle nicht versiegen zu lassen. Als Viktor sie überraschend küsst, wähnt sie sich im siebten Himmel – nicht ahnend, welchen Zweck der Diener mit seinem Kuss wirklich verfolgte. Dann erkundigt sich die Fürstin persönlich nach Adelheids Mutter und ist geschockt, als sie von deren Tod erfährt. Adelheid beginnt zu ahnen, was damals wirklich geschehen ist – und muss entscheiden, wem ihre Loyalität in Zukunft gelten soll …

Inhaltsübersicht

Motto

Personenverzeichnis

Kapitel 1

9. Mai 1908

10. Mai 1908

11. Mai 1908

12. Mai 1908

Kapitel 2

13. Mai 1908

15. Mai 1908

17. Mai 1908

18. Mai 1908

Kapitel 3

2. Juli 1908

Anfang Juli 1908

15. Juli 1908

Mitte August 1908

Kapitel 4

26. September 1908

30. September 1908

16. Oktober 1908

19. Oktober 1908

Kapitel 5

Mitte Oktober 1908

Mitte Oktober 1908

6. November 1908

15. November 1908

Kapitel 6

Ende November 1908

6. Dezember 1908

13. Dezember 1908

19. Dezember 1908

Kapitel 7

31. Dezember 1908

Silvester 1908

1. Januar 1909

1. Januar 1909

Kapitel 8

Mitte Januar 1909

Anfang Februar 1909

Anfang Februar 1909

Februar 1909

Kapitel 9

Mitte Februar 1909

Mitte Februar 1909

März 1909

12. April 1909

Kapitel 10

Mitte April 1909

Mitte April 1909

25. Mai 1909

28. Juni 1909

Kapitel 11

7. Juli 1909

8. Juli 1909

9. Juli 1909

10. Juli 1909

8. Juli 1909

21. Juli 1909

Nachwort

 

 

 

 

»Aber es treten auch Augenblicke ein, in denen man vor die Wahl gestellt wird, sein eigenes Leben zu leben, ganz, erschöpfend, vollgültig – oder eine falsche, hohle, erniedrigende Existenz weiterzuschleppen, wie es die Welt in ihrer Heuchelei verlangt.«

Oscar Wilde, aus: Lady Windermeres Fächer

Dienstboten

Adelheid Schaaf – Zweites Hausmädchen

Hedda Pietsch – Zweites Stubenmädchen

Viktor Novak – Erster Diener

Oswald Opitz – Haushofmeister, also Butler und höchster Diener

Henriette Reineke – Mamsell

Martha Petzold – Erstes Stubenmädchen

Lydia Keller – Drittes Stubenmädchen

Gerda Altvater – Erstes Hausmädchen

Diedrich Budde – Zweiter Diener

Moritz Lüdke – Hausbursche

Hubertine Möckel – Köchin

Irene Böhme – Unterköchin

Liesel – Küchenmädchen

Anni – Spülmädchen

Herr Hartwich – Kutscher / Chauffeur

Leopold Theurich – Kammerdiener des Fürsten

Helena Grooten – Kammerzofe der Fürstin

Sonstige Personen

Constanze Maiwald – Gesellschafterin von Ruth Mandelbaum

Hugo Mahlzahn – Constanzes Verlobter

Ruth Mandelbaum – jüdische Witwe

Arthur Schneider – Kammerdiener in Berlin

Anton Sibelius – Privatdetektiv aus Berlin

Familienangehörige

Karl Schaaf – Vater von Adelheid

Friedel, Bernhard, Edeltraud, Gundula und Gunther – Geschwister von Adelheid

Justus und Anna Novak – Eltern von Viktor

Ricarda, Theodora und Leander – Viktors Geschwister

Historische Persönlichkeiten

Die Fürstin, Gräfin von Sandels – Gattin des Fürsten zu Eulenburg

Alexandrine, Augusta und Viktoria – Töchter des Fürsten

Friedrich-Wend – ältester Sohn des Fürsten

Politische Figuren

Fürst Philipp zu Eulenburg und Hertefeld, Graf von Sandels – langjähriger bester Freund von Kaiser Wilhelm II.

General Kuno von Moltke – ehemaliger Stadtkommandant von Berlin und Flügeladjutant des Kaisers

Maximilian Harden – Journalist, Begründer der Zeitschrift Die Zukunft

Kapitel 1

9. Mai 1908

Eine lähmende Stille umgab das Schloss. Doch im Schloss selbst waren alle in Aufruhr. Der Fürst war gestern verhaftet worden. Verhaftet!

Die Fürstin war ihrem Mann nach Berlin nachgereist, mit ihrer Kammerzofe und dem Kammerdiener des Fürsten. Begleitet wurden sie von Viktor Novak, dem ersten Diener.

Viktor Novak, der Adelheid so schändlich getäuscht hatte. Er hatte sie geküsst, um sie von seinem Geheimnis abzulenken. Und sie hatte sich von ihm an der Nase herumführen lassen. Wie naiv sie doch gewesen war. Klüger, als zu vermuten war, aber trotzdem so unfassbar naiv. In ihr brodelte es. All diese Gefühle, die plötzlich um die Vorherrschaft über ihr Herz kämpften. Altbekannte Scham, tiefste Enttäuschung, Wut über den Verräter, aber auch Wut über sich selbst. Selbstvorwürfe – wie hatte sie nur so leichtgläubig auf Viktor hereinfallen können? Rachegedanken, die in ihrem Kopf tobten. Sollte er doch zum Teufel gehen mit seinem gewellten blonden Haar, das ihm so etwas Elegantes verlieh. Mit seinem sanften Gesicht und den jungenhaften Grübchen, die nur erschienen, wenn er lächelte. Was er ohnehin ja nie tat. Jawohl, zum Teufel damit. Aber jeden Abend im Bett, wenn Adelheid alleine war, überkam sie schlichter, aber abgrundtiefer Herzschmerz. Ein vernichtendes Urteil des Körpers über ihren Verstand. Und gleichzeitig eine angemessene Strafe. Aber vielleicht war es ja auch Gott, der sie strafte.

Durch die Verhaftung war der Fürst öffentlich gedemütigt worden. Und damit ebenso seine Frau, die Fürstin. Die Fürstin hatte den Tod der Mutter verschuldet, zumindest mitverschuldet. Und dafür hatte Adelheid Rache geschworen. Waren ihre Rachegelüste nun gestillt? Ja, sie hatte sich gerächt, und zwar fulminant. Und doch fühlte es sich nicht befriedigend an. Nicht befreiend. Und Adelheid hatte auch nicht das Gefühl, dass der Gerechtigkeit Genüge getan war.

Stattdessen machte auch sie sich nun, wie alle anderen im Schloss, über den Umstand der Verhaftung Sorgen. Wie ginge es weiter? Würde der Fürst ins Gefängnis kommen? Welche Auswirkungen würde das auf die haben, die hier im Schloss arbeiteten? Welche Konsequenzen könnte es für sie persönlich haben? Wenn die Zahl der Dienstboten tatsächlich verringert wurde – würde sie ihre Stellung verlieren?

Aus dem Fenster heraus hatte sie gestern den Abtransport des Fürsten beobachtet, wie er mit seinem Hausarzt und dem Kommissar zusammen in das Automobil gestiegen war. Wenig später war die Fürstin mit ihrer Begleitung abgefahren. Die Fürstentöchter durften nicht mitreisen, hatte man entschieden. Was zu einem kleinen Tumult in der Eingangshalle geführt hatte. Doch dieses Mal hatte die Fürstin sich durchgesetzt.

Hedda war seit zehn Tagen fort, entlassen. Herr Opitz und Lydia Keller hatten ihr die Schuld für den Treppensturz der Mamsell in die Schuhe geschoben, hinterrücks und außerordentlich gemein. Jetzt gab es niemanden mehr im Schloss, dem Adelheid vertraute.

Dabei hätte sie gerade jetzt, in diesen chaotischen Zeiten, Heddas beruhigende und erklärende Art nötig gehabt. Alle schienen vollkommen eingenommen und eingeschüchtert von der Entwicklung, dass ihr Dienstherr nicht nur der Homosexualität, sondern auch des Meineides schuldig sein sollte.

Die Küchenmädchen tuschelten die ganze Zeit, und die Köchin, Frau Möckel, ging nicht dazwischen. Martha Petzold dagegen war schon seit Tagen äußerst schweigsam. Vor ihrem Rausschmiss hatte Hedda Adelheid noch eine Warnung für Martha mit auf den Weg gegeben. Doch es war unnötig gewesen, diese an Fräulein Petzold weiterzugeben. Auch wenn die nicht wusste, wer eigentlich schuld war an dem folgenreichen Unfall der Mamsell, so war ihr doch mittlerweile bewusst, dass sie bei Lydia Keller höllisch aufpassen musste. Eigentlich hatte Martha für die Zeit der Abwesenheit der Mamsell das Oberkommando über die weibliche Dienerschaft. Doch Lydia spielte sich plötzlich auf, als wäre sie die Mamsell höchstpersönlich. Und Herr Opitz griff nicht ein. Martha Petzold war machtlos und schlich so geduckt durch die Gänge, wie man es sonst nur von Moritz, dem Hausburschen, kannte.

Dagegen war Diedrich Budde völlig außer sich. Da im Moment von den Herrschaften nur die zwei Komtessen anwesend waren, die sich gestern den ganzen Tag in ihre Privaträume zurückgezogen hatten, hatte er nicht viel zu tun. Stundenlang stand er in der Leutestube und empörte sich über den ungehörigen Verdacht gegen den Fürsten. Und alle paar Minuten verfiel er lautstark der Sorge, es könnte tatsächlich wahr sein. Zumindest tat er das, wenn Herr Opitz nicht gerade in der Nähe war.

Einzig für die Hausmädchen, für sie und Gerda Altvater, schien sich kaum etwas geändert zu haben. Mit Gerda sollte Adelheid heute die Räume in den Dienstbotenetagen reinigen. Die Zimmer der Kammerzofe und des Kammerdieners, und auch die von Herrn Opitz und Frau Reineke, sowie die Badestuben der Männer und der Frauen wurden von den Hausmädchen sauber gehalten. Alle anderen Bediensteten waren für ihre Kammern selbst zuständig.

Gerda fegte oben schon den Flur, während Adelheid unten Putzwasser und Feudel holte. Seit sie vom Stubenmädchen zum Hausmädchen degradiert worden war, verbrachte sie die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit den Händen im Putzwasser. Die Böden in den Herrschaftsräumen wurden fast jeden Tag gewischt, ebenso das Vestibül und die elendig langen Flure in den Herrschaftsetagen. Und mindestens jeden zweiten Tag waren die breiten Treppen dran. Immerhin musste sie momentan nur die zwei Abortpfannen der Komtessen leeren.

Als sie nun, beschwert mit heißem Putzwasser und Feudel, unten aus der Waschküche trat, sah sie an der Ecke Herrn Opitz stehen. Die Herrschaften waren fort, und die Komtessen interessierte es nicht, was unten in der Dienstbotenetage vor sich ging. Sie trugen sich gerade mit ganz anderen Sorgen. Adelheid hatte furchtbare Angst davor, wieder von dem obersten Diener bedrängt zu werden. Beide Male war nichts passiert, aber momentan konnte Herr Opitz schalten und walten, wie es ihm beliebte. Opitz war gefährlicher als je zuvor.

Adelheid duckte sich, als sie an ihm vorbeiging.

»Bezieht das Bett von Mamsell Reineke«, herrschte er sie an.

»Jawohl«, sagte Adelheid kleinlaut. Wurde die Mamsell etwa zurückerwartet? Das wäre überraschend. Hatte man ihnen doch erzählt, sie habe einen komplizierten Hüftbruch und dürfe noch wochen-, gar monatelang nicht arbeiten. Man hatte sie in Eberswalde, im Auguste-Viktoria-Heim, untergebracht.

Vermutlich hatte die Fürstin entschieden, dass man die Komtessen Alexandrine und Viktoria nicht einfach alleine im Schloss belassen durfte. Wann die Fürstin, ja wann der Fürst selbst zurückkehren würden auf das Schloss, stand in den Sternen. Aber was sollte Mamsell Reineke mit einer gebrochenen Hüfte ausrichten?

Adelheid huschte an Opitz vorbei. Doch er nahm kaum Notiz von ihr. Etwas schien ihn zu beschäftigen. Vorgestern war er plötzlich verschwunden, ab nach Berlin, um bei den Banken nach einem Kredit für die Kaution des Fürsten zu fragen, so weit hatte es sich herumgesprochen. Doch er war mit leeren Händen zurückgekommen. Hatte auch er Angst, entlassen zu werden? Das konnte Adelheid sich kaum vorstellen.

Sie lief die Dienstbotentreppe hoch. Gerda Altvater wartete schon auf sie. Je länger Gerda nicht mehr mit Lydia Keller zusammenarbeitete, desto freundschaftlicher wurde ihr Verhältnis. Doch an ihre Freundschaft mit Hedda reichte es lange nicht heran.

»Wir sollen das Bett der Mamsell beziehen, hat Herr Opitz mir aufgetragen.«

»Dann kommt sie also zurück?«

Adelheid zuckte mit den Schultern. »Vermutlich. Und vielleicht fangen wir dann auch direkt mit ihrem Zimmer an.«

Gerda nickte. Obwohl sie über ihr stand, hatte das erste Hausmädchen kein Problem damit, sich Adelheids Vorschläge anzuhören. Zumal sie besser planen und organisieren konnte als Gerda, der das wohl auch bewusst war.

Nachdem Adelheid sich damit abgefunden hatte, nur noch Hausmädchen zu sein, war sie immer davon ausgegangen, sie würde in ein paar Jahren erneut zum Stubenmädchen aufsteigen. Dann wieder mit höherem Lohn und längeren Schlafenszeiten. Bis dahin musste ihre Familie eben mit weniger Geld zurechtkommen. Doch seit damals war viel passiert. Ihre Mutter war gestorben, ihr Vater hatte das Saufen angefangen, das Baby war gestorben, die ältesten Brüder waren fortgegangen und ihre jüngsten Geschwister litten Hunger. Sie hatte handeln müssen. Und sie hatte gehandelt, sehr gut gehandelt. Fast zweihundertfünfzig Mark hatte sie kassiert, als sie Herrn Harden, dem Journalisten, der die ganze Sache gegen den Fürsten ins Rollen gebracht hatte, Informationen verkauft hatte. Informationen, die anscheinend schlussendlich doch ausgereicht hatten, den Fürsten verhaften zu lassen. Dank Adelheid ging es ihren Geschwistern nun gut, also zumindest besser. Ihre Brüder Friedel und Bernhard waren zurückgekehrt, und auch der Vater hatte sich von seiner schweren Zeit nach dem Tod der Mutter erholt.

Und doch blieb da ein schaler Geschmack. War es ihr schlechtes Gewissen dem Fürstenpaar gegenüber? Ja, vielleicht, ein wenig. Was Adelheid überraschend zugeben musste. Warum, wusste sie nicht. Denn genau so ein Unglück, das nun über den Fürsten und die Fürstin gekommen war, hatte sie sich erhofft. Aber nun schien ihr dieses Unglück unangemessen groß zu sein. Nein, schalt sie sich immer wieder. Ihre Mutter war gestorben, weil die Fürstin den Arzt nicht hatte bestellen wollen. In der Folge war auch das Baby verstorben. Was konnte schwerer wiegen als der Tod zweier Menschen?

In ihrem Kopf aber rumorte es Tag und Nacht. War ihre Rache angemessen? Würde sie bald entlassen? Würde man nun im Prozess gegen den Fürsten dahinterkommen, dass jemand aus dem Schloss Herrn Harden mit geheimen Informationen versorgt hatte? Würde dann sie statt des Fürsten ins Gefängnis müssen? Und hätte sie dann noch Gelegenheit, das übrig gebliebene Geld aus der kaputten Kommode zu holen, um es ihrer Familie zukommen zu lassen? Doch als hätte sie keine größeren Sorgen, schweiften ihre Gedanken ständig ab, hin zu Viktor Novak und dem, was er ihr angetan hatte.

»Aber ich dachte, sie muss dort monatelang liegen! Ihr Unfall ist noch keine zwei Wochen her«, setzte Gerda nun nach.

»Ich weiß auch nicht mehr als du.«

Sie gingen also in die Schlafkammer der Mamsell, fegten dort, putzten, wischten die Möbel ab, um zuletzt das Bett frisch zu beziehen. Würde die Mamsell wirklich heute zurückkommen, wäre sie bestimmt froh, wenn alles reinlich war.

Just, als sie mit der Kammer fertig waren, kam Martha herein. »Wir sollen uns unten versammeln. Die Mamsell ist gerade eingetroffen. Es gibt einiges zu besprechen. Ihr könnt später hier oben weitermachen.«

Sie folgten Martha runter in das Souterrain. Die Küchenbediensteten steckten neugierig ihre Nasen in die Leutestube. Adelheid entdeckte Moritz und Lydia Keller. Noch bevor sie zu dritt eintraten, hörten sie schon die Stimme der Mamsell, dünner als früher, und der gewohnte Befehlston fehlte gänzlich.

»Es geht schon … Geht schon. Lassen Sie mich … nur eben …« Ein schmerzverzogener Ton folgte. Die Mamsell ließ sich gerade auf einen Stuhl nieder. Ihr Gesicht wirkte noch strenger als vorher, noch schmaler. Lydia drückte ihr auffallend freundlich ein Kissen in den Rücken.

Aus dem Flur erklang ein metallisches Scheppern. »Wo soll ich das Feldbett denn hinstellen? Hier in die Leutestube oder in den Dienstraum von Frau Reineke?«, fragte Diedrich Budde laut.

Er erwartete wohl eine Antwort von Herrn Opitz, doch die Mamsell war schneller. »Hierher. Direkt neben die Tür.«

Sie wollte doch wohl nicht … Plante sie etwa, den ganzen Tag über hier zu liegen, Aufgaben zu verteilen, Dienstpläne zu schreiben und sonst alles zu organisieren, was organsiert werden musste? Ja, doch, anscheinend plante sie genau das. Adelheid schaute sich um. Endlich waren alle versammelt.

Herr Opitz erhob seine Stimme: »Mamsell Reineke nimmt ihren Dienst wieder auf. Wie Sie alle sehen können, ist sie nicht gut zu Fuß. Einige Aufgaben, zum Beispiel die Kontrolle der Zimmer, wird fürs Erste Fräulein Petzold beibehalten.«

»Nur fürs Erste«, erklärte die Mamsell eilig. »Ich werde es mir aber nicht nehmen lassen, heute noch alle Räumlichkeiten der Herrschaften zu besichtigen … Das mache ich allerdings erst später.« Ihre Sätze waren von kleineren Pausen durchzogen, in denen sie heftig atmete. Mit ihrer linken Hand hielt sie einen Gehstock fest.

»Genau. Sie müssen sich erst einmal von der anstrengenden Fahrt erholen«, sagte Lydia ungewohnt mitfühlend und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Selbst der Mamsell schien es unangenehm.

»Ich verbitte mir jegliche Vertraulichkeiten. Mir geht es gut. Ich brauche nur noch ein paar Tage, dann wird wieder alles normal sein.«

In der Runde herrschte Schweigen. Niemand schenkte ihren Worten Glauben. Es war doch zu sehen, wie sehr ihr Unfall sie noch für längere Zeit behindern würde.

»Ich koche Ihnen einen Weidenrindentee. Der wird die Schmerzen lindern«, versprach Frau Möckel mitleidig.

»Das ist nicht nötig. Mir geht es schon wieder ganz passabel.«

Ihr Gesicht allerdings sprach eine andere Sprache. So verspannt und schief sitzend musste sie große Schmerzen haben.

Opitz klatschte in die Hände. »Sie haben es gehört. Noch ein paar Tage Schonung, dann wird das wieder. Ein Ansporn für alle, sich besonders Mühe zu geben. Auf, auf. Ich habe gerade Kunde darüber erhalten, dass morgen der Sohn des Fürsten anreist. Mit Frau und Kind. Wir haben also noch viel zu erledigen.«

Nachdem Graf Friedrich-Wend, der älteste Sohn des Fürstenpaares, vor zwei Jahren aus dem aktiven Militärdienst ausgeschieden war, hatte er ein Studium der Landwirtschaft in Halle begonnen. Zwei Jahre zuvor schon hatte er eine Österreicherin, eine Katholikin dazu, geheiratet. Fast wäre diese Ehe nicht zustande gekommen, aber der Kaiser höchstpersönlich hatte beim Papst eine Ausnahmegenehmigung erwirkt. Geheiratet wurde zwei Mal – protestantisch und katholisch. Die Kinder aber sollten auf ausdrücklichen Wunsch des Kaisers protestantisch getauft werden. Das fast fertiggestellte Seehaus, nur zwei Kilometer vom Schloss entfernt am Ufer des Großen Lankesees gelegen, wurde aus der Mitgift der Braut finanziert. Lydia Keller wusste plötzlich erstaunlich viel über die Familie. In ihrer Eitelkeit erzählte sie es Gerda, die es wiederum Adelheid brühwarm weitergab.

»Graf zu Eulenburg wird vermutlich noch morgen weiterreisen nach Berlin«, erklärte Opitz weiter. »Aber sicher können wir nicht sein. Richten Sie sich also auf alle Eventualitäten ein.«

Graf zu Eulenburg, der irgendwann den Fürstentitel seines Vaters erben würde, und zwar als Einziger, wie Hedda ihr schon erklärt hatte, wollte wohl seinem Vater in Berlin beistehen. Vermutlich würde er sich zuvor noch vom Stand der Fertigstellung seiner Villa am Lankesee überzeugen. Adelheid hatte die Baustelle einige Male gesehen. Es wurde an nichts gespart. Ein großes und modernes Gebäude, das mit Elektrizität, modernen Öfen und Badezimmern mit fließendem Wasser und einer größeren Anzahl von Toiletten ausgestattet war.

Vielleicht sollte sie sich bei der österreichischen Ehefrau beliebt machen, um dort als Dienstbotin unterzukommen. Fließendes Wasser bedeutete, man musste nicht mehr den halben Tag Frischwasser hoch- und Brauchwasser runterschleppen. Und mehrere Toiletten pro Etage würden vermutlich dazu führen, dass die Herrschaften nachts seltener, oder vielleicht gar nicht mehr auf die Abortpfannen gingen. Hier im Schloss lagen die Abtritte weit entfernt von den Schlafkammern und waren in der kühlen Jahreszeit eisig. Deshalb nutzten alle weiterhin die Abortpfannen.

»Wir richten also zwei der großen Gästezimmer her«, sagte Martha in ihre Richtung.

»Nehmen Sie die zum Park hinaus. Die sind ruhiger«, sagte die Mamsell eilig. Sie wollte direkt klarmachen, dass solche Entscheidungen nun wieder von ihr getroffen wurden.

Die gnädige Frau, die Österreicherin aus einer reichen Unternehmerfamilie, war nämlich wieder schwanger. Im Herbst würde ein zweites Enkelchen kommen. Wieder etwas mehr Leben im Schloss. Das war Adelheid nur recht. Der Besuch würde auch die Komtessen von ihrer Trübsal ablenken.

Und sie würde auch abgelenkt von all dem Schrecklichen, was passiert war. Ja, sie sollte die Österreicherin umhegen und verhätscheln, damit sie hoffentlich im Seehaus Arbeit fand. Hedda war nicht mehr da. Offensichtlich baute Lydia ihre Machtstellung aus. Unter Lydias Befehl wollte sie nicht arbeiten müssen. Vor allem aber wollte sie Viktor nicht mehr wiedersehen.

Alle verließen die Leutestube. Nur noch Moritz war hinter ihr, als die Mamsell sie am Arm packte. Sie sagte nichts, aber Adelheid blieb stehen. Es war offensichtlich, dass die Mamsell etwas von ihr wollte, das sie nicht vor der gesamten Gruppe besprechen wollte.

»Schließ die Tür.«

Jetzt erkannte Adelheid, es war nicht Strenge, die auf dem Gesicht der Mamsell lag, sondern Bitterkeit. Sie nickte, schloss die Tür und wartete.

»Pass auf: Ich werde in nächster Zeit … etwas Unterstützung benötigen. Und ich will nicht, dass jemand das mitkriegt, verstanden?«

»Natürlich.« Welche Art der Unterstützung sie meinte, würde sie wohl noch sagen.

»Ich müsste zum Abtritt. Jetzt gleich, aber vermutlich auch mehrmals am Tag. Da sollst du mir helfen. Du sollst neben mir laufen, damit ich nicht falle. Und dann hilfst du mir mit dem Rock und so fort.«

Adelheid nickte nur. Dann reichte der Gehstock ihr wohl nicht.

»Du wirst niemandem etwas sagen. Nur, dass du mir Hilfe angeboten hast. Und dich nicht wegschicken lässt.« Es war ein Befehl, klang aber wie eine Bitte.

»Natürlich.«

Plötzlich wurde das harsche Gesicht der Mamsell weicher. »Du bist die Einzige hier, der ich noch vertraue.«

Adelheid musste schlucken. Diese Wendung hatte sie allerdings nicht erwartet. Wieso ausgerechnet sie? Wieder nickte sie nur.

»Du bist gescheit genug, um den Mund zu halten … Dir ist klar, was hier läuft, oder?«

Was meinte sie? Lydias Intrigen? Ihr merkwürdiger Unfall? Die Geschichte mit dem schwarzen Büchlein der Verfehlungen?

»Ich hatte viel Zeit, nachzudenken über das, was da passiert ist«, erklärte Mamsell Reineke mehrdeutig.

Jetzt war die Gelegenheit, für Hedda Partei zu ergreifen, auch wenn es natürlich nichts mehr an ihrer Kündigung ändern würde. »Sie war es nicht, Mamsell Reineke. Ich meine Fräulein Pietsch. Sie hatte damit nichts zu tun. Fräulein Keller hat es ihr in die Schuhe geschoben.«

Mamsell Reineke sah sie ernst an. »Sagte ich es doch: Du bist gescheit … Also sind wir uns einig?« Ihre Hand krallte sich um den hölzernen Griff des Stocks.

Adelheid nickte eifrig. »Ich helfe Ihnen, wo ich kann. Aber es wird auffallen, wenn ich zwischendurch meine Arbeit liegen lasse.«

»Lass das meine Sorge sein.« Nun versuchte sie aufzustehen. Rutschte auf dem Stuhl vor, den Stock in der einen Hand, versuchte sie sich mit der anderen auf der Tischplatte abzustützen. Ihr Gesicht verzog sich schmerzvoll.

Adelheid packte sie am Arm. Doch sie plumpste in den Stuhl zurück. »Es geht noch nicht. Komm in einer halben Stunde wieder. Dann werde ich es schaffen müssen.«

»Jawohl. Und … Mamsell Reineke …?«

»Ja?«

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«

Die Mamsell sah sie skeptisch an. »Rede nur.«

»Wieso sind Sie nicht in Eberswalde geblieben? War es dort nicht gut?«

»Ach Kind, du bist gescheit, aber von der Welt hast du keine Ahnung.« Sie schüttelte ihren Kopf. »Ich muss doch arbeiten. Ich kann es mir nicht leisten, gekündigt zu werden.«

»Dürfen die das denn?« Die, das war das Fürstenpaar.

Die Mamsell strich sich ihr streng nach hinten frisiertes Haar glatt. »Sie haben Eberswalde bezahlt, aber Lohn habe ich nicht erhalten. Und wenn ich nun noch sechs Wochen, wie der Arzt es mir geraten hat, dort geblieben wäre, dann … Könnte deine Familie zwei Monate auf deinen Lohn verzichten?«

Adelheid schüttelte den Kopf. Natürlich hätte sie nun sagen können, dass die Mamsell doch gar keine Familie hatte. Aber sie wusste es besser. Da war ein unehelicher Sohn, den sie unterstützte. Außerdem ging es sie auch nichts an. Etwas anderes beschäftigte sie.

»Wenn man krank ist, bekommt man keinen Lohn?«

»Bei ein paar Tagen ist das egal. Außer natürlich, du hättest dir beim Tanzen den Fuß verdreht oder dir eine Erkältung von deiner Familie mit angeschleppt. Dann natürlich nicht. Aber wenn etwas im Haus passiert, also während deines Dienstes, dann sind die Herrschaften in der Pflicht. Allerdings nur innerhalb der Kündigungsfrist. Und die ist bald bei mir rum. Ich will nichts riskieren.«

Adelheid wusste, die vor ein paar Jahren eingeführte Krankenversicherung galt nicht für das Gesinde, ebenso wenig wie die Unfallversicherung. Hedda hatte recht, wenn sie sagte, sie seien den Herrschaften auf Gedeih und Verderben ausgeliefert.

Adelheid schluckte wieder. Sie hatte es jetzt zwar besser als damals, als sie noch ihrer Mutter in der Tagelöhnerhütte geholfen hatte, aber rechtlos war sie geblieben. Gänzlich rechtlos. Und nun auch wieder ganz auf sich alleine gestellt. Die Einzige, die auf ihrer Seite war, war sie selbst.

10. Mai 1908

Hier also war es. Hedda stand vor einem Krämerladen, groß, mit breiten Schaufenstern links und rechts vom Eingang. Darüber war in geschwungenen Lettern Feinkost Hübchen zu lesen. Die Gegend war nicht die beste, aber auch nicht die schlechteste in Berlin. Nicht alle Straßenzüge waren Arbeiterquartiere. Eigentlich war Hedda gerade auf dem Weg in ein nahes Arbeitercafé gewesen, wo mehrere Tageszeitungen auslagen. Statt das Geld für Zeitungen auszugeben, konnte sie sich dort eine preiswerte Tagessuppe leisten und währenddessen Stellenanzeigen studieren.

Doch auf dem Weg dorthin hatte sie den Zettel entdeckt. Jemand hatte ihn ungehörigerweise an eine Litfaßsäule geheftet. Was man nicht durfte. Stubenmädchen gesucht – hieß es auf dem Zettel. Bitte melden bei Hübchen, um die Ecke. Stubenmädchen, kein Alleinmädchen! Das machte ihr Hoffnung. Sie würde einfach mal nachfragen. Schaden konnte es ja nicht. Sie war zurück in die Damenpension gegangen, hatte ihr Gesindebuch und ihren Entlassungsbrief geholt und war zurückgekommen.

Vorne im Schaufenster waren Konservendosen gestapelt. Weinflaschen standen in einer manierlichen Reihe. Davor eine Holzschachtel mit der Aufschrift Zigarren. Sahneweiße Seifenstücke lagen ebenfalls aus. Eine bunte Mischung erschwinglichen Luxus. Sie riskierte einen Blick hinein. Der Laden machte einen vernünftigen Eindruck. Eine ältere Dame und ein älterer Mann standen hinter dem Tresen. Beide bedienten jeweils eine Kundin. Ein Junge, vermutlich der Handelsgehilfe, kam herein und brachte etwas, das in Zeitungspapier eingeschlagen war, nur um direkt wieder nach hinten zu verschwinden. Besonders glücklich sah er nicht aus. Aber wenn es danach ginge, könnte sie gar keine Stelle annehmen. Außerdem wusste sie noch gar nicht, ob das überhaupt die neuen Arbeitgeber wären. Man sollte sich dort melden. Vielleicht wusste die Krämersfrau einfach nur, in welchem Haushalt ein Stubenmädchen gesucht wurde.

Hedda wartete ein paar Minuten, bis der Laden leer war, dann trat sie ein. Über ihr klingelte eine Türglocke.

»Guten Tag«, begrüßte sie die Krämersfrau. »Ich habe den Anschlag an der Litfaßsäule gesehen. Es wird ein Stubenmädchen gesucht.«

Die freundliche Miene der Frau verschwand sofort und verwandelte sich in eine skeptische. »Suchen Sie für sich oder für jemand anderen?« Ihr prüfender Blick ging an ihr hoch und runter.

»Ich suche für mich. Ich war bis vor Kurzem Stubenmädchen … Wo wäre die Anstellung denn? Hier im Haus?«, fragte Hedda.

»Kommen Sie mit«, sagte die Frau. »Alfred, ich muss nach hinten«, rief sie ihrem Mann zu, der kurz zuvor in einen Lagerraum hinter dem Verkaufsraum verschwunden war. Sie hob die Holzklappe am Tresen hoch und ließ Hedda durch. Von dort ging es durch einen Flur nach hinten. Hedda folgte der Frau geradeaus nach draußen in einen Hinterhof, in dem es nach Fisch roch.

»Dann erzählen Sie mal. Wo waren Sie zuletzt beschäftigt?« Ihre Haare waren grau meliert, Falten umkränzten den Mund, und ihr Gesichtsausdruck war gleichzeitig so herrisch wie müde.

Hedda schluckte. Da musste sie nun durch. »In einem Schloss im Löwenberger Land. In einem Haushalt mit einer größeren Dienerschaft.«

Die Frau machte ein überraschtes Gesicht. »Bei hohen Herrschaften?«

Hedda nickte. Und hoffte, sie würde nicht nach dem Namen fragen. Der Name Fürst zu Eulenburg war gerade in aller Munde. Und hinterließ bei den meisten einen schlechten Nachklang.

»Und wieso sind Sie dort weg?«

Es nutzte nichts. Sie würde es ohnehin erfahren, sobald Hedda ihr Gesindebuch vorlegte, das sie bei sich trug. »Ich wurde gekündigt. Weil … Ich habe mich gegen die Übergriffe des Haushofmeisters gewehrt.«

Die ältere Frau zog die Augenbrauen hoch. Hedda wusste, eine solche Information kam nicht gut an. Gekündigt.

»Gewehrt?«, fragte die Frau nach.

Hedda nickte wieder. Diese Information schien bei der Frau keine Abneigung hervorzurufen. Was sie ermutigte weiterzureden.

»Suchen Sie für Ihren Haushalt ein Stubenmädchen?«

»Genauso ist es. Wie lange haben Sie als Stubenmädchen gearbeitet?«

»Fünf Jahre. Davor war ich ein Jahr Hausmädchen, im gleichen Haushalt. Und davor hatte ich mehrere Stellen als Alleinmädchen. Ich hab mit zwölf meine erste Stellung angetreten.«

Die Frau nickte zufrieden. Mit zwölf. Das bedeutete, Hedda besaß viel Erfahrung.

»Zeigen Sie mir Ihr Gesindebuch.« Sie kramte in ihrer Schürze und holte eine Brille hervor, während Hedda das Büchlein mit dem Entlassungsbrief aus ihrer Tasche holte. Sie gab es ihr.

Die Frau las den Entlassungsschein. »Sie waren beim Fürsten zu Eulenburg angestellt«, brachte sie überrascht hervor.

»Ja, beinahe sechs Jahre lang.«

Für einen Moment schien die Frau etwas zu überlegen, dann sagte sie: »Wir sind hier kein so nobler Haushalt.«

Das brauchte sie kaum zu betonen. Es verstand sich von selbst. Nur die wenigsten im Reich konnten es mit einem Fürsten aufnehmen.

»Haben Sie Seine Majestät bedient?«, kam die neugierige Frage.

»Leider nein. Gesehen habe ich ihn mehrere Male, aus der Ferne. Aber bedienen durften ihn nur seine eigenen Diener.«

Die Dame nickte. Während sie das Gesindebuch durchblätterte, schaute Hedda sich um. Der Hinterhof war begrenzt von einer hohen Mauer. Es drang kaum Sonnenlicht vor. Das Haus hatte insgesamt fünf Stockwerke, wenn man die Mansarde mit einrechnete. Ob alle von der Krämersfamilie bewohnt wurden? Sonst würde sich ein Stubenmädchen doch gar nicht lohnen.

Hedda wartete, bis die Frau das Gesindebuch geprüft hatte. Zum Schluss kam sie zu dem unverschämten Eintrag, den Opitz ihr noch verpasst hatte. Sie gab ein undefinierbares Geräusch von sich.

Hedda wollte schnell vom Thema ablenken. »Wenn ich eine Frage stellen darf: Wie groß ist Ihr Haushalt?«

Frau Hübchen blickte Hedda kritisch an. »Sie haben sich also mit dem Haushofmeister des Fürsten angelegt. Alle Achtung.« Bevor Hedda etwas sagen konnte, sprach sie weiter. »Ich mag es nicht, wenn die Dienstbotinnen den Hausherren schöne Augen machen.«

Also wäre das das Problem. In der überwiegenden Zahl der Fälle war es doch genau andersherum. Die Männer stellten den Dienstmädchen nach. Und ob sie nun haltlos Versprechen machten, auf die die naiven Dinger reinfielen, oder sich einfach mit Gewalt nahmen, was sie für ihr gutes Recht hielten – am Ende waren es immer die Frauen, die die Zeche zahlten.

»Dem kann ich nur zustimmen«, antwortete Hedda trotzdem.

Sie schaute Hedda wieder prüfend an. Anscheinend überlegte sie, ob sie sie anstellen sollte. Wobei sie ja das Recht hatte, sie jederzeit rauszuschmeißen. Für sie wäre das Risiko also nicht groß.

Die Tür wurde aufgerissen. Der junge Handelsgehilfe, einen Blechbottich unter dem Arm, zuckte zusammen, als er sah, dass Frau Hübchen hier stand.

»Ich muss an die Fässer«, sagte er unterwürfig.

Als müsste er sich dafür entschuldigen, dass er arbeitete. Jetzt sah Hedda auch, warum es hier so roch. Zwei mit Deckeln abgedeckte Fässer standen an einer Mauer. Vermutlich waren dort lebende Fische untergebracht. Aber eigentlich dürfte es dann hier nicht so stinken, nicht, wenn die Fische noch lebten.

»Dann tu das. Aber pass dieses Mal auf, hörst du?«

»Jawohl, Frau Hübchen.«

Irgendwas an der Haltung des Jungen gefiel Hedda nicht. Er erinnerte sie an Moritz, den Hausburschen auf dem Schloss. Der lief auch immer so verhuscht durch die Gänge. Ewig geduckt, weil er jederzeit damit rechnete, von Opitz geschlagen zu werden.

»Kommen Sie mit hoch«, sagte Frau Hübchen nun und ging durch die Tür in den Flur. »Hier hoch.«

Durch einen Durchgang ging es in den Hausflur, der nach vorne raus auch eine Tür zur Straße hatte. Aber sie stiegen eine Treppe hoch. Hedda folgte der Frau. Im ersten Stock öffnete sie eine Tür. Es war nicht abgeschlossen. Der Duft nach Kohl drang in ihre Nase. Es waren Stimmen zu hören, von einer Frau und mindestens einem Kind.

Sie folgte Frau Hübchen durch einen langen Flur bis zu einer Tür. Die Krämersfrau zog eine Kette aus dem Ausschnitt, an dem zwei Schlüssel waren. Einen davon steckte sie in das Türschloss und öffnete.

Hedda trat in ein Zimmer, das offensichtlich gleichzeitig Arbeitszimmer wie auch Lager war. In der Mitte stand ein großer Schreibtisch, an den Wänden Regale mit Kladden und Aktenordnern und diversen Pappmappen. In einer Ecke waren Holzkästchen mit Zigarren gestapelt. In einer anderen sah sie ein Regal, das bis oben hin mit Flaschen gefüllt war. Kein Wein, sondern eher Whisky und Bourbon und andere wertvolle Spirituosen. Ein Karton mit der Aufschrift Pralinen stand neben der Tür. Alles sah sehr aufgeräumt aus.

Mit dem zweiten Schlüssel öffnete die Frau nun ein Fach im Schreibtisch und holte einige Papiere hervor.

»Wir zahlen drei Mark, bei Kost und Logis«, erklärte sie und griff zum Füllfederhalter. Offensichtlich füllte sie bereits einen Arbeitsvertrag aus.

Drei Mark, und das in der teuren Hauptstadt. Aber tatsächlich hatte Hedda erwartet, vorerst wieder weniger zu verdienen als auf dem Schloss. Doch es gab noch Fragen zu klären, und zwar, bevor sie einen Vertrag unterschrieb. Die Tür zur Wohnung vorhin war nicht abgeschlossen gewesen. »Gehören alle Etagen des Hauses zu Ihrem Hausstand?«

Frau Hübchen nickte, während sie schrieb. Sie schien wohl nicht viel davon zu halten, ihr freiwillig Näheres zu erklären.

»Und wie viele Personen umfasst dieser Hausstand?«

Erst nach einem Zögern kam die Antwort. »Wir sind sieben Erwachsene und fünf Kinder.« Es klang so, als wüsste sie schon, dass es Hedda nicht gefallen würde.

Zwölf Personen, das war nicht gerade wenig. Aber gut, es kam eben auf die Anzahl der Dienst…

»Mutter?« Sie hörten ein jammerndes Kind und wie jemand sich näherte. »Mutter?«

Eine junge Frau, nur wenige Jahre älter als Hedda, stand in der Tür, ein verheultes Kind auf dem Arm, das sich aus ihrem Klammergriff herauswinden wollte.

»Ist das endlich das neue Mädchen?«, fragte sie unwirsch.

»Lass uns bitte noch einen Moment allein.« Die Stimme der Krämersfrau war plötzlich kühl.

»Ich kann nicht gleichzeitig kochen und auf die Bälger aufpassen«, beschwerte sich die junge Frau nun. Das Kind in ihren Armen wehrte sich heftiger. »Magdas Kinder sind eben alle verzogen.« Jetzt endlich löste sich das Kind und plumpste fast auf den Boden. Sofort lief es weg.

»Siehst du, wie ich sage.« Sie blickte auf Hedda und bestimmte barsch: »Sie soll gleich als Erstes in die Küche kommen.« Dann ging sie.

Die Frau starrte zur nun leeren Zimmertür. Und seufzte.

»Also zwölf Personen«, nahm Hedda das Gespräch wieder auf. »Und wie viele Dienstbotinnen beschäftigen Sie?«

Die Frau zögerte. »Lassen Sie mich das hier erst einmal beenden«, sagte sie ausweichend und füllte noch einige Zeilen aus. Vermutlich mit Heddas Namen, Geburtsort und dem vereinbarten Lohn. Als sie von dem Papier abließ, legte sie Heddas Gesindebuch auf einer frischen Seite geöffnet darauf, den Füllfederhalter noch immer in der Hand.

Ein Kribbeln zog ihr über den Kopf. Seit beinahe zwei Wochen suchte sie schon nach einer Anstellung und hatte keine Stelle als Stubenmädchen gefunden. Sie hatte sogar schon in Erwägung gezogen, wieder als Hausmädchen anzufangen. Sie konnte sich nicht ewig leisten, ohne Lohn und Brot zu sein. Deshalb wollte sie der Frau nicht unverschämt kommen, aber irgendwas kam ihr nicht ganz koscher vor. Sie trat näher an den Schreibtisch heran.

»Wir sollten vorher noch die Formalitäten klären.« Ihre Hand tippte schon auf den Schreibtisch, um in die Nähe ihres Gesindebuches zu kommen.

Die Frau sah kurz hoch. »Ich stelle Sie als Stubenmädchen an. Wir sind zwölf Personen, und Sie bekommen drei Mark die Woche und jeden zweiten Sonntagnachmittag frei. Was müssen Sie noch wissen?« Nun beugte sie sich wieder über den Schreibtisch und wollte gerade damit beginnen, etwas in Heddas Büchlein zu schreiben.

Doch die war schneller und legte ihre Hand über die Seiten. »Ich würde gerne vorher noch klären, wie viele andere Dienstboten hier arbeiten. Ich nehme an, wenn Sie ein Stubenmädchen benötigen, dann beschäftigen Sie schon eine Köchin und ein Hausmädchen?«

Die Frau blickte erbost auf Heddas Finger, die ihr nun den Zugang zum Gesindebuch versperrten. Als Hedda nicht nachgab, sah sie auf.

»Unsere Köchin hat heute frei. Ein Krankheitsfall in der Familie. Sie kommt ein paar Tage nicht.«

»Und das Hausmädchen?«

»Wir haben ein Stundenmädchen, das sechs Tage die Woche kommt. Den Rest erledigt Egon. Sie haben ihn doch gerade gesehen.«

»Er ist für den Laden und für den Haushalt zuständig?«

»So viel Arbeit ist das nicht. Mein Sohn wohnt hier mit meiner Schwiegertochter und meine Tochter mit ihrem Mann. Und meine Mutter wohnt auch noch hier. Wir sind also mit mir vier Weibsbilder. Und teilen uns die Arbeit.«

Von wegen. Die Köchin war also gerade auf und davon, wenn es überhaupt eine gegeben hatte. Und würde das Stundenmädchen nicht gerade jetzt in der Küche stehen oder auf die Kinder aufpassen, wenn es eines gab? Vier Frauen im Haushalt hieß nur, es gab vier Personen, die ihr unterschiedliche Dinge aufgeben würden, bei deren Erledigung sie sich zerreißen durfte. Hier war was faul. Sie wollte ihr Gesindebuch greifen, aber die Krämersfrau hielt es fest.

»Es tut mir leid. Ich suche keine Anstellung als Alleinmädchen«, sagte Hedda mit fester Stimme.

»Wir sind ein sittsames Haus mit strengen Regeln. Bei uns wird es solche Vorkommnisse wie bei Ihnen im Schloss nicht geben.«

»Das ist erfreulich. Aber ich werde mich doch lieber weiter nach einer Stelle als Stubenmädchen umschauen.« Hedda ließ ihr Gesindebuch nicht los. Nicht, dass es am Ende noch zerreißen würde.

Der Mund der älteren Frau zuckte. Sie überlegte wohl, was sie noch tun konnte. »Wissen Sie was? Sie sind sehr erfahren. Ich gebe Ihnen drei Mark und fünfzig Pfennige«, sagte sie nun. Ihre Stimme schwankte zwischen Wut und Verzweiflung.

Als wüsste Hedda nicht genau, dass sie diese fünfzig Pfennige mehr Lohn bitter bereuen würde.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber Sie kennen mein Gesindebuch. Ich war bereits ein paar Jahre als Alleinmädchen tätig und weiß, was mich da erwartet. Ich werde das nie wieder machen. Lieber gehe ich in eine Fabrik.« Sie sagte das so freundlich wie möglich.

Frau Hübchen presste die Lippen aufeinander, dann endlich ließ sie vom Gesindebuch ab. Hedda griff danach und steckte auch den Entlassungsschein schnell weg.

»Sie sollten froh sein, dass ich Ihnen hier eine Stelle anbiete. Mit so einem letzten Eintrag kommen Sie in keinem guten Haus unter.«

»Ich werde die Hoffnung nicht aufgeben.«

»Päh! Glauben Sie etwa, man wüsste hier nicht Bescheid über die Vorgänge auf Schloss Liebenberg? Ganz Berlin weiß, was da passiert ist. Sie werde nie wieder eine anständige Stelle finden, so wie ich sie Ihnen biete.«

Hedda blieb stumm. Als wüsste sie das nicht selbst. Bei drei einigermaßen annehmbar erscheinenden Stellen hatte sie bereits vorgesprochen. Bei zweien hatte man nicht einmal mehr ein Gespräch geführt, nachdem sie den Eintrag im Gesindebuch gesehen hatten. Beim dritten hatte sie sich den Haushalt anschauen dürfen und auch eine passable Schlafmöglichkeit gezeigt bekommen. Erst dann hatte die nette Dame nach dem Gesindebuch gefragt. Aber als sie auf dem Entlassungsschein den Namen und das Siegel von Schloss Liebenberg entdeckt hatte, hatte sie es ihr sofort zurückgegeben, als hätte sie einen Haufen Unrat in der Hand gehabt. Jeden Abend verfluchte Hedda Opitz mit allen bösen Namen, die ihr einfielen.

Dummerweise wollte auch Fräulein Maiwald nichts mehr mit ihr zu tun haben. Sie hatte Constanze Maiwald, der ehemaligen Gouvernante der Fürstentöchter, die es nach ihrer Entlassung in den Grunewald verschlagen hatte, einen Brief geschrieben, aber bis heute keine Antwort erhalten. Das irritierte sie sehr, war ihre letzte Begegnung doch so freundlich gewesen. Einfach dort vorbeizufahren und zu klingeln, hielt Hedda für keine gute Idee. Keinesfalls wollte sie ungelegen kommen oder stören.

Auch Arthur, dem höflichen Kammerdiener, den sie bei den Dienstboten-Versammlungen kennengelernt hatte, hatte sie schon zwei Mal geschrieben, und einmal hatten sie sich sogar abends getroffen. Aber Hilfreiches hatte auch er nicht zu vermelden. Die drei freien Stellen, von denen die Köchin in seinem Haus wusste, waren ebenfalls nur für Alleinmädchen.

Es war also nicht unwahrscheinlich, dass es zutraf, was Frau Hübchen ihr da so wenig mitfühlend nahelegte: dass sie in keinem anständigen Haus mehr unterkommen würde. Wieso aber wollte die Krämersfrau sie dann? Weil Hedda sehr erfahren war, aber noch jung. Und weil die Familie Hübchen offensichtlich dringend jemanden brauchte, fürs Essen, für die Kinder, und um vier Etagen sauber zu halten. Viel zu viel für eine Kraft. Aber es war ihr ernst: Eher würde sie in eine Fabrik gehen, als noch mal als Alleinmädchen zu arbeiten.

»Ich danke Ihnen für Ihre Zeit.« Hedda drehte sich um und ging zur Tür. Sie erwartete, die Frau würde nun hinter ihr herkommen, um sie hinauszubegleiten. Schließlich befand sie sich in einer fremden Wohnung.

»Sie werden nie wieder irgendwo Fuß fassen. Überlegen Sie es sich genau, was ich Ihnen hier biete. Ein Jahr, und dann stelle ich Ihnen ein fantastisches Zeugnis als Stubenmädchen aus«, bot sie an. »Damit kommen Sie dann überall unter.«

Hedda hatte schon so vieles versprochen bekommen: mehr Lohn, ein richtiges Bett statt einer Feldmatratze, ein zweites Mädchen zur Hilfe. Nie war etwas eingetreten. Nächstes Jahr würde die gleiche Frau ihr wieder das Blaue vom Himmel versprechen, wenn sie nur noch ein Jahr bliebe. Noch ein Jahr Sklavenleben, nicht gehen dürfen, obwohl man geschlagen wurde? Sechzehn Stunden arbeiten, und weil man nie fertig wurde, wurden einem die freien Sonntagnachmittage gestrichen. Und wenn es fünf Mark Lohn in der Woche gäbe – viele Herrschaften behielten den Lohn ein, als Sicherheit, angeblich, damit die Dienstbotinnen keine Dummheiten mit dem Geld machten. Und am Ende zahlten sie das Geld nicht aus. Oder zogen kaputte Teller und anderes vom Lohn ab, sodass man quasi umsonst gearbeitet hatte. Sie kannte alle Geschichten. Und einige hatte sie selbst erlebt. Nein, auf keinen Fall.

»Das ist ein überaus großzügiges Angebot, das ich aber leider ablehnen muss«, sagte sie bestimmt. Sie trat raus auf den Flur. Sie würde die Wohnung nun verlassen, ob sie hinausgeleitet wurde oder nicht.

»Warten Sie gefälligst. Ich lass doch so eine wie Sie nicht allein in meiner Wohnung herumlaufen«, sagte die Frau barsch und schloss den Schreibtisch wieder ab.

Hedda entging nicht die Ironie, dass sie sie vor einer Minute noch hatte einstellen wollen, um den ganzen Tag hier alleine im Haus herumzulaufen.

»Natürlich.« Sie wartete auf Frau Hübchen, während diese die Tür zum Arbeitszimmer abschloss. Durch den Flur hörte sie schon Geschimpfe und Kindergeschrei. Es roch angebrannt. Hedda lief eilig die Treppe hinunter. Die Frau sah ihr nach, während sie direkt zur Haustüre lief.

»Sie werden es bereuen, wenn Sie mein Angebot nicht annehmen.«

»Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag.«

Als sie wieder auf der Straße stand und die Tür hinter ihr zufiel, hatte sie das Gefühl, als wäre sie gerade den Klauen eines Ungeheuers entkommen. Sie ging weiter, umrundete die Straßenecke, ging zur Litfaßsäule und riss wütend den Zettel ab. Es würde nichts helfen. Irgendeine arme Seele würde sicher auf Frau Hübchen hereinfallen.

Sie zitterte am ganzen Körper. Ihr war übel. Essen konnte sie jetzt nichts. Mit dem Geld, das sie sich für die Suppe sparte, würde sie drei Zeitungen kaufen und in der Pension durchgehen. Irgendwann musste es doch etwas Passendes geben. Bestimmt, oder? Mit so einem Eintrag? Vielleicht blieb ihr doch nur Amerika als letzte Möglichkeit.

In der Pension angekommen, trat die Pensionswirtin auf den Flur. Sie war freundlich, aber streng. Etwas, was Hedda nur recht sein konnte. Sie hatte keinen Bedarf an nächtlichem Männerbesuch.

»Es ist ein Brief für Sie gekommen.«

Wieder eine Nachricht von Arthur? Sie hoffte inständig, dass es endlich eine Antwort von Fräulein Maiwald war. Von Adelheid konnte er nicht sein, denn der hatte sie noch nicht geschrieben. Es gab ja nur Deprimierendes zu berichten. Sie wollte wenigstens eine feste Adresse haben, wenn sie ihr schrieb.

»Danke schön.« Sie nahm den Brief an sich, mit klopfendem Herzen. Und tatsächlich war der Brief von Constanze Maiwald. Hedda eilte die Treppenstufen hoch. Bitte, lass es eine gute Nachricht sein. Oben warf sie die Zeitungen aufs Bett und riss den Umschlag auf. Sie flog über die ersten Zeilen.

 

Wertes Fräulein Pietsch,

bitte entschuldigen Sie meine späte Antwort. Ich war mit meiner Arbeitgeberin für ein paar Tage im Harz zur Kur. Ich hoffe, ich erreiche Sie noch unter der angegebenen Adresse. Es ist so bedauerlich, was Ihnen widerfahren ist. Und ja, ich kann Ihre Situation nur allzu gut nachvollziehen. Auch ich weiß, wie es ist, unter falschen Anschuldigungen die Stelle zu verlieren.

Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass derzeit niemand in unserer Villa gesucht wird. Ich werde mich aber umhören. Wir können uns gerne diese Woche in der Stadt treffen auf einen Kaffee. Und dann können wir uns in Ruhe unterhalten.

Geben Sie mir Bescheid, ob es passt. Vielleicht kann ich Ihnen dann schon erfreulichere Nachrichten überbringen. Ich hätte allerdings noch eine andere Idee. Und ich bin gespannt, was Sie davon halten werden. Bis dahin verbleibe ich mit meinen herzlichsten Wünschen,

Ihre Constanze Maiwald

 

Ein Lichtblick. Der erste Lichtblick überhaupt. Hedda drückte den Brief an sich und atmete auf. Am besten, sie trafen sich direkt in Grunewald. Das war eine gute Gegend, und es lohnte sich bestimmt, vorher noch in den hiesigen Krämer- und Kolonialwarenläden nachzufragen. Jeder Tag, den sie nicht in der Pension wohnte, sparte ihr bares Geld.

11. Mai 1908

Viktor hatte nicht viel zu tun. Der Fürst war, obschon verhaftet, aus gesundheitlichen Gründen nicht ins Untersuchungsgefängnis gekommen, sondern befand sich in der Charité unter polizeilicher Überwachung. Die Fürstin hielt sich mehr oder weniger den gesamten Tag über in der Charité auf, genau wie der älteste Sohn, Friedrich-Wend, der gestern hier angekommen und sofort zu seinem Vater weitergefahren war. Viktor hielt die Stellung. Nur morgens war viel zu tun. In aller Früh kaufte er ein Dutzend Zeitschriften, und sobald die Herrschaften aufgestanden waren, musste er das vorbereitete Frühstück servieren. Wenn sie dann in der Kutsche zur Charité saßen, räumte er die Zimmer auf und reinigte, was zu reinigen war.

Fräulein Grooten, die Kammerzofe der Fürstin, war mit nach Berlin gereist. Sie kümmerte sich um das Schlafgemach der Fürstin und alle anderen Dinge, die eine weibliche Hand benötigten. Herr Hartwich kutschierte die Herrschaften zur Charité und wartete dann dort stundenlang, weil ja nicht feststand, wann sie wieder zurückwollten. Aber in den letzten zwei Tagen war die Fürstin immer erst sehr spät gekommen. Normalerweise hätte sie sich wohl eine Droschke genommen, aber nicht unter diesen Umständen. Vor den Türen der Charité lungerten immer einige Reporter herum.

Gestern hatte Viktor eine umfangreiche Einkaufsliste bekommen, was der Fürst und Herr Theurich, sein Kammerdiener, der mit ihm in der Charité logierte, benötigten – Seife, Haarwasser, einen neuen Pyjama, ein weicheres Kissen und ähnliche Dinge. Der Fürst war in einer Beamtenwohnung in der Charité untergekommen. Ein großes Zimmer für ihn, ein kleineres für Herrn Theurich, und in einem Vorzimmer saßen Tag und Nacht Kriminalbeamte, die darauf aufpassten, dass der Fürst sich nicht ins Ausland absetzte.

Im Moment reisten zahlreiche Zeugen aus Süddeutschland an, um im Prozess auszusagen. Zugunsten oder zuungunsten des Fürsten, dessen konnte man sich nicht sicher sein. Die beiden Fischer vom Starnberger See hatten ihre Aussagen noch einmal bekräftigt. So stand es in der gestrigen Zeitung. Was man ebenfalls dort lesen konnte, war die Ankündigung, dass die fürstliche Villa am Starnberger See, die schon so lange im Familienbesitz war, verkauft werden sollte. Viktor kannte die Villa. Sie lag wunderschön am Seeufer, selbst er als mitreisender Diener hatte dort einige schöne und sogar erholsame Stunden verlebt.

Dennoch konnte er die Entscheidung gut nachvollziehen. Erstens würden der Fürst und seine Familie ganz sicher nicht mehr das Bedürfnis verspüren, ausgerechnet dort Urlaub zu machen. Von dort kamen diese Zeugen, die den Unrat über den Fürsten ausschütteten. Und zweitens fiel die Entscheidung wohl auch aus finanziellen Gründen.

Am Tag, bevor der Fürst abtransportiert worden war, war Herr Opitz nach Berlin gesandt worden, um einen Kredit bei den Banken anzufragen. Die Kaution sollte fünfhunderttausend Deutsche Mark betragen. Doch er war mit leeren Händen nach Hause gekommen. Solch ein Risiko wollte keine Bank eingehen. Also musste man die Starnberger Villa zu Geld machen. Nun aber, da der Fürst verhaftet war, war eine Kaution ohnehin hinfällig.

Noch würde es dauern, bis der Prozess wegen doppelten Meineids begann. Bis dahin war der Fürst in der Charité festgesetzt. Die Kriminalbeamten im Vorzimmer protokollierten und prüften, wer vorgelassen wurde. Polizisten durften natürlich zwecks Befragung hinein. Der Berliner Justizrat Wronker, der Verteidiger des Fürsten, wurde vorgelassen, ebenso Familienangehörige und sein Leibarzt. Behandelt aber wurde der Fürst von den Ärzten der Charité. Außer diesem Personenkreis durfte ihn niemand besuchen. Auch Viktor durfte nicht mit. Wobei es dafür ohnehin keinen Grund gab. Herr Theurich stand dem Fürsten Tag und Nacht zur Verfügung.

Schon spekulierten die ersten Presseblätter darüber, ob der Hauptprozess überhaupt je eröffnet würde. Denn nach geltender Prozessordnung durfte das nicht geschehen, wenn der Beschuldigte zu krank oder gebrechlich war, um vor Gericht zu erscheinen. Infamerweise wurde in der Presse diese Möglichkeit schon aufgegriffen – dass der Fürst sich einem Prozess ja auch mit der Begründung der Unzurechnungsfähigkeit entziehen könne. In adeligen Kreisen war das ein erprobter Kunstgriff, dem Zusammengepferchtwerden mit Räubern und schnödem Gesindel zu entgehen. Es war Viktor ein Genuss gewesen, mit der Zeitung abends den Herd anzufeuern.

Vorhin war telefonisch Bescheid gegeben worden, dass er bei Borchardt Delicatessen etwas für die Fürstin und ihren Sohn bestellen solle. So noble Herrschaften dinierten ohnehin selten in der Öffentlichkeit, aber derzeit würde die Fürstin dieses Spießrutenlaufen ganz sicher nicht mitmachen wollen. Aus dem gleichen Grund ließ man sich auch nichts bringen, sondern Viktor musste los und die Speisen abholen.

Kaum mit den Speisen zurück, trafen die beiden Herrschaften auch schon ein. Gerade hatte Viktor die Krebsfleischterrine serviert und wartete nun mit durchgedrücktem Rücken an der Wand, den Blick starr auf die andere Raumseite gerichtet. Er würde sich erst wieder bewegen, wenn die beiden mit diesem Gang fertig waren oder er Wein nachschenken musste.

»Unfassbar. Ich hätte wirklich nie gedacht, dass Seine Majestät es so weit kommen lässt«, empörte sich der fürstliche Sohn.

»Seine Majestät hat bereits einen neuen besten Freund gefunden, wie es scheint«, sagte die Fürstin bitter. Sie sah müde aus, erschöpft, und wirkte fahrig. Ihre Worte klangen, als hätte sie bereits jede Hoffnung aufgegeben.

»Ach ja? Wen denn?«

»Seine Majestät war doch gerade in Wien zum Thron-Jubiläum des österreichischen Kaisers eingeladen. Nun scheint er weitergefahren zu sein nach Donaueschingen.«

»Zu Fürst Max zu Fürstenberg? Natürlich logiert es sich auf Schloss Donaueschingen deutlich herrschaftlicher als bei uns. Wer ist schon so reich wie Fürstenberg? Vater sicher nicht. Für den Kaiser ist Fürstenberg natürlich dank seiner engen Verbindung zu Erzherzog Franz Ferdinand die perfekte Verbindung, direkt zum Herzen des österreichisch-ungarischen Herrschaftshauses.«

»Seine Majestät scheint es sehr eilig gehabt zu haben, den Platz deines Vaters neu zu besetzen.« Die Worte der Fürstin klangen gallig.

»Wer hat dir das gesagt?«, fragte Friedrich-Wend nach.

»Gesagt? Mir sagt niemand mehr etwas. Ich bin genauso Persona non grata wie dein Vater. Niemand will mehr etwas mit uns zu tun haben. Es ist vielleicht dieses Fallengelassenwerden, was am meisten schmerzt. Solche Dinge erfahre auch ich nur noch aus der Zeitung, genau wie jeder Berliner Arbeiter.«

Der Fürstensohn grummelte etwas Unverständliches. Dann sprach er wieder lauter. »Hast du was von meiner Schwester gehört?«

»Augusta? Du meinst wegen Edmund?«

Der Fürstensohn nickte. Mit einem Seitenblick zu Viktor wechselte er plötzlich ins Englische. »Father is sure that he stole some letters. Letters with explosive content. And he probably wouldn’t hesitate to use them if their funding was cut.«

Viktor ließ sich nichts anmerken. Wann immer die Herrschaften etwas besprachen, was nicht für die Ohren der Dienerschaft bestimmt war, wechselten sie ins Englische oder auch ins Französische. Zum Glück wusste niemand, dass Viktor beide Sprachen verstand.

Viktor konnte also übersetzen, was der Fürstensohn gesagt hatte: Edmund Jaroljmek war der ehemalige Privatsekretär des Fürsten, der mit einer der Fürstentöchter durchgebrannt war und sie geheiratet hatte. Ein riskanter Schritt, der ihn die gesellschaftliche Leiter hochkatapultieren sollte. Anscheinend verdächtigte der Fürst seinen Schwiegersohn, einige Briefe an sich gebracht zu haben. Briefe mit brisantem Inhalt. Setzte der unverschämte Kerl seine Schwiegereltern gerade damit unter Druck? Wollte er mehr Unterhalt?

»What do you mean by explosive content?« Was mit brisantem Inhalt gemeint sein könne, fragte die Fürstin ihren Sohn.

»Father didn’t elaborate that. But if Edmund were to be summoned to court, it could lead to the greatest irritation.«

Er wisse auch nichts Näheres, nur, dass Edmund Jaroljmek vor Gericht für größte Irritation sorgen könne. Das klang in der Tat nicht erfreulich.

Die Fürstin fragte nach, ob Edmund, ihr Schwiegersohn, vom Gericht einbestellt worden sei.

Noch nicht, war die Antwort des Sohnes. Er sagte das mit düsterster Miene.

Über Viktors Schädel lief ein unangenehmes Kribbeln. Edmund Jaroljmek, der frühere Privatsekretär, der mit Augusta, der mittleren Fürstentochter, auf und davon war. Um sie heimlich zu heiraten. Ihm war jede Frechheit zuzutrauen. Viktor hatte ihn nie gemocht. Hatte ihn beneidet, um die gute Stellung, um die leichte Arbeit, um das viele Geld. Doch all das hatte dem gut aussehenden Mann anscheinend nicht gereicht. Und nun tauchte er wieder aus der Versenkung auf – als Drohkulisse.

Briefe mit brisantem Inhalt. Was immer das bedeuten mochte. Natürlich lag nahe, dass Jaroljmek damit die sexuelle Orientierung, die dem Fürsten vorgeworfen wurde, bestätigen könnte. Genauso gut könnten die entwendeten Briefe aber auch abfällige Bemerkungen über hohe Regierungsbeamte beinhalten. Oder unschickliche Äußerungen über den Charakter des Kaisers. Am Ende waren sie vielleicht einfach nur ein Beweis für unbezahlte Rechnungen.

Es stand ihm nicht an, über den Fürsten zu urteilen. Natürlich wäre er mehr als froh, wenn sich die Anschuldigungen in Luft auflösen würden. Was er sich sehnlichst wünschte. Dass alles wieder in Ordnung käme. Alles wieder in den gewohnten Bahnen verlaufen würde.

Doch das Gegenteil war der Fall. Viktors gesamte Welt war in Unordnung: seine Stellung, seine Pläne, ja sogar seine Gefühle. Er konnte den Fürsten verstehen. Es gab berechtigte Gründe, nicht immer alle Handlungsmotive offenzulegen. Auch, wenn man es wollte. Letztendlich hatte er selbst ein böses Spiel mit Adelheid Schaaf gespielt, obwohl er es nie beabsichtigt hatte.

Er bereute den Kuss, den er ihr auf der Treppe gegeben hatte, damit sie nicht weiter nach seinem Vater fragte. Er bereute den Kuss, und dann auch wieder nicht. Er hatte sie geküsst, aus den falschen Gründen. Und dann hatte er sie belogen, aus den richtigen Gründen. Der Schmerz, den er in ihren Augen gesehen hatte, bohrte sich in sein eigenes Herz. Und noch während er überlegt hatte, ob er ihr nicht doch die Wahrheit erklären sollte, war er abberufen worden, mit nach Berlin zu fahren.

Und noch ein Gefühl war aus dem Lot geraten: seine Wut und sein Unverständnis gegenüber seinem Vater. Auch wenn er bedauerte, was dem Fürsten gerade widerfuhr, konnte er doch nicht umhin zu erkennen, dass er bevorzugt behandelt wurde. Sehr bevorzugt. Außerordentlich bevorzugt. Der Kaiser hatte sich vielleicht von ihm abgewandt, aber seine hohe Stellung schützte ihn vor der unangenehmen, oft brutalen Behandlung durch die Polizei, die ein verhafteter Bürger oder Arbeiter unter diesen Umständen erfahren würde. Er erkannte nun: Sein Vater hatte recht, wenn er dem Kaiser und seinen Handlangern vorwarf, Recht, Gesetz und Wahrheit je nach Stand und Klasse auszulegen.

Und welches Gefühl ebenfalls schon länger aus den Fugen geraten war, war seine Zuversicht, in wenigen Jahren der misslichen familiären Lage entfliehen zu können. Im nächsten Jahr würde Leander seine Prüfung zum Gymnasialabschluss ablegen. Wenn er die bestand, und es stand außer Frage, dass sein Bruder das schaffen würde, dann könnte er studieren. Oder eine gute Lehre in einem größeren Betrieb anfangen. Eine Ausbildung, die ihm mit dem Abschluss eine berufliche Laufbahn ermöglichen würde, welche die Familie endlich wieder in ein bürgerliches, wenn auch bescheidenes Leben zurückführen konnte. Aber endlich wieder etwas, was man als Leben bezeichnen konnte.

Seit Viktor vierzehn war, hatte er auf nichts anderes hingearbeitet. Auf nichts anderes sparte er, als dafür, Leander diese Ausbildung zu ermöglichen. Doch wenn der Fürst verurteilt würde und ins Gefängnis müsste, könnte es gut sein, dass Viktor entlassen wurde. Seine Pläne, in wenigen Jahren Opitz an der Spitze der Dienerschaft abzulösen, wären nur noch Schall und Rauch. Und er hätte kaum noch eine Chance, in einem ebenso gut gestellten Haushalt unterzukommen. Wenn ihnen das Geld auf halber Strecke von Leanders Ausbildung ausgehen würde, wäre alles Knapsen und Hungern umsonst gewesen. Diesen Gedanken ertrug Viktor nicht. Deshalb war der Ausgang des Prozesses entscheidend. Denn so schnell würde Viktor keine so gut bezahlte Stellung mehr bekommen.

Hatte Edmund Jaroljmek wirklich Briefe mit brisantem Inhalt unterschlagen? Wenn er diese gegen seinen Schwiegervater einsetzte, weil der ihm weitere finanzielle Vorteile verweigerte, dann musste Viktor sich auf erhebliche finanzielle Einsparungen auf dem Schloss einstellen.

12. Mai 1908

Constanze freute sich auf Hedda Pietsch. Frau Mandelbaum hatte ihr ein paar Stunden freigegeben. Es war ein schöner Tag, der Frühling zeigte sich in seiner ganzen Pracht. Sie zog sich ihren neuen Paletot über. Frau Mandelbaum hatte ihn ihr vermacht. Der leichte Überziehmantel sei doch eher etwas für jüngere Frauen. Sie werde ihn ganz sicher nicht mehr tragen.

Auf Hedda Pietschs Bitte hin trafen sie sich nicht in der Stadt, sondern im Grunewald. Im Grunde bestand der Grunewald nur aus Wald und der Villenkolonie. Sie verabredeten sich also schon fast in Halensee in einem Café, in dem Constanze gelegentlich mit Hugo verkehrte. Sie war früh dort, weil es einen Tisch in einer Nische gab, der etwas abseitsstand. Auf diesen Tisch hatte Constanze es abgesehen.

Sie wartete kaum fünfzehn Minuten, da betrat Hedda Pietsch das Café. Als sie Constanze entdeckte, konnte man sehen, wie sich die Anspannung in ihrem Gesicht löste. Die brünette Frau steuerte auf ihren Tisch zu, sie begrüßten sich freundlich, und Constanze lud sie ein. Dieses Mal ging es auf ihre eigenen Kosten, und sie hoffte, dass Fräulein Pietsch sich nicht wieder zwei Stücke Torte genehmigte.

Nach den üblichen Begrüßungsfloskeln erzählte die Arme, wie böse man ihr im Schloss mitgespielt hatte. Anscheinend hatte Lydia Keller, Constanze kannte sie natürlich, gemeinsam mit Herrn Opitz einen Unfall eingefädelt, von dem Fräulein Pietsch heute überzeugt war, dass er ihr gegolten hatte. Doch es war die Mamsell gewesen, die über einen Feudel die Treppe hinabgestürzt war.

Wie es der Mamsell nun ging, wusste Hedda Pietsch leider nicht zu sagen, denn noch hatte sie keinen Kontakt mit Adelheid Schaaf aufgenommen. Constanze bedauerte ihren Rausschmiss außerordentlich. Und was die Arme sonst so zu erzählen hatte, war auch nicht gerade erfreulich. Mit der Gabel teilte sie ein Stück vom Biskuitkuchen ab.

»Mit einem solchen Eintrag finde ich nie wieder eine gute Stelle. Es ist zum Verzweifeln. Und ich dachte … Weil Sie doch wissen, wie zuverlässig ich bin, und fleißig. Und nichts mit all den merkwürdigen Vorgängen im Schloss zu tun habe … ob Sie sich da freundlicherweise für mich verwenden könnten?« Fräulein Pietsch umklammerte ihre Kuchengabel, als würde sie sie vor dem Verhungern retten können.

»Sie meinen, dass ich für Sie bürge?«, fragte Constanze nach.

»Bürgen? … Nein. Oder ja. Also nur, wenn es nötig wird.« Hedda Pietsch starrte sie aus ihren großen blaugrauen Augen an. Flehentlich.

Constanze überlegte. Würde sie für Hedda Pietsch bürgen? So gut kannte sie das Stubenmädchen ja gar nicht. Andererseits hatte es nie etwas an ihr oder ihrer Arbeit auszusetzen gegeben. »Natürlich. Wenn es Ihnen hilft, mache ich das gerne. Aber erst einmal müssen wir eine passende Stelle für Sie finden.«

»Ich verzweifle gerade. Es gibt nur Stellen für Alleinmädchen. Und mit diesem katastrophalen Eintrag komme ich sowieso nirgendwo mehr unter. Vielleicht sollte ich doch nach Amerika gehen.« Ihr Schmollmund verzog sich.

»Sie wollen nach Amerika?«

»Eine Bürgerin unter Bürgern. Das wäre mein großer Traum. Selbst wenn ich dort nur wieder als Hausmädchen unterkomme, müsste es besser sein. Das Leben in Amerika ist bestimmt angenehmer, nicht einfacher, aber doch freier.«

Constanze legte den Kopf schief. Wenn sie sich da mal nicht etwas vormachte. Andererseits, Frauen hatten dort zwar auch kein Wahlrecht, aber immerhin gab es eine echte Frauenwahlrecht-Bewegung. Etwas, wovon man hier nur träumen konnte. Und die Gesellschaft insgesamt war nicht so stark hierarchisiert wie hier. Hier war die Stellung in der Gesellschaft von Geburt an für den Rest des Lebens vorbestimmt. Das war in Amerika tatsächlich anders. »Haben Sie denn genug gespart?«

Hedda Pietsch senkte den Kopf. »Ich hab schon so einiges zusammen, aber noch nicht genug. Und wenn ich ehrlich zu Ihnen sein darf, merke ich gerade, ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich es je machen werde. Verstehen Sie mich nicht falsch. Es wäre mein größter Traum, doch allmählich glaube ich, dass ich nicht genug Schneid habe.«

»Nach Amerika zu gehen?«

»Alleine nach Amerika zu gehen. Wenn es noch jemanden gäbe, ich würde es morgen riskieren. Aber so ganz allein …« Sie schüttelte ihren Kopf. »Armselig, finden Sie nicht auch?«

»Armselig. Nein, im Gegenteil. Ich bewundere Sie für Ihre Träume. Und wenn es jetzt nicht klappt, dann vielleicht in fünf Jahren, oder in zehn. Es ist wichtig, überhaupt Träume von einem besseren Leben zu haben.«

»Eigentlich dachte ich immer, diese Frage stellt sich mir erst in ein paar Jahren. Bis ich genug zusammengespart habe. Und dass ich bis dahin den nötigen Mut gefasst habe … Dabei kann ich ja nicht mal Englisch, oder heißt es Amerikanisch? Ich stelle mir immer vor, ich komme dort in einem deutschen Haushalt unter und habe dann noch genug Zeit, die Sprache zu lernen. Schließlich haben es Millionen von Deutschen schon geschafft. Sie sind ausgewandert, und einige sind sogar zu Wohlstand oder Reichtum gekommen.«

»Auf die allermeisten wird das allerdings nicht zutreffen«, gab Constanze zu bedenken.

»Immer noch besser, als wenn ich mich hier in zwei Monaten der Majestätsbeleidigung oder Gotteslästerung schuldig machen muss, damit ich ins Gefängnis komme, um dort etwas zu essen zu bekommen.«

Constanze sah sie konsterniert an.

Hedda Pietsch bemerkte ihre Irritation. »Das machen entlassene Dienstmädchen, die nicht mehr Fuß fassen können. Als letzten Ausweg. Um nicht zu verhungern, ist das der sicherste Weg – man lässt sich kurzerhand einsperren.«