Gut Greifenau - Nachtfeuer - Hanna Caspian - E-Book
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Gut Greifenau - Nachtfeuer E-Book

Hanna Caspian

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Beschreibung

Der 2. Band der großen Familien-Saga um das Gut Greifenau von Hanna Caspian voller dramatischer Verwicklungen für alle Leser von Anne Jacobs und alle Fans von Downton-Abbey August 1914: Der Erste Weltkrieg beginnt, und Konstantin muss an die Front. Sein Vater ist unfähig, das Gut zu führen, das bald hochverschuldet ist. Die Verbindung von Katharina mit dem Kaiserneffen Ludwig von Preußen wird nun zur Überlebensfrage. Doch Ludwig tritt nicht nur seiner Verlobten Katharina zu nahe … Es droht ein Skandal! Katharina setzt ihre ganze Hoffnung auf eine Rettung durch den Industriellensohn Julius. Doch soll eine Ehe mit ihr ihm nur den Eintritt in den Adelsstand ermöglichen? Und dann ist da noch der Kutscher Albert, der sein Geheimnis nur im Dorf Greifenau klären kann. Der Nachfolgeband zu "Gut Greifenau. Abendglanz". Die Gut-Greifenau-Reihe im Überblick: Band 1: Gut Greifenau - Abendglanz Band 2: Gut Greifenau - Nachtfeuer Band 3: Gut Greifenau - Morgenröte

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Hanna Caspian

Gut GreifenauNachtfeuer

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Der 2. Band der großen Familien-Saga voller dramatischer Verwicklungen für alle Leser von Anne Jacobs und alle Fans von Downton-Abbey

August 1914: Der Erste Weltkrieg beginnt, und Konstantin muss an die Front. Sein Vater ist unfähig, das Gut zu führen, das bald hochverschuldet ist. Die Verbindung von Katharina mit dem Kaiserneffen Ludwig von Preußen wird nun zur Überlebensfrage. Doch Ludwig tritt nicht nur seiner Verlobten Katharina zu nahe … Es droht ein Skandal! Katharina setzt ihre ganze Hoffnung auf eine Rettung durch den Industriellensohn Julius. Doch soll eine Ehe mit ihr ihm nur den Eintritt in den Adelsstand ermöglichen? Und dann ist da noch der Kutscher Albert, der sein Geheimnis nur im Dorf Greifenau klären kann.

Der Nachfolgeband zu »Gut Greifenau. Abendglanz«.

Inhaltsübersicht

WidmungKapitelPersonenübersichtKapitel 121. August 1914, Greifenau, Hinterpommern, gräfliches Landgut derer von Auwitz-Aarhayn21. August 191427. August 191427. August 191428. August 1914Kapitel 229. August 191430. August 19147. September 191413. September 1914November 191431. Dezember 1914Kapitel 3Ende Januar 1915Anfang Februar 1915Mitte Februar 191517. Februar 191523. März 191525. März 1915Kapitel 4Anfang April 1915Anfang April 1915Mitte Juli 1915Mitte Juli 1915Mitte Juli 1915Kapitel 5Ende Juli 1915Anfang August 191521. August 191529. August 191529. August 1915Kapitel 6Mitte September 191525. März 1916Anfang April 1916Juni 1916Juli 1916August 1916Kapitel 7Anfang November 1916Weihnachten 1916Anfang Januar 191720. Januar 1917Ende Januar 1917Kapitel 8Anfang Februar 191717. März 191729. März 19176. April 19177. April 1917Kapitel 915. April 191722. April 1917Ende April 19171. Mai 1917Ende Mai 1917Kapitel 10Anfang Juli 19178. August 191711. August 191712. August 191719. August 191724. August 1917Kapitel 11Anfang September 1917Mitte September 1917Ende September 1917Anfang Oktober 1917Anfang Oktober 1917Kapitel 128. November 19179. November 19179. November 19179. November 191718. November 1917Kapitel 13Ende November 1917Ende November 19174. Dezember 19177. Dezember 191714. Dezember 191716. Dezember 1917Kapitel 1422. Dezember 191723. Dezember 191724. Dezember 191727. Dezember 191728. Dezember 1917Nachwort Gut Greifenau, Band IIWie es weitergehtLeseprobe »Gut Greifenau Morgenröte«
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Für Lena und Niklas, für Marcel, Eva und Lio, für Thore und Yorick – ich hoffe inständig, dass eure Generationen niemals einen solchen Krieg erleben müssen.

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Personenübersicht

Herrschaft

Adolphis von Auwitz-Aarhayn Gutsherr von Gut Greifenau

Feodora, geb. Gregorius Gutsherrin von Gut Greifenau

Konstantin ältester Sohn

Anastasia älteste Tochter, verheiratete Gräfin von Sawatzki

Nikolaus mittlerer Sohn

Alexander jüngster Sohn

Katharina jüngste Tochter

Bedienstete

Albert Sonntag Chauffeur und Kutscher

Theodor Caspers oberster Hausdiener und Butler

Ottilie Schott Mamsell und Kammerzofe

Irmgard Hindemith Köchin

Bertha Polzin Küchenmädchen

Wiebke Plümecke Stubenmädchen

Clara Fiedel Stubenmädchen

Hedwig Hauser Hausmädchen

Kilian Hübner Hausbursche

Johann Waldner Stallmeister / Vorknecht

Eugen Lignau Stallbursche

Karl Matthis Hauslehrer

Tomasz Ceynowa polnischer Landmaschinenarbeiter

Ida Plümecke Wiebkes Schwester, Stubenmädchen

Paul Plümecke Wiebkes Bruder, Schmied

Sonstige

Egidius Wittekind evangelisch-lutherischer Pastor

Paula Ackermann Enkelin von Egidius Wittekind

Rebecca Kurscheidt Dorflehrerin

Julius Urban Sohn eines reichen Industriellen

Eleonora Urban Julius’ Mutter

Ludwig von Preußen Neffe von Kaiser Wilhelm

Amalie Sieglinde von Preußen Schwägerin des Kaisers

Sigismund von Preußen jüngerer Bruder des Kaisers

Raimund Thalmann Gutsverwalter

Therese Hindemith Irmgard Hindemiths Schwester

Annabella Kassini Adolphis’ ehemalige Mätresse

César Chantelois französischer Privatlehrer in Sankt Petersburg

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Kapitel 1

21. August 1914, Greifenau, Hinterpommern, gräfliches Landgut derer von Auwitz-Aarhayn

Die Welt hielt für einen Moment den Atem an. Der Himmel verschluckte die Sonne. Es wurde von Minute zu Minute dunkler und kälter. Sogar die Vögel, die vor Kurzem noch aufgeregt geschrien hatten, waren nun stumm. Ungewohnte Stille überfiel die Natur. Alle starrten gebannt in den Himmel. Das beeindruckende Spektakel schürte Angst. Als wäre dies ein letzter Fingerzeig an die Menschheit, ihr Tun zu überdenken.

Irmgard Hindemith war nicht die Einzige, die sich bekreuzigte. Wiebkes und auch Mamsell Schotts Lippen bewegten sich, als würden sie leise Gebete sprechen. Kilian, der Hausbursche, kniff die Augen zu. Ob ihm Rauch von seiner Zigarette in die Augen zog oder ob er geblendet wurde von dem Teil der Sonne, der noch zu sehen war, konnte Katharina nicht sagen. Herr Caspers stand neben Albert Sonntag. Die beiden großen Männer hatten sich hinter die anderen gestellt. Karl Matthis kam eilig in den Park gelaufen. Er hatte wohl noch das Klassenzimmer aufgeräumt.

Auch ihre Familie war herausgekommen. Sie standen weiter hinten im Park. Tyras und Cyrus, Großvaters Doggen, waren erst minutenlang wie verrückt draußen herumgesprungen, nur um schließlich jaulend und mit eingezogenem Schwanz im Haus zu verschwinden.

Mama hatte dunkles Glas an die Ihren verteilt. Doch selbst durch das Glas war das kleine Fleckchen Sonne noch immer grell zu sehen. Mama hatte ihr verboten, direkt hineinzuschauen.

Katharina blinzelte durch ihr geschwärztes Glas. Es war ein unwirkliches Gefühl, mitten am Tag hier zu stehen, die Umgebung gespenstisch still und der Himmel verdunkelt. Sie war fasziniert. Die Sonne war zum größten Teil verschwunden. Eine partielle Sonnenfinsternis, hatte Konstantin heute Morgen erklärt. Sie fröstelte. Oder jagte ihr der Schrecken einen Schauer durch den Körper? Als der Schatten über den höchsten Punkt gewandert war und es allmählich wieder heller wurde, schienen alle aufzuatmen.

»Ein böses Omen«, hörte Katharina die Köchin raunen. Die Frau bestätigte nur, was alle dachten.

»Das war’s.« Papa klatschte in die Hände. Der Aufruf zum Weitermachen. Als wären sie hypnotisiert gewesen, lösten sich die Anwesenden aus ihrer Bewegungslosigkeit.

Konstantin zwinkerte und rieb sich die Augen. Er machte ein missmutiges Gesicht. Schon seit Wochen war er in ungewohnt schlechter Stimmung. Alexander stützte sich auf seinen Stock. Er benutzte ihn nun schon fast ein Dreivierteljahr. Auch nichts, was ihrem jüngsten Bruder besonders gute Laune beschert hätte.

Mama nahm ihren Sonnenschirm hoch und schimpfte sofort los. Sie war über etwas gestolpert. Offensichtlich hatte sie ihren eigenen Rat nicht befolgt, denn sie wankte halb blind über den Rasen. »Meine Augen!«

Papa ergriff ihre Hand. »Soll ich dich hineinbringen?«

»Nein, ich muss zur Orangerie. Der Springbrunnen wird heute geliefert. Ich will noch schnell vor dem Mittagessen schauen, ob endlich jemand da ist.«

Er ließ sie los, und sie stolperte noch einmal. Papa nahm ihre Hand und führte sie zu einer Bank, die in der Nähe stand.

»Warte ein paar Minuten, dann wird es besser.« Er sah sich nach Katharina um. »Kind, bleib bei deiner Mutter.« Dann folgte er den anderen. Die Dienstboten verschwanden Richtung Haus.

Unschlüssig blieb Katharina bei Mama stehen. Die Köchin hatte vermutlich recht mit ihrer Vorahnung. Heute Morgen hatten Papa und Konstantin am Frühstückstisch aufgeregt miteinander getuschelt. Vorgestern hatten russische Truppen das deutsche Reichsgebiet bei Gumbinnen angegriffen. In den letzten zwei Tagen waren weite Teile Ostpreußens erobert und besetzt worden. Die erste große Schlacht des Krieges war für die kaiserlichen Truppen nicht besonders glücklich verlaufen. Seit Beginn des Krieges vor drei Wochen war es das erste Mal, dass Katharina etwas anderes gehört hatte als die üblichen Hurrarufe und Lobgesänge. Ostpreußen, das bedeutete, dass Anastasia und ihr Rittergut möglicherweise betroffen waren. Und Nikolaus war bei der 8. Armee in Ostpreußen an der zurückweichenden Front. Die Familie hoffte stündlich auf ein Telegramm von einem der beiden.

Jakob Bankow, ihr Gärtner, kam durch den Durchgang in der Hainbuchenhecke. Ob er sich die Sonnenfinsternis auch angeschaut hatte? Jedenfalls wollte er gerade schon zum Haus gehen, als er Mama entdeckte. Er änderte seine Richtung.

»Frau Gräfin, ich habe leider schlechte Nachrichten.«

Feodora hob ihre Hand, als würde sie immer noch geblendet, was aber gar nicht sein konnte. Sie blinzelte zu ihm hoch.

Er wartete, ob sie etwas sagen würde, doch als nichts kam, redete er weiter: »Ich komme gerade aus Stargard. Heute wird vermutlich kein Zug kommen, jedenfalls kein Zug, der den Springbrunnen liefert.«

Mama schoss empört in die Höhe. »Wieso das nicht?«

»Der Fahrplan wurde wieder geändert. Im Moment werden die flüchtenden Menschen aus den ostpreußischen Grenzregionen rausgebracht. Es fahren praktisch nur noch Züge von Ost nach West. Und wenn sie aus Richtung Berlin kommen, dann halten sie nur kurz und transportieren auch keine zivilen Güter.« Er sagte das so entschuldigend, als wäre er selbst daran schuld.

»Aber wie soll denn nun die Orangerie fertig werden?«

Mamas Stimme klang schrill. Als wäre das die eigentliche Katastrophe. Was in ihren Augen vermutlich auch so war. Das Sommerfest würde in nicht einmal einer Woche stattfinden. Schon am Tag davor würden drei Familienmitglieder aus der hohenzollerschen Kaiserfamilie anreisen.

Für die Dienstboten war die Sonnenfinsternis eine kurze Abwechslung von der Arbeit gewesen. Seit Wochen wurde alles geputzt und gewienert. Jede Ecke des großen Anwesens wurde auf Vordermann gebracht. Mama und Papa wollten einen möglichst perfekten Eindruck machen. Doch seit heute Morgen die schlechten Nachrichten von der Ostfront in der Zeitung zu lesen gewesen waren, hatte sich Nervosität breitgemacht. Katharina spürte sie allenthalben. Mit einem Springbrunnen hatte sie allerdings bisher nichts zu tun gehabt.

»Das kann doch wohl nicht sein.«

»Ich fürchte doch, gnädige Frau.«

Mama stampfte beleidigt auf. »Soll ich das Fest etwa mit einer halb fertigen Orangerie begehen?«

»Wir könnten für das Fest Platten verlegen, dort, wo der Brunnen aufgebaut werden soll.«

Als Mama ihm einen bösen Blick zuwarf, setzte er eilig nach. »Wir können natürlich auch noch zwei Tage warten. Vielleicht kommt der Brunnen ja doch noch rechtzeitig.«

Mama brummte unfreundlich, aber selbst sie musste einsehen, dass die Belange des Krieges vorgingen. »Also schön. Warten wir bis übermorgen, dann machen Sie das Loch zu. Wenn die kaiserliche Familie kommt, soll alles untadelig aussehen.« Sie warf Katharina einen warnenden Blick zu. Das Gleiche würde für ihre Tochter gelten.

»Lass uns hineingehen. Es muss jeden Augenblick zum Essen geläutet werden.« Mama drehte sich noch mal zu Bankow. »Sie können auf jeden Fall schon die neuen Fahnen hinaushängen. Haben Sie alle?«

»Sehr wohl: die kaiserlich-deutsche, die preußische und die pommersche Fahne. Sie sind gestern angekommen.«

»Wenigstens etwas.« Mama lief ein paar Meter und blieb dann erneut stehen. »Katka!« Sie ließ ihre Tochter auch nicht einen Augenblick mehr ohne Aufsicht, zumal wenn Katharina nicht auf ihrem Zimmer war.

Doch als sie sich Richtung Haus drehte, weckte etwas anderes ihr Interesse. »Wer ist das denn?«

Jakob Bankow schaute Richtung Chaussee. »Das könnten die ersten Flüchtenden aus Ostpreußen sein. Ich hab auf meinem Weg hierher etliche kleinere versprengte Gruppen überholt.«

»Was machen die da? Die wollen doch nicht etwa … Scheuchen Sie sie weg. Ich möchte sie hier nicht haben.«

Doch im gleichen Moment tauchte bereits Caspers vor dem Herrenhaus auf und ging den Ankommenden entgegen. Er breitete die Arme aus, als wollte er die Menschen aufhalten. Was er vermutlich auch im Sinn hatte.

»Also dann, die Fahnen«, sagte Feodora abschließend. Sie drehte sich zu Katharina. »Wo hast du denn deinen Sonnenschirm?«

Katharina hatte gar keinen mitgebracht. »Ich … ähm …«

»Tse. Zu nichts bist du zu gebrauchen. Willst du dich Ludwig von Preußen gegenüber braun gebrannt wie ein Feldarbeiter präsentieren?« Sie drückte Katharina ihren Schirm in die Hand.

»Ein Mädchen sollte schneeweiße Haut, einen ebenmäßigen Teint, hübsche Gesichtszüge und zarte Hände haben. Deswegen solltest du stets deine Haut schützen. Ich will dich nicht mehr ohne Sonnenschirm und Handschuhe sehen. Oder glaubst du, ein Ludwig von Preußen interessiert sich allein für deinen Stammbaum?«

»Jawohl, Mama.« Katharina schoss durch den Kopf, morgen besonders früh aufzustehen. Die Sonne schien nur morgens in ihr Zimmer, und eine andere Gelegenheit bekam sie bestimmt nicht bis zum Sommerfest.

21. August 1914

Letzten Samstag waren viele Wehrpflichtige und der Landessturm einberufen worden. Schon am Dienstag darauf hatte Konstantin den Brief erhalten. Er gehörte wohl zu den Ersten. Man hatte ihm wirklich nicht viel Zeit gelassen. Dennoch war der Brief keine Überraschung gewesen. Auf eine merkwürdige Art war er auch froh, denn vielleicht half ihm dieses Schriftstück, Rebecca zu erweichen.

Gleich nach dem Mittagessen war er gegangen. Er brauchte nun nicht mehr seine wahre Identität vor ihr zu verheimlichen. Rebecca selbst hatte ohnehin nichts zu befürchten, wenn er sie bei Tageslicht besuchte. Niemand würde Ungehöriges dabei denken, wenn ein Mitglied der Grafenfamilie die Dorflehrerin besuchte. Sicherlich gab es offizielle Dinge zu besprechen. Trotzdem ritt er über einen Umweg zur Schule. Er musste ja keine neugierigen Blicke herausfordern. Außerdem wollte er mit seinen Gedanken alleine sein.

Heu trocknete auf großen Hocken auf den abgemähten Feldern. Die Gerste war schon eingefahren. Die Dörfler trieben ihre Gänse über die Stoppelfelder, damit die sich die Bäuche mit den zu Boden gefallenen Körnern vollschlagen konnten. Der Weizen wogte goldgelb in stolzer Pracht. Leichter Wind rollte über die Ähren wie Wellen auf dem Meer. In den Zuckerrübenfeldern wurden ein letztes Mal Unkraut gehackt. Letzte Woche hatten sie die ersten Kartoffeln geerntet. Die Brennerei, in der ein Teil der Gerste zu Bier und ein Teil der Erdknollen zu Schnaps verarbeitet wurden, stieß bereits verheißungsvolle Duftwolken aus.

Die Ernte war in vollem Gange. Die Tage der Pächter waren niemals länger als im Sommer. Das war für ihn die schönste Zeit des Jahres. Der Lohn für Mühsal und harte Arbeit.

Es schmerzte ihn körperlich, sich ausgerechnet jetzt vom Gut verabschieden zu müssen. Was, wenn er nie wiederkäme? Wenn er an der Front fallen und in fremder Erde begraben würde? Sein Mund war trocken. Andererseits würde dann wenigstens sein größter Schmerz enden.

Vor dem Schulgebäude stieg er ab und schlug die Zügel seines Pferdes um einen Ast. Der Klassenraum, in dem die erste bis achte Klasse gemeinschaftlich unterrichtet wurde, war bereits leer. Der heutige Unterricht war zu Ende. Deshalb ging er ums Haus herum. Er schaute durchs Fenster. In dem einzigen Raum des Untergeschosses, der Küche wie gute Stube zugleich war und auch ihren Schreibtisch beherbergte, war niemand zu sehen. Rebeccas Schlafzimmer war im Obergeschoss. Hoffentlich war sie da. Er klopfte.

Für einen Moment passierte nichts, doch dann ging die Tür auf, hinter der eine Treppe hochging. Er hatte sie nicht mehr lächeln sehen, seit sie aus Ahlbeck weggefahren waren. Im Ostseebad hatten sie ihre letzten schönen Stunden verbracht. Wie sehr sehnte er sich danach, wieder dort zu sein. Gemeinsam mit ihr. In dieser verschwiegenen Pension, in der sie sich geliebt hatten.

Sie hatte ein paar Bücher auf dem Arm. Sie stellte sie neben einem anderen Stapel ab und kam zur Tür. Als sie ihn ansah, lag in ihrem Blick keine Sehnsucht, sondern nur kaum verhohlene Abneigung.

»Herr Graf, guten Tag.«

Immerhin verbeugte sie sich nicht mehr. Konstantin atmete durch. Er konnte in ihrer Miene nichts Versöhnliches erkennen. Stumm hielt er ihr den Brief hin.

Sie blickte auf das Papier, blickte auf ihn. »Ich nehme an, das ist etwas, was mich in meiner Eigenschaft als Dorflehrerin betrifft?«

»Lies es einfach, bitte.« Warum machte sie es ihm denn so schwer? Natürlich wusste er, wieso. Er hatte sie belogen, ein ganzes Jahr lang. Hatte ihr vorgegaukelt, ein anderer zu sein. Lügen erzählt, damit er ihr nahe sein konnte.

Sie griff zu dem Brief. Kurz runzelte sie ihre Stirn, las zu Ende und starrte den Brief weiter an. Als wäre sie auf der Suche nach den passenden Worten, nach einer für eine Dorflehrerin angemessenen Reaktion. Ihr Atem ging ein wenig schneller.

Einen Wimpernschlag lang hoffte Konstantin, sie würde ihm nun verzeihen. Aber dem war wohl nicht so.

Sie gab ihm den Brief zurück. »Ich nehme an, Sie kommen, um sich zu verabschieden. Ich wünsche Ihnen … eine unversehrte Rückkehr.« Sie reckte ihr Kinn kämpferisch nach vorne. Mehr durfte er wohl nicht erwarten.

»So wie ich sie allen Soldaten wünsche, die nun an die Front müssen«, setzte sie rasch nach. Als gäbe es keine besondere Verbindung zwischen ihnen beiden.

Wie viel Mühe musste es sie kosten, so distanziert zu bleiben? Es war ihre Art, mit der so jäh beendeten Affäre umzugehen. Konstantin hatte Rebecca als warme und herzliche Frau kennengelernt, die öfter, als es gut war, ihr Herz auf der Zunge trug. Und jetzt gab sie sich eiskalt und verschlossen. Als wüsste er nicht genau, wie es in ihrem Inneren brodelte.

»Willst du mich wirklich so in den Krieg ziehen lassen?«

Sie schaute ihn mit einem aufgewühlten Blick an. Wieder erstarkte für einen Moment die Hoffnung, sie würde endlich milde werden.

Doch dann sagte sie: »Ihr seid alle so kriegsbesoffen, noch von den Siegen über Dänemark und Frankreich. Ihr glaubt wirklich, dass ihr diesen Krieg im Durchmarsch gewinnt.«

»Ich will es doch gar nicht. Ich hätte mich niemals freiwillig gemeldet.« Natürlich war es seine vaterländische Pflicht, der Einberufung zu folgen. Aber in seinem Herzen widerstrebte es ihm zu gehen. Gerade in dieser schweren Zeit wollte er das Gut nicht allein Vaters Obhut überlassen. »Du weißt sehr genau, dass ich diesen Krieg niemals wollte.«

»Und wenn ich den Kaiser schon höre: Plötzlich kennt er keine Parteien und keine Konfessionen mehr. Auf einmal sind alle Deutschen Brüder. Er kann genauso gut lügen wie du. Als wenn er die Sozialdemokraten nicht bis aufs Blut bekämpft hätte. Und von einem auf den anderen Tag sind sie keine vaterlandslosen Gesellen mehr?!«

»Deine SPD hat sich freiwillig zum Wohlverhalten im Falle eines Krieges bereit erklärt.«

»Nicht alle.« Sie rümpfte kurz die Nase, als wäre sie nicht besonders erfreut von dem Entschluss der Sozialdemokraten über den Burgfrieden. »Du und deinesgleichen profitieren vom Elend anderer. Am Ende werden die Reichen in allen Ländern gewonnen und die Armen in allen Ländern verloren haben. So ist es immer, in jedem Krieg!«

»Das stimmt so gar nicht. Es fallen auch adlige Soldaten.«

Wieder reckte sie kämpferisch ihr Kinn. »Vielleicht stimmt es nicht für Einzelfälle, aber im Groben stimmt es sehr wohl. Und das weißt du.«

Konstantin wusste, wenn er sich auf dieses Thema einließ, konnte er nur verlieren. Aber immerhin hatte sie ihn wieder mit Du angesprochen. Das war ein kleiner Fortschritt. »Rebecca, ich bin nicht hier, um mit dir über Politik zu diskutieren. Ich bin hier, weil ich dich liebe.«

Doch das war ein Thema, auf das sie sich partout nicht einlassen wollte. »Sag mir, wenn du mit deiner Truppe ins Feld ziehst, wer ist dann vorneweg? Du siehst nicht aus wie Kanonenfutter.«

Konstantin schüttelte verständnislos den Kopf. »Ist dir nicht klar, dass ich im Feld sterben könnte?«

»Dann zieh nicht in den Krieg!«

»Ich muss. Ich habe die Einberufung bekommen.« Unwillig wedelte er mit dem Brief.

Sie sagte nichts mehr, sondern sah ihn einfach nur an.

»Du kannst mich nicht glauben machen, dass es dir egal ist, wenn ich falle.«

»Nichts ist mir egal. Dieser Krieg ist mir nicht egal. Ich will, dass überhaupt niemand stirbt. Aber wir alle werden unsere Väter und Brüder, Ehemänner und Söhne auf dem Schlachtfeld verlieren. Menschen werden verstümmelt, gebrochen, heimatlos. Und mir ist es gleich, welcher Nation sie sind. Sie tun mir jetzt schon alle leid.«

»Auch mich kann eine Kugel treffen. Oder eine Granate. Rebecca! Bitte! … Lass uns doch unseren Frieden machen.«

»Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich dir nichts Schlechtes wünsche.«

»Was, wenn ich nicht mehr zurückkomme?«

Sie zögerte einen Moment. »Das werde ich ohnehin nicht mehr erfahren.«

»Wieso?«

Für einen kurzen Moment flog ihr Blick zu dem kleinen Tischchen im Wohnzimmer. Darauf lag ein Brief.

Konstantin brauchte nur einen Moment. Er ahnte, was das für ein Brief war. »Du hast schon eine neue Stelle?«

Fast schien es, als kämen ihr die Tränen. Trotzig schob sie ihre Unterlippe vor, bevor sie antwortete. »So gut wie. Mein Vater sagte mir, dass in Charlottenburg etliche Lehrerstellen frei geworden sind. So bin ich bei meiner Familie und kann auch etwas Geld sparen.«

»Das sind doch alles nur vorgeschobene Gründe. Ich bitte dich, bleib hier. Die Kinder«, er fasste nach ihrer Hand. »Die Kinder hier brauchen dich. Vermutlich werden wir keinen neuen Lehrer kriegen, wenn jetzt alle Männer ins Gefecht ziehen. Du kannst uns doch nicht einfach im Stich lassen!«

Barsch zog sie ihre Hand weg.

»Rebecca, wenn ich nun doch an die Front muss, wenn ich denn nun … das Schlimmste vor mir habe, möchte ich doch wenigstens wissen, dass du noch hier bist. Dass du hier auf mich wartest.«

»Auf dich warten?« In ihren Worten schwang ihr ganzes Unverständnis mit. Als wäre er völlig verrückt zu erwarten, dass sie für ihn hierbleiben würde. Sie schüttelte bestimmt ihren Kopf. »Mein Vater hat bereits mit ein paar Leuten gesprochen. Meine Eltern brennen darauf, dass ich jetzt zu ihnen zurückkomme.«

»Und du? Was möchtest du?«

Sie lachte bitter auf. »Ich möchte weiter unterrichten. Und die Kinder in Charlottenburg brauchen genauso dringend eine Lehrerin wie die Kinder hier.«

»Rebecca … Ich flehe dich an: Bitte bleib!«

Der distanzierte Ausdruck in ihrem Gesicht war zurück. »Ich hab hier nichts mehr, was mich hält. Niemanden. Du hast es mit deiner Unaufrichtigkeit kaputt gemacht. Ich kann dir nicht mehr vertrauen. Niemals mehr. Es tut mir leid.« Ihre letzten Worte klangen endgültig. Sie trat einen Schritt zurück, und es sah so aus, als wollte sie ihm die Tür vor der Nase zumachen. Doch dann zögerte sie.

»Ich wünsche dir wirklich nichts Schlechtes. Ich wünsche dir von Herzen, dass du gesund und unversehrt aus dem Krieg zurückkehren kannst. Aber rechne nicht damit, dass ich hier auf dich warte.« Langsam genug, um nicht unhöflich zu wirken, schloss sie die Tür.

Konstantin schaute auf die kleinen Risse im Holz. Als wollte er sie sich einprägen, für immer, für den Rest der Ewigkeit. Der Moment, in dem alle Hoffnung schwand.

Benommen ging er zu seinem Pferd zurück. Er war zutiefst getroffen. Damit hatte er nicht gerechnet, dass sie ihm nicht einmal im Angesicht des möglichen Todes verzeihen würde. Wütend kickte er einen Stein aus dem Weg. Verflucht noch einmal. Am liebsten wollte er in ihre Wohnung stürmen und sie schütteln, bis sie wieder zu Verstand kam. Sie wusste genauso gut wie er, dass sie ihn immer noch liebte. Und er liebte sie. Aber Rebecca war eine Frau, die ihren eigenen Willen und ihren eigenen Kopf hatte. Genau deswegen liebte er sie doch auch.

Er saß auf und ritt langsam Richtung Hauptstraße. Also musste er seinen verhassten Plan in die Tat umsetzen. Wie gerne hätte er darauf verzichtet. Wenn Rebecca herausbekäme, was er plante, würde sie ihm erst recht nicht verzeihen. War es doch genau das, was sie ihm und seiner Klasse vorwarf – Machtmissbrauch. Konstantin konnte und wollte nichts daran beschönigen, denn es war genau das.

Als er auf die breitere Straße einbog, sah er auf der gegenüberliegenden Seite Pastor Wittekind. Er kam geradewegs in seine Richtung. Konstantin seufzte. Als wollte das Schicksal ihm den letzten Schubs in diese Richtung geben. Er hätte gerne noch einmal darüber nachgedacht. Andererseits kam er seit zwei Wochen zu keinem anderen Ergebnis. Er würde seinen Einfluss geltend machen müssen, um das Schlimmste zu verhindern. Das Schlimmste für ihn.

»Herr Pastor, guten Tag.«

»Euer Wohlgeboren.« Der Geistliche nickte höflich und blieb beim Pferd stehen.

»Es war eine sehr bewegende Predigt am Sonntag.«

»Ich danke Ihnen. Das Wohl meiner Gemeinde liegt mir am Herzen. Ganz besonders in diesen schweren Zeiten. Ich habe gehört, dass schon neun Männer aus dem Dorf ihren Einberufungsbescheid bekommen haben.«

»Zehn.« Er holte kurz den Brief heraus, den er sich in die Brusttasche gesteckt hatte.

Wittekind nickte. »Elf, wenn man Ihren Bruder mitzählt. Gibt es Neuigkeiten aus Ostpreußen?«

»Ich weiß auch nicht mehr, als in den hiesigen Zeitungen steht.«

»Nun, hoffen wir mal, dass es tatsächlich ein kurzes Intermezzo bleiben wird. Vermutlich wird sich für uns nicht allzu viel ändern.«

Konstantin musste daran denken, wie falsch er damit lag. Für ihn hatte sich so viel geändert. »Wissen Sie, wenn die Männer eingezogen werden, ist das eine Sache. Aber bis nach der Ernte möchte ich nicht, dass sich jemand freiwillig meldet. Mein Vater sieht es genauso.«

»Ich hörte schon, dass rund um Stargard Männer angeworben werden. Man bietet ihnen gutes Geld. In den Fabriken fehlen schon reichlich Arbeiter.«

»Das ist doch wirklich ungerecht. Gerade jetzt in der Erntezeit. Es wäre mir wirklich sehr daran gelegen, wenn hier niemand seinen Posten verließe, gleich an welcher Stelle jemand arbeitet. Nur seinen eigenen Vorteil zu suchen, weil gerade allerorts händeringend nach Arbeitskräften gesucht wird, halte ich für unpatriotisch.«

»Da bin ich ganz einer Meinung mit Ihnen.«

»Das gilt für alle. Für Männer wie für Frauen.« Konstantin schluckte einen Kloß herunter, um Platz zu machen für seine Heuchelei. »Mir sind übrigens Gerüchte zu Ohren gekommen, dass sich unsere Dorflehrerin wegbewerben will.« Oh, wie selbstsüchtig er war.

»Das kommt ja gar nicht infrage!«

Genau, was Konstantin hören wollte. »Ich hätte es gerne, wenn Sie Ihren Einfluss bei der Schulbehörde geltend machen könnten, ohne dass sie davon erfährt. Ich möchte nicht, dass es böses Blut gibt.«

»Das wird sicherlich kein Problem sein. Greifenaus Schule steht unter meiner geistigen Aufsicht. Und der Schulinspektor muss einer Versetzung zustimmen. Ich verfüge da über ausgezeichnete Kontakte.«

Konstantin lächelte zufrieden. »Erfreulich zu wissen, dass wir einen Mann mit Einfluss an unserer Seite haben.« Er schnalzte seinem Pferd zu.

»Meine ergebensten Grüße an Ihren Herrn Vater.«

»Werde ich ausrichten, mein bester Wittekind. Werde ich ausrichten.«

Konstantin ritt an. Nicht ganz die feine Art, aber es war ja nicht so, als wenn nicht auch er seinen eigenen Willen und seinen Dickkopf hätte. Es würde seine Zeit an der Front sehr viel erträglicher machen, Rebecca hier in Greifenau zu wissen.

27. August 1914

Die Blicke aller folgten dem Zeppelin, der in einiger Entfernung am Himmel schwebte.

»Wir setzen sie zur Feindesbeobachtung ein«, erklärte Sigismund von Preußen, der Bruder des Kaisers. Er wirkte angespannt.

Katharina schickte dem Himmelsgefährt die besten Wünsche hinterher. Der Zeppelin flog an die Ostfront, wo sich ihre beiden ältesten Brüder aufhielten.

Mama war furchtbar nervös, allerdings aus ganz anderen Gründen als der Bruder des Kaisers. »Mein Zweitältester ist schon seit Anfang August fort.« Sie wollte unbedingt einen positiven Eindruck hinterlassen. »Es ist so bedauerlich, dass Sie meinen ältesten Sohn Konstantin wieder nicht kennenlernen. Doch er musste gestern an die Front.«

»Vermutlich wird er gleichzeitig mit dem Zeppelin dort ankommen. Von Weitem sieht er nicht schnell aus, aber ich versichere Ihnen, diese Luftschiffe sind doch recht flott«, prahlte Ludwig mit militärischem Sachverstand.

Weder sein Vater Sigismund noch ihr Vater waren je selbst in einen Krieg gezogen. Doch Ludwig hatte letzte Woche mit seinem Onkel, Kaiser Wilhelm II., das Hauptquartier der Obersten Heeresleitung in Koblenz besichtigt. Damit war er der Westfront und echten Gefechten näher gewesen als jeder andere der Anwesenden.

Katharina achtete peinlichst darauf, dass keine Gelegenheit entstehen konnte, bei der sie alleine mit Ludwig von Preußen sein würde. Und für alle Eventualitäten hatte sie Alexander instruiert. Er sollte den Neffen des Kaisers im Auge behalten. Doch jetzt gerade war ihr Bruder nicht in Sicht. Katharina blieb höflich distanziert, gerade höflich genug, um von Mama nicht gescholten zu werden. Mehr Widerstand gegen dieses Ekel konnte sie im Moment nicht leisten.

Merkwürdigerweise machte ihr abweisendes Verhalten Ludwig anscheinend überhaupt nichts aus. Immer wieder rätselte sie darüber, warum er sich noch für sie interessierte. Bei seinem letzten Besuch hatte sie beileibe deutlich genug gemacht, dass sie nichts von ihm wissen wollte.

Seine Mutter, Amalie Sieglinde von Preußen, beäugte Katharina kritisch, aber irgendwie schien ihr skeptischer Blick vor allem ihrem Sohn zu gelten. Als wäre er nicht ganz bei Trost, dass er sich ausgerechnet die Tochter eines Landgrafen erwählt hatte. Das sollte ihr nur recht sein. Vielleicht stellte die Schwägerin des Kaisers während ihres Besuches endgültig fest, dass die Familie von Auwitz‑Aarhayn zu Greifenau nicht standesgemäß für ihren Sohn war.

Katharina lauerte auf einen Moment, in dem sie mit Ludwigs Eltern alleine wäre, um sich dann möglichst wie ein Bauerntrampel zu verhalten. Doch als würde Mama ihr Vorhaben wittern, ließ sie sie nicht eine Sekunde aus den Augen.

Deshalb hatte sie sich darauf verlegt, überbordend höflich zu den anderen Gästen zu sein. Sie wollte Mama keinen Vorschub für weitere Sanktionen leisten. Emsig lief sie von einer Gruppe zur anderen, sprach mit den Anwesenden über das Wetter, die Blumen oder andere Themen, die einer jungen Dame angemessen waren.

Familie von Klaff war eingeladen sowie andere Landadlige aus der Umgebung. Selbst aus Stettin hatten etliche Honoratioren den Weg zu ihnen gefunden. Die Leute standen in ihren besten Gewändern im Schatten der Pavillons, denn es war sehr warm. So dezent wie möglich starrten alle zu ihnen hinüber. Schließlich war es schon eine Besonderheit, Mitglieder der kaiserlichen Familie persönlich zu treffen.

Wiebke und Clara verteilten kühle Getränke und Champagner. Mamsell Schott trug die Hors d’œuvres und Sandwiches umher, und Herr Caspers überwachte am Rande des Parks die Szenerie, damit auch nichts schieflief. Zur Unterstützung hatten sie sich aus den Nachbardörfern vier Dienstmädchen geholt. Und auch Irmgard Hindemith hatte drei Frauen aus Greifenau als Küchenhilfen bekommen. Die Köchin hatte sich wirklich übertroffen: Mit dem Eis aus dem Eishaus hatte sie ein fantastisches Himbeersorbet gezaubert.

Gestern Abend hatte es im kleinen Kreis ein perfektes Diner gegeben. Heute würde das Ganze in erweiterter Gesellschaft wiederholt. Der Ballsaal war schon geschmückt und die lange Tafel gedeckt. Der Abend würde noch einmal eine Herausforderung. Mama bestand natürlich darauf, dass Katharina neben Ludwig saß. Dem konnte sie nicht entgehen. Aber morgen nach dem Frühstück wäre der Spuk vorbei. Der Besuch würde abreisen. Und mit ein bisschen Glück hätten sich Ludwigs Eltern davon überzeugt, dass mit Gut Greifenau kein Staat zu machen war. Falls das wider Erwarten nicht ziehen und Mutter weiterhin auf eine Hochzeit bestehen würde, musste Katharina sich einen anderen Ausweg überlegen. Für sie stand fest, dass sie Ludwig von Preußen nicht heiraten würde – nie und nimmer.

Ludwig beugte sich zu ihr vor. Wenig zufällig winkte Katharina gerade jetzt Clara zu sich, ganz, als hätte sie leider nicht rechtzeitig bemerkt, dass Ludwig ihr etwas sagen wollte. Sie nahm sich ein weiteres Glas Champagner vom Tablett und gab Clara ihr leeres. Besser sie tat nur so, als würde sie trinken, denn ihr war schon etwas schwindelig. Die Hitze tat das Ihre.

In Claras Gesicht meinte Katharina Müdigkeit erkennen zu können. Die Dienerschaft hatte sich in den letzten Tagen überschlagen müssen, dabei wäre die Familie eigentlich im gesamten August zur Sommerfrische an der Ostsee gewesen. Seit dem Aufenthalt der Familie in Sankt Petersburg im Frühjahr hatten die Dienstboten keine Erholung mehr gehabt.

»Ah, da kommt ja meine älteste Tochter. Ich bitte um Entschuldigung, aber sie ist gerade erst heute Morgen angekommen. Sie musste sich nach den Strapazen der Reise erst frisch machen.«

Papa klang aufrichtig besorgt. Tatsächlich war er Anastasia heute Morgen regelrecht um den Hals gefallen, als diese unangekündigt und doch wenig überraschend aufgetaucht war.

Anastasia sah formvollendet aus. Sie trug ein beiges Sommerkleid mit Spitze, lange Handschuhe und Hut und dazu einen passenden Sonnenschirm. Sie hatte heute Vormittag noch einmal geschlafen, obwohl sie die Nacht in einem Erste‑Klasse-Abteil verbracht hatte. Katharina hatte gehört, was Mama Papa nach dem Frühstück zugeraunt hatte. Es mussten chaotische Zustände an den Bahnhöfen in Ostpreußen herrschen. Erst waren gar keine Züge gefahren, dann nur Züge, die für den Truppentransport ausgelegt waren und Tausende von Soldaten an die Front brachten. Eigentlich eine Unmöglichkeit und ihr und ihrer kleinen Tochter nicht zuzumuten, war Anastasia dennoch von Braunsberg aus tatsächlich in diesem Truppenzug gefahren, um wenigstens nach Danzig zu kommen. Ansonsten hätte sie mit ihrem Baby eine Nacht am Bahnhof ausharren müssen. Ein regulärer Fahrplan existierte nicht mehr.

In Danzig standen schon Züge bereit, um die Flüchtenden aufzunehmen. Zu Anastasias Unmut hatte man aber so lange gewartet, bis der Zug voll besetzt war. Bauern und Arbeiter mussten auf dem Gang stehen. Der Andrang in den Abteilen war groß, und in der Nacht gab es ein ewiges Gerenne auf dem Gang. Anastasia selbst hatte sich ihr Abteil bis Köslin sogar mit einer anderen Grafenfamilie teilen müssen. Und dennoch: Nur wer ihre Schwester wirklich gut kannte, konnte erkennen, dass es ihr im Moment alles andere als perfekt ging.

Anastasia kam näher und machte vollendete Verbeugungen. Sie hätte Ludwig vermutlich sofort geheiratet, schoss es Katharina bissig durch den Kopf. Reichsgraf von Sawatzki war mehr als sechzehn Jahre älter als Anastasia und damit fast doppelt so alt. Ihre große Schwester hatte allerdings nie ein Wort darüber verloren, so wenig wie sie je erwähnte, dass ihr Mann eine Glatze hatte und unangenehm aus dem Mund roch. Er besaß ein großes Rittergut in der fruchtbarsten Gegend Ostpreußens und beste Verbindungen zu diversen Herrscherhäusern. Das reichte.

Ludwig nahm Anastasias Hand. Aha! Er wusste also sehr wohl, wie man einen perfekten Handkuss gab, stellte Katharina fest. Nur bei ihr schmatzte er seine Lippen auf die Haut. Und obwohl sie fand, dass ihre Schwester dreimal schöner war als sie selbst, schien Ludwig völlig unbeeindruckt von ihr zu sein.

»Sie Ärmste. Sie müssen Schreckliches durchgemacht haben.«

Natürlich wussten schon alle, was passiert war. Wie eine Dampfwalze hatten die russischen Truppen die ostpreußische Grenze überrannt. Überrascht von dem massiven Aufgebot waren die Deutschen zurückgewichen und hatten fast zwei Drittel von Ostpreußen den zaristischen Truppen überlassen.

»Seit den Truppen Napoleons III. hat kein fremder Soldat mehr deutschen Boden betreten. Das gesamte Kaiserreich wurde überrascht.« Prinz Sigismund wollte das Chaos entschuldigen.

»In Danzig ist der Teufel los. Die einen kommen aus dem Osten, die anderen wollen in den Osten. Die Bahnhöfe sind ein einziges heilloses Durcheinander. Ich hatte Mühe, das Kindermädchen mit meiner Tochter im Auge zu behalten.« Anastasia setzte ein hinreichend gequältes Gesicht auf. »Am schlimmsten ist natürlich die Ungewissheit. Wer weiß, wann wir wieder zurückkönnen. Und wie es dann dort aussieht. Ich habe von schrecklichen Verwüstungen gehört.«

»Na, na. Das sind alles Ammenmärchen«, beteuerte Sigismund von Preußen. »Mein Bruder hat alles im Griff. Eine zweite Schlacht von Gumbinnen wird es nicht geben. Das versichere ich Ihnen. Jetzt, wo Hindenburg und Ludendorff das Heft des Handelns übernommen haben. Das sind äußerst fähige Männer.«

Alle lächelten. Alle wollten es glauben.

»Sind Sie alleine gekommen?«, erkundigte sich Amalie Sieglinde von Preußen.

Anastasia nickte und nahm sich ein Glas Champagner. »Mein Gatte ist gerade auf einer wichtigen diplomatischen Mission. Ich fürchte, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« Sie wandte sich Sigismund von Preußen zu. »Vermutlich weiß Ihr Bruder mehr als ich.«

Der nickte bestätigend. Er schaute sich kurz um. »Da wir ja hier im Kreis der Familie sind: Es gibt eine geheime Abordnung, die ins Osmanische Reich beordert wurde. Enver Pascha ist noch nicht ganz überzeugt, sich auch offiziell an unsere Seite zu stellen. Aber das ist nur eine Frage von Wochen. Gut möglich, dass Ihr Mann einer der Sondergesandten ist. Ich hörte, Graf von Sawatzki könne wahre diplomatische Wunder vollbringen.«

Anastasia strahlte stolz über beide Wangen.

Auch Mama strahlte. Nicht nur über das große Lob, sondern vor allem darüber, dass der Bruder des Kaisers ihre beiden Familien bereits als eine verschworene Gemeinschaft sah. Katharina wusste: Besser konnte es für ihre Mutter gar nicht laufen.

»Sagen Sie, mein lieber Auwitz, wie ich gestern sehen durfte, ist die Ernte in vollem Gang. Wird es dieses Jahr eine bessere Ernte geben als letztes Jahr?«

Papa nickte. »Auf jeden Fall. Prächtig wird es, ganz prächtig.«

Als wäre sie dieser unangenehmen Themen überdrüssig, wandte Amalie Sieglinde von Preußen sich an Mama, hakte sie unter und ging ein paar Schritte. Das Gesicht der Gräfin leuchtete siegreich, als wäre sie gerade zur Hofdame befördert worden.

»Eine prachtvolle Orangerie haben Sie da. Sie beweisen herausragenden Geschmack.«

»Sie ist gerade erst fertig geworden. Den Springbrunnen konnten wir tatsächlich erst vorgestern einbauen. Es gab Verzögerungen mit der Lieferung. Der Marmor kommt aus Italien.«

Katharinas Pulsschlag verdoppelte sich. Papa sprach mit Sigismund von Preußen, Mama wandelte mit seiner Gattin. Der perfekte Moment für ihren Sohn, sich unbeobachtet auf Katharina zu stürzen. Der trat schon einen Schritt auf sie zu. Sie musste sich schnell eine Ausflucht einfallen lassen.

Etwas überstürzt sprang sie an die Seite der beiden Frauen. »Eure Hoheit, für unser Fest haben wir die Orangerie noch geschmückt. Aber ab morgen werden wir dort Flüchtende aus Ostpreußen aufnehmen.«

»Wie wunderbar zu sehen, welch hohe patriotische Gesinnung hier zu finden ist.«

Gequält hielt Mama ihr Strahlen aufrecht. Von diesem Thema war sie überhaupt nicht angetan. In den letzten Tagen hatte es zwischen Konstantin, Papa und ihr Streit gegeben. Mama hatte alle Gruppen von ihrer Tür abgewiesen, bis Konstantin dazwischengegangen war. Er hatte sie schließlich beide überzeugen können, dass ihre selbstlose Unterstützung die kaiserliche Familie beeindrucken würde. Feodora hatte sich nur widerstrebend dem Willen ihres Sohnes gebeugt. Außerdem war Konstantin seit gestern fort. Katharina ahnte, dass Mama sich nicht an das halten würde, was sie versprochen hatte.

»Wenn es überhaupt noch nötig wird. Die meisten Menschen haben wir im Dorf untergebracht. Gerade erst vor ein paar Monaten haben wir ein neues Arbeiterhaus bauen lassen.«

»Aber das ist zur Hälfte belegt mit unseren Erntearbeitern. Deshalb werden wir weitere Flüchtende hier einquartieren«, ergänzte Katharina.

»Eine wunderbare Idee«, bekräftigte die hohe Dame. »Und ich bin mir auch sicher, es kann sich nur um Tage handeln, dann können alle wieder zurück in ihre Heimat.«

»Alle von Stand kommen natürlich bei uns im Herrenhaus unter. Das versteht sich«, sagte Mama leichthin.

Vermutlich würde das ohnehin nicht nötig sein, denn die adeligen ostpreußischen Familien zogen sich entweder auf ihre anderen Güter zurück oder fanden bei ihren Familien Unterkunft. Nur arme Familien hatten keine entfernt wohnenden Verwandten, die Gästezimmer bereithielten.

Katharinas Blick wanderte rüber zu ihrer Schwester, die sich angeregt mit Ludwig von Preußen austauschte. Prima, sollte sie das Scheusal unterhalten.

Alexander schritt mitten über den gepflegten Rasen und ging direkt auf Papa und den Prinzen zu. Zu solchen Gelegenheiten verzichtete er auf den Stock. Sein Hinken war aber umso deutlicher zu sehen. Er überbrachte etwas. Ein Stück Papier. Katharina versuchte, aus den Mienen der Männer zu deuten, was los war.

Die Frauen waren beinahe an der Orangerie angekommen, als sie gerufen wurden. Katharina folgte den beiden zurück zu der Gruppe.

»Meine Liebe, ich habe ein Telegramm bekommen. Ich muss mich leider sofort verabschieden.« Sigismund von Preußen sah keineswegs betrübt aus.

Seine Frau erschrak. »Keine schlechten Nachrichten, wie ich hoffe?«

»Beunruhige dich nicht. Gestern ist eine Offensive an der Ostfront gestartet, zwischen Allenstein und Tannenberg. Noch scheint nichts entschieden. Aber es gibt Anlass zur Hoffnung.« Der Prinz wandte sich an Papa.

»Mein bester Auwitz, Sie müssen mich entschuldigen. Ich habe zwar keine offiziellen Pflichten, aber ich möchte unsere Truppen doch an vorderster Front unterstützen. Von hier aus stehe ich in spätestens einem Tag an den Ufern der Weichsel.«

»Aber selbstverständlich.«

Sigismund von Preußen warf seinem Sohn einen auffordernden Blick zu. Katharina schöpfte schon Hoffnung.

Doch der zog sich galant aus der Affäre: »Ich werde dafür sorgen, dass meine Frau Mama wohlbehalten in die Reichshauptstadt zurückkehren kann. Wir wollen sie bei all dem Wirrwarr auf den Bahnhöfen doch nicht alleine zurückreisen lassen.«

Katharina unterdrückte ein lautes Schnaufen. Von »alleine« konnte gar keine Rede sein. Ihre Entourage bestand aus mehr als einem halben Dutzend Bediensteter, die unten die gesamte Dienstbotenetage mit allerhand Sonderwünschen aufscheuchten. Außerdem reisten sie in einem der kaiserlichen Salonwagen, der separat an jeden beliebigen Zug angekoppelt werden konnte. Sie mussten sich bestimmt nicht mit vollen Waggons herumschlagen.

Auch Ludwigs Vater bedachte ihn mit einem missliebigen Blick, sagte aber weiter nichts. Schade. Gestern hatte Katharina den Eindruck gewonnen, dass Ludwig doch sehr unter der Fuchtel seines Vaters stand. Weder gestern noch heute war es zu irgendeiner Art von auffälligem Verhalten seinerseits gekommen.

Sie platzte heraus: »Und Sie? Haben Sie keine offiziellen Verpflichtungen?« Es war das erste Mal, dass Katharina sich direkt an Ludwig wandte.

Amüsiert grinste er sie an. »Oh doch, meine Werteste. Ich unterstütze meinen Onkel persönlich in allen Belangen. Gütigerweise hat er mir aber für einige Tage freigegeben, um meinen Besuch bei Ihnen nicht absagen zu müssen. Er hat größtes Verständnis dafür, wie sehr ich mich darauf gefreut habe.«

Nun kam er direkt auf sie zu und nahm ihren Arm. »Kommen Sie, wir begleiten meinen Vater ins Haus.«

Allein seine Berührung ließ sie erstarren. Wie dämlich von ihr. Hätte sie sich das doch gespart. Doch genau neben ihr geriet in diesem Moment Alexander ins Straucheln.

»Katka.« Alex packte reflexartig nach ihrem anderen Arm, als drohte er zu fallen.

Katharina befreite sich aus Ludwigs Griff. »Oje. Komm, lass mich dir helfen.« Alexander war wirklich der Beste.

»Mein Jüngster ist im letzten Herbst in eine alte Bärenfalle getreten«, erklärte Papa müßig. Nun winkte er Wiebke heran und griff nach einem vollen Glas. »Bevor Sie gehen, möchte ich einen Toast aussprechen.« Das Letzte hatte er laut genug gesagt, damit alle Anwesenden im Park nun zu ihnen schauten.

Ein unangenehmes Kribbeln zog über Katharinas Schädeldecke. Was, wenn es schon eine Verabredung zwischen Vater und Sigismund von Preußen gab? Hatten sie gestern Abend im Rauchersalon eine Hochzeit geplant? Es wäre der perfekte Augenblick, um ihre Verbindung mit Ludwig von Preußen öffentlich bekannt zu geben. Panik machte sich in ihr breit.

»Papa?!« Sie hatte das Gefühl, dass sich Tausende rote Flecken auf ihrem Gesicht ausbreiteten. Und obwohl es so peinlich war, war es ihr völlig egal.

Doch ihr Vater warf ihr nur einen wohlwollenden Blick zu. Adolphis von Auwitz‑Aarhayn wartete, bis er volle Aufmerksamkeit genoss.

»Ich möchte mit allen Anwesenden auf das Wohl meiner Töchter trinken. Auf meine wunderschöne Tochter Anastasia, die sich bereits wieder in glücklichen Umständen befindet, wie ich vorhin erfahren durfte.«

Ein freudiges Raunen ging durch die Menge. Mama nahm ihre älteste Tochter stolz in den Arm. Papa machte eine abwehrende Handbewegung, und die Leute verstummten.

In Katharinas Ohr war plötzlich ein lautes Fiepen. Ein unangenehmer Ton, laut und schrill. Dumpf drangen die Worte ihres Vaters zu ihr vor.

»Und auf unsere Jüngste, Katharina, der bestimmt schon in wenigen Jahren auch ein solches Mutterglück beschert wird. Auf unseren Kaiser.«

»Auf unseren Sieg«, ergänzte Sigismund von Preußen.

»Hipp, hipp, hurra.« Alle stimmten ins dreifache Kaiserhoch ein.

Nur Katharina nicht. Erlöst stieß sie den Atem aus, den sie angehalten hatte.

27. August 1914

Nikolaus spürte den mächtigen Pferdekörper zwischen seinen Schenkeln. Er bebte. Schnell hob er seinen Säbel und landete einen gezielten Hieb. Ein Körper fiel zu Boden. Recht so! Bald schon hätten sie die russischen Kräfte von ihren Rückzugsmöglichkeiten abgeschnitten. Und das, obwohl die kaiserlichen Truppen in der Unterzahl waren.

Ein herrliches Gefühl, nachdem sie erst vor einer Woche bei Gumbinnen so schmählich geschlagen worden waren und sich auf Befehl von Generaloberst von Prittwitz hinter die Weichsel hatten zurückziehen müssen. Bei den Männern hatte es rumort. Doch die Oberste Heeresleitung hatte gemeinsam mit der Regierung Konsequenzen gezogen. Sie hatten von Prittwitz das Kommando entzogen. Ihm folgte der pensionierte General von Hindenburg mit Generalmajor Ludendorff an seiner Seite. Endlich ging es in Ostpreußen wieder vor statt zurück.

Nikolaus befand sich auf einem Feld zwischen Tannenberg und Usdau. Seine Einheit war mit dem Zug von Königsberg nach Seeben verlegt worden. Sie waren fast in Sichtweite an Anastasias Gut in der Nähe von Braunsberg vorbeigefahren. Auf der Fahrt hatte er die Gegend bestaunt. Irgendwann würde er hier ein Stück Land finden, wo er sich ansiedeln konnte. Bestes Ackerland, genau wie hier zu seinen Füßen. Zwar war alles um ihn herum niedergetrampelt, doch man konnte noch gut die prächtig gewachsenen Kartoffelpflanzen erkennen. Hunderte Pferdehufe hatten dicke Knollen aus der Erde gegraben.

Nikolaus ritt weiter vor, Richtung Anhöhe. Sein Pferd strauchelte, knickte vorne ein. Er fiel in den Matsch. Das Pferd bemühte sich vergeblich, wieder aufzustehen. Irgendwas war mit seinem rechten Vorderbein. Nikolaus hatte keine Zeit, sich um das Tier zu kümmern. Wer immer es angeschossen hatte, würde als Nächstes den Lauf auf ihn richten.

Eilig sprang er auf die Füße, packte den Karabiner eines Toten und ging geduckt vorwärts. Er überquerte einen Weg, kam auf ein anderes Feld. Die Wiese war vor Kurzem erst gemäht worden. Heuhocken standen alle paar Meter, die meisten von ihnen brannten. Beißender Rauch zog übers Schlachtfeld. Ein Schatten tauchte auf. Er kniff seine Augen zusammen, zielte, schoss. Ein roter Fleck. Ein dumpfer Schrei. Der Körper fiel hintenüber.

Drei Schritte vor. Der nächste Mann in der falschen Uniform drehte sich zu ihm hin, die Waffe schon im Anschlag. Blitzschnell riss er das Gewehr hoch. Doch als er zielte, war er plötzlich wie vor den Kopf gestoßen. Erschrocken ließ er die Waffe sinken. Seine Hand zitterte. Beinahe hätte er einen fatalen Fehler gemacht.

»Fjodor?«, kam es aus seinem Mund. Niemand würde ihn hören können. Um ihn herum toste die Schlacht. Pfeifen und Zischen und Explosionsgeräusche von spritzender Erde untermalten das Gefecht. Seine Hand ging hoch und signalisierte Stopp. »Fjodor!«, rief er trotzdem lauter. Er dachte gar nicht nach, es passierte einfach. Sein Cousin musste ihn doch erkennen! Verdammt noch mal.

»Fjodor«, brüllte er nun.

Auch sein Gegner schien unsicher. Rauch zog zwischen ihnen hindurch. Der Mann nahm immer wieder das Gewehr hoch, unschlüssig, ob er nun anlegen sollte.

Er trat drei Schritte vor, die Hände erhoben, als würde er sich ergeben. »Fjodor, ergib dich. Ich sorge für eine gescheite Unterkunft«, schrie Nikolaus. Er wollte einfach nur, dass der junge Russe ihn erkannte.

Doch der war immer noch unentschlossen, wen er dort vor sich hatte. Nikolaus trat weiter vor, raus aus dem schwarzen Rauch des Heuhaufens, damit der Sohn von Mutters Bruder ihn besser sehen konnte.

Der hob wieder sein Gewehr. Nikolaus rief ihm etwas zu, auf Russisch. »Wer als Erster am anderen Ufer ist.«

Lange Jahre hatten sie diesen Wettkampf bestritten, praktisch ihre ganze Jugend. Wann immer Onkel Stanis und Tante Oksana mit ihren Jungs zu Besuch gekommen waren, waren die Söhne der einen Familie mit den Söhnen der anderen Familie im See beim Herrenhaus um die Wette geschwommen. Jeden Sommer war ein anderer Junge Sieger geworden. Eine andere Welt. Ein anderes Leben.

Endlich erkannte auch Fjodor, wen er vor sich hatte. Das Gewehr noch immer erhoben, stahl sich ein ungläubiges Grinsen auf sein schmutziges Gesicht. »Nikki? … Nikki!« Wiedersehensfreude. Endlich. Für einen Moment schloss sich um sie eine Seifenblase aus Erinnerungen an glückliche Ferientage.

Doch im gleichen Moment verzog sich Fjodors Gesicht zu einer Fratze. Schmerzverzerrt. Wieder ungläubig. Als könnte es einfach nicht sein. Als wäre es nicht möglich, ausgerechnet jetzt, in diesem Moment getroffen zu werden. Sein Gewehr rutschte ihm aus den Händen. Er sackte auf die Knie, beide Hände an der Brust, und schließlich zu Boden.

Nikolaus war erschüttert. Sein Gewehr entglitt ihm ebenfalls. Nein, das konnte nicht sein. Wer als Erster am anderen Ufer … Seine Worte schmeckten nach Tod.

Von hinten riss ihn jemand aus seiner Apathie.

»Du schuldest mir ein Bier, Auwitz.« Der deutsche Soldat stieß ihn an und erwartete wohl, dass Nikolaus ihm nun um den Hals fallen würde. Doch der starrte einfach nur seinen getroffenen Cousin an. Fjodor hustete Blut.

»Scheiße, frier nicht ein.« Sein Kumpel rüttelte ihn an der Schulter. »Was ist? Bist du verletzt? Hat er dich erwischt?«

Nikolaus blickte sich fassungslos um. Es war Arnulf. Grafensohn, wie er. Bei der 1. Kavallerie-Division, wie er. Auch aus Hinterpommern. Der Einzige, der ihn beim Saufen schlagen konnte.

Ein dicker Schwaden Rauch zog an ihnen vorbei. Nikolaus’ Blick suchte Fjodor, als der Rauch sich wieder verzog. Er stieß Arnulf weg und wollte gerade zu seinem Verwandten rennen, als er am Kragen gepackt wurde.

»Mach keinen Blödsinn, Auwitz.« Er hielt ihn fest.

Nikolaus wehrte sich. »Fjodor!«, schrie er, als könnte er alles ungeschehen machen, wenn er nur laut genug schrie.

Arnulf ließ ihn nicht los. »Was machst du für’n Scheiß?« Sie rangelten. Im gleichen Moment ritt einer ihrer Männer von hinten heran.

»Was macht ihr hier? Seht ihr nicht, was da vorne kommt? Los, weg hier.«

Ein Trupp russischer Kavallerie kam den Hügel herunter. Die Pferde schnaubten wütend, als wäre ihnen ein solches Chaos nicht zuzumuten. Und dann noch das Feuer. Zwei scheuten. Das war ihr Glück. Die glücklichen Sekunden, die sie brauchten, um aus der Schusslinie zu kommen. Arnulf ließ Nikolaus nicht los, zog ihn an einem Arm mit sich.

Der Reiter merkte nun auch, dass etwas nicht stimmte. Er griff hinunter und packte Nikolaus’ anderen Arm. Zusammen zogen sie ihn weg. Weg von seinem sterbenden Cousin.

Nikolaus war so gefangen von dem Bild des ungläubig zusammensinkenden Körpers, dass er sich einfach mitschleifen ließ. Plötzlich pfiffen ihnen Kugeln um die Ohren. Nikolaus bekam einen Stoß und fiel in einen Straßengraben. Das Pferd des fremden Reiters sprengte davon. Benommen blieb er liegen, hörte, wie Arnulf neben ihm das Feuer eröffnete.

Sein Gesicht lag auf etwas Warmem, Feuchtem. Er bewegte sich, rutschte über ein glitschiges Etwas. Als er seinen Kopf hob, sah er, was es war. Der Schädel aufgerissen. Das Haar voller Blut. Tote Augen starrten ihn an. Höchstens zwanzig Jahre alt. Erschrocken drückte Nikolaus sich zur Seite. Der Körper lag auf einem anderen Körper. Der ganze Graben lag voll, so weit das Auge reichte. Überall Blut, so viel Blut. Es stank. Jemand hatte sich eingeschissen. Am Ende war er es vielleicht selbst.

Eine Fliege setzte sich auf das blutgetränkte Haar. Ein Fest für die Würmer. Vier Meter weiter lag ein deutscher Soldat, den er nicht kannte. Die Beine nach oben, den Kopf unten im Graben. Er ruderte mit seinen Armen wie ein hilfloser Käfer, bekam endlich etwas zu fassen, drehte sich und krabbelte auf allen vieren in den Graben. Seine Uniform – eine Leinwand mit Blut bemalt. Er wandte sich in alle Richtungen, orientierungslos. Dann fiel sein Blick auf Nikolaus. Suchenden Blickes hob er seinen Kopf. Eine Kugel zerfetzte von links nach rechts sein Gehirn. Seine Augen – als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen. So einfach. So schnell. Erloschen mit einem letzten Glimmen.

Das war der Moment, der Nikolaus zur Besinnung brachte. Als Arnulf ihm zurief, dass sie verschwinden mussten, griff er nach dem Gewehr, das neben ihm lag, sprang auf und folgte seinem Kameraden.

* * *

Nikolaus starrte seinen Kameraden an. Arnulf prahlte schon den ganzen Abend damit, dass er dem Grafensohn das Leben gerettet hatte. Nikolaus wagte nicht, zu widersprechen. Was würden die anderen von ihm halten, wenn sie erfuhren, dass er fast einen russischen Soldaten geschont hätte, und sei es drum, dass er ein Verwandter war?

Um sie herum, auf den Feldern, lagen Tausende von Toten. Eine verschwenderische Ernte des Schnitters. Die Nacht hatte ein Einsehen und deckte ihre Dunkelheit über den grausamen Anblick. Die ersten Gefechte des Krieges waren nur Scharmützel gewesen im Vergleich zu dem, was Nikolaus heute erlebt hatte. Um das Dorf lag ein Meer aus verstümmelten und blutüberströmten Leibern. Verletzte krochen umher, jammerten, riefen um Hilfe.

Als sie wieder nach vorne geprescht waren, hatte ein Mann ihn am Hosenbein gepackt. Der Liegende hatte Nikolaus angefleht, ihn zu erschießen. Er hatte es nicht getan. Stattdessen hatte er ihn angelogen. Er werde einen Sanitäter schicken. Gleich nachdem er im Lager ankommen werde. Für Nikolaus gab es aber in dieser Nacht kein Lager. Und für den Mann keinen Sanitäter. Ihre Einheit hatte sich mit wenigen Ausnahmen zusammengefunden und biwakierte in der Nähe des Bahnhofs von Usdau. Das Gebäude hatte gebrannt, das Feuer schwelte noch immer. Der einzige helle Punkt in der Finsternis. Schreie von Verletzten drangen zu ihnen heran.

Wenn eine dieser Stimmen Fjodor gehörte? Nikolaus konnte an nichts anderes denken. Aus jeder Stimme, aus jedem jämmerlichen Ruf versuchte er, die bekannte Stimme herauszuhören. Fjodor konnte überlebt haben. Er musste ihn suchen. Er wusste ungefähr, wo er lag. Er musste ihn vom Schlachtfeld wegbringen und dafür sorgen, dass er versorgt wurde. Oder möglicherweise ein ordentliches Begräbnis bekam. Zu viele ihrer Männer und auch der Russen waren in den letzten drei Wochen in Gräben oder Granatentrichtern verscharrt worden. Es gab zu viele Tote – und keine Zeit, ihren patriotischen Einsatz zu würdigen. Ausgerechnet Fjodor, nein, das durfte er nicht zulassen. Versunken im Schlamm, vergraben in fremder Erde, fern der Heimat, namenlos. Das hatte er nicht verdient. Im Grunde hatte das keiner von ihnen verdient. Nikolaus stand auf. Er signalisierte, dass er kurz austreten wollte.

»Aber lass dich nicht wieder von einem Russen erwischen«, rief Arnulf ihm hinterher.

Sein Kamerad würde morgen sein versprochenes Bier bekommen, hoffentlich. Wenn dieser Albtraum hier zu Ende war und sie ihr richtiges Lager aufschlagen konnten.

Nikolaus glaubte, die Himmelsrichtung erahnen zu können. Dahinter musste der Hügel sein. Geduckt schlich er durch die Dunkelheit. Das Grauen griff nach ihm. All die Körper, über die er stolperte. Die Stimmen, die so dringlich klangen, weil sie ein letztes menschliches Geräusch wahrnahmen und hofften, die Sanitäter würden sie endlich holen. Der Mond spiegelte sich nicht mehr in ihren Gesichtern. Das Blut war schon zu lange trocken. Pures Entsetzen kroch seine erdverkrusteten Stiefel hoch.

28. August 1914

Sie musste sich beeilen. Trotzdem ging Hedwig vorsichtig, Schritt für Schritt, damit die Sahne nicht überschwappte. Bertha war wirklich lieb. Sie würde Frau Hindemith kein Sterbenswörtchen erzählen. Bertha war die Einzige, die genauso früh auf war wie sie selbst. Die anderen würden frühestens in einer halben Stunde folgen.

Hedwig öffnete die Holztür, die in dem großen Tor der neuen Heuscheune eingelassen war, und ging hindurch. Für einen Moment blieb sie stehen und wartete, dass sich ihre Augen an das dämmerige Licht gewöhnten.

Leises Mauzen war zu hören. Hedwig lief in eine Ecke, die im Dunkeln lag, kam näher und sah, wie Mimi argwöhnisch ihren Kopf hob. Obwohl sie die Einzige war, die den Katzen Milch oder Sahne brachte, blieb das dicke rotbraune Tier auch bei ihr immer misstrauisch. Katzen waren eben immer noch viel wilder als Hunde. Und trotzdem waren die Tiere ihre besten Freunde. Von den Menschen erwartete sie sich nicht besonders viel Nettigkeit. Früher oder später enttäuschten die Menschen sie immer.

Mimi streckte sich, als wäre sie gerade erst aufgewacht. Fünf Kätzchen hingen an ihren Zitzen. So süß! Hedwig war so verzückt, dass sie am liebsten eines hochgehoben hätte. Leider hatte Mimi ihren ersten Versuch schlecht vergolten mit einem tiefen Biss in die Hand. Das war drei Tage her. Die Bissspuren und Kratzer heilten schon.

Vor knapp zwei Wochen hatte sie eine ausrangierte Obstkiste genommen und mit einer alten Wolldecke gepolstert. Über Nacht waren Mimi und ihre Kätzchen tatsächlich umgezogen. Jetzt brachte sie ihr jeden Morgen eine Schale Sahne, wie heute auch. Sie bückte sich und stellte ihr den fetten Rahm genau vor die Nase.

Mimi funkelte sie an und schnupperte misstrauisch an der Sahne. Dann endlich schnellte ihre rosa Zunge vor, und sie schlabberte. Seit vier Tagen hatten die jungen Kitten ihre Augen geöffnet. Sie würde noch eine weitere Woche warten, bis sie erneut wagen würde, ein Kätzchen auf den Arm zu nehmen. Vielleicht durfte sie ja eines behalten, sozusagen als Geburtstagsgeschenk. Nächsten Monat wurde sie vierzehn Jahre alt.

Ach, das war aussichtslos. Es durfte niemand wissen, dass Mimi Junge hatte. Hedwig musste sie bald irgendwo im Wald aussetzen. Sonst würde noch jemand die kleinen Katzenbabys im See ertränken.

Es wurde Zeit. Hedwig musste zurück. Sie konnte sich nicht erlauben, ihre Arbeit zu vernachlässigen, heute schon dreimal nicht. Am Abend würde sie die leere Schüssel wieder abholen, wenn sie dafür Zeit haben würde. Wenn nicht, würde sie morgen früh ja wieder vorbeikommen.

»Tschüss, Mimi.«

Gerade als sie durch die Holztür gehen wollte, wurde sie von außen geöffnet. Erschrocken sprang sie einen Schritt zurück. Die Morgensonne schien genau auf die Öffnung. Hedwig konnte nicht erkennen, wer das war. Sie hoffte, es wäre Eugen, aber dem Schatten nach war es jemand, der größer war als der Stallbursche. Er war auch wuchtiger als Johann Waldner. Der Mann trat ein. Das grelle Sonnenlicht wurde ausgeschlossen, sie konnte wieder etwas erkennen. Ihre Knie fingen an zu schlottern.

Das war der Neffe des Kaisers. Um Gottes willen, was machte er denn hier? Wieso war er so früh auf? Die Familie sollte heute abreisen, und die Dienstboten hatten alle Hände voll damit zu tun, die Hinterlassenschaften des Sommerfestes aufzuräumen.

Der unschöne Vorfall im Juni, bei dem sie die Komtess in einer hässlichen Situation zusammen mit diesem Mann unbeabsichtigt überrascht hatte, steckte ihr noch immer in den Knochen. Seit Tagen schlich sie durchs Haus und versteckte sich vor den Besuchern.

Ludwig von Preußen trug Hose und Stiefel. Sein Hemd war nachlässig in den Hosenbund gestopft. Oben schaute seine nackte Brust heraus. Hedwig senkte ihren Blick. So sollte ein Mitglied der kaiserlichen Familie doch nicht herumlaufen.

»So früh schon auf?«

Herrjemine, jetzt musste sie auch noch mit ihm reden. »Jawohl, Eure Kaiserliche Hoheit.«

Er lachte. Es klang nicht freundlich.

»Und was macht so ein junges Ding wie du hier alleine im Heu?«

Sie wollte nicht über die Katzen sprechen. Und mit ihm ganz bestimmt nicht. Sie wollte die Katzen nicht verraten. »Ich … musste nur … etwas zurückbringen.«

»So?« Er kam näher.

Hedwigs Hände flatterten. Eine furchtbare Angst packte sie. Das Bild, wie er vor ein paar Monaten die Komtess an die Wand gedrückt hatte, überkam sie. Er schien kein netter Mann zu sein.

»Ich muss weiterarbeiten.« Sie wollte sich an ihm vorbeidrücken, doch er hielt sie an einem Arm fest.

»Na, na, nicht so eilig. Du schuldest mir noch etwas.«

Ihr Mund war aufgerissen, genauso wie ihre Augen. Was sollte sie ihm denn schulden?

»Meinst du, ich hätte vergessen, wobei du mich bei meinem letzten Besuch gestört hast?« Obwohl im dämmrigen Licht nicht viel zu erkennen war, wusste sie, dass sein Grinsen bösartig war.

Ihr Herz schlug so heftig, dass sie glaubte, es würde ihr aus der Brust springen. »Ich muss wirklich ins Haus. Das Küchenmädchen sucht nach mir.« In ihrer Stimme lag eine Spur Hysterie.

»Weizenblondes Haar. Ich mag eigentlich eher Mädchen mit dunklem Haar.« Mit der einen Hand hielt er weiter ihren Arm fest, mit der anderen ließ er eine Strähne ihres Haares durch seine Finger gleiten. »Aber dafür bist du noch schön jung. Fast noch ein Kind.«

Hedwig wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.

»Hast du schon deine Blutung?«

Hedwig keuchte. Um Himmels willen, was wollte er von ihr?

Der Druck an ihrem Arm nahm zu. »Ich hab dich was gefragt«, bellte er schroff.

Panik stieg in ihrer Kehle hoch. Sie konnte nicht schreien. Sie konnte nicht einmal mehr atmen. Ihr Mund bewegte sich lautlos. Plötzlich, als hätte ihr Körper endlich die Luftnot bemerkt, atmete sie stockend ein, ganz tief.

»Sei bloß ruhig!« Er zog sie tiefer in die Scheune hinein.

»Bitte … nicht«, wimmerte Hedwig. Trotzdem ließ sie sich mitziehen. Er war der Neffe des Kaisers! Und Mamsell Schott hatte ihr eingebläut, sich höflich und zuvorkommend zu verhalten, sollte sie überhaupt mit einem der Mitglieder der Kaiserfamilie in Kontakt kommen.

Er drängte sie in einen Verschlag und blieb stehen. Mit einem merkwürdig eindringlichen Blick schaute er sie an, leckte sich über die Lippen, grinste. Hände packten sie, drehten sie um und knöpften ihr Kleid hinten auf.

Sie wollte Nein schreien, aber ihre Stimme versagte. Ihr Körper hatte sich selbstständig gemacht, zitterte wie Espenlaub. Sie wollte sich wegdrehen, wollte wegrennen. Das konnte doch nicht wahr sein. Vor einer Minute war noch alles in Ordnung gewesen, und das Schicksal der jungen Katzen war ihre größte Sorge gewesen. Jetzt war sie nicht einmal mehr fähig, sich zu rühren.

Er schob ihr das Kleid über die Schultern. Es rutschte von alleine über ihren mageren Körper. Er drehte sie wieder mit dem Gesicht zu sich. Hedwig wagte nicht aufzusehen. Sie starrte auf seine teuren Lederstiefel. Plötzlich fühlte sie einen heftigen Schmerz. Er hatte sie geschlagen. Ihre Wange brannte.

»Willst du dich nicht wenigstens wehren?«

Wehren? Sie konnte nicht schreien, nicht weglaufen.

Noch ein Schlag traf sie. Obwohl jeder Körperteil schlotterte, war ihr, als wäre sie zu Stein erstarrt.

Seine Hände packten grob ihr leinenes Unterkleid und zerrissen es. Er griff nach ihren kleinen Knospen und kniff hart zu.