Gut Greifenau - Silberstreif - Hanna Caspian - E-Book
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Gut Greifenau - Silberstreif E-Book

Hanna Caspian

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Beschreibung

Der fünfte Band der erfolgreichen Familiensaga von Bestseller-Autorin Hanna Caspian, dem deutschen Downton Abbey. Herbst 1923. Deutschland befindet sich auf dem Höhepunkt der Hyperinflation. Das Geld verliert stündlich seinen Wert, Existenzen werden vernichtet, die Menschen sind verzweifelt. Auch an den Bewohnern von Gut Greifenau geht die Wirtschaftskrise nicht spurlos vorbei. Doch dann kommt ausgerechnet die Inflation Konstantin zu Hilfe, und er kann das bedrohte Familiengut retten. Als Konstantins geliebte Frau Rebecca ein Mädchen zur Welt bringt, scheint das Glück vollkommen. Doch immer noch schwelt in Rebecca die Angst vor Konstantins hinterhältigem Bruder Nikolaus, und auch das Gutspersonal taumelt von einer Krise in die andere. Währenddessen scheint Katharina endlich ihren Traum vom Medizinstudium verwirklichen zu können. Opulent, brillant recherchiert und fesselnd geschrieben – Hanna Caspian entführt im fünften Band ihrer Familiensaga ihre unzähligen Leser erneut auf das Gut Greifenau in Hinterpommern - diesmal in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. Band 1: "Gut Greifenau. Abendglanz" Band 2: "Gut Greifenau. Nachtfeuer" Band 3: "Gut Greifenau. Morgenröte" Band 4: "Gut Greifenau. Goldsturm"

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Seitenzahl: 706

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Hanna Caspian

Gut Greifenau Silberstreif

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Neues vom deutschen Downton Abbey - Der fünfte Band der erfolgreichen Familiensaga von Bestsellerautorin Hanna Caspian

 

Herbst 1923. Deutschland befindet sich auf dem Höhepunkt der Hyperinflation. Das Geld verliert stündlich seinen Wert, Existenzen werden vernichtet, die Menschen sind verzweifelt. Das Chaos beschert Herrschaften wie Dienstboten auf Gut Greifenau schwere Zeiten. Trotzdem, ausgerechnet die Inflation kommt Konstantin zu Hilfe. Er kann seine Schulden begleichen. Das bedrohte Familiengut ist gerettet – vorerst. Zur weiteren Unterstützung werden Sommergäste aufgenommen, was nicht ohne Folgen bleibt. Katharina verträgt sich mit Julius und kann endlich Medizin studieren. Fortan lebt sie in zwei Welten – der ärmsten und der reichsten.

 

»Hervorragend recherchiert und hochemotional erzählt.«

Berliner Lokalnachrichten.de über Gut Greifenau Nachtfeuer

Inhaltsübersicht

MottoKartenPersonenübersichtKapitel 130. September 1923Mitte Oktober 19234. Dezember 192331. Dezember 19237. Januar 1924Kapitel 2Januar 1924Februar 1924März 1924Anfang April 192427. Mai 1924Kapitel 3Juni 1924Ende Juli 19243. August 1924August 1924Mitte September 1924Ende September 1924Kapitel 4Oktober 1924Januar 1925April 1925Juni 192518. Juli 1925Kapitel 5Ende September 1925Oktober 1925November 192525. Dezember 1925Silvester 1925Kapitel 6Februar 1926April 192620. Juni 1926Anfang Juli 1926Mitte Juli 1926Anfang August 1926Kapitel 7Mitte August 1926September 1926Oktober 1926November 1926Anfang Dezember 1926Silvester 1926Kapitel 8Februar 192726. März 1927April 1927Mai 1927Ende Juli 1927September 1927Kapitel 9Oktober 1927November 192726. Dezember 1927Silvester 1927Ende März 1928Kapitel 1027. Mai 1928Mitte August 1928September 19284. Oktober 1928Anfang November 1928Kapitel 1116. November 1928Anfang Dezember 192822. Dezember 1928NachwortLeseprobe »Gut Greifenau Sternenwende«
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Die Schranken zwischen den Klassen waren dünn und brüchig geworden – vielleicht ein segenvolles Nebenereignis der allgemeinen Verarmung. Viele Studenten waren nebenbei Arbeiter – und viele junge Arbeiter nebenbei Studenten. Klassendünkel und Stehkragengesinnung waren einfach unmodern geworden. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern waren offener und freier als je – vielleicht ein segenvolles Nebenereignis der langen Verwilderung. (…) Schließlich begann sogar in den Beziehungen zwischen den Nationen eine neue Möglichkeit aufzudämmern, eine größere Unbefangenheit und ein größeres Interesse füreinander und eine ausgesprochene Freude an der Buntheit, die die Welt dadurch bekam, dass es so viele Völker gibt.

 

Aus: Sebastian Haffner – Geschichte eines Deutschen; Erinnerung 1914–1933

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Personenübersicht

Familie

Konstantin Graf von Auwitz-Aarhayn – Gutsherr von Gut Greifenau

Rebecca Gräfin von Auwitz-Aarhayn – Gutsherrin

Richard – ihr Sohn

Charlotte – ihre erste Tochter

Elisabeth – ihre zweite Tochter

Gräfin Feodora, geb. Gregorius – Witwe und Mutter der fünf Kinder, ehemalige Gutsherrin von Greifenau

Anastasia – älteste Schwester Konstantins, verheiratete Gräfin von Sawatzki

Bedienstete

Albert Sonntag – Gutsverwalter, ehemaliger Kutscher und Chauffeur

Ida Sonntag – Leitet die Meierei, verheiratet mit Albert

Bruno – Alberts und Idas Ziehsohn

Siegfried – Alberts und Idas leiblicher Sohn

Wiebke Plümecke – Stubenmädchen

Theodor Caspers – oberster Hausdiener und Butler

Bertha Polzin – Köchin

Sibylle Weidemann – Küchenmädchen

Kilian Hübner – Hausbursche

Gustav Minkwitz – Schweizer / Melker

Leah Rosenthal – Amme für Siegfried

Dorf Greifenau und Umgebung

Irmgard Hindemith – ehemalige Köchin, leitet eine Pension

Therese Hindemith – Irmgard Hindemiths Schwester, leitet eine Pension

Paul Plümecke – Wiebkes Bruder, Dorfschmied

Lorenz Kurscheidt – Rebeccas Vater

Walburga Kurscheidt – Rebeccas Mutter

Karoline Kurscheidt – Rebeccas Schwester

Arnulf Seibold – neureicher Gutsnachbar von Konstantin

Egidius Wittekind – evangelisch-lutherischer Pastor

Matthäus Quadflieg – evangelisch-lutherischer Pastor

Brunhilde Quadflieg – Frau des neuen Dorfpastors

Elfriede Quadflieg – jüngste Tochter des Pastorenpaares

Karl Matthis – Dorflehrer

Luise Tetzlaff – neue Dorflehrerin

Margarete Emmerling – ehemalige Prostituierte, alias Annabella Kassini

Berlin

Katharina Urban – Konstantins jüngere Schwester, geb. Komtess von Auwitz-Aarhayn

Julius Urban – Katharinas Mann

Amalie Urban – ihre Tochter

Ferdinand Urban – ihr Sohn

Cornelius Urban – Julius’ Vater, Großindustrieller

Eleonora Urban – Julius’ Mutter

Nikolaus von Auwitz-Aarhayn – mittlerer Bruder

Alexander von Auwitz-Aarhayn – jüngster Bruder

Pavel Graf Gregorius – jüngerer Bruder von Feodora

Raissa Gräfin Gregorius – Pavels Frau

Leonid Graf Gregorius – Pavels und Raissas ältester Sohn

Andrej Graf Gregorius – Pavels und Raissas jüngster Sohn

Magda – Dienstmädchen bei den Urbans

Gustl – Katharinas Dienstmädchen

Wilma – Katharinas Kindermädchen

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Kapitel 1

30. September 1923

So hatte sich diese unheilige Zeit mit all ihren Unmöglichkeiten und Katastrophen nun auch in das Heim derer von Auwitz-Aarhayn geschlichen. Draußen im Reich herrschte das Chaos. Die Inflation verschonte keinen der Bewohner des hinterpommerschen Gutes – nicht die Herrschaften und nicht die Dienstboten.

Rebecca stand mit Konstantin im Vestibül. Sie warteten darauf, dass Katharina herunterkam. Seit vier Wochen war sie nun auf Gut Greifenau. Heute endete der Besuch. Ihr Gepäck war bereits in der Kutsche verstaut. Kilian würde die Familie nach Stargard zum Bahnhof bringen. Oben auf der Galerie waren schon die Stimmen der Kinder zu hören, die Konstantins jüngster Schwester vermutlich auf dem Gang vorausliefen.

Amalie und Richard kamen in Sicht. Vergnügt gingen sie Hand in Hand in Richtung Treppe. Die beiden Kleinen waren ganz ineinander vernarrt. Heute Morgen am Frühstückstisch hatten sie sich gegenseitig gefüttert, zur Belustigung aller. Sogar Katharina hatte lachen müssen. Dabei war ihr anzusehen gewesen, wie wenig ihr zum Lachen zumute war.

»Hast du noch mal mit ihm gesprochen?«, fragte Rebecca Konstantin leise.

»Natürlich, mehr als einmal. Aber Julius hat eine sehr geschickte Art, sich aus der Affäre zu ziehen. Ich wette, das hat er von seinem Vater.«

»Vermutlich«, bestätigte seine Frau den Eindruck.

»Wo sind eigentlich deine Eltern und Karoline?«, fragte Konstantin nun.

»Sie haben sich schon nach dem Frühstück von Katharina und den Kleinen verabschiedet. Mama sagte, dass sie nicht ein noch größeres Drama aus dem Abschied machen wollten, als es ohnehin schon wird. Ehrlich gesagt finde ich, dass es eine ihrer besseren Ideen der letzten Tage war.«

»Da ist sie«, sagte Konstantin, als seine Schwester oben auftauchte.

»Sie hat wieder geweint.«

Rebecca hatte in den letzten Tagen häufig mit Katharina gesprochen. Auch Konstantin hatte innige Gespräche mit ihr geführt. Seine jüngste Schwester kam einfach nicht darüber hinweg, dass Julius ihr die Pistole auf die Brust gesetzt hatte. Und das, nachdem er zuvor ihr Vertrauen missbraucht hatte. Er hatte von den Machenschaften seines Vaters gewusst, der seiner Schwiegertochter den Zugang zum Medizinstudium verwehrt hatte. Julius hatte davon erfahren und es ihr verschwiegen. Katharina war so wütend gewesen, dass sie ihn verlassen hatte. Und hierhergekommen war, an den Ort ihrer Kindheit.

Julius hatte sie angefleht zurückzukommen, ihre Liebe beschworen, und als alles nichts geholfen hatte, hatte er sie erpresst. Würde Katharina nicht mit ihm zurückkehren, dann würde er Seibold das Land verkaufen, auf dem Konstantin seine Ziegelei gebaut hatte. Also hatte Katharina schweren Herzens nachgegeben. Konstantin konnte seiner Schwester gar nicht genug danken. Der Abschied fiel ihm schwer. Dennoch war Konstantin mehr als froh über Katharinas Entscheidung. Von Julius allerdings war er maßlos enttäuscht. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass sein Schwager zu einem solchen Schritt fähig wäre. Julius hatte mit dem Hochzeitsgeld seiner Eltern das Gut vor dem Zwangsverkauf gerettet. Der Krieg und die Misswirtschaft von Konstantins Vater hatten zu viele Schulden auf dem Anwesen angehäuft, als Konstantin es nach dem Tod seines Vaters übernommen hatte. Und in den letzten vier Jahren hatte Konstantin Julius ein Stück Land nach dem anderen übertragen, um an das nötige Geld für Saatgut und Maschinen zu kommen und die vermaledeiten neuen Steuern zu bezahlen. Dass Julius seine eigene Frau mit dem Verkauf des wichtigsten Stück Landes erpresste, nein, das würde er ihm nie verzeihen.

Rebecca und Konstantin hatten sich bereits von ihm verabschiedet. Julius stand draußen bei der Kutsche und wartete auf Katharina. Wartete darauf, dass seine Frau endlich zu ihm zurückkehrte, in den Grunewald, in ihre teure Villa. Geld hatte für den Industriellensohn keine Bedeutung. Man hatte es, oder man hatte es nicht. Und er hatte viel, vor allem sein Vater hatte viel. Katharina hatte Konstantin in den letzten Wochen so einiges erzählt. Wie Cornelius Urban sich in der Inflation reich und reicher machte. Mit billigen Krediten, die beim Zurückzahlen schon nur noch einen Bruchteil des ursprünglichen Wertes hatten, dank der galoppierenden Geldentwertung. Männer wie Cornelius und Julius Urban füllten sich in dieser düsteren und abstrusen Zeit die Taschen, während es den Menschen im Land von Tag zu Tag schlechter ging. Die Preise für ein Brot marschierten stramm Richtung zehn Millionen Mark, ein Liter Milch kostete fast vierzehn Millionen Mark. Unterdessen hatte Cornelius Urban sich eine Fabrik nach der anderen gekauft. Und Julius machte große Gewinne mit Immobilien. Leute, die gezwungen waren, ihre Häuser und Villen zu verkaufen, weil das Geld nicht mehr für das tägliche Leben reichte. Es war eine Schande.

Rebecca hatte recht behalten. Sie hatte den massiven Landverkauf an Julius schon früh kritisch beäugt. Konstantin hatte davon nichts wissen wollen. Schließlich wollten Julius und Katharina nur stille Teilhaber sein. Sie wollten keine Zinsen und keine Pacht. Vier Jahre war es gut gegangen, zu gut. Die Quittung hatte Konstantin jetzt erhalten.

Noch gestern Abend hatte er ein unangenehmes Gespräch mit seinem Schwager geführt. Konstantin wollte das Land jetzt so schnell wie möglich zurückkaufen. Nicht dass er das Geld gehabt hätte. Obwohl die Ziegelei jeden Monat mehr abwarf. Doch er investierte das Geld umgehend. Jeden Tag verlor die Mark an Wert. Sparen lohnte sich nicht. Im Gegenteil. Mittlerweile konnte man dabei zusehen, wie der Dollarkurs stündlich stieg. Sie hatten keinerlei Rücklagen, weil es dumm gewesen wäre, Geld zurückzulegen.

Die Regierung in Berlin war zerstritten darüber, wie man dem Wahnsinn der Inflation ein Ende machen konnte. Allen war klar, dass das nicht so weitergehen durfte. Aber was sollte man tun, damit es endlich aufhörte? Deshalb hatte Julius den Rückkauf auf unbekannte Zeit verschoben. Erst einmal solle Katharina zurückkehren. Und erst einmal solle wieder Ruhe auf dem Geldmarkt einkehren. Dann könne man ja noch mal darüber sprechen. Ohnehin habe Konstantin doch kein Geld, nicht im Moment. Also, womit wolle er dann Julius auszahlen? Ein berechtigter Einwand. Genauso berechtigt wie Julius’ Einwand, dass er selbst im Moment kein Geld auf der Bank haben wolle. Nicht solange es schon am nächsten Tag nur noch die Hälfte wert war.

Konstantin blieb kein Handlungsspielraum. Er konnte nur hoffen, dass er seinem Schwager klargemacht hatte, dass er, sobald es möglich war, eine Parzelle nach der anderen von ihm zurückkaufen wollte und musste.

Katharina war beschämt von dem Erpressungsversuch ihres Mannes. Niemals, das hatte sie Konstantin versichert, niemals hätte sie ihm so etwas zugetraut. Und sie hatte Konstantin versprochen, bei Julius ein gutes Wort einzulegen – sobald wieder gute Worte zwischen ihnen beiden möglich waren. Konstantin blieb nur die Hoffnung, dass sich alles zum Guten wenden würde, früher oder später.

Katharina trat nun ins Vestibül, den kleinen Ferdinand auf dem Arm. Tatsächlich konnte man ihren mandelförmigen Augen ansehen, dass sie gerade wieder geweint haben musste. Sie strich sich eine Strähne ihres kastanienbraunen Haares aus der Stirn, an dem Ferdinand herumgespielt hatte. Vor drei Wochen hatten sie den ersten Geburtstag ihres Sohnes gefeiert. Rebecca lief zu ihr hin und nahm den Kleinen auf den Arm. Sie hatte einen Narren an ihm gefressen.

»Ferdi, du wirst mir so fehlen.«

»Ihr alle werdet mir fehlen. Und nicht nur mir.« Katharina warf einen bedauernden Blick auf Amalie. Noch ahnte die Dreijährige nicht, was wirklich hinter dem Wort Abschied stand.

»Komm, Mali … winke, winke … draußen«, sagte Richard zu Amalie.

Auch Konstantins zweieinhalbjähriger Sohn wusste noch nicht, was ihm nun bevorstand. Noch dachte er, es sei ein Spiel. Konstantin folgte den beiden Kleinen zur Freitreppe, blieb aber oben stehen.

»Rebecca, Konstantin, es tut mir wirklich alles so furchtbar leid.« Katharina hatte schon wieder Tränen in den Augen.

»Du musst dich nicht entschuldigen. Im Gegenteil. Du hast die richtige Entscheidung getroffen.« Konstantin stockte beim Reden.

»Für dich kommt jetzt erst die harte Zeit«, sagte Rebecca mitfühlend. »Aber sieh es positiv. Du kannst dich nächste Woche endlich zum Studium anmelden.«

»Ja, wenn mein Schwiegervater mir nicht wieder einen Strich durch die Rechnung macht«, gab Katharina zerknirscht von sich. »Und ich weiß wirklich nicht, wie meine nächsten Tage mit Julius aussehen werden.«

»Du kennst ihn doch. Er wird einfach so tun, als wäre alles in Ordnung«, sagte Konstantin.

»Genau deswegen mache ich mir ja Sorgen. Wie kann man einfach so tun, als hätte er mich nicht erpresst? Als hätten wir keine Ehekrise? Er hat mich tief verletzt.«

»Vergiss nicht, dass ihr euch liebt. Immer noch liebt.« Rebecca wollte wohl auch keine neue Diskussion anfangen. Schließlich wusste sie, wie viel für Greifenau auf dem Spiel stand. Dass Katharina nicht im letzten Moment ihre Meinung ändern durfte. In den vergangenen Tagen hatte sie mehrere Mal geschwankt, hatte bleiben, sich von Julius trennen wollen. Aber ihre Kinder zu verlieren war für sie nicht infrage gekommen. Allein schon ihretwegen musste sie bei Julius bleiben.

Katharina folgte ihnen die Freitreppe hinunter. Julius wartete unten, mit angespannter Miene. Auch er stand mit dem Rücken zur Wand. Er musste sich beweisen. Musste seinem Vater beweisen, dass er Manns genug war, seine Frau zu dominieren. Sich wie ein Schuft zu verhalten war ihm sichtlich nicht leichtgefallen.

Trotzdem, das Einzige, was Konstantin etwas nachsichtiger ihm gegenüber stimmte, war sein Alter. Julius war erst vierundzwanzig, drei Jahre älter als Katharina. Das war jung. Sein Schwager hatte noch viel zu lernen. Aber so ganz verzeihen würde er ihm diesen Angriff auf Greifenau wohl nie.

Wilma, das Kindermädchen von Amalie und Ferdinand, saß bereits oben auf dem Kutschbock. Kilian Hübner hatte ihr gerade hochgeholfen. Er selbst hielt sich im Hintergrund. Die ganze Dienstbotenetage hatte mitbekommen, dass es Spannungen zwischen Katharina und Julius gab. Und dass der Mann der ehemaligen Komtess ihm, dem Gutsherrn, Schwierigkeiten machte. Konstantin selbst war mehrere Tage rumgelaufen wie Falschgeld. Ob die Bediensteten wirklich im Bilde darüber waren, was Julius ihm angedroht hatte, wusste Konstantin nicht. Er würde es sicher nicht verraten. Nicht einmal Albert Sonntag, sein Verwalter, wusste, dass er fast die Hälfte des Landes, das zum Gut gehörte, an seinen Schwager verkauft hatte. Aber dass da was im Busch war, wussten alle.

Die Atmosphäre war zunehmend angespannt. Sogar Caspers machte sich rar, hier oben bei den Herrschaften. Und das war eigentlich gar nicht seine Art. Der oberste Hausdiener scharwenzelte sonst immer um sie herum.

Für den Abschied hatten sie die Dienstboten gebeten, unten zu bleiben. Er würde so schon steif und unangenehm genug, hatte Rebecca befunden und Ida Sonntag Bescheid gesagt. Damit es den Kindern nicht noch schwerer gemacht werde, war ihr Argument gewesen.

Und tatsächlich, Julius hob Amalie nun auf den Arm und wollte sie in die Kutsche setzen. Aber Richard merkte, was los war.

»Nein … nicht … hierbleiben.« Schon war er am Schlag der Kutschentür. Seine Beinchen waren noch zu kurz, um die ausgeklappten Stufen zu nehmen. Sofort fing er an zu weinen. Er wollte zu Amalie. Und auch aus dem Inneren der Kutsche war nun Widerspruch zu hören.

Beide Kinder wussten nur zu gut, dass Kutschen und Automobile bedeuteten, dass man wegfuhr. Und sie wollten sich nicht trennen lassen.

»Mama«, rief Richard nun. Er drehte sich mit forderndem Blick zu Rebecca um. Sie sollte ihm in die Kutsche helfen.

Rebecca reichte Konstantin den kleinen Ferdinand und ging zu ihrem Sohn. Sie griff nach seinem Händchen. »Nein, Richard, wir bleiben hier.«

»Nein … Mali«, sagte er mit Überzeugung und zeigte in die Kutsche. Er hatte seine Cousine in den letzten Wochen ins Herz geschlossen.

»Richard, Amalie fährt nun nach Hause«, sagte Rebecca in besänftigendem Ton.

»Nein! Mali!« Jetzt klang er schon drohender. Er stampfte mit einem Fuß auf.

Konstantin sah, wie auch Amalie in der Kutsche sich nun aus Julius’ Fängen befreien wollte. Der stand noch draußen, auf der anderen Seite der Kutsche, und wollte sie festhalten. Doch Amalie wurde richtig rabiat. Und auch Richards Laune kippte.

»Mali!«, schrie er nun aus Leibeskräften.

Auf seinem Arm bemerkte nun auch Ferdinand, dass etwas passierte. Er fing an zu weinen. Konstantin ging auf die andere Seite der Kutsche, um Julius seinen Sohn zu übergeben.

Richard versuchte derweilen doch allein, auf die kleine ausgeklappte schmale Stufe zu klettern, die ins Innere der Kutsche führte. Das konnte nicht gut gehen. Rebecca wollte ihn davon abhalten. Was nicht funktionierte. Also half sie ihm hochzusteigen und sagte: »So, nun gib Amalie einen Abschiedskuss. Und dann machen wir winke, winke.«

Doch Richard, der sonst so brav und pflegeleicht war, setzte sich neben Amalie und die beiden klammerten sich aneinander. »Nein!«, war seine Antwort.

»Ach Rebecca«, sagte Konstantin genervt. »Jetzt kriegen wir sie doch nie auseinander.«

Katharina trat an die Kutsche heran. »Amalie, sag Richard Auf Wiedersehen. Wir fahren jetzt nach Hause.« Doch auch Katharina hatte nicht mit dem Widerstand ihrer Tochter gerechnet.

»Nein«, sagte die bestimmt. »Nein, ich bleib hier.« Trotzig schob sie ihre Unterlippe vor, ohne ihren kleinen Freund aus den Armen zu lassen. Dann setzten sich die beiden Klammeräffchen in Bewegung. Sie wollten nun raus aus der Kutsche. Aber sie ließen einander nicht los.

Konstantin griff nach Richard und zerrte ihn heraus, während Katharina versuchte, Amalies Hände von Richard zu lösen. Es war ein einziges Geschreie und Gezänk. Beide Kinder zeigten sich ungewohnt kräftig. Endlich hatten sie sie auseinandergezerrt. Doch Amalies Gebrüll wurde nur umso lauter.

»Wir fahren jetzt besser schnell«, sagte Katharina, nahm ein letztes Mal ihren Bruder in den Arm, der noch mit Richards Gegenwehr kämpfte, und dann Rebecca.

Katharina tätschelte Rebeccas gewölbten Babybauch. »Pass gut auf dich und das Kleine auf. Es wird schon alles gut gehen. Dann hast du in ein paar Monaten auch zwei Schreihälse.« Ihr Lächeln war bemüht. Die Worte gingen fast unter in dem Wutgeschrei der Kinder.

Julius hielt Ferdinand in einem Arm, während er mit dem anderen versuchte, die heulende Amalie davon abzuhalten, aus der Kutsche zu steigen. Nun schob ihre Mutter sie zurück ins Innere und stieg selbst ein. Ein nettes Winken kam gar nicht mehr infrage, so sehr war Katharina noch bemüht, ihre Tochter in den Griff zu kriegen. Julius stieg, den noch immer weinenden Ferdinand auf dem Arm, auf der anderen Seite der Kutsche ein.

Irgendwie war Konstantin auch froh, dass es keine richtige Gelegenheit mehr gab, sich noch einmal förmlich von Julius zu verabschieden. Die Türen schlossen sich. Richard wand sich in seinen Armen wie ein gefangener Aal und protestierte lautstark.

Kilian stieg auf den Kutschbock und fuhr los. Das Schreien von Amalie war noch zu hören, als die Kutsche schon auf die Chaussee einbog. Erst jetzt legte Richard seinen Kopf in Konstantins Schulterbeuge und weinte bitterlich.

»Komm, Richard, wollen wir mit Bruno spielen?«, machte Rebecca ihm ein Friedensangebot.

Doch der Junge schüttelte vehement seinen Kopf.

»Amalie kommt bestimmt bald wieder zu Besuch.«

Auch das nutzte nichts. Rebecca nahm ihn nun auf den Arm. Doch auch da versteckte er sein Gesicht. Sie rollte mit den Augen. Es würde sich schon wieder geben, bedeutete sie.

»Wie gut, dass die Kinder so rumgejammert haben. Da konnte es gar nicht komisch werden zwischen uns Erwachsenen.«

»Zwischen Katharina und Julius, meinst du wohl.« Konstantin sah ihnen noch immer nach.

* * *

»Frau Marquardt hat erzählt, dass sie letztens von ihrem Fenster aus einen Städter gesehen hat, der auf einem abgeernteten Feld ein Hamsternest ausgegraben hat. Drei Hamster hat er gefangen und in einen Korb gesperrt. Und dann hat er weitergebuddelt und das gebunkerte Korn aus dem Hamsternest geholt, Körnchen für Körnchen«, erzählte Karoline. Nach Katharinas Abreise war Rebeccas Schwester mit ihren Eltern wieder aus dem Dorf zurückgekehrt.

»Hunde schlachten. Hamster braten. Was kommt denn noch alles? Ich finde die Vorstellung, meinen eigenen Hund zu essen, doch ein wenig … unappetitlich.«

»Du warst nicht dabei. Du hast keinen wirklichen Hunger gelitten. Verurteile nicht die Leute, die so etwas tun. Du hast keine Ahnung, wie es wirklich in Berlin zugeht«, schimpfte Karoline mit ihr. Wie meistens war ihre Schwester die Erste im Speisesalon gewesen. Der Hunger hatte tiefe Spuren in ihrem Leben hinterlassen.

Katharina und Julius waren am frühen Vormittag gefahren. Rebeccas Schwester hatte gestern Abend noch mit ihr darüber geredet, wie gerne sie die Urbans begleiten würde. Sie machte sich hier zwar nützlich, aber eine wirkliche Aufgabe hatte sie nicht. Am Anfang ihres Aufenthaltes hatten die Dienstboten die Vorstellung, dass Mutter und Schwester der Hausherrin nun mithelfen würden, irgendwie noch amüsant gefunden. Doch das hatte sich bald gelegt. Rebeccas Eltern und auch Karoline bestanden darauf, sich nicht bedienen zu lassen. Und mitzuhelfen, wo es nur ging. Aber zusammen mit den Dienstmädchen die Betten zu beziehen, dann aber im Salon mit den Herrschaften zu speisen – irgendwas war daran schief.

Rebecca spürte, dass im ganzen Haus eine merkwürdige Atmosphäre herrschte. Sie mussten bald klären, ob ihre Familie wieder nach Berlin zurückgehen würde. Und wenn nicht, was die drei dann hier tun sollten. Doch die Geschichte mit Julius und Katharina hatte Vorrang gehabt. Jetzt erst konnte sie sich um andere Dinge kümmern.

Außerdem, bisher hatte sie noch keine Idee, wie die Zukunft ihrer Eltern aussehen sollte. Dr. Reichenbach, der Arzt von Greifenau und Umgebung, praktizierte noch. Aber er war alt. Konstantin vermied, es anzusprechen, aber Rebecca hatte eine Andeutung gemacht, dass ihr Vater ja vielleicht die Aufgaben von dem Landarzt übernehmen könnte. Und Mama konnte Rebecca hier im Haus in vielem unterstützen. Jetzt, da Amalie fort war, würde Richard wieder mehr Zuwendung einfordern. Aber aus lauter Verzweiflung über ihre Untätigkeit, zu der sie verdammt waren, stritten Mama und Karoline sich schon um die Kinderbetreuung. Bisher hatten sie sich die – wenn man Bruno mit dazurechnete – vier Kinder gut aufteilen können. Rebecca schwante, dass es nun schwieriger werden würde. Diese vermaledeiten Zeiten.

»Ja, du hast ja recht. Es ist wirklich eine Schande, was mit diesem Land passiert … Das erinnert mich daran, dass ich noch mal über den Plan mit den Wachschichten gehen muss. Kilian und Gustav sollten mal wieder eine Woche nachts durchschlafen können.« Noch immer klauten hungernde Städter nachts auf den Feldern. Was Rebecca genau wie Konstantin verstehen konnte. Aber durchgehen lassen konnte man es ihnen nicht.

»Ich kann auch gerne eine Woche lang die Scheune und Ställe bewachen. Mir macht es nichts aus«, bot Karoline sich an.

»Kannst du denn mit einem Gewehr umgehen?«

»Ich muss doch niemanden erschießen. Nur einen Warnschuss abgeben. Das werde ich wohl hinbekommen.«

Rebecca nickte. Es wäre eine Erleichterung, wenn ihre Schwester das machen könnte. Sie würde mit Konstantin darüber reden.

Ihr Vater kam in den Salon. Er wirkte ungewohnt gut gelaunt. Meistens ging ihm seine unfreiwillige Untätigkeit auf die Nerven. Doch nun begrüßte er sie fröhlich und setzte sich.

»Wo ist Mama?«, fragte Rebecca.

»Ich weiß es nicht. Ich komme gerade erst aus dem Dorf.«

Die Tür ging auf und Konstantin trat mit Richard ein. Sie waren reiten gewesen. Nun, reiten konnte man es wohl noch nicht nennen, aber nachdem Richard sich gar nicht hatte beruhigen lassen, hatte Konstantin dem Kleinen vorgeschlagen, dass er alleine auf ein Pferd dürfe, zum ersten Mal. Hoffentlich hatte es geholfen.

Richard kam auf sie zugestürmt und schmiss sich in ihre Arme. »Mama … Perd«, sagte er stolz.

Rebecca hob ihn hoch. »Hast du wirklich auf einem richtigen Pferd gesessen?«

»Perd reitet!«, wiederholte Richard nun ganz stolz.

»Und wie hat es dir gefallen?« Sie setzte ihren Sohn in seinen hölzernen Hochstuhl.

»Perd … Hüüü!«

Rebecca musste lachen. Also hatte er sich tatsächlich ablenken lassen. Doch nun schaute er sich am Tisch um.

»Mali?«

O nein. Nicht schon wieder. »Amalie ist nach Hause, mein Schatz.«

Er schaute sie mit großen Augen an. »Nein … Mali!«

»Mali ist weg«, sagte nun ihr Vater.

Richard bedachte ihn mit einem bösen Blick, als wäre er daran schuld, dass seine kleine Freundin weggefahren war.

»Mali und Ferdi?« Ein letzter Versuch.

»Amalie und Ferdinand sind mit ihrer Mama und ihrem Papa nach Hause gefahren«, erklärte Rebecca noch einmal.

Theatralisch ließ Richard sein Köpfchen auf die Tischplatte fallen. »Maliiiii!«

Rebecca streichelte ihn. Vermutlich würden sie diese Melodramatik noch ein paar Tage durchstehen müssen. Konstantin setzte sich und rieb sich die Hände. Draußen war es kalt und er hatte wohl auch Hunger. Heute war Sonntag. Alle freuten sich schon auf das Fleisch. Mittlerweile gab es nur noch einmal die Woche Braten.

»Komisch, wo ist Mama nur?« Rebecca schwante etwas. »Ich geh mal besser nachschauen.«

Sie stand auf und verließ den Salon. Es gab nicht viele Alternativen für Mama. In ihrem Zimmer konnte sie nur wenig tun. Aber da es nun bald Essen gäbe, wusste Rebecca, wo sie ihre Mutter vermutlich finden würde. Das ging nun schon ein paar Tage lang so. Rebecca stieg die Dienstbotentreppe hinunter.

Herr Caspers wartete im Flur vor der Küche. Seine weißen Handschuhe, die er trug, wenn er oben das Essen servierte, hatte er bereits an. Er schien etwas nervös zu sein.

»Gnädige Frau … entschuldigen Sie bitte. Wir sind hier gleich so weit.«

Jetzt hörte Rebecca die Stimme ihrer Mutter. »Ich nehme immer reichlich Mehl für die Schwitze.«

»Ja, aber … Die Herrschaften essen es gerne so, wie ich es mache«, verteidigte Bertha sich.

»Ach was. Ich hab meiner Tochter doch zwanzig Jahre lang das Essen gekocht. Ich weiß, was ihr schmeckt. Und wie es ihr schmeckt.«

Rebecca trat in die Küche. Ihre Mutter stand mit Bertha Polzin am Herd, hatte einen Löffel und ein irdenes Gefäß in den Händen.

Die Köchin wrang ein Küchentuch, als wollte sie es erwürgen. »Gnädige Frau«, sagte sie kratzig. »Das Essen ist eigentlich fertig. Ich wollte schon … Ich kann nicht …«

»Rebecca, ich mach nur schnell noch die Mehlschwitze. Dann können wir essen.«

»Mama, wieso lässt du Frau Polzin nicht ihre Arbeit machen?«

Bertha bedachte sie mit einem dankbaren Blick.

»Ich will mich doch nur ein wenig nützlich machen, Kind.« Schon gab sie zwei gehäufte Löffel Mehl in einen Topf und mischte es unter. Dann nahm sie den Topf und rührte den Inhalt in einen weiteren.

Den leeren Topf stellte sie neben den Herd. Bertha griff zu und stellte ihn auf den Tisch, auf dem die dreckigen Kochutensilien gesammelt wurden.

»Schon fertig!«, sagte Mama nun und grinste wie ein Honigkuchenpferd.

Rebecca musste tief durchatmen. Noch ein Problem, das sie unbedingt lösen musste. »Dann lass bitte Herrn Caspers das Essen servieren. Wir warten schon alle.« Rebecca drehte sich um und stieg die Treppe wieder hoch.

»Ach was, das kann ich ja schon mal mitnehmen«, hörte sie ihre Mutter nun sagen.

Herr Caspers stand vor ihr und wollte ihr die Schüssel mit den Kartoffeln aus der Hand nehmen. Fast sah es so aus, also würden sie darum rangeln.

»Mama, kommst du!« Das war eine klare Aufforderung.

Ihre Mutter gewann den Kampf um die Kartoffeln. Stolz trug sie die Schüssel wie eine Monstranz vor sich her, als sie die Treppe hochging.

Oben im Vestibül angekommen, blieb Rebecca stehen. »Mama, ich möchte dich bitten, die Dienstboten ihre Arbeit machen zu lassen.«

»Ich wollte doch nur helfen.«

»Das kannst du gerne tun, aber mach etwas, wo du ihnen nicht in die Quere kommst.«

»Aber was denn?«

Das wusste Rebecca auch nicht so recht. Die Arbeitsteilung unter den Dienstboten war gut eingespielt. Natürlich war es für die Angestellten schon eine Umstellung gewesen, als Konstantin und Rebecca hier die Herrschaften geworden waren. Die Menüs waren lange nicht mehr so opulent wie noch unter Feodoras Hausführung. Herr Caspers war kein Kammerdiener mehr, seit Konstantins Vater gestorben war. Und auch jetzt servierte er nur noch, wenn sie eine große Tafel hatten. Durch Mamsell Schotts Weggang nach Schweden war einigermaßen Ruhe eingekehrt. Caspers hatte wieder genug zu tun. Ida Sonntag arbeitete nur noch in der Meierei. Wiebke Plümecke hatte als einziges verbliebenes Stubenmädchen reichlich zu tun, aber die junge Frau beklagte sich nie. Sie arbeitete gerne.

»Weißt du, ich dachte, nachdem der Besuch jetzt weg ist und wir wieder unter uns sind, kann ich etwas mehr helfen.«

»Der Besuch?«, fragte Rebecca irritiert nach.

»Katharina und die Kinder!«

»Katharina ist hier aufgewachsen. Sie ist wohl kaum mehr Besuch als …« Himmel, es war heikel. Die Flucht aus dem hungernden Berlin setzte ihren Eltern auch so schon genug zu. Da musste sie sie nicht daran erinnern, dass sie noch nicht zu den festen Bewohnern des Gutes zählten. »… sie ist wohl kaum als Besuch zu bezeichnen.«

Sie musste dringend mit Konstantin darüber sprechen, wie es hier weitergehen sollte. Nur eins war klar: So schnell konnten ihre Eltern nicht zurück. Sie hatten keine Wohnung mehr, keine Möbel und kein Geld. Die Inflation hatte all ihre Ersparnisse aufgefressen. Sie mussten bei null wieder anfangen, in ihrem Alter. Beide waren über fünfzig.

Als sie gerade noch ihrer Mutter etwas sagen wollte, kam schon Herr Caspers die Treppe hoch und ging zum Speiseaufzug, um die Schüsseln und Terrinen auf das große Tablett zu stellen. Rebecca hielt Mama die Tür auf, damit sie ihre Kartoffeln reintragen konnte. Stolz setzte sie die Schüssel auf dem Tisch ab.

»Rebecca, rate mal, was dein Vater heute getan hat.« Konstantins Stimme hatte einen merkwürdigen Unterton.

Sie schaute ihn verwirrt an. »Was er getan hat?« Es hörte sich an, als hätte ihr Vater etwas Schlimmes oder Dummes angestellt.

»Ach, nicht der Rede wert«, wiegelte ihr Vater nun ab. »Ich hab einem eurer Pächter ein wundes Bein verbunden.«

»Ja, und stell dir vor: Er hat es ganz umsonst gemacht. Er wollte nichts dafür haben«, schob Konstantin nun mit der gleichen merkwürdigen Stimme hinterher.

Ihre Eltern nahmen das vielleicht nicht wahr, aber Rebecca kannte ihn gut genug, um zu wissen: Es lag Ärger in der Luft.

Ihr Vater schaute ganz glücklich auf die vielen Schüsseln, die Caspers nun auf die Anrichte stellte. »Im Gegenteil. Ich hab ihm noch etwas von meiner guten Salbe dagelassen.«

Jetzt wusste sie, was Konstantins Ton zu bedeuten hatte. Vater war nicht besser als Mama. Dr. Reichenbach wäre sicher gar nicht davon angetan, wenn ein anderer Arzt ihm seine Einnahmequellen streitig machte. Die Pächter wären natürlich überglücklich, ihn nicht bezahlen zu müssen. Aber so ging das nicht.

Richard, der die ganze Zeit über jammernd mit dem Kopf auf der Holzplatte gelegen hatte, richtete sich nun wieder auf. »Mali füttern!«, gab er trotzig von sich.

Rebecca atmete tief durch. In Konstantins Gesicht lag der gleiche Ausdruck wie vermutlich auf ihrem. Hatten sie nicht schon genug Probleme?

Mitte Oktober 1923

Drei Mal schon hatte Katharina sich umgezogen und sich nun für ein schlichtes Kostüm mit knöchellangem Rock entschieden. Sie war sehr aufgeregt. Heute würde sie ihre erste Vorlesung besuchen. Die Anmeldung zum Medizinstudium hatte dieses Mal ohne Probleme geklappt. Das Wintersemester 1923/1924 fing gerade erst an.

Ihr Schwiegervater hatte ihr keinerlei Probleme mehr bereitet, auch wenn man ihm anmerken konnte, dass er nicht gerade glücklich mit ihrer Entscheidung war. Allerdings war er ohnehin derzeit mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Vor ein paar Tagen erst war eine Währungsreform verkündet worden. In Kürze sollte die Rentenbank gegründet und mit ihr ein neues Zahlungsmittel eingeführt werden – die Rentenmark. Das ganze Reich hoffte auf ein Ende dieser völlig irrwitzigen Inflation. Selbst Cornelius war es allmählich nicht mehr geheuer. Er war froh, dass die Regierung nun entschlossene Schritte unternahm. Ob sie fruchten würden, war noch die Frage. Und so nahm diese Entwicklung Cornelius’ und Julius’ volle Aufmerksamkeit gefangen.

Beide Männer und auch Eleonore hatten kein Wort mehr über ihre Flucht nach Greifenau verloren. Zweimal schon war Katharina seitdem bei ihren Schwiegereltern zum Sonntagsessen gewesen. Wenn sie über Katharinas vierwöchige Abwesenheit sprachen, konnte man den Eindruck haben, sie wäre lediglich auf einem idyllischen Landausflug gewesen. Dabei wusste Katharina, dass Cornelius Urban ihr im letzten Jahr den Zugang zum Studium verbaut hatte. Aber weder gab er es zu, noch entschuldigte er sich dafür. Und Eleonore, ihre Schwiegermutter, war einfach nur überaus froh, ihre Enkel wieder in ihrer Nähe zu haben.

Immerhin wurde die Atmosphäre zu Hause besser. Julius hatte sich noch tausendmal entschuldigt. Er habe diesen Schritt nicht gehen wollen. Aber sie habe ihm keine andere Möglichkeit gelassen. Und er würde sie lieben, überaus lieben, und alles dafür tun, damit sie endlich Medizin studieren könne. Julius wollte einfach nur, dass es wieder so wurde wie vorher.

Katharina liebte ihn doch auch. Auch sie wollte, dass es wieder so wurde wie vorher. Doch seinen Vertrauensbruch würde sie nicht so einfach vergessen können. Und noch etwas war ihr durch diesen unseligen Vorfall klar geworden: Julius war weitaus schwächer, als sie es sich vorgestellt hatte. Er folgte seinem Vater in fast allen Dingen.

Doch sei’s drum, heute würde sie mit ihrem Studium beginnen. Ihre Anmeldung war in kürzester Zeit bestätigt worden. Was natürlich auch daran lag, dass sich eigentlich niemand mehr das Hörergeld für ein Studium leisten konnte. Zudem herrschte gerade Ärztemangel, weil sich viele Mediziner in der Inflation anderen Betätigungen zugewandt hatten. Niemand, allen voran die gesamte Mittelschicht, konnte sich noch einen Arzt leisten. Und auch die Söhne der russischen Exilanten, die studiert hatten, waren fort. Viele waren aus Deutschland weggegangen, so wie Onkel Stanislaus.

Der war gut in New York angekommen und hatte sich mittlerweile in der Gemeinschaft der Exilrussen eingelebt. Der Bruder ihrer Mutter hatte schnell eine Arbeit in einem Büro gefunden. Die Amerikaner hatten große Angst davor, dass der Bolschewismus auch auf ihr Land übergreifen könnte. Jemand, der den Bolschewismus so sehr hasste wie Onkel Stanislaus, kam ihnen da gerade recht.

Katharina hatte einen vollen Stundenplan. Amalie und Ferdinand mussten sich daran gewöhnen, dass ihre Mutter nun länger weg war. Wilma, ihr blondes Kindermädchen, kümmerte sich hingebungsvoll um die beiden Kleinen. Deshalb würde es sicher keine Probleme geben.

Tatsächlich hatte Katharina am meisten Angst davor, dass sie die Leistung nicht erbringen konnte. Dass sie dümmer war als alle anderen. Lange Jahre hatte sie einen Hauslehrer gehabt, Karl Matthis, den besonders ihr Bruder Alexander gehasst hatte. Nachdem sie sich dann im Eigenstudium auf das Abitur vorbereitet und noch vor ihrer Hochzeit die Prüfung abgelegt hatte, war es nun das erste Mal, dass sie mit anderen zusammen lernen würde. Dass sie mit anderen in einem Klassenraum beziehungsweise in einem Vorlesungssaal sitzen würde.

Nachdem sie sich von ihren Kindern verabschiedet hatte, lief sie zum Bahnhof Grunewald. Mit der Bahn fuhr sie hinein nach Berlin-Mitte und stieg am Lehrter Bahnhof aus. Von hier aus hatte sie nicht weit zur Medizinischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu laufen. Sie betrat das Gelände der Charité und suchte nach dem großen roten Backsteingebäude, in dem ihre Vorlesung stattfinden sollte. Es hätte sie eigentlich nicht überraschen sollen, dass sie kaum eine Frau sah. Trotzdem war ihr etwas unwohl zumute. Sie fand den Lesungssaal und ging hinein. Links, rechts und in der Mitte verliefen die Reihen von hölzernen Klappsitzen. Jede Reihe war ein Stück tiefer als die vorhergehende. Unten in der Mitte gab es ausreichend Platz für den vortragenden Professor. Hinter einem Stehpult hingen an der Wand mehrere Tafeln.

Katharina war früh dran. Es saßen erst zwei andere Studenten im Raum. Sie ging die Stufen hinunter und setzte sich in die zweite Reihe. Ihre neue Aktentasche legte sie neben sich auf den Klappsitz und holte ihr Schreibzeug hervor. In einer Viertelstunde würde eine Vorlesung in Physiologie beginnen, eine Pflichtveranstaltung im Rahmen des vorklinischen Studiums. Es gab verschiedene Fachbereiche im vorklinischen Teil, der nach vier Semestern mit dem Physikum abschließen würde. Das war ihre erste Hürde. Erst nach dieser Zwischenprüfung wurden die rein medizinischen Fächer unterrichtet und danach kam dann das praktische Jahr.

Einer der zwei Studenten bemerkte ihr Kommen und starrte sie an. Natürlich, die meisten Studentinnen waren an der geisteswissenschaftlichen Fakultät. Sie lächelte kurz zurück und klappte ihren Landois-Rosemann auf. Es war das Standardwerk der Physiologie.

Dr. Malchow hatte ihr eine Liste von Büchern erstellt, die sie sich hatte besorgen sollen. Bei ihm war Katharina untergekommen in ihrer schlimmen Zeit, als Julius nach der Revolution von 1919 vermisst worden war. Sie hatte die Kinder des verwitweten Arztes gehütet. Und er hatte ihr Mut gemacht, Medizin zu studieren. Noch immer hielten sie Kontakt, auch wenn es von Jahr zu Jahr weniger wurde. Aber dank Dr. Malchow wusste sie bereits, mit welchem Stoff sie sich als Medizinstudentin befassen musste.

Das Fachbuch war auf seiner Liste gestanden und Katharina hatte bereits die Hälfte durchgearbeitet. Sie wollte vorbereitet sein, damit sie nicht direkt durch Unwissenheit auffiel. Nun legte sie ihre Notizen, die sie sich zu dem Buch gemacht hatte, daneben. Und einen Schreibblock sowie ihren brandneuen Füllfederhalter. Julius hatte ihr als Friedensangebot einen teuren Montblanc-Füller geschenkt, mit dem sie in den Vorlesungen mitschreiben konnte. Er hatte ihn selbst mit Tinte befüllt.

Sie war nun bestens vorbereitet und schaute sich um. Im Saal waren noch weitere Studenten aufgetaucht, nur Männer. Alle schauten sie an, ja, einige gafften geradezu. Schnell sah Katharina nach vorne. Sie fühlte sich schlagartig unwohl. Hätte sie sich doch besser auf einen Klappsitz in den oberen Reihen gesetzt. Die Blicke ihrer Kommilitonen brannten auf ihrem Rücken. In den nächsten zehn Minuten füllte sich der Vorlesungssaal, bis knapp die Hälfte der Plätze besetzt war. Niemand saß wie sie in in der ersten Reihe. Und auch direkt hinter ihr blieben die Plätze frei. Als hätte sie eine ansteckende Krankheit.

Es war unruhig im Saal, alle schwatzten miteinander. Keine Ahnung, ob das vor Beginn der Vorlesung immer so war. Sie hatte den Eindruck, dass vor allem über sie geredet wurde. Als endlich die Tür auf der gegenüberliegenden Seite aufging, war sie heilfroh. Stille trat ein.

Ein weißhaariger Mann im weißen Kittel erschien. Erst kümmerte er sich gar nicht um die Studenten. Er trat an das Pult und legte einige Sachen darauf. Dann nahm er seine Brille ab, putzte sie ausgiebig und holte schließlich eine Uhr aus seiner Westentasche hervor. Nachdem er die Uhrzeit geprüft hatte, hob er seinen Blick. Der natürlich sofort an Katharina hängen blieb.

»Na ja, so was müssen wir jetzt wohl in Kauf nehmen, in diesen Zeiten. Wir brauchen leider jeden zahlenden Studenten«, sagte er. Alle lachten.

So was. So was war sie. Eine Frau. Die Röte schoss ihr ins Gesicht, wofür sie sich gleich noch mehr schämte. Sie war sicherlich nicht die erste Studentin für den Professor. Und doch musste er ihre Anwesenheit kommentieren. Und ihre Mitstudenten fanden es ebenfalls lächerlich. Ihr wurde klar, dass ihr die größten Schwierigkeiten vermutlich nicht das Lernen des wissenschaftlichen Stoffes bereiten würden, sondern schlichtweg die Tatsache, dass sie eine Frau war.

Ihre Finger schlossen sich um den Füller. Sie hatte keine Wahl. Sie musste einfach besser sein als die Männer. Nur das konnte ihr Weg sein. Und es würde bedeuten, dass sie länger lernen, sich besser vorbereiten und härter arbeiten musste als die männlichen Studenten. Sie würde es ihnen schon zeigen. Jetzt setzte sie ein verbissenes Lächeln auf und starrte auf den Professor, der sich kurz vorstellte und gerade damit anfing, einen Überblick über den Inhalt des Semesters zu geben.

Er lief dabei an der vordersten Reihe entlang. Als er bei ihr vorbeikam, fiel sein Blick auf das Buch. Selbst aufgeschlagen erkannte er, was es war. Überrascht trat er näher, sah sie an, dann das Buch und dann wieder sie. Er sagte nichts, aber in seiner Miene spielte sich etwas ab. Katharina wusste noch nicht genau, was sie davon zu halten hatte.

Als wäre das Buch sein Stichwort gewesen, ging er an die Tafel und nahm sich ein Stück Kreide. Schon während er schrieb, sagte er mit lauter Stimme: »Bitte notieren Sie sich diese Bücher und besorgen Sie sie. Im Laufe des Semesters werden wir auf alle zugreifen müssen.«

Sie hörte ein gemurmeltes Stöhnen und leise Flüche. Nun lief ein kaum sichtbares Lächeln über ihr Gesicht. Natürlich, einen Vorteil hatte sie gegenüber allen anderen: Ohne mit der Wimper zu zucken, konnte sie sich alles an Arbeitsmaterialien kaufen. Ganz offensichtlich konnten die meisten ihrer Mitstudenten sich das nicht leisten.

* * *

»Und, wie war dein erster Studientag?« Julius war wirklich sichtbar bemüht, seinen Fehler wiedergutzumachen. Ungewöhnlich genug, dass er schon zu Hause war. Vermutlich hatte er sich extra den Nachmittag freigenommen, um sie zu Hause zu empfangen.

Als sie ihn nun mit diesem fast flehenden Gesichtsausdruck dastehen sah, konnte sie nicht anders. Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr ging sie auf ihn zu und umarmte ihn. Glücklich drückte er sie an sich. Seine Arme schmiegten sich um sie und er küsste ihre Stirn, ihre Schläfen, und endlich fanden auch ihre Münder zusammen.

»Ich hab dich so vermisst! Ich hab es so vermisst, dir nahe zu sein, dich in den Armen zu halten«, flüsterte er ihr ins Ohr.

»Ich hab dich doch auch vermisst.«

»Dann lass uns jetzt neu anfangen. Lass uns bitte meinen großen, großen Fehler vergessen. Und lass uns wieder miteinander glücklich sein.« Julius hatte seinen Kopf zurückgenommen und schaute ihr ins Gesicht.

Katharina konnte sehen, wie groß seine Hoffnung war, dass sich alles wieder zum Guten wenden würde. Sie wollte es doch auch, neu anfangen und wieder glücklich sein. Und außerdem hatte sie begriffen, dass sie jede Unterstützung nötig hatte, um die fünf Jahre Studium durchzuhalten. Sie brauchte jemanden, der ihr den Rücken stärken würde.

Schnell lief sie nach oben und machte sich frisch. Umgezogen ging sie ins Kinderzimmer und begrüßte die Kinder. Die stürmten erfreut auf ihre Mutter zu, als sie das Zimmer betrat. Aber als Katharina Wilma fragte, wie es gewesen war, zuckte die nur mit den Schultern.

»Wir haben die ganze Zeit schön gespielt. Es war überhaupt kein Problem, dass Sie weg gewesen sind.«

Das war doch schon mal ein gutes Zeichen. »Kommt, Kinder. Jetzt gibt’s gleich Essen. Lasst uns runtergehen.« Sie nahm Ferdinand auf den Arm und Amalie folgte ihr mit Wilma die Treppe hinunter.

Julius setzte sich zu ihnen und Gustl, ihr Dienstmädchen, trug das Essen auf. Es gab Würstchen, Salzkartoffeln und Rosenkohl in Butter. Vermutlich auch etwas, was die meisten ihrer männlichen Kommilitonen vermissten – ein deftiges, üppiges Essen.

»Also erzähl mal, wie war es?«

»Stofflich ist es gar keine Frage. Da komme ich bestimmt gut mit.«

»Aber …« Julius hatte direkt an ihrer Stimmlage erkannt, dass etwas nicht stimmte.

»Ich war die einzige Frau im Vorlesungssaal. Die jungen Männer kommen mir doch recht kindisch vor. Und selbst der Professor hat eine blöde Bemerkung gemacht.«

»Lass dich nicht ins Bockshorn jagen. Das ist immer so am Anfang. Du wirst sehen, nach zwei oder drei Vorlesungen haben sich alle an deine Anwesenheit gewöhnt.«

»Hast du das auch gemacht? Getuschelt hinter dem Rücken deiner weiblichen Kommilitonen?«

Ein Grinsen erschien auf Julius’ Gesicht. »Nicht mehr, seit ich mit dir zusammen war. Aber in Buenos Aires … Es ist eben so, dass die meisten der Studenten gebildete junge Frauen nicht gewohnt sind. In Argentinien gab es so gut wie überhaupt keine Studentinnen. Außerdem musst du dir vorstellen, dass die meisten deiner Mitstudenten noch viele Jahre vor sich haben, bevor sie überhaupt an so etwas wie Heirat denken können.«

Julius hatte recht. Wieder ein Pluspunkt für sie. Was man mit Geld doch für eine angenehme Umgebung schaffen konnte. Sie musste nicht in irgendeiner Hinterhofkaschemme als Kostgänger zur Miete wohnen und brauchte nicht für teures Geld Kohle einzukaufen, die es ohnehin nicht gab. Sie hatten schließlich Gasheizung. Sie konnte sich jedes Fachbuch leisten, das sie brauchte, und ihre Kinder waren gut versorgt. Und ganz sicher würde sie sich nicht von irgendetwas ablenken lassen wie unerfüllten Liebschaften.

Wilma fütterte Ferdinand, der jetzt laut den Namen seiner Schwester rief. Einfach nur so, weil er seit ein paar Tagen gemerkt hatte, dass er es gut konnte. Katharina musste über ihn lachen, aber als sie Julius nun ansah, merkte sie, wie er sich an die Schläfen fasste.

»Hast du wieder Kopfschmerzen?«

Er nickte.

»Hast du denn einen Termin beim Arzt gemacht?«

Julius grinste schief. »Ich hab doch jetzt bald meine persönliche Ärztin zu Hause.«

»Ich bin noch lange keine Ärztin. Und du brauchst einen Spezialisten, der dir sagen kann, woher diese ständigen Kopfschmerzen kommen. Vermutlich entweder von dem heftigen Sturz damals oder von deinem Autounfall.«

»Ich mache einen Termin, sobald ich mal einen Tag freihabe.«

»Du hast doch nie einfach mal einen Tag frei.«

Er schaute auf, als hätte sie etwas Überraschendes gesagt. Dabei hatte sie doch recht. Schon bevor sie nach Greifenau geflüchtet war, war er viel zu beschäftigt gewesen. Er kaufte eine Immobilie nach der anderen. Sein Vater drängte ihn, gerade jetzt in den letzten Wochen.

Cornelius ahnte, dass es mit der Inflation nicht mehr lange so weitergehen würde. Bald würde die Zeit der Schnäppchen ablaufen. Es war ja nicht so, als wollte Julius wie sein Vater zehn bis zwölf Stunden am Tag arbeiten. Er kam kaum noch dazu, mit seinem geliebten Auto zu fahren. Und auf die Avus, die Rennstrecke, um dort seine Runden zu fahren, schaffte er es nur noch ganz selten.

»Du hast recht. Wir sollten uns etwas mehr Freizeit gönnen. Wie wäre es, wenn wir nach Weihnachten und über Silvester einen Skiurlaub machen würden?«

»Einen Skiurlaub? Mit oder ohne Kinder?«

»Du kannst dir sicher sein, dass meine Mutter mehr als glücklich sein dürfte, wenn sie die Kinder für zehn Tage nach Potsdam bekommt. Wilma kommt dort auch unter. Dann sollte alles kein Problem sein.«

Direkt zehn Tage? Hatte sie nicht schon geplant, sich in der vorlesungsfreien Zeit zwischen Weihnachten und dem Jahresanfang auf die Prüfungen vorzubereiten, die ab Februar losgingen?

»Zehn Tage? Wo willst du denn hin? Mir würden auch drei oder vier Tage reichen.«

»Ich dachte, wir fahren ins Erzgebirge. Da lohnt es sich dann nicht nur für drei oder vier Tage.«

»Du willst ins Erzgebirge?«

»Wieso nicht? Ich würde gerne Skilaufen lernen. Und Altenberg ist seit letztem Jahr an das Eisenbahnnetz angeschlossen.«

Katharina überlegte. Das war wirklich eine lange Reise. Eigentlich sollte sie lernen. Sie wollte die ersten Prüfungen mit Bravour bestehen. Wenn sie direkt zeigte, dass sie sehr gut war, so hoffte sie wenigstens, würde sie für den Rest ihres Studiums weniger Probleme haben. Wenn sie allerdings schon ihre erste Prüfung nicht bestand … Das wäre Öl ins Feuer für alle, die dachten, dass Frauen sowieso zu dumm waren für ein Medizinstudium.

Andererseits wollte sie wirklich einen Neuanfang mit Julius schaffen. Sie wollte ihm nicht direkt am allerersten Tag ihres Studiums zu verstehen geben, dass die Beziehung mit ihm an zweiter Stelle stehen würde. Nein, an dritter Stelle hinter Studium und Kindern. Oje, Ehe, Kinder, Freizeit und Studium – sie hatte das Gefühl, dass sie mit vier Bällen jonglierte. Sie musste sie möglichst alle gleichzeitig in der Luft halten.

»Ist gut, aber keine zehn Tage.«

Julius schien enttäuscht. »Ich denke, wir sollten nach Weihnachten fahren. Die Feiertage nicht mit meinen Eltern zu verbringen, können wir ihnen nicht antun. Aber dann fahren wir direkt und bleiben bis kurz nach Neujahr.« Er beugte sich zu ihr rüber und streichelte ihre Wange. »Auch mein Vater muss einsehen, dass ich einmal eine Pause brauche.« Er sagte das mit so vehementem Ton, als säße sein Vater hier am Tisch und er wollte ihn überzeugen.

»Ist etwas vorgefallen?«

Julius schüttelte unwillig den Kopf. »Papa hat am Sonntag mit mir darüber gesprochen, dass die Regierung nach der letzten Krise und Neubildung nun anscheinend endlich bereit ist, Reichskanzler Stresemann nachzugeben. Da der nun sein Ermächtigungsgesetz vor drei Tagen bekommen hat, geht Papa davon aus, dass er jetzt das Nötige unternehmen wird, um der Inflation und damit der Wirtschaftskrise einen Riegel vorzuschieben. Ob er mit der neuen Rentenbank Erfolg haben wird, kann niemand sagen. Aber Papa denkt, dass in den nächsten Monaten irgendetwas passieren wird, was die Inflation zum Ende bringt. Deshalb soll ich noch mehr arbeiten als ohnehin schon. Ehrlich gesagt wäre es mir sehr recht, wenn diese Inflation bald enden würde. Dann könnte ich endlich mal wieder durchatmen.«

Katharina nickte. Auch Julius hatte es nicht leicht. Da war auf der einen Seite sein Vater, der große Forderungen an ihn stellte. Und auf der anderen Seite seine Frau, die ihm nicht gehorchen wollte. Kein schöner Platz in der Mitte. »Und es würde auch keine Plünderungen und Hungeraufstände mehr geben. Mir tun die Leute wirklich sehr leid.«

Jeden Tag hungerten und starben mehr Kinder. Neuerdings waren Schulspeisungen geplant. Katharina hatte davon gehört, dass mit Lebertran und Höhensonne gegen die Mangelernährung angegangen werden sollte. Dabei gab es nur ein einziges wirkliches Problem: Die Leute hatten kein Geld für Essen. Jeder Tag, den diese Inflation früher aufhören würde, wäre ein guter Tag.

Und sie hatte eigentlich keine Zeit, um in den Skiurlaub zu fahren. Sie sollte besser lernen. Zweifelnd lächelte sie Julius an. Ihr Leben schien aus einer langen Kette von Zwickmühlen zu bestehen.

4. Dezember 1923

Wiebke putzte die Fenster in den Räumlichkeiten der Herrschaften. Richard hatte daran mal wieder seine Spuren hinterlassen. Es war eisig kalt draußen, doch das machte ihr nichts aus. Sie mochte die Kälte. Sie kühlte ihren Kopf, der seit Eugens Fortgang beständig zu platzen drohte vor lauter aufgestauter Wut. Noch immer konnte sie es sich nicht verzeihen. Sie sei doch schuld an Eugens Kündigung, an seiner Flucht nach Amerika, hatte Ida ihr zu verstehen gegeben. Und allmählich, in den letzten Wochen, tröpfelte diese Erkenntnis langsam in ihre Seele. Ja, so war es wohl.

Eugen hatte sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. Das hatte sie furchtbar erschreckt. Aber nach ihrer Absage hatte er sich zurückgezogen, immer mehr. Hatte kaum noch mit ihr gesprochen in den folgenden Wochen. Sie war froh gewesen, dass er kein Gespräch mehr mit ihr gesucht hatte. Und es ebenso wie sie vermieden hatte, alleine mit ihr in einem Raum zu sein. Irgendwann, so hatte sie gehofft, würde sich schon alles wieder normalisieren. Wenn sie doch nur geahnt hätte, was in ihm vorgegangen war. Dass er zum Ende der Ernte hin wegging, hätte sie niemals für möglich gehalten.

Schließlich und endlich hatte er doch das Angebot von Hektor Schlawes, dem früheren Kutscher des Gutes, angenommen. Jetzt wurde er Pferdezüchter in Amerika. Amerika! Das war so unvorstellbar weit weg. Ihre weiteste Reise hatte sie nach Ostpreußen geführt, zum Gut von Gräfin Anastasia von Sawatzki, der älteren der beiden Schwestern des Gutsherrn. Damals hatte sie deren Mutter, Gräfin Feodora, dorthin begleitet, war aber nur wenige Tage geblieben. Und freie Zeit, um sich in der fremden Gegend umzuschauen, hatte sie auch nicht gehabt. Den einzigen Urlaub ihres Lebens hatte sie in Deep an der Ostsee verbracht, letztes Jahr.

Kilian scherzte ständig mit Bertha darüber, ob sie nicht Geld sparen sollten, um Hektor und Eugen in Amerika zu besuchen. Er fand das eine spannende Vorstellung und irgendwie schien Bertha von dem Vorschlag sogar angetan zu sein. Außerdem konnte man jetzt mit dem Sparen ja wieder anfangen.

Wiebke kontrollierte ein letztes Mal die Fenster auf Streifen. Alles perfekt. Nun legte sie ein Holzscheit im Kamin nach. Der Raum war ausgekühlt, weil sie die Fenster hatte öffnen müssen. Und der kleine Richard würde hier nachher seinen Mittagsschlaf machen. Da durfte es zwar nicht zu warm sein, aber ausgekühlt auch nicht.

Sie griff sich das Putzzeug und ging hinaus. Über die Hintertreppe lief sie runter in die Dienstbotenetage. Es war Mittagszeit. Sie riskierte einen Blick in die Küche. Bertha und Sibylle füllten gerade die Schüsseln für das Mittagessen der Herrschaften. Da Caspers das Essen nur noch hochbrachte, aber nicht mehr servierte, würden auch sie alle gleich zusammen essen können, hier in der Leutestube. Es lohnte sich nicht mehr, eine neue Arbeit anzufangen. Sie wusch sich die Hände und setzte sich an ihren Platz. Heute war sie ausnahmsweise mal die Erste. Die Zeitung von heute Morgen lag schon auf dem Stuhl von Herrn Caspers. Aus Langeweile griff sie danach. Eine Annonce stand auf der ersten Seite – Weihnachtsmarkt in Stargard.

Sie würde gerne mal wieder rauskommen. Viel zu lange hatten sie sich alle keine Ausflüge leisten können. Tatsächlich hatte sie sich ihren letzten Wochenlohn endlich wieder in Geld auszahlen lassen. Das erste Mal seit Monaten. Und zwar in der neuen Währung, der Rentenmark, die es nun bereits seit drei Wochen gab. Etwas erschrocken war sie schon gewesen, dass es ein Schein war mit einer einzigen Null hinter der Eins. Zehn Mark. Und ein paar einzelne Münzen hatte sie bekommen. Nachdem man Millionen und Milliarden gewohnt war, kam einem das komisch vor.

Jemand kam zum Dienstboteneingang hinein. Wie so oft lauschte Wiebke auf die Schritte. Es waren nicht Eugens Schritte. Sie war enttäuscht, ein ums andere Mal. Sie vermisste ihn schmerzlich. Wie sehr, war ihr erst nach seinem Fortgang klar geworden.

Gustav wusch sich schnell die Hände und setzte sich an seinen Platz. Hinter ihm kam Sibylle herein, die nun den Tisch deckte.

»Wollen wir nicht zusammen nach Stargard fahren, zum Weihnachtsmarkt?«, fragte Wiebke Gustav.

Er schaute kurz zu ihr rüber, dann wandte er sich an Sibylle. »Sibylle, wollen wir nicht zusammen nach Stargard fahren? Was meinst du? Ich lade dich auch zu einem heißen Kakao ein. Würde dir das gefallen?«

Sibylle sah ihn verschämt an. Sie freute sich über seine Aufmerksamkeit, die ihr plötzlich zuteilwurde. Eigentlich erst, seit Eugen fort war, fiel es Wiebke zum allerersten Mal auf. Aber jetzt gerade war sie erbost.

»Wieso lädst du sie ein und nicht mich?«

»Na hör mal. Man kann sich doch nicht selbst einladen. Das ist unhöflich!«, entgegnete Gustav nun mit einem Grinsen.

»Wieso lässt du ihn nicht? Wieso sollte er mich nicht einladen? Ich bekomme doch viel weniger Lohn als du«, warf nun Sibylle ein.

An den ersten drei Wochenenden, nachdem Eugen verschwunden war, war Gustav jeden Sonntag mit Wiebke spazieren gegangen. Sie hatten Händchen gehalten und einmal hatte er sogar versucht, sie zu küssen. Doch das hatte Wiebke nicht gewollt. Sie war einigermaßen froh darüber gewesen, dass wenigstens Gustav sie nicht für Eugens Fortgang verantwortlich machte. Aber dass er so ausgesprochen glücklich darüber war, hatte ihr auch nicht gefallen. Er hatte mit ihr geflirtet. Ihre Schwester Ida hatte sie beiseitegenommen und zur Vorsicht gemahnt. Gustav sei nicht der richtige Umgang für Wiebke. Sie war von ihr enttäuscht. Albert schien sogar böse auf sie zu sein.

Und plötzlich, ohne dass irgendetwas vorgefallen war, hatten Gustavs Bemühungen um Wiebke mit einem Schlag aufgehört. Sie kam sich schon blöde vor, wenn sie ihn jetzt noch fragte, ob er etwas mit ihr unternehmen wolle. So brüsk abserviert zu werden, das war allerdings die Höhe.

Er stieß sie zurück, wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Er hatte sie fallen gelassen, so wie Eugen sie fallen gelassen hatte. Aber das stimmte ja gar nicht. Eugen hätte sie heiraten wollen, wenn sie nur Ja gesagt hätte. Und jetzt war er weg, weil sie ihn nicht gewollt hatte.

Verunsichert blätterte sie weiter in der Zeitung und tat so, als würde sie lesen. Sibylle blieb noch etwas bei Gustav stehen und sie tuschelten miteinander.

»Wiebke!«

Sie schreckte auf.

Ida stand neben ihr. »Lass das doch. Das sieht hässlich aus!«, sagte sie mit gesenkter Stimme.

Oje, hatte sie es schon wieder getan? Seit Eugen fort war, hatte sie wieder angefangen, Nägel zu kauen. Das hatte sie nicht mehr getan, seit Ida und Paul nach Greifenau gezogen waren. Paul, ihr großer Bruder, der nun Dorfschmied von Greifenau war. Sie hatte ihre Familie um sich herum versammelt. Alles war gut gewesen und das Nägelkauen hatte von ganz alleine aufgehört. Waren das jetzt ihre alten Verlustängste, die sie als Kind gehabt hatte, als sie und ihre Geschwister getrennt worden waren?

Erschrocken riss sie die rechte Hand in den Schoß. Ihre Fingernägel sahen wirklich nicht schön aus. So würde sie doch kein Mann haben wollen, hatte Ida ihr schon beim letzten Mal gesagt. Ob Gustav vielleicht deshalb nicht mehr mit ihr flirtete? Sie knabberte an ihrer Unterlippe und murmelte eine Entschuldigung.

»Du musst dich bei mir nicht dafür entschuldigen«, sagte Ida leise. »Aber es verunstaltet dich. Und es ist auch nicht schön bei Tisch.«

»Ja«, gab Wiebke kleinlaut von sich. Alles war schlechter geworden, seit Eugen weg war. Nun, nicht alles. Das neue Geld tat seinen Dienst. Nach der Einführung der neuen Rentenmark hatte sich die Inflation in kürzester Zeit in Luft aufgelöst. Aber sonst war wirklich alles schlechter geworden. Sogar ihr Verhältnis zu Ida. Ihre Schwester war ziemlich überrascht gewesen, als sie von Albert erfahren hatte, dass Wiebke Eugens Heiratsantrag abgelehnt hatte. Wie sie sich denn ihre Zukunft vorstelle? Sie wolle doch sicherlich nicht ewig allein bleiben. Und Eugen wäre nicht die schlechteste Wahl gewesen. Er hatte einen festen Job, war hier und in der ganzen Gegend gut angesehen.

Selbst Graf Konstantin war mehr als unglücklich, dass Eugen weggegangen war. Auch er verhielt sich ihr gegenüber in den letzten Monaten nicht so freundlich wie früher. Und Albert musste einen neuen Stallmeister einstellen, einen Mann aus dem Dorf. Herr Pöhl war gut, aber niemand konnte so mit Tieren umgehen wie Eugen.

Beschämt beugte sie ihren Kopf über die Zeitung, als ihr eine Nachricht ins Auge fiel. Sie nahm das Blatt hoch und las aufgeregt. Vor zwei Tagen hatte die amerikanische Regierung beschlossen, die Einwanderung für Deutsche bis zum Juni des nächsten Jahres zu stoppen. Die Quote für deutsche Einwanderer war durch das Katastrophenjahr 1923 schon lange erfüllt. Jetzt ließen sie niemanden mehr einreisen.

Noch hatten sie nichts von Eugen gehört. Hatte er sein Schiff pünktlich bestiegen? War er dort schon angekommen? War er bereits durch die Schleusen der Einwandererbehörde von Ellis Island, vor den Toren New Yorks? Vielleicht noch nicht. Vielleicht kam er wieder zurück. Vielleicht war er schon auf dem Weg hierher.

»Ida, schau mal. Die Amerikaner nehmen keine Deutschen mehr auf. Vielleicht kommt Eugen wieder zurück.«

Die Schwester las die Nachricht. Albert, der in diesem Moment die Leutestube betrat, hatte wohl noch gehört, was Wiebke gesagt hatte. »Mach dich doch nicht lächerlich. Eugen ist schon seit Wochen bei Hektor.«

»Woher weißt du das? Er wollte doch sofort schreiben, wenn er angekommen ist. Und noch ist kein Brief da. Also besteht noch Hoffnung.«

Albert sah sie nur stumm an und schüttelte dann den Kopf. Er setzte sich ohne ein Wort der Antwort.

»Was ist denn? Ich hab doch recht«, schob Wiebke nun vehementer hinterher. Sie wollte sich ihre Hoffnung nicht zerstören lassen. Fordernd schaute sie Albert an, aber es war Ida, die ihr antwortete.

»Was für Hoffnung denn?«, fragte sie laut genug nach, dass alle es am Tisch hören konnten.

»Na Hoffnung, dass Eugen wieder zurückkommt.«

»Und dann?«

»Dann wäre alles wieder wie früher.«

»Aber genau deswegen ist er doch gegangen, weil er es so nicht haben wollte, wie früher!«, sagte Albert nun mit scharfem Ton. Sein Blick wankte zwischen genervt und anklagend. »Wenn es dir so wichtig gewesen wäre, dass er bleibt, dann hättest du dich anders verhalten müssen. Deshalb würde er auch nicht nach Greifenau zurückkommen. Eher würde er sich etwas anderes suchen.«

Eher würde er sich etwas anderes suchen. Autsch, das saß. Sie bemerkte, dass ihre rechte Hand schon wieder Richtung Mund lief. Eilig presste sie sie in ihren Schoß. Sie wollte doch nicht mehr an den Nägeln kauen. Seit Eugen weg war, ging es ihr schlecht. Aber das hier war gerade der Tiefpunkt. Gustav wollte sie nicht mehr. Ida und Albert schimpften oft mit ihr. Und der Graf ließ sie seinen Zorn spüren, dass sein bester Stallmeister ihretwegen weggegangen war.

»Aber vielleicht …«, setzte sie an, da wurde sie schon wieder unterbrochen.

»Er ist im September gefahren. Die Überfahrt dauert nur ein paar Tage. Selbst wenn er erst Mitte Oktober in Amerika angekommen wäre, dann ist er jetzt schon seit fünf oder sechs Wochen bei Hektor.« Diese Worte von Albert schienen endgültig. Als wollte er jede Diskussion darüber ersticken.

»Aber er wollte doch schreiben.« Ein letzter Versuch …

Albert schaute in eine andere Richtung. Ida ließ sich auf ihren Stuhl plumpsen, während sie genervt durchschnaufte. Bruno, ihr Ziehsohn, kam mit Bertha zusammen aus der Küche und setzte sich zwischen die beiden. Sofort wandten sie ihre Aufmerksamkeit dem Kleinen zu. Caspers ließ den Gong erklingen und das Essen wurde hineingetragen.