Schloss Liebenberg. Hinter dem falschen Glanz - Hanna Caspian - E-Book
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Schloss Liebenberg. Hinter dem falschen Glanz E-Book

Hanna Caspian

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Beschreibung

Der zweite Band der großen Saga-Trilogie der Bestseller-Autorin im Paperback über Schloss Liebenberg in Brandenburg und seine Bewohnerinnen und Bewohner Nach dem Tod ihrer Mutter ist Adelheid mehr denn je auf ihre Stellung auf Schloss Liebenberg angewiesen. Doch den Tod ihrer Mutter lastet sie der Fürstin an – und schwört Rache. Als sie einen den Fürsten belastenden Brief im kalten Kamin des fürstlichen Arbeitszimmers findet, begreift sie dessen Wert sofort. Doch was soll sie damit machen?  Als Adelheid von einem Unbekannten angesprochen wird, der ihr gegen Informationen aus dem Schloss gutes Geld bietet, muss sie sich entscheiden … Zu spät erkennt sie, dass die Fürstenfamilie auch ein Opfer von Intrigen ist. Die Fortsetzung der großen neuen Saga von Hanna Caspian vor dem Hintergrund der sogenannten Eulenburg-Affäre, die seinerzeit das deutsche Kaiserreich Anfang des 20. Jahrhunderts erschütterte und Kaiser Wilheim II. fast zu Fall brachte. Band 1: Schloss Liebenberg. Hinter dem hellen Schein

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Hanna Caspian

Schloss Liebenberg

Hinter dem falschen Glanz

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Der zweite Band der großen Trilogie der Bestsellerautorin über Schloss Liebenberg und seine Bewohnerinnen und Bewohner

 

Nach dem Tod ihrer Mutter ist Adelheid mehr denn je auf ihre Stellung auf Schloss Liebenberg angewiesen. Doch den Tod ihrer Mutter lastet sie der Fürstin an – und schwört Rache. Als sie einen den Fürsten belastenden Brief im kalten Kamin des fürstlichen Arbeitszimmers findet, begreift sie dessen Wert sofort. Doch was soll sie damit machen? 

Als Adelheid von einem Unbekannten angesprochen wird, der ihr gegen Informationen aus dem Schloss gutes Geld bietet, muss sie sich entscheiden… Zu spät erkennt sie, dass auch die Fürstenfamilie ein Opfer von Intrigen ist.

Inhaltsübersicht

Motto

Personenverzeichnis

Kapitel 1

Anfang Juni 1907

Mitte Juni 1907

13. Juni 1907

4. August 1907

Kapitel 2

Mitte August 1907

Mitte August 1907

29. August 1907

1. September 1907

Kapitel 3

2. September 1907

5. September 1907

15. September 1907

Kapitel 4

22. September 1907

29. September 1907

Anfang Oktober 1907

20. Oktober 1907

Kapitel 5

23. Oktober 1907

25. Oktober 1907

27. Oktober 1907

30. Oktober 1907

Kapitel 6

2. November 1907

3. November 1907

7. November 1907

17. November 1907

Kapitel 7

Mitte November 1907

1. Dezember 1907

8. Dezember 1907

Mitte Dezember 1907

15. Dezember 1907

Kapitel 8

22. Dezember 1907

23. Dezember 1907

31. Dezember 1907

4. Januar 1908

Kapitel 9

19. Januar 1908

Januar 1908

26. Januar 1908

26. Januar 1908

2. Februar 1908

Kapitel 10

Mitte Februar 1908

25. März 1908

15. April 1908

16. April 1908

23. April 1908

Kapitel 11

28. April 1908

29. April 1908

30. April 1908

5. Mai 1908

8. Mai 1908

Die Prozesse

Nachwort

Leseprobe »Schloss Liebenberg«

Niemand ist so reich, daß er die Vergangenheit zurückkaufen kann.

Oscar Wilde

Dienstboten

Adelheid Schaaf – Zweites Hausmädchen

Hedda Pietsch – Zweites Stubenmädchen

Viktor Novak – Erster Diener

Oswald Opitz – Haushofmeister, also Butler und höchster Diener

Diedrich Budde – Zweiter Diener

Henriette Reineke – Mamsell

Martha Petzold – Erstes Stubenmädchen

Lydia Keller – Drittes Stubenmädchen

Gerda Altvater – Erstes Hausmädchen

Moritz Lüdke – Hausbursche

Hubertine Möckel – Köchin

Irene Böhme – Unterköchin

Liesel – Küchenmädchen

Anni – Spülmädchen

Herr Hartwich – Kutscher / Chauffeur

Arthur Schneider – Kammerdiener in Berlin

Sonstige Personen

Constanze Maiwald – Gesellschafterin von Ruth Mandelbaum

Ruth Mandelbaum – jüdische Witwe

Hugo Mahlzahn – Constanzes Verlobter

Karl Schaaf – Vater von Adelheid

Friedel, Bernhard, Edeltraud, Gundula und Gunther – Geschwister von Adelheid

Justus und Anna Novak – Eltern von Viktor

Ricarda, Theodora und Leander – Viktors Geschwister

Edgar – Heddas Bruder

Historische Persönlichkeiten

Die Fürstin, Gräfin von Sandels – Gattin des Fürsten zu Eulenburg

Alexandrine, Augusta und Viktoria – Töchter des Fürstenpaares

Politische Figuren

Philipp Fürst zu Eulenburg und Hertefeld – langjähriger bester Freund von Kaiser Wilhelm II.

General Kuno von Moltke – Stadtkommandant von Berlin, ehemaliger Flügeladjutant des Kaisers

Maximilian Harden – Journalist und Begründer der Zeitschrift Die Zukunft

Kapitel 1

Anfang Juni 1907

Unfassbar. Mich in dieser Situation auch noch mit so etwas zu belasten.« Das hatte die Fürstin entrüstet gesagt und Adelheid stehen gelassen. Und dann hatte das Unglück seinen Lauf genommen.

Jeden Morgen passierte nun das Gleiche – mittlerweile als ungeliebtes Ritual. Der Wecker klingelte, und Adelheid schlug die Augen auf. Dann dachte sie daran, dass ihr Vater das mit dem Wecker erst gar nicht hatte glauben wollen. Ein Wecker war eine Uhr. Und Uhren besaßen nur reiche Menschen. Sobald sie an ihren Vater dachte, dachte sie an ihre Mutter. Ihre Mutter, die nun tot war. Gestorben, weil die Fürstin sich geweigert hatte, einen Arzt zu holen. Und sobald sie daran dachte, gab es nur noch eins, worum ihre Gedanken die restlichen Stunden des Tages kreisten – Rache!

Nur allzu gerne würde sie der Fürstin und dem Fürsten diesen Schmerz und diesen Verlust mit gleicher Münze heimzahlen. Doch je länger sie über einem möglichen Gegenschlag brütete, desto deutlicher wurde ihr bewusst, wie machtlos sie war. Sie war so unwichtig, dass sie praktisch nichts tun konnte, was die Aufmerksamkeit des Fürstenpaares mehr als fünf Minuten erregte. Selbst wenn sie beispielsweise eine kostbare Vase umgeworfen hätte, hätte sie nicht einmal mehr mitbekommen, ob und wie sehr sich die Fürstin ärgerte. Sie wäre einfach hinausgeworfen worden. Bei kleineren Unfällen würde ihr lediglich etwas vom Lohn abgezogen. Sie war nur geduldet im luxuriösen Leben der anderen. Sie besaß den Wecker ja auch nicht. Er stand nur auf ihrem Nachttisch, weil sie die Erste war, die im Schloss aufstehen musste. Ihre Rachegedanken hatten sich wie Flöhe bei ihr eingenistet und juckten sie den ganzen Tag über. Sie waren so stark, dass sie sogar ihre romantischen Tagträume von Viktor Novak, dem ersten Diener, verdrängten.

Kaum eine Viertelstunde nach dem Aufstehen schleppte Adelheid den Blecheimer, die Kehrschaufel mit Besen, Zeitungspapier und den Korb mit den kleineren Holzscheiten in den Salon, in dem die Familienessen stattfanden. Auch Liesel, das Küchenmädchen, war schon zugange und polierte wie jeden Morgen den kalten Herd, der am Abend zuvor mit Scheuersand geschrubbt und mit Eisenschwärze eingerieben worden war. Danach würde sie ihn anfeuern und alles für das Frühstück der Dienstboten vorbereiten. Alle anderen schliefen noch.

Sie selbst würde nun die Kamine in den herrschaftlichen Salons säubern und zum Anfeuern vorbereiten. Vom Herbst bis zum späten Frühjahr musste sie die Feuer direkt anfachen. Aber bei einer Wetterlage wie jetzt wurde es von Tag zu Tag entschieden. Bis in den Juni sitze noch die Kälte des Frühlings in den Mauern, hatte Hedda ihr gestern erklärt. Die letzten zwei Wochen war es zwar schon so warm gewesen, dass einzelne Kamine erst am Abend angemacht worden waren. Doch wann sie heute entzündet wurden, würde die Mamsell entscheiden, sobald sie runterkam. Bis die Herrschaften hier unten wären, war immer noch genug Zeit, damit ein Feuer den Raum mit behaglicher Wärme durchströmte.

Sobald die Standuhr im Vestibül sechs schlug, musste Adelheid nach oben und die anderen Frauen wecken. Dann würde sie hier weitermachen, bis es Essen gab. Nach dem Frühstück der Dienstboten waren die ersten Herrschaften wach, und sie musste sich um die Abortpfannen kümmern. Mittlerweile hatte Adelheid einen regelrechten Hass auf diese Porzellanschüsseln entwickelt. Wie konnte es sein, dass sie den Dreck dieser Leute wegmachen musste, die sich selbst einen Dreck um ein Menschenleben scherten?

Rache, dieses Gefühl hatte Adelheid fest im Griff. Sie konnte an nichts anderes mehr denken. Es war, als hätte sich ein Bilderrahmen vor die Welt geschoben, und sie betrachtete nun alles und jeden auf dem Schloss durch diesen Rahmen. All der Glanz und die Pracht und Herrlichkeit – alles so falsch. Ihre angebliche Gnade und Christlichkeit – alles so verlogen.

Der Tierarzt war letzte Woche zwei Mal aufs Schloss gekommen, weil eins der Pferde an einer Kolik litt. Für die Tiere des Guts war kein Aufwand zu groß. Moritz, der Hausbursche, brachte jeden Tag Essensreste zum Schweinestall. Jedes Mal, wenn Adelheid es sah, traf es sie in ihren Eingeweiden. Das gute Essen, häufig Kartoffelschalen, manchmal etwas nicht mehr ganz knackiger Kohl, selten trockenes Brot – alles wurde den Schweinen zum Fraß vorgeworfen. Nichts von alledem hätten ihre Geschwister verschmäht. Sie hätten sich darum gerissen. Pferde und Schweine und all das andere Getier wurden von der Fürstenfamilie als wertvoll angesehen. Wertvoller als das Leben ihrer Mutter.

Als Adelheid mit dem Kamin im Frühstückssalon fertig war, ging sie rüber in die Bibliothek. Sie stellte den Blecheimer und das andere Zeug an die Seite, griff nach dem Funkenschutz aus Metall und stellte ihn zur Seite. Mit Kehrblech und Bürste lehnte sie sich vor, um die kalte Asche aufzufegen.

Sie trug die dunkle Kaminschürze, die dreckig werden durfte. Später würde sie diese gegen den Frühkittel austauschen, den sie trug, wenn sie die Abortpfannen säuberte. Erst danach würde sie ihre richtige Arbeitsschürze anziehen. In ihren ersten Wochen als Hausmädchen hatte sie es bemerkenswert gefunden, dass sie mehr unterschiedliche Schürzen gestellt bekam, als sie vorher an Kleidung besessen hatte. Damals hatte sie sich noch über all das gefreut.

Doch nun war es ihr bitter geworden. Bitter und schal. Ihre Mutter war vor vier Wochen gestorben, wenige Stunden, nachdem sie noch ein Mädchen geboren hatte. Am liebsten wäre Adelheid gegangen. Weggegangen, wieder zurück zu ihrer Familie. Edeltraud kam mit ihren neuen Aufgaben nicht zurecht. Statt in die Schule zu gehen, musste sich die jüngere Schwester nun um das mutterlose Baby und den Haushalt kümmern. Dabei wäre schon eine der beiden Aufgaben fordernd genug gewesen. Als Adelheid nach der Beerdigung ihre Familie besucht hatte, herrschte Chaos. Sie musste Edeltraud Dinge erklären, die sie nicht wusste oder noch nie selbst erledigt hatte. Am liebsten wäre Adelheid gleich dortgeblieben, um für die Geschwister zu sorgen. Wenn sie es sich doch nur leisten könnte, im Schloss aufzuhören. Doch daran war nicht zu denken.

Deshalb erledigte sie ihre Arbeit so gewissenhaft wie zuvor. Adelheid häufte die angekokelten Holzstücke, die nicht ganz verbrannt waren, in der Mitte des Kamins aufeinander. Vorsichtig, sodass kein Dreck aufgewirbelt wurde. Zwar würden sie und Gerda Altvater noch vor dem Eintreffen der Herrschaften hier unten durchfegen, eventuell sogar feucht wischen, aber sie musste ja keinen unnützen Schmutz auf den Steinplatten verteilen. Als Nächstes beugte sie sich über die kalte Glut und fegte langsam, aber kräftig das, was das Feuer hinterlassen hatte, nach vorne. Die erste Blechschaufel Asche ging in den Eimer. Sie fegte weiter und hörte ein anderes Geräusch, wie ein leises Schleifen, wenn man Papier über einen Steinboden schob.

Was war das? Tatsächlich hing ein Stück Papier unter dem Besen. Adelheid griff danach und schüttelte Aschereste ab. Es war ein Briefumschlag. Nun erkannte sie in der Asche noch mehr Papierreste. Ein kleines Stück, auf dem nur noch eine angekokelte Briefmarke zu sehen war, hatte die Flammen überlebt. Jetzt, da sie genauer hinsah, erkannte sie überall kleine Reste von Briefen und Umschlägen, von denen aber nichts größer war als ein altes Dreimarkstück. Jemand hatte gestern Abend wohl etliche Papierstücke den Flammen überantwortet. Nur der eine Brief, den sie in Händen hielt, war in Gänze erhalten geblieben, etwas braun an den Rändern. Adressiert war der Brief an den Fürsten. Vermutlich hatte er ihn ins Feuer geworfen, und das Papierstück war neben die Flammen gefallen.

Der Fürst war gestern Abend in der Bibliothek gewesen. Adelheid wusste das, weil sie mitbekommen hatte, dass er sich spätabends von Viktor Novak noch einen Portwein hatte bringen lassen. Warum hatte der Fürst alte Briefe verbrannt? Er war jemand, der außerordentlich viele Briefe schrieb und bald genauso viele bekam. Durch Gespräche der männlichen Diener wusste sie sogar, dass er manchmal Briefe, die er verschickte, kopieren ließ, um sie zu archivieren. Und nun hatte er etliche dem Feuer übergeben. Warum?

Die Uhr im Vestibül erklang mit einem sonoren Schlagen. Bevor sie zum sechsten Mal geschlagen hatte, war der Brief bereits in der Tasche ihres Kittels verschwunden. Adelheid stand auf, ließ alles liegen und ging schnell runter zum Händewaschen. Sie musste nun oben an den Schlafkammern der anderen Frauen klopfen.

***

Die ganze Zeit über war ihr fast schwindelig gewesen bei der Vorstellung, jemand könnte entdecken, dass sie den Brief an sich genommen hatte. Stundenlang hatte Adelheid den Brief mit sich herumgetragen – zunächst in der Tasche der Kaminschürze, dann in der Tasche des Frühkittels und zum Schluss in der Tasche ihrer normalen Hausmädchenschürze. Erst am späten Vormittag hatte sie Zeit gefunden, das Papier eilig in das Leinen ihres Kopfkissens zu stopfen.

Den ganzen Tag über war sie gespannt, was ihr der Brief offerieren würde. Vielleicht nichts, was für sie von Wert sein könnte. Vielleicht die Besprechung einer Opernaufführung. Oder die Erzählung eines Besuches an einem der Fürstenhöfe. Oder es war einer der Bittbriefe, die der Fürst angeblich so hasste. Als bester Freund des Kaisers bekam er jede Menge solcher Bittbriefe, deren Adressaten ihn baten, eine bestimmte Sache dem Kaiser zur Kenntnis zu bringen. Adelheid ahnte, dass es nicht so ein Brief war. Unwichtige Briefe konnte man einfach in den Papierkorb werfen. Man musste sie nicht verbrennen.

Jetzt hatte sie endlich Feierabend, und sie saß wie auf glühenden Kohlen. Die Tür einen Spalt geöffnet, wartete sie darauf, dass Lydia Keller endlich die Badestube der Dienstbotinnen freigab. Lydia besaß einen boshaften, gehässigen Charakter. Sie genoss es, wenn die anderen warten mussten. Hedda, ihre Stubengenossin und Freundin, war schon fertig, lag im Bett und las einen Brief vor, den sie heute von ihren Brüdern aus der Kolonie Deutsch-Südwestafrika erhalten hatte. Diese äußerten sich begeistert darüber, dass die Regierung nun endlich ein Kolonialministerium einrichtete.

Endlich sah sie Lydia auf dem Flur. Schnell eilte sie rüber in die Badestube, bevor Gerda Altvater sie blockieren würde, und schloss ab. Neben der Waschschüssel war Wasser verschüttet worden. Auch das machte Lydia mit Absicht. Sie hätte nun Mamsell Reineke rufen müssen, damit Lydia selbst aufwischte. Aber natürlich tat sie das nicht. Wenn sie es aber so ließ, und das nächste Mädchen rief dann die Mamsell, blieb alles an ihr hängen. Lydia fütterte Adelheids Hass gegen sie fast täglich.

Sie zog einen kleinen Schemel unter die elektrische Glühbirne. Dann holte sie den Umschlag hervor, den sie zwischen ihrem zusammengefalteten Nachthemd versteckt hatte.

Das Umschlagpapier fühlte sich spröde an, so, als könnte es jeden Moment zu Staub zerfallen. Vorsichtig faltete Adelheid den Brief auseinander. Genau in der Mitte des Papiers lag die braune Stelle, die Ecke, die dem Feuer vermutlich am nächsten gewesen war. Doch das Papier war dick und hatte das Feuer überstanden. Es war gutes Papier, Büttenpapier. Ihr Blick flog über die Zeilen.

Meine liebste Philine, …

Meine liebste Philine – welche Dame war damit gemeint? Die Fürstin hieß Augusta. Die Komtessen konnten nicht gemeint sein – Alexandrine, Augusta und Viktoria. Von all den herrschaftlichen Namen passte zu Philine nur Fürst Philipp zu Eulenburg – ein Mann. Aber wieso sollte jemand den Fürsten wie eine Frau anreden? Das wäre gänzlich unangebracht. Und doch lag es nahe, dass es ein Brief aus der fürstlichen Korrespondenz war. Vielleicht ein missratener Scherz? Doch dem weiteren Inhalt nach zu urteilen, kannten sich der Absender und der Adressat äußerst gut.

… deine köstliche Beschreibung in deinem letzten Brief hat mein Blut in Wallung gebracht. Nur zu gerne wäre ich mit auf eurem Boot gewesen, auf dem Starnberger See mit dem frivolen und willigen Jakob Ernst. Der Fischer mit den schnellen Händen und der geschickten Zunge. Wie sehr beneide ich dich um das Vergnügen. Deine Erzählungen lassen mein Herz klopfen und meine Hose prall werden …

Herrje, was war das denn?! Adelheid schoss die Röte ins Gesicht. Fast hätte sie den Brief fallen gelassen, so heiß brannten die verräterischen Zeilen zwischen ihren Fingern. Sie musste tief durchatmen. Egal, was sonst noch dort geschrieben war – das war mehr als deutlich.

Ich kann es gar nicht sagen, wie sehr ich mich nach dir verzehre. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, dann musst du mir genau zeigen, wie der Fischer das gemacht hat. Ich …

Um Himmels willen, wollte sie wirklich noch mehr von den Schmutzereien lesen? Adelheids Blick lief ans Ende des Briefes. DeinTütü, stand dort nur. Tütü? Das war doch ein Ballettröckchen. Dann hatte es vermutlich eine Frau geschrieben. Aber müsste es dann nicht heißen Deine Tütü?Lässt meine Hose prall werden …

Zudem – irgendein Fischer hatte eine geschickte Zunge. Ein Fischer vom Starnberger See, wo die Familie ein Feriendomizil hatte. Was bedeutete das? Dass er gut reden konnte? Ein Fischer? Wie auch immer erklärte es, was ihr Vater angedeutet hatte – dass der Fürst sich zu Männern hingezogen fühlte. Dann erklärte es vielleicht auch, warum Adelheid den Fürsten frühmorgens aus dem Zimmer eines fremden Mannes hatte kommen sehen. Wenn sie das nun in Verbindung brachte mit dem, was Hedda ihr vor wenigen Tagen im Geheimen erzählt hatte, dann war klar, weswegen der Fürst diesen Brief hatte verbrennen wollen. Plötzlich war sie sich sicher, dass der Brief von einem Mann war – an einen Mann. An den Fürsten! Der ihn hatte vernichten wollen, aus gutem Grund.

Schließlich hatte er sich selbst angezeigt, gerade erst vor wenigen Tagen, um sich von jedem Verdacht reinzuwaschen. Ein Journalist aus Berlin hatte den Fürsten und einen guten Freund – und zwar genau jenen Mann, aus dessen Schlafzimmer Adelheid den Fürsten hatte kommen sehen – unzüchtiger Dinge bezichtigt. Sie seien homosexuell. Ein Umstand, dessen Ausübung strafbar war. Der Umstand, dass der Fürst einer der besten Freunde des Kaisers war und zudem Hausherr der sogenannten Liebenberger Tafelrunde, einer Gruppe angeblich ebenfalls homosexueller Männer aus Politik, Diplomatie und Militär, verlieh der ganzen Sache ungeahnte Brisanz. Der deutsche Kaiser, umringt von Beratern, die alle, wie es hieß, widernatürlich veranlagt waren, nicht auszudenken! Der engste Kreis des Kaisers – manipulierbar und erpressbar!

Schlagartig wurde ihr klar, dass sie ein Vermögen in Händen hielt. Unfassbar. Der Brief konnte etwas ganz Ungehöriges beweisen. Mit diesem Brief könnte sie den Fürsten, und damit auch die Fürstin und seine ganze vermaledeite Familie, ins Unglück stürzen. Auf dem Hocker sitzend, lief ihr Blick hoch zum warmen Licht der elektrischen Glühbirne. Sie blinzelte, aber sonnte sich in dem goldgelben Licht. Wie flüssiges Glück lief es über ihren Körper. Dieser Brief versprach ihr das Maß an Rache, nach dem es sie verlangte.

Mitte Juni 1907

Hedda huschte über den Flur. Bloß jetzt nicht den Fürsten stören. Er lag noch immer im Bett, wie so häufig in letzter Zeit. Bisher hatte Hedda nicht gewusst, was eigentlich los war. Warum er sich immer öfter und immer länger ins Bett zurückzog. Und warum der Doktor immer häufiger erscheinen musste. Nun endlich wusste sie es. Es ging nicht einfach nur um eine politische Unwegsamkeit, um den altbekannten Vorwurf der Kamarilla, der Geheimregierung, der seit Jahren immer mal wieder ertönte. Nein, Viktor Novak hatte ihr Sachen erzählt, die sie kaum glauben mochte. Und doch erklärten sie den Aufruhr der letzten Monate.

Wenn Novaks Erklärungen stimmten – und vieles sprach dafür –, dann war es kein Wunder, dass der Fürst sich quälte, als wäre er in den siebten Höllenkreis verbannt. Die ungeheuren, und nun in aller Öffentlichkeit ausgebreiteten Vorwürfe peitschten auf seine Seele ein. Ein Martyrium, aus dem er sich anscheinend nicht zu befreien wusste, wie Novak ihr mit belegter Stimme erklärt hatte. Welche Konsequenzen hätte das für ihr Haus, für die Dienerschaft? Diese Überlegung machte selbst Hedda nervös.

Die Fürstin war schon wach und in der Schlafkammer ihres Mannes. Offensichtlich redete sie ihm gut zu. Leise lief Hedda rüber ins Schlafgemach der Dame, öffnete die Fenster, legte jeweils ein Laken auf die Fensterbretter und griff sich das Kissen. Sie schlug es kräftig aus, bevor sie es zum Lüften auf die Fensterbank legte. Das Gleiche machte sie mit dem Federbett. Sie erledigte ihre Aufgaben so routiniert, dass ihr Zeit für eigene Gedanken blieb.

Gestern hatte der Kronleuchter im großen Salon seinen Dienst versagt. Er hatte kurz geflackert, dann gingen alle Lichter aus. Die Familie saß plötzlich im Dunkeln. Man hatte jemanden aus Oranienburg bestellt, der hoffentlich heute kommen und alles reparieren würde. Irgendwie erschien es Hedda passend. Sie konnte es gar nicht so genau sagen, seit wann diese beklemmende, düstere Atmosphäre das Schloss im Würgegriff hatte. Schon letztes Jahr im Mai waren die ersten dunklen Gewitterwolken aufgezogen. Nach ein paar Wochen hatten sie sich aufgelöst, vorerst. Dann, im letzten November, hatte sich die quälende Atmosphäre wieder über das Schloss gelegt, und zwei Wochen vor Weihnachten war die Familie fluchtartig abgereist. Und als sie im Januar wiedergekommen waren, war die Aufregung groß gewesen. Eine Tochter, Augusta, hatte heimlich und unerlaubt den bürgerlichen Sekretär des Fürsten geheiratet. Einmal noch war Augusta mit ihrem Mann hier aufgetaucht, aber nun waren sie nicht mehr gerne gesehen.

In diesem Frühjahr schien es, als würde sich endlich wieder alles beruhigen. Als könnte es bald wieder wie früher werden, als sie jede Menge Besuch empfangen und große Diners ausgerichtet hatten. Doch plötzlich, schon zu Anfang April, war man wie von der Welt abgeschnitten gewesen. Seitdem war nichts mehr so wie vorher. Die Gewitterwolken waren zurück, größer als je zuvor. Eine beklemmende Stimmung lag auf den Herrschaften und sickerte wie warm gewordenes Pech in die Dienstbotenetage. Lange hatte Hedda nicht verstanden, was die Ursache dafür war. Bis Viktor Novak ihr vor wenigen Tagen endlich die Erklärung dazu geliefert hatte: Ihr Fürst und einige der Männer, die hier ins Schloss zu Besuch kamen, wurden beschuldigt, eine ungesunde Vita sexualis zu haben. Was nichts anderes bedeutete, als dass sie sich für Männer interessierten. Was natürlich totaler Kokolores war. Eine lachhafte Anschuldigung, und doch …

So, wie Viktor Novak es ihr erklärt hatte, ging die ganze Geschichte weit über eine moralische Empörung hinaus. Es schien eine gewisse politische Brisanz mitzuschwingen. Novak wurde nicht recht schlau aus dem Verhalten des Fürsten, wie er sagte. Und ihr ging es nicht anders.

Fürst zu Eulenburg war seit über zwanzig Jahren der beste Freund des Kaisers. Wann immer er in Berlin war, frühstückte oder dinierte er mit dem Kaiser. Er besaß immensen politischen Einfluss, ohne eine politische Stellung innezuhaben. Das gefiel nicht allen. Aber das war ja schon seit über zwanzig Jahren so. Was war nun anders als früher? War etwas vorgefallen? War es ausgelöst durch die nicht standesgemäße Hochzeit der Tochter? Oder was war die Ursache? Der Fürst stand – so hatte Novak es ihr erklärt – im Mittelpunkt einer Hexenjagd. Und wehrte sich nicht. Das allein schon war in höchstem Maße beunruhigend.

Für Hedda kam hinzu, dass es ihr an Gelegenheiten für ihre kleinen Gaunereien mangelte. Nur noch selten kam Besuch. Der Doktor, der beinahe jeden zweiten Tag hier aufkreuzte, zählte nicht. Die Komtessen gingen seltener aus. Also gab es weder Manteltaschen der Besucher noch gefüllte Samtbeutel der jungen Damen, in denen sie nach schimmernden Münzen fischen konnte. Sie hoffte sehr darauf, dass sich alles ganz bald wieder normalisierte.

Lange Zeit hatte sie sich hier wohlgefühlt. Doch nun, mit all dem Wissen um das, was vor sich ging, war sie verunsichert. Außerdem fragte sie sich, wie lange sie sich noch gegen Oswald Opitz wehren konnte. In den letzten Wochen hatte sie den heimlichen hinterhältigen Blick des Butlers immer wieder bemerkt. Dass sie nun mit Adelheid auf einem Zimmer schlief, würde sie nicht ewig vor seinen Übergriffen schützen.

Hedda hatte das Bettzeug der Fürstin zum Lüften rausgelegt und ging rüber in das Zimmer der ältesten Komtess. Das Bett sah noch genauso aus, wie Komtess Alexandrine es verlassen hatte. Eigentlich hätte Lydia Keller sich darum bereits kümmern müssen. Hedda ging über den Flur und öffnete ganz leise die Tür zum Schlafgemach der Komtess Viktoria. Auch dieses Zimmer war leer, und das Bettzeug lag noch wild verteilt auf der Matratze. Auf Zehenspitzen huschte sie zum Ankleidezimmer. Ganz, wie sie es sich gedacht hatte. Lydia stand vor einem großen Standspiegel, hatte sich ein Kleid vorne über den Körper gelegt und probierte einen passenden Hut dazu.

»Fräulein Keller, wieso sind die Federbetten noch nicht ausgelüftet?«

Lydia erschrak. Eilig riss sie sich den Hut von ihren aschblonden Haaren und das Kleid vom Körper. »Ich … ähm …« Sie lächelte Hedda zuckersüß an. »Das nennt man wohl erwischt. … Aber so was machen Sie doch bestimmt auch gelegentlich?«, fragte sie in einem freundschaftlich verschwörerischen Ton.

Hedda wusste, was sie von diesem Ton, vor allem aus Lydias Mund, zu halten hatte. »Dazu habe ich keine Zeit. Und Sie auch nicht«, sagte sie schroff.

»Ich hatte das Kleid auch nur genommen, weil hier ein großer Fleck drauf ist. Sehen Sie?« Sie hielt Hedda das Kleid hin.

»Das ist … ich glaube, es ist Fett. Wissen Sie, wie man Fettflecken entfernt?«

Lydia Keller nickte.

»Gut. Dann nehmen Sie das Kleid später mit runter und machen Sie den Fleck weg. Und jetzt lüften Sie die Betten. Ich gehe runter und helfe Fräulein Petzold.«

Noch eine, die weniger arbeitete als sie. Auch Martha drückte sich gerne vor den unangenehmen Aufgaben. Wenn das so weiterging, würde es bald ein Donnerwetter der Mamsell geben. Andererseits, Mamsell Reineke war im Moment schwer beschäftigt. Seit man Fräulein Maiwald, die Gouvernante der Fürstentöchter, rausgeschmissen hatte, musste sie sich häufig um die Komtessen kümmern. Natürlich konnte sie nicht mit ihnen im Salon Tee trinken, aber ständig wurde sie wegen diesem oder jenem gefragt. Hedda hatte schon bemerkt, dass ihr bestimmte Nachlässigkeiten nicht mehr auffielen.

Anscheinend ging alles den Bach runter. Auch bei den Männern. Der strenge Opitz schien sich auf Viktor Novak eingeschossen zu haben. Plötzlich konnte der erste Diener ihm nichts mehr recht machen. Ständig rügte er Novak, gab ihm Strafarbeit oder die unliebsamen Aufgaben. Andererseits fragte der Fürst nun oft ausdrücklich nach Novak für Tätigkeiten, die er vorher Opitz aufgegeben hatte. Was dieser mit noch mehr Nickeligkeiten quittierte.

Überall schien es schlechter zu laufen als noch vor einem halben Jahr. Der Kammerdiener musste nun noch zusätzliche Aufgaben übernehmen, die vorher der Privatsekretär erledigt hatte. Anscheinend wollte der Fürst in dieser Situation keinen neuen Mitarbeiter einstellen. Andererseits hatte der Kammerdiener ohnehin mehr Zeit, da er keine Reisen mehr für den Fürsten organisieren musste.

Die Kammerzofe der Fürstin dagegen musste sich nun als Gesellschafterin für die beiden Komtessen beweisen. Ein Umstand, der ihr zu schaffen machte. Wenngleich die Fürstin weniger reiste und weniger Besuch empfing, musste Fräulein Grooten sich zwischen all den zusätzlichen Aufgaben zerreißen. Sie war eine ältere Frau, bestimmt schon Mitte fünfzig, und befand, einige der Aufgaben lägen außerhalb ihres Aufgabengebietes. Es hatte bereits Diskussionen darüber gegeben, dass sie jeden Morgen mit Komtess Viktoria ausreiten sollte. Zwei Mal war die Komtess mit ihr ausgeritten, dann hatte sie sich geweigert, die Kammerzofe mitzunehmen. Sie sei zu langsam, und überhaupt wolle sie ja gar nicht reiten. Was stimmte. Fräulein Grooten machte auf dem Pferd eine urkomische Figur. Hedda hatte sie mal aus dem Fenster beobachtet.

Also sollte Komtess Alexandrine ihre jüngere Schwester Viktoria begleiten. Aber auch die konnte Fräulein Maiwald nicht ersetzen. Alexandrine stand nicht gerne früh auf. Und überhaupt, frühmorgens als Erstes auszureiten, danach stand ihr nicht der Sinn. Also waren auch die Komtessen schlecht gelaunt. Wenn man jemanden lächeln sehen wollte, musste man dieser Tage schon das Schloss verlassen.

Natürlich, Wolfram Neumann, einer der Stallburschen, lächelte ihr immer noch zu, wenn sie sich zufällig hinten bei den Wirtschaftsgebäuden sahen. Keine Ahnung, was er sich davon versprach. Er hatte sie bedrängt, und sie war dafür abgestraft worden. Er sollte sich nicht einbilden, dass sie ihm verzeihen würde. Die von den Pferden verschmähten Pralinen durfte er gerne selbst essen.

Gedankenverloren ging Hedda runter in die unterste Etage. Sie wollte in die Stiefelstube. Im Vorbeigehen sah sie noch, wie Opitz die Tür der Waschküche hinter sich schloss. Adelheid hatte dort am Wasserhahn gestanden und füllte ihren Putzeimer. Die Arme, sie putzte den lieben langen Tag. Kaum eine Stunde verging, in der sie sich nicht die Hände nass machte. Aber das hatten sie alle durchgemacht. Es war etwas anderes, das Hedda irritierte: Was machte Opitz in der Waschküche?

Sie blieb kurz stehen und sah sich um. Auf dem Flur war niemand. Sie horchte. Die Stimmen waren kaum durch die geschlossene Tür zu hören. Die arme Adelheid. Wie würde sie reagieren? Sie, die sich noch viel weniger wert vorkam als alle anderen. Würde sie Opitz einfach das machen lassen, was er wollte? Oder würde sie sich wehren? Hedda konnte sich das kaum vorstellen. So gewitzt und clever die Kleine war, so beeindruckt und eingeschüchtert war sie immer noch von allem und allen. Nein, sie war ein gehorsames Mädchen. Viel zu gehorsam.

Mit pochendem Herzen, aber entschlossen, riss sie die Tür auf. »Hallo.«

O ja. Opitz stand verdächtig nah an dem Hausmädchen, das ungewöhnlich rot im Gesicht war. Hedda ging zu dem Regal, auf dem die alten Lappen gesammelt wurden, und nahm sich einen, als hätte sie genau das vorgehabt.

»Ach, Adelheid. Du sollst bitte sofort zur Mamsell kommen.«

»Was will sie denn?«, blaffte Opitz sie an.

Hedda zog die Schultern hoch. »Ich glaube, es geht um die Fenster im Speisesalon.« Am liebsten wäre sie nun hinausgeschossen und weggerannt. Aber sie blieb stehen und schaute Adelheid auffordernd an. Die ließ es sich nicht zweimal sagen, stellte den Putzeimer beiseite und ging gemeinsam mit ihr hinaus. Hedda zog sie um die Ecke und legte ihren Zeigefinger vor den Mund.

»Sag nichts. Die Mamsell hat nicht nach dir gefragt. Ich wollte dich nur aus Opitz’ Klauen retten.«

»Er hat …«, Adelheid schaute verschämt auf den Boden.

»Ich weiß. Lass uns heute Abend darüber sprechen«, flüsterte sie. Dann schaute sie um die Ecke. Opitz ging nach vorne.

»Die Luft ist rein. Schau, dass du schnell nach oben kommst, zu Gerda.«

»Danke!« Adelheid nickte mit ihrem goldblonden Schopf und ging.

Hedda wusste nicht, ob Opitz das geschluckt hatte. Wenn er mitbekam, dass das eine Finte gewesen war, würde er sich an ihr rächen. Es war dumm, Adelheid zu helfen. Andererseits konnte Opitz das, was er tat, doch nur genau deswegen ungestört tun – weil sie sich nicht gegenseitig deckten und halfen.

Sie lief zur Stiefelstube. Martha Petzold war dabei, die Schnürstiefel der Komtessen zu putzen. Eine Arbeit, die alle gerne machten, weil man währenddessen sitzen konnte.

»Ich habe die Schuhwichse schon angerührt. Hier, bedien dich.«

Für braunes Leder rührte man Olivenöl, Essig und Rübensirup zusammen. Im Herbst und Winter kam immer noch etwas Wachs dazu, damit die Nässe nicht eindringen konnte. Waren die Schuhe schwarz, nahm man statt des Sirups entweder fettiges Lampenruß oder Beinschwarz – Kohle aus verbrannten Tierknochen.

Die Mamsell hatte Herrn Opitz letztens vorgeschlagen, man solle doch auf fertige Schuhcreme ausweichen, die es neuerdings zu kaufen gab. Aber davon wollte er nichts wissen. Erstens fetteten die das Leder zwar, aber färbten abgeriebene Stellen nicht wieder ein, so sagte er. Und zweitens, und das hatte er über den ganzen Flur gedröhnt, sei er es leid, dass alle versuchten, es sich so einfach und so bequem wie möglich zu machen. Fertig gekaufte Schuhcreme – das komme ihm nicht ins Haus. Die Dienerschaft solle auch für ihr Geld arbeiten, und nicht nur faulenzen. Punktum.

Faulenzen, als kämen sie hier je zum Faulenzen. Hedda zog sich eine Schürze mit langen Ärmeln über, die ihre weiße Schürze komplett bedeckte. Ihr Herz pochte noch immer. »Lydia hat wieder Komtess gespielt.«

Martha Petzold lächelte. »Na ja, das haben wir doch alle mal gemacht.«

Die Sache mit dem Seidenpapier auf der Treppe hatte Martha dem untersten Stubenmädchen längst vergeben. Kein Wunder. Drei Tage hatte sie mit ihrem geprellten Knie nicht auftreten können und durfte in der Leutestube sitzen und Kleidung ausbessern. Hedda dagegen hatte zwar einen riesigen blauen Fleck an der Hüfte gehabt, aber trotzdem für Martha mitarbeiten müssen. Noch immer war Hedda der Ansicht, dass die Geschichte mit dem verlorenen Seidenpapier auf den Steinstufen von Lydia Keller beabsichtigt gewesen war. Als hätten sie hier nicht schon genug Probleme.

Martha polierte die Reitstiefel der jüngsten Komtess. Hedda warf ihr einen Seitenblick zu. Vergriff Opitz sich auch an ihr? Martha war dürr und wenig lieblich anzusehen. Aber das war die Mamsell schließlich ebenfalls, und an ihr vergriff Opitz sich auch. Was war mit Lydia und Gerda? Mit den Frauen aus der Küche? Versuchte er es letztendlich bei allen? Sollte sie Martha darauf ansprechen, was sie gerade gesehen hatte? Sie kamen ganz gut miteinander aus. Doch obwohl sie schon so lange zusammenarbeiteten, war ihr Verhältnis nicht freundschaftlich. Es war nicht so wie mit Adelheid.

Hedda entschied sich dagegen. Sie würde Martha sonst verraten, dass er es schon bei ihr versucht hatte. Was letztlich einer ungehörigen Anklage gleichkam, die sie nicht beweisen konnte. Nicht auszudenken, Martha würde gegenüber jemand Falschem ein Wort darüber verlieren. Nein, bei ihr war sie sich nicht sicher, was sie erzählen konnte. Also erzählte sie lieber gar nichts.

Wütend verteilte sie die Schuhwichse mit einem Lappen auf einem Paar Sommerschuhe der ältesten Komtess. Opitz und seine Kartei der Verfehlungen. So hatte es die Mamsell genannt, als Hedda an der Tür gelauscht hatte. Was sollte sie sich darunter vorstellen? Eine Sammlung von Sünden und Fehlern und Vergehen der Dienstboten? Liebend gern hätte Hedda eine eigene Kartei nur für seine Verfehlungen angelegt. Am liebsten würde sie den Dreckskerl über die Klinge springen lassen. Nur wie? Sie hatte keine Ahnung.

Nachdem sie die Schuhe überall eingeschmiert hatte, griff sie sich eine weiche Bürste und fing an, das Leder auf Hochglanz zu polieren. Nein, mit Martha durfte sie nicht rechnen. Aber was, wenn sie sich mit Adelheid zusammentat? Möglicherweise sogar mit Adelheid und Viktor Novak?

Adelheid hatte ganz sicher nichts dagegen, sich mit Novak zu verschwören. Viktor Novak sah gut aus und hatte hervorragende Manieren. Aber für Heddas Geschmack war er zu einsilbig, und er schien etwas gegen Spaß jeglicher Art zu haben. Sie wusste nicht, ob sie ihn jemals hatte lachen sehen. Na ja, ganz so schlimm war es nicht, aber fast. Er schien immer in sich gekehrt, war aber dennoch sehr aufmerksam. Wusste sich auszudrücken, hielt aber meistens den Mund. Wurde von den jungen Damen hier angeschwärmt, schien aber nicht das geringste Interesse daran zu haben. Hätte sie gehört, dass es Novak sei, der nicht am weiblichen Geschlecht interessiert sei, hätte sie das sofort geglaubt. Wobei, er schien eher an gar niemandem interessiert zu sein.

Sie war überrascht, dass es zu dieser denkwürdigen Begegnung mit ihm gekommen war, bei der er ihr Dinge erzählt hatte, die man besser nicht aussprach, wenn man an seiner Stellung interessiert war. Vermutlich hatte er das auch nur getan, weil sie ihm zuvor von Dingen erzählt hatte, die man hier im Schloss ebenfalls besser nicht laut aussprach.

Das war riskant. Schließlich musste sie noch einige Jahre hier arbeiten, um das Geld für Amerika zusammenzusparen. Sie wollte nirgends anders anfangen. Sie wusste doch bereits, dass das Gras auf der anderen Seite des Zauns nicht grüner war. Natürlich, es herrschte Dienstbotenmangel. Trotzdem war es kaum wahrscheinlich, dass sie eine neue Stelle in einem gleich großen Haushalt fand. Eher würde sie nur irgendwo als Hausmädchen landen, wo sie wieder putzen und schrubben und Nachttöpfe reinigen durfte. Nein. Darauf hatte sie wirklich keine Lust mehr. Besser, sie versuchte hier, ihre Situation zu verändern.

Was, wenn sie sich zu dritt zusammentaten? Ob sie dann mehr gegen Opitz ausrichten konnten? Adelheid wusste spätestens jetzt, was sie erwartete. Und Novak … So, wie Opitz sich im Moment ihm gegenüber verhielt, sollte es doch wohl möglich sein, ihn mit ins Boot zu holen.

Ins Boot holen, wofür eigentlich, dachte Hedda. Ihr kam nur eine Sache in den Kopf: Natürlich, um Opitz die Kartei der Verfehlungen abspenstig zu machen und ihn schachmatt zu setzen.

13. Juni 1907

Constanze half Ruth Mandelbaum auf den Bahnsteig. Sie kamen gerade aus der Stadt zurück. Der Besuch des Deutschen Kolonialhauses in Berlin Tiergarten hatte die alte Dame doch arg strapaziert. Dort hatten sie eingekauft und einen früheren Geschäftspartner ihres Mannes besucht. Die Verbindung reichte zurück bis in die Zeit, als Herr Mandelbaum bei deutschen Pflanzern und Händlern, die sich an fremden Gestaden niedergelassen hatten, Kolonialwaren ankaufte und mit gutem Gewinn weiterverkaufte. Das war schon in der Zeit gewesen, als Deutschland noch gar keine eigenen Kolonien gehabt hatte.

Heute war das anders. Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika, Kamerun und Togo waren die wichtigsten Kolonien in Afrika. In Asien und Ozeanien gab es Kaiser-Wilhelm-Land, Dutzende größere und kleinere Inseln und natürlich die Vorzeige-Kolonie Deutsch-Samoa – die einzige Kolonie, die wirklich Gewinn abwarf, zumal für das Deutsche Kaiserreich. Die Händler aber machten alle Profit, damals wie heute. Und Ruth Mandelbaums verstorbener Mann war einer von ihnen gewesen.

Constanze hatte sich gar nicht sattsehen können. Schon das prächtige Haus selbst, erst vor wenigen Jahren erbaut, war eine echte Sensation. Koloniale Motive wie steinerne Elefanten, Löwen und afrikanische Krieger schmückten die hohe Fassade. Doch das war nichts gegen den Anblick, der sich ihr drinnen geboten hatte. Die schier nicht enden wollenden Verkaufsauslagen waren bunt, exotisch, fremdartig und manchmal geradezu wild.

Frau Mandelbaum hatte Constanze eine echte Straußenfeder gekauft. Die solle sie sich von einer Putzmacherin auf einen Hut machen lassen. Constanzes Protest half nichts. Keiner ihrer Hüte war elegant genug für die teure Feder. Das komme schon noch, sagte die alte Dame verschmitzt. Und hatte weiter eingekauft – Schokolade aus Kamerun, Kakao und Pfeffer aus Togo, deutschen Kaffee aus Ostafrika, echten chinesischen Tee, Reis aus Indien, und sogar ein paar Bananen bestellte sie. Alles würde ihr noch heute Abend in den Grunewald geliefert.

Am faszinierendsten fand Constanze die Ecke mit den Gewürzen: Muskatnüsse und Safran, Kardamom und Kurkuma, frische Vanilleschoten und Curry-Abmischungen – ein buntes Potpourri der Düfte.

Nach dem Einkaufen begrüßte Ruth Mandelbaum den Besitzer des Hauses überschwänglich, und er lud sie nach oben in seine Räumlichkeiten ein. Bei türkischem Mokka und exquisiten Kokosnussmakronen saßen sie über den Dächern der Stadt. Nachdem sie köstliche Geschichten und unglaubliche Anekdoten aufgewärmt hatten, war Constanze mit der alten Dame zurück nach Grunewald gefahren.

Ruth Mandelbaum schnaufte laut. »Ich fühle mich etwas schwach. Lassen Sie uns eine Pause einlegen!«, bestimmte sie.

Constanze nahm sie am Arm und führte sie zu der kleinen Kaffeeküche, die direkt am Grunewalder Bahnhof lag, idyllisch unter Bäumen. Sie setzten sich und bekamen einen Kaffee serviert. Erst jetzt, da sie noch den Geruch von frisch gebranntem Kaffee und den Geschmack von starkem Mokka im Mund hatte, wurde ihr bewusst, wie dünn der deutsche Kaffee schmeckte. Auch Frau Mandelbaum verzog ihr Gesicht und stellte den Kaffee beiseite.

»Heute Abend erzähle ich Ihnen, wann und wo ich den besten Mokka meines Lebens getrunken habe. Beim Sultan von … Ach, schauen Sie, wer dort kommt.«

Constanze sah, wie Maximilian Harden aus der Bahn stieg. Mehrere Zeitungen unter dem Arm, schien er in Gedanken versunken.

»Maximilian!«, rief ihre Arbeitgeberin.

Er sah auf, sein Blick klärte sich, und er kam sofort zu ihnen rüber und setzte sich.

»Ruth. Und Fräulein Maiwald. Wie schön. Seid ihr spazieren gewesen?«

»Nein, wir waren in der Stadt. Im Kolonialwarenhaus. Schade. Ich habe extra ein paar Herero-Zigarren gekauft. Die magst du doch so gerne. Aber sie werden erst heute Abend geliefert.«

»Macht ja nichts. Dann habe ich mal wieder einen guten Grund für einen Besuch.«

»Allerdings. Du machst dich rar in letzter Zeit«, sagte Ruth Mandelbaum gespielt empört.

»Ich habe viel um die Ohren.« Bei diesen Worten wandte Harden sich zu Constanze. »Haben Sie mal wieder was aus Liebenberg gehört?«

Harden hatte einen Privatdetektiv engagiert, der um das Schloss Liebenberg herumgeschnüffelt hatte. Und so auch mitbekommen hatte, dass Constanze entlassen worden war. Er hatte ihr die Stelle bei Ruth Mandelbaum vermittelt, die sehr gut war, aber auch ihren Preis hatte. Herr Harden wohnte in der Nachbarschaft und sah in Constanze eine sprudelnde Quelle vertraulicher Informationen über den Mann und seinen Freundeskreis, mit dem er sich gerade öffentlich angelegt hatte: Constanzes ehemaligen Brotherrn – dem Fürsten. Ihr war es unangenehm, auch wenn sie keinen Grund mehr sah, noch loyal gegenüber der fürstlichen Familie zu sein. Nicht nachdem man sie so schändlich behandelt hatte.

»Nein. Eigentlich nichts, was für Sie von Interesse wäre.« Hedda Pietsch hatte ihr geschrieben. Dass der erste Besuch der ehemaligen Komtess Augusta auch ihr letzter gewesen sein sollte, weil sie nun als Persona non grata galt. Und dass Adelheid Schaafs Mutter gestorben war. Aber dann fiel ihr doch noch etwas ein. »Dem Fürsten geht es gesundheitlich nicht gut. Er soll viel im Bett liegen und leiden.«

»Er leidet sicher nicht genug, wenn Sie mich fragen. Aber ja, alle verstecken sich. Kuno von Moltke hat sich nach Breslau zurückgezogen.«

»Aber er ist doch der Stadtkommandant von Berlin.«

»Nicht mehr. Er hat um seinen Rücktritt gebeten, der ihm gewährt wurde. Übrigens genau wie Ihrem ehemaligen Dienstherrn: Der Fürst hat ebenfalls um Rücktritt aus dem diplomatischen Korps gebeten. Und er wurde vorgestern bewilligt.«

»Ach ja?« Da war ja interessant. »Dann hat er nun also gar keine offizielle Funktion mehr.«

»Um seine offizielle Funktion ist es mir auch nie gegangen. Seine inoffizielle Einflussnahme ist, was ich kritisiere.« Harden winkte der Bedienung und bestellte ebenfalls einen Kaffee. »Ich habe ein paar Wochen lang nichts über die beiden veröffentlicht, und schon schreiben all meine werten Kollegen, ich würde mich zurückziehen. Natürlich nur, weil ich im Unrecht sei. Moltke hat mich ja sogar zum Duell gefordert.«

»Du hast aber doch wohl nicht zugesagt?!«, warf Ruth erschrocken ein.

»Nein. Ich habe es aus formellen Gründen abgelehnt. Man duelliert sich nicht erst Monate nach einer Beleidigung. Entweder sofort oder gar nicht. Aber Moltke war zu zögerlich.«

»Herrje, da hast du aber Glück gehabt.«

»Na ja. Stattdessen hat Moltke gerade Strafanzeige gegen mich gestellt. Nun wird es hässlich.« Seine Worte klangen gallig.

Constanze war überrascht. Sie hätte gedacht, das wäre genau das, was Harden mit seinen Anschuldigungen bewirken wollte.

»Jetzt, wo der Korken endlich aus der Flasche ist, kennt plötzlich keine Zeitung mehr Zurückhaltung. In allen Pressehäusern laufen die Maschinen heiß. Jetzt will jeder schon immer von der Kamarilla, der Liebenberger Tafelrunde gewusst haben. Und was das … andere angeht: Die Presse im ganzen Kaiserreich, ja sogar in Österreich und Großbritannien, überschlägt sich. Können Sie sich vorstellen, mit welchem Genuss die französischen Zeitungen über den Skandal berichten? Homosexuelle in der direkten Nähe des Kaisers – ein gefundenes Fressen für alle, denen Deutschland schon immer ein Dorn im Auge war.«

»Und der Fürst? Hat er auch Anzeige gegen Sie erstattet?«, wollte Constanze wissen.

»Er hat Anzeige erstattet. Aber wissen Sie, gegen wen?« Harden schüttelte schnaufend seinen Kopf. »Er ist so ein gerissener Hund.«

»Gegen wen?«, fragte Ruth Mandelbaum neugierig nach.

Harden beugte sich vor. »Gegen sich selbst. Wegen Verstoß gegen den Paragrafen 175. … So gerissen. Da er nun selbst der Beklagte ist, darf er lügen, was das Zeug hält.« Harden bekam seinen Kaffee und tat etwas Zucker hinein.

Ruth Mandelbaum legte ihm die Hand auf den Arm. »Maximilian, hast du denn das Geld, um dich einer gerichtlichen Auseinandersetzung zu stellen?«

»Zähneknirschend. Das hab ich doch nie gewollt. Als wäre ich daran interessiert, was die beiden im Bett machen. Aber darüber schreiben sich nun alle die Finger wund. Und ich stehe da wie ein … wie ein Schmieren-Journalist.« Wütend schlug er sich auf den Oberschenkel.

Constanze fragte sich, was er denn eigentlich mit seinen Enthüllungen hatte bezwecken wollen, wenn nicht eine gerichtliche Auseinandersetzung über pikante Bettgeschichten. »Ich muss noch mal fragen: Der Fürst hat sich also selbst angezeigt. Warum … Also wieso … Welche Absicht steckt dahinter?«

Harden zog die Schultern hoch. »Damit er sich äußern kann, ohne die Wahrheit sagen zu müssen.«

»Wer ermittelt denn gegen ihn?«

»Der Staatsanwalt aus Prenzlau ist für den Fall zuständig.«

»Staatsanwalt Neuötting etwa?«

Harden nickte.

Constanze lachte laut auf. »Staatsanwalt Neuötting ist ein guter Bekannter des Fürsten.«

Harden fluchte laut und vernehmlich. »Vermaledeiter … Das hätte ich wissen sollen! … Mir schwimmen langsam die Felle davon.« Wütend trank er seinen Kaffee aus und knallte die Tasse auf den Unterteller zurück. »Das Dumme ist: Bei Gericht und in den Polizeistationen kennen alle meine Männer. Ich bräuchte jemanden, der gut ermitteln kann. Einen offiziellen Pressevertreter, der recherchiert, ohne dass man ihn mit mir in Verbindung bringt.«

Constanze fiel sofort jemand ein. War das eine gute Idee? Oder war sie besonders dumm? Doch dann sagte sie: »Ich wüsste da jemanden für Sie. Einen geschulten Journalisten. Er arbeitet bei der Leipziger Volkszeitung.«

»Bei der Leipziger? Ein Sozi etwa?«

»Nein, kein Sozi. Nur einer, der sich sein Brot hart verdient.« Was stimmte. Hugo war weniger ein Sozialist als ein liberaler Freigeist.

»Hm, so einer würde sicher nicht mit mir in Verbindung gebracht. Und er wäre verfügbar?« Harden schien interessiert.

»Das weiß ich nicht. Er ist … der Bruder einer guten Freundin. Aber ich könnte ihn anschreiben. Letztendlich wird es wohl darauf ankommen, was Sie ihm bieten.«

Harden sah sie an. »Ja, darauf kommt es letztendlich immer an. Auf den schnöden Mammon«, er verzog sein Gesicht beim letzten Schluck Kaffee. »Dann stellen Sie doch bitte einen Kontakt her. Gerne zügig. … Da fällt mir gerade ein: Sie erwähnten in einem früheren Gespräch, dass Rittmeister zu Lynar des Öfteren zu Gast auf Schloss Liebenberg war.«

Constanze nickte, etwas überrascht von dem prompten Themenwechsel.

»Und wissen Sie zufällig, ob der Fürst auch ihn besucht hat? In Potsdam, wo er wohnt?«

Eine harmlose Frage. »Das ist möglich. Der Fürst war ja auch oft zu Gast im Potsdamer Marmorpalais, bei der kaiserlichen Familie.«

»Ach ja, … das Marmorpalais.« Harden sann kurz über das Gesagte nach. »Und hat der Fürst zufällig mal die Villa Adler erwähnt?«

»Die Villa Adler?«

»Die Villa Adler, am Heiligen See. Genau auf der anderen Seeseite, gegenüber dem Marmorpalais.«

Das war nun eine sehr konkrete Frage, die irgendwie bedeutsam klang. Aber tatsächlich hatte Constanze keinerlei Erinnerung an den Namen. »Es tut mir leid, aber nein, an eine Villa Adler kann ich mich nicht erinnern.«

Harden beugte sich vor. Sein Gesicht kam ihrem näher. »Bitte denken Sie noch mal gründlich nach. Villa Adler … Rittmeister zu Lynar … das ist immens wichtig. Außergewöhnlich wichtig sogar«, sagte er eindringlich.

»Nun … zu Potsdam und dem Heiligen See fällt mir allerdings etwas ein. Hat Graf von Moltke dort nicht auch ein Anwesen, gegenüber dem Marmorpalais? So meine ich es einmal gehört zu haben.«

»Ach wirklich? Das ist ja außerordentlich interessant. Das werde ich sofort überprüfen lassen. Wenn Ihnen noch mehr einfällt, dann müssen Sie mich unbedingt sofort anrufen, ja?! Sie dürfen dann bestimmt Frau Mandelbaums Telefon benutzen.«

»Ach, dieses komische Ding. Ich weiß gar nicht, wofür ich das angeschafft habe. Ich bin ja froh, wenn mal jemand das Ding entstaubt«, sagte Ruth Mandelbaum.

Constanze musste lächeln. »Ich könnte versuchen, mit dem Bruder meiner Freundin telefonischen Kontakt aufzunehmen.« Was würde Hugo sich wundern, wenn sie ihn in der Redaktion anriefe.

»Sehr gerne. Je schneller, desto besser«, sagte Harden und stand auf. Mit einem Nicken verabschiedete er sich und eilte davon.

4. August 1907

»Wir sind sogar ein kleines Stück mit der Untergrundbahn gefahren. U-Bahn sagen die in Berlin dazu. Die gibt es ja erst seit 1902. Mein Gustav wollte immer mal nach Berlin, nur, um einmal damit zu fahren. Sensationell! Wirklich. Aber ich würde das nicht noch mal machen. Habe ich einen Schreck bekommen, als wir in den Tunnel reinfuhren! So eng, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Und dieses Gefühl, als würde man jeden Moment gegen eine Mauer fahren. Die ganze Zeit über hatte ich Angst, dass die Erde über uns zusammenfällt.«

»Das muss wirklich sehr aufregend gewesen sein«, bekräftigte Adelheid Frau Lehmanns Erzählung lächelnd. Als würde sie jemals nach Berlin reinkommen oder mit einer Untergrundbahn fahren. Trotzdem nickte Adelheid verständnisvoll, ganz so, als wüsste sie, was die Krämersfrau ihr da erzählte. Eigentlich hatte sie gar keine Lust, lange mit ihr zu reden. Andererseits war es natürlich eine Ehre, dass sie überhaupt mit ihr sprach. Mit ihr, der Tochter eines Tagelöhners. Aber wenn sie alle zwei Wochen in den Krämerladen ging, um die notwendigsten Lebensmittel zu kaufen, dann musste sie das eben über sich ergehen lassen. Das Ehepaar hatte für drei Tage einen Ausflug nach Berlin gemacht. Und offensichtlich gab es nun nichts Spannenderes, als darüber zu erzählen.

»Dann waren wir noch im Tiergarten auf der Siegesallee spazieren. Wissen Sie, da, wo nun all die Denkmäler stehen. Roon und Moltke und Bismarck und so weiter. Wissen Sie, wie die Berliner die Allee nennen?«

Adelheid schüttelte ihren Kopf. Woher sollte sie das wissen?

»Puppenallee. Sie nennen sie Puppenallee. Und sagen, man geht bis in die Puppen spazieren«, gab die Krämersfrau mit leuchtenden Augen zum Besten.

»Ich hoffe, ich komme auch mal nach Berlin.«

»Sie sind ja noch jung. So schnell, wie sich diese modernen Zeiten ändern, bekommen Sie bestimmt irgendwann die Gelegenheit.« Frau Lehmann schob ihr Papierbeutel und Päckchen über den Tresen. »Soll ich das Wechselgeld verrechnen? Es ist ja nicht viel, aber immerhin.«

»Ja, das wäre nett.« Ihre Familie ließ häufig anschreiben. Sie hoffte nur, dass Frau Lehmann ihrem Vater kein Bier auf Pump verkaufte. Aber sie traute sich nicht zu fragen. Sie würde es ohnehin gleich erfahren. Eilig packte sie alles in ihr Einkaufsnetz und wollte sich gerade verabschieden, als die Krämersfrau sich über den Tresen beugte.

»Ich wollte noch etwas fragen. … Ihre Familie kauft ja keine Milch mehr bei mir.«

Adelheid schluckte. Sie kauften die Milch nun direkt beim Gut. Dort bekamen sie die frisch gemolkene Milch billiger. Hatte die Krämersfrau kein Verständnis für ihre Lage? Verhalten antwortete sie: »So ist es. Wir müssen sparen, wo wir können.«

»Ich wollte Ihnen nur sagen, … für den Fall, dass Sie es nicht wissen, … Sie müssen die Milch unbedingt abkochen.«

»Danke, aber das ist nicht nötig. Die Milch wird immer am gleichen Tag noch verbraucht.« Es war ja nicht so, als würde die Milch lange rumstehen und sauer werden können.

»Trotzdem. Wegen der Tuberkulose-Erreger. Die Kühe können das übertragen, ausgelöst durch die Rohmilch.«

»Tuberkulose? … Wirklich?« Adelheid erschrak.

Die Frau hinter der Ladentheke nickte ernst. »Unsere ist ja schon einmal abgekocht. Das macht die Molkerei nicht nur, damit sie sich länger hält.« Es lag ein mitleidiger Ausdruck auf ihrem Gesicht.

»Danke. Das ist sehr freundlich, dass Sie mir das sagen.«

Das könnte natürlich erklären, wieso Gunther selbst jetzt im Sommer nicht mit dem Husten aufhörte. Bisher hatte sie es auf den schlechten Sommer geschoben.

»Das wusste ich nicht. Ich werde es meinen Geschwistern weitergeben.« Adelheid verabschiedete sich freundlich.

Nachdenklich trat sie raus auf die Dorfstraße. Endlich blieben die Wolkenschleusen verschlossen. Es war schon Hochsommer, aber man konnte das Gefühl bekommen, es wäre April. Es war zwar wärmer, aber es regnete viel zu viel.

Die Milch aufkochen – das würde ihnen nicht gefallen. Sobald das Wetter einigermaßen erträglich war, wurde nicht mehr geheizt. Und höchstens zwei oder dreimal die Woche etwas Warmes gekocht. Feuerholz oder Kohle für den Ofen mitten im Sommer konnten sie sich nicht leisten.

Die Tagelöhnerhütte lag abseits, als würde das Dorf sich ihrer schämen. Niemand kam ihr entgegen. Normalerweise waren ihre Geschwister draußen vor der Hütte. Aber der Boden war matschig. Außerdem sah sie nun, als sie näher kam, dass ihr Vater links von der Hütte saß. Ein ungutes Gefühl kroch über ihren Schädel. Früher hatte er dort gesessen und ihrer Mutter zugeschaut, wie sie im Garten Unkraut gejätet oder Pflanzen hochgebunden hatte. Wenn er jetzt dort saß, dann trank er.

Er schaute nicht in ihre Richtung. Am liebsten wäre sie einfach unbemerkt in die Hütte hineingehuscht. Aber das ging natürlich nicht.

»Guten Tag, Vater.«

Gerade wollte er einen Schluck nehmen, drehte seinen Kopf, ohne die Bierflasche vom Mund zu nehmen, sah sie böse an und trank. Adelheid betete inständig, dass er nicht mit der mittlerweile üblichen Diskussion anfing. Ob sie ihm Bier mitgebracht habe? Seit der Beerdigung war keiner ihrer Besuche vergangen, ohne dass sie sich darüber gestritten hätten. Dreimal schon hatte er sie geschlagen. Adelheid würde trotzdem nicht nachgeben. Lieber ließ sie sich schlagen, als dass ihre Geschwister hungern mussten. Heute schien er gnädig zu sein. Als wäre sie gar nicht da, trank er weiter und starrte in den Garten hinaus. Von drinnen war Geschrei zu hören. Die Tür flog auf, und ihre Brüder Friedel und Bernhard traten heraus.

»Da bist du ja endlich!«, sagte Friedel vorwurfsvoll.

Bernhard griff sofort nach ihrer Tasche und ging wieder hinein.

»Wie geht es euch?«, fragte Adelheid leise. Vater sollte sie nicht hören. Sie wusste schon, dass sie alle zwei Wochen an ihrem freien Nachmittag die neuesten Katastrophenmeldungen bekam.

»Edeltraud kommt einfach nicht klar mit der Kleinen.«

»Babys schreien nun mal.«

»Ja, mal. Aber die Kleine hört überhaupt nicht auf.«

Adelheid biss sich auf die Lippe. Vermutlich hatte das Baby einfach beständig Hunger. »Ihr holt aber doch regelmäßig die Milch vom Gut, oder?«

»Ja, sonst wäre sie vermutlich schon verhungert. Gunther bekommt auch immer etwas ab.«

Sie sah ihren Bruder an. Schmal war er geworden, noch schmaler als sonst. »Frau Lehmann hat mir gerade gesagt, dass die Milch unbedingt abgekocht werden muss. Sonst kann man davon Tuberkulose bekommen.«

»Die spinnt doch wohl! Wir können nicht jeden Tag den Herd feuern!«, gab Friedel entrüstet von sich.

Adelheid senkte ihre Stimme noch weiter. »Hat Vater Arbeit gefunden?«

Ihr Bruder schüttelte den Kopf.

»Hat er sich wenigstens bemüht?«

Nun schaute er verschämt auf den Boden. Also nicht.

»Wo soll das noch hinführen?«

»Weiß nicht. Aber lange mache ich das nicht mehr mit«, gab Friedel trotzig von sich.

Adelheid presste die Lippen aufeinander. Auch diese Diskussion hatte sie bereits mehrere Male mit Friedel und Bernhard geführt. Sie wollten weg. Sie wollten sich ein besseres Leben suchen. Adelheid hatte sie beschworen, nicht zu gehen. Sie beide waren das letzte Bollwerk gegen die komplette Verelendung ihrer jüngeren Geschwister.

Sie ging hinein. Gundula zerriss eine alte Zeitung in kleine Vierecke. Auf einen Draht gespießt würde es als Toilettenpapier ins Aborthäuschen gehangen. Adelheid hatte sich schon an richtiges Klosettpapier gewöhnt. Aber es war viel zu teuer, um es zu kaufen. Eine Rolle kostete mindestens dreißig Pfennige. Dafür musste Adelheid fast einen ganzen Tag arbeiten. Edeltraud schockelte das Baby auf dem Arm, das abwechselnd schrie und hustete. Noch bevor Adelheid etwas sagen konnte, berichtete sie vorwurfsvoll: »Sie hat erst vor einer halben Stunde etwas bekommen. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich machen soll.«

»Vielleicht hat sie Koliken.« Die ersten Zähne konnten es nicht sein. Dafür wäre es zu früh.

»Wenn ich mich nicht um die Kleine und den Haushalt kümmern müsste, könnte ich drüben bei Großmanns beim Heumachen helfen.«

Natürlich, bestimmt würde Edeltraud zehnmal lieber jetzt Heu machen gehen, als sich hier um den Haushalt zu kümmern. Und kaum etwas zu essen bekommen. Wie hatte sie von den dicken Schmalzstullen geschwärmt, die sie letztes Jahr jeden Tag von der Bauersfrau bekommen hatte.

Adelheid atmete tief durch. »Wieso nimmt Großmann nicht Bernhard und Friedel?«

»Weil sie mehr Geld bekommen würden als ich.«

Vor vier Jahren hatte man ein Gesetz zur Kinderarbeit erlassen, das regelte, ab wann Kinder wo arbeiten durften. Aber nach und nach war es verwässert worden, und seit zwei Jahren durften Kinder ab neun Jahren wieder in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Und sie wurden gerne eingesetzt, schließlich waren sie die billigsten Arbeitskräfte. Letztes Jahr noch hatte Edeltraud beim Heumachen geholfen. Es gab nicht viel Geld dafür, aber immerhin wurde sie versorgt und bekam ein paar Groschen.

Adelheid wurde abgelenkt von Gunther, der im Nachbarzimmer hustete. Sie ging rüber und setzte sich an sein Bett. Seine Augen wurden groß, weil er sich über Adelheids Besuch freute. Aber er war so matt, dass er sich nicht einmal aufrichtete.

»Heidi!«, rief er sie erfreut bei ihrem Kosenamen und fing sofort wieder an zu husten.

»Wie geht es dir, mein Schatz?« Sie strich ihm die Haare aus der Stirn. Er wäre auch mal wieder dran mit Haareschneiden. Sie alle, wie sie gerade gesehen hatte. Aber dafür hatte Edeltraud nun wirklich keine Zeit.

Natürlich war es das Beste, ihnen mit Geld zu helfen. Der Anblick ihrer Geschwister zerriss ihr jedes Mal aufs Neue das Herz. Es wurde nicht besser, sondern schlimmer.

Geld, mehr Geld, war das Einzige, was ihren Geschwistern wirklich helfen würde. Sie bezweifelte, dass Friedel und Bernhard, wenn sie erst einmal in einer großen Stadt arbeiten würden, noch Geld abgeben konnten. Man verdiente zwar mehr, aber das Leben war auch teurer. Wenn die beiden fortgingen und Vater weiterhin soff, dann war sie die Einzige, die für ihre jüngeren Geschwister noch Essen heranschaffte.

Letzte Woche hatte sie etwas Interessantes in der Zeitung gelesen: Wenn man genug Geld hatte, dann konnte man Tuberkulose und andere Lungenkrankheiten sehr wohl behandeln. Hätte sie Geld, dann würde sie Gunther in die Beelitzer Heilstätten schicken. Oder besser noch nach Hohenlychen, einer Kinderheimstätte zur Bekämpfung von Tuberkulose. Zudem müsste ein Arzt natürlich erst einmal untersuchen, ob er überhaupt daran erkrankt war. Doch sie waren so arm, dass sie sich nicht einmal den Besuch eines Arztes leisten konnten. Und die, die es sich leisten konnte, war nicht bereit, ihnen zu helfen – die Fürstin.

»Ach, mein Kleiner.« Sie stand auf. Sicher gab es genug Arbeit, die liegen geblieben war. Wäsche waschen, kaputte Hosen flicken und andere Dinge, die Edeltraud einfach noch nicht so gut hinbekam. »Ich komm nachher noch mal.«

***

Am frühen Abend ging Adelheid wieder heim. Viktor Novak stand draußen vor der Tür. Diedrich Budde stand öfter draußen, weil er rauchte. Novak rauchte nicht. Er schien einfach nur ein paar Minuten in der Sonne zu genießen. Die Sonne, die im Moment selten genug herauskam.

Seit ein paar Wochen veränderte sich ihr Verhältnis. Nicht, dass es herzlich oder freundschaftlich geworden wäre, aber Adelheid hatte nicht mehr das Gefühl, dass er so offensiv abweisend war. Manchmal schaffte er es sogar, sie anzulächeln, wenn sie sich auf der Treppe begegneten. Das war schon mehr, als sie je zu hoffen gewagt hatte. Und es jagte ihren Puls jedes Mal in ungeahnte Höhen.

Sich in Träumereien über Viktor Novak zu ergehen, war der einzige Luxus, den sie sich leisten konnte. Der einzige Lichtblick in ihren dunklen Tagen. Das einzig Schöne, das sie von den niederdrückenden Gedanken an ihre Familie und den Tod ihrer Mutter ablenkte. Dass sie nun besser miteinander auskamen, hatte allerdings zur Folge, dass Adelheid wieder nervöser wurde. So wie in ihren ersten Tagen, als sie im Schloss angefangen hatte. Immerzu musste sie aufpassen, dass sie nicht rot wurde. Oder dass ihre Hände nicht anfingen zu zittern, wenn er in ihrer Nähe war. Und nun sprach er sie sogar an.

»Der Herr, der seit gestern zu Besuch ist, ist übrigens ein Kriminalkommissar, der gegen unseren Fürsten ermittelt«, sagte er leise, als wollte er sie warnen.

Sie schluckte. Ein Kriminalkommissar! »Am Sonntag?«

Viktor Novak zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, er will den Fürsten offiziell befragen.«

»Danke.« Sie zögerte. Am liebsten hätte sie sich noch etwas mit ihm unterhalten, wusste aber nicht, worüber. Und er war kein Mensch, mit dem man einfach so ein Gespräch anfangen konnte. Ihre Lippen zuckten, dann ging sie hinein.

Ein echter Kommissar. Ein Kriminalkommissar ermittelte gegen Angeklagte. Der Fürst hatte sich selbst angezeigt. Der Besucher war nun also hier, um herauszufinden, ob etwas an diesen Vorwürfen dran war. Adelheid wusste nicht genau, was alles vor sich ging. Ein paar Dinge waren jedoch klar geworden. Der Fürst konnte sich nur selbst angezeigt haben, weil er sich sicher war, freigesprochen zu werden. Was aber nicht bedeutete, dass er unschuldig war, wie Adelheid wusste. Es bedeutete nur, dass er sich ausrechnete, mit seinem Bild der Wahrheit durchzukommen. Er war der beste Freund des Kaisers, ein hochgestellter Fürst, und solche Leute wurden normalerweise nicht verurteilt.

Es hatte etwas gedauert, bis Adelheid dahintergekommen war. Die ganze Geschichte war eine Farce, ein Theaterspiel, das gezeigt wurde, um dem werten Publikum vorzuführen, dass er gänzlich unschuldig war. Nur wusste Adelheid es besser. Sie hatte gesehen, wie der Fürst frühmorgens aus dem Schlafzimmer eines seiner männlichen Besucher gekommen war. Das alleine würde natürlich überhaupt nichts beweisen. Das hätte sie sich genauso gut auch ausdenken können. Sie hatte es ja lange genug selbst nicht geglaubt. Doch mit dem Brief, den sie gefunden hatte, war alles anders geworden. Mit dem Brief konnte sie beweisen, dass die Dinge, die man dem Fürsten vorwarf, sehr wohl wahr waren. Nur musste sie den Brief jemandem übergeben, der seinen Inhalt entsprechend nutzen würde.

Adelheid hatte schon überlegt, ob sie ihn nicht nach Berlin zur Polizei schicken sollte. Aber weder kannte sie irgendeine Adresse noch einen Ansprechpartner. Berlin war riesig. Mehr als zwei Millionen Menschen lebten dort. Und den Brief einfach anonym an die Berliner Polizei zu schicken, hieß, das Risiko einzugehen, dass er verloren ging.

Nein, sie musste jemanden finden, der ganz sicher wusste, was der Inhalt des Briefes zu bedeuten hatte. Dass es ein Beweisstück erster Güte war. Ein Beweis gegen den Fürsten. Ein Kriminalkommissar war doch jemand, der solche Sachen herausfinden sollte. Und nun war er sogar nach Liebenberg gekommen. Das war ihre Gelegenheit!

Eilig lief sie nach oben in ihre Schlafkammer und griff zwischen Bettlaken und Matratze. Dort hatte sie den Umschlag deponiert. Dort, wo ihn niemand finden konnte. Bis auf die Kammerzofe, den Kammerdiener, Herrn Opitz und die Mamsell mussten alle ihre Betten selbst beziehen. Adelheid stopfte das Bettlaken wieder schön gerade unter die Matratze. Sie hatte noch immer den Rest des Tages frei. Übervorsichtig steckte sie den Brief in die Seitentasche ihres langen Rockes. Mehrmals prüfte sie, ob er auch nicht herausschaute. Was jetzt?