Schmetterlingsregen - Christian Mörsch - E-Book

Schmetterlingsregen E-Book

Christian Mörsch

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Beschreibung

Märchen, die glücklich machen Vorsicht! In jedem Märchen verbirgt sich ein Tröpfchen Glück. Bereits eine Geschichte vor dem Schlafen gehen verführt dazu, dem Alltagstrott des nächsten Morgens mit einem Lächeln zu begegnen. Die Märchen sind miteinander verwoben durch die kleinen und großen Geheimnisse des Glücks.

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Schmetterlingsregen

Puderweiße Schneeflocken

wirbeln leichtfüßig

über die Bühne des Himmels.

Winzig kleine Wunderwerke,

die auf dem Rücken des Windes reiten.

Puderweiße Schmetterlinge

suchen nach den Blüten des Winters.

Verzauberte Regentropfen,

geschlüpft aus dem Kokon der Träume.

Puderweiße Sternentränen

fallen in die Pfützen der Sehnsucht,

auf den Boden der Tatsachen,

auf die Spuren der Vergangenheit.

Winzig kleine Wunderwerke,

die sich im Licht der Sonne

in funkelnde Diamanten verwandeln

und ein glückliches Lächeln

auf die Lippen der Menschen malen.

Der Trank des Magiers

Vor langer Zeit, als sich die Erde noch langsamer drehte, und die Minuten Stunden und die Stunden Tage waren, trug sich dort, wo der alte Weg von Hilden nach Gerresheim den vom Heiligenhäuschen nach Süden führenden Pfad kreuzte, eine gar seltsame Geschichte zu.

An der Wegkreuzung stand einst eine hölzerne Hütte, in der ein Magier lebte. Niemand wagte, die Hütte zu betreten, denn es hieß, der Magier braue über seinem Feuer einen Trank, der jeden, der davon koste, in eines der wilden Tiere verwandele, die des Nachts den Reisenden auflauerten.

Eines Abends kam bei Einbruch der Dunkelheit ein Fremder an die Wegkreuzung. Er war müde und suchte eine Bleibe für die Nacht. Da er nicht wusste, was die Leute von dem Magier erzählten, klopfte er ohne Furcht an die Tür der Hütte.

„Verzeih, dass ich so spät noch störe ...“, begann der Fremde.

„Du störst nicht“, erwiderte ein kleinwüchsiger Mann, dessen Augen schon viele Sommer gesehen hatten. „Mach mir die Freude und sei mein Gast. – Komm und wärme deine Hände am Feuer.“

Als der Fremde nähertrat, glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. Denn die Flammen schienen aus dem Nichts zu kommen: Weder Holz noch Glut nährten das Feuer.

„Es lebt von den Wünschen der Menschen, die an der Wegkreuzung vorbeikommen“, sagte der Alte, der den fragenden Blick des Fremden bemerkt hatte.

Die Augen des Fremden weiteten sich vor Erstaunen. „Und was geschieht mit den Wünschen?“

Der Alte lächelte. Dann nahm er eine Kelle von der Wand und tauchte sie in eine nach Waldkräutern duftende Brühe, die in einem Kessel über dem Feuer vor sich hinköchelte. Er goss das Gebräu in einen hölzernen Becher und reichte ihn dem Fremden.

„Sie werden dir erfüllt, wenn du davon trinkst.“

Das wollte sich der Fremde nicht zweimal sagen lassen, denn er trug viele Wünsche in seinem Herzen. Und jeder von ihnen sehnte sich danach, erfüllt zu werden.

Er konnte sein Glück kaum fassen und hob den Becher zum Mund.

„Du musst dich für einen Wunsch entscheiden“, sagte der Alte.

Ein Ausdruck der Enttäuschung erschien auf dem Gesicht des Fremden.

Doch nur kurz, denn einer der Wünsche lag ihm ganz besonders am Herzen.

Er nickte, als er seine Entscheidung getroffen hatte.

„Dann trinke jetzt.“

Nicht lange und der Fremde fühlte eine eigenartige Müdigkeit, die durch seine Glieder kroch. Er schleppte sich zu dem Strohlager im hinteren Teil der Hütte und war bald eingeschlafen. Als er am nächsten Morgen erwachte, war sein Wunsch in Erfüllung gegangen.

Um die Mittagszeit kam der Fremde in ein Dorf, das unweit der Wegkreuzung am Ufer des Rheines lag.

„Woher kommst du?“, fragten ihn die Leute.

Also erzählte er ihnen von dem Land, aus dem er kam, von seinem Vater, der ein armer Bauer war, von seiner Mutter, die neun Kinder geboren hatte, von seiner langen Wanderung, die ihn eines Tages bis ans Meer führen sollte, und von der Hütte des Alten, in der er die letzte Nacht verbracht hatte.

Da wurden sie schneeweiß im Gesicht und sahen ihn entgeistert an.

„Was habt ihr?“, fragte der Fremde verwirrt.

„Hast du von seinem Trank genommen?“

Er nickte und sah, dass die Leute vor ihm zurückwichen.

„Wusstest du denn nicht, dass jeder, der von seinem Trank kostet, sich in eines der wilden Tiere verwandelt, die des Nachts den Reisenden auflauern?“

„Was soll das Geschwätz?“, entgegnete der Fremde. „Sehe ich etwa aus wie ein wildes Tier?“

Es sprach sich schnell im Dorf herum, dass der Trank des Magiers die Menschen nicht zu wilden Tieren machte und statt dessen ihre Wünsche Wirklichkeit werden ließ. Alsbald wurde die Hütte zu einem gern besuchten Ort.

Auch der Dorfvorsteher machte sich auf den Weg zu der Hütte des Alten.

„Was betrügst du die Menschen mit einem Zaubertrank, der gar keiner ist?“, fragte er ihn.

„Was urteilst du über einen Trank, den du nicht einmal kennst?“

„So gib mir einen Schluck!“

„Wie du willst.“

Der Alte reichte ihm einen Becher mit der über dem Wunschfeuer zubereiteten Brühe.

„Hast du dir etwas gewünscht?“

Der Dorfvorsteher nickte.

„Dann trinke jetzt.“

Jedoch: Der Wunsch des Dorfvorstehers erfüllte sich nicht.

„Ich hatte Recht“, sagte er mit einem spöttischen Lächeln. „Dein Trank ist nichts weiter als ein fauler Zauber.“

„Nichts geschieht, woran du nicht glaubst“, erwiderte der Alte leise.

Eines Abends – es war um die Zeit des ersten Frühjahrsvollmonds – klopfte die Frau des Dorfschmieds an die Tür des Alten.

Auch sie hatte von dem wunderlichen Trank gehört und war gekommen, um ihrem Mann alles Übel dieser Welt zu wünschen. Denn die Liebe zu ihrem Mann hatte sich in Hass verwandelt.

„Hast du dir etwas gewünscht?“, fragte der Alte, als er ihr den mit seinem Trank gefüllten Becher gab.

Sie nickte.

Ob sich ihr böser Wunsch erfüllte, ist nicht bekannt. Sicher ist nur, dass am nächsten Morgen der Magier verschwunden war, und mit ihm das Feuer.1

Das verschollene Buch-Stäbchen

Ich bin vor fünfundzwanzig Jahren geboren. Seit diesem Tag lebe ich auf der Titelseite eines Buches. Genau genommen zwischen zwei Buchstaben: einem hoch gewachsenen K und einem charmanten n, das in etwa meine Größe hat.

Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Mein Name ist i, klein i, und ich will Ihnen ein Geheimnis verraten. Schauen Sie mich nicht so an! Oder glauben Sie, ein kleines i wüsste keine Geheimnisse, die Sie interessieren könnten? Gut. Dann kommen Sie mal ein Stück näher! ... Näher! ... Muss ja nicht jeder hören. Ja – so ist gut. ...

Haben Sie sich schon einmal gefragt, was Buchstaben machen, wenn sie nicht gelesen werden? Nein? Dann sollten Sie wissen, dass sie Buchstabenparties feiern. Ja – Sie haben richtig gehört! Buchstabenparties, auf denen sie wild durcheinanderhüpfen. Manchmal bilden sie sogar neue Worte und Sätze, um ihre Lieblingsbuchstaben zu besuchen.

Warum ich Ihnen das erzähle?

Na weil Sie nun endlich wissen, wo die Fehler in einem Buch herkommen. Sie wissen noch immer nicht, was ich meine? Stellen Sie sich vor, Sie öffnen ein Buch. Nun ... dann kann es passieren, dass die tanzenden Buchstaben nicht schnell genug an ihren Platz zurückfinden. Das sind die kleinen Fehler, dei man manchmal in einem Buch entdeckt.

Lesen Sie manche Bücher zweimal? – Dann kennen Sie vielleicht das Gefühl, beim zweiten Mal über einen Satz zu stolpern, den Sie meinen, beim ersten Mal überlesen zu haben. – Sie haben ihn nicht überlesen. Wahrscheinlich hat es ihn beim ersten Lesen tatsächlich noch nicht gegeben.

Bestimmt möchten Sie jetzt wissen, ob auch Titelbuchstaben bei den Buchstabenparties mitfeiern dürfen. Die Antwort ist ja – wenn sie nicht gerade von einem Menschen beobachtet werden. Wie sie dorthin kommen? Auf der Titelseite gibt es eine winzige Geheimtür, die ins Innere des Buches führt!

Wenn Sie bis zu dieser Stelle mehr als nur „Iiih“ vernommen haben, dann gehören Sie zu den wenigen Menschen, die Buchstaben verstehen können, ich meine richtig verstehen. Die meisten Menschen hören nämlich stets dasselbe: Wenn ein K den Mund aufmacht, verstehen sie „Kaaa“, bei einem S „Esss“ und bei einem I eben „Iiih“.

Doch nun zu dem, was ich eigentlich erzählen möchte.

Es war an einem staubigen Novembertag. Um genau zu sein: der dritte November. Acht Jahre war es nun her, dass das Buch, in dem ich lebte, zuletzt geöffnet wurde. Und acht Jahre sind eine lange Zeit. Die Buchstabenparties wurden allmählich langweilig, und wem es nicht langweilig wurde, der war vom vielen Feiern so müde, dass er erschöpft in einer Ecke lag und aufpassen musste, dass er nicht aus dem Buch herausrutschte. Schließlich waren wir nicht mehr die Jüngsten.

Ich machte mir Sorgen. Warum öffnete niemand mehr das Buch?

Klopfenden Herzens fasste ich einen Entschluss und tat etwas, was Buchstaben normalerweise strikt verboten ist: Ich stahl mich aus meinem Buch.

Das war nicht einfach. Denn obwohl ich auf der Titelseite wohnte, musste ich mich durch eine dicke Staubschicht kämpfen und aufpassen, dass die anderen Buchstaben mich nicht hörten. Den einzigen, den ich mitnahm, war Tüpfelchen – der kleine Punkt, der seit meiner Geburt über meinem Kopf schwebt.

Uhhh – war das hoch! Ich stand auf dem obersten Brett eines Bücherregals. Wie sollte ich da nur herunterkommen? Ich beneidete Tüpfelchen, der im Gegensatz zu mir fliegen konnte. Dafür konnte er nicht laufen: Er war schwebend zur Welt gekommen; und wer sein ganzes Leben lang schwebte, dem wuchsen eben keine Beine. Dafür besaß er einen klugen Kopf. Um genau zu sein einen kugelrunden Kopf, was praktisch war, denn er konnte in alle Richtungen denken.

„Bau dir eine Eselsbrücke!“, schlug Tüpfelchen vor.

Wieso war ich nicht selbst darauf gekommen? Ich brauchte mir bloß eine lange Zahlenreihe auf einfache Weise zu merken. Hmmm.

Ich entschied mich für die Zahl 2562310.

Es gibt nichts Leichteres, als sich die Zahl 2562310 zu merken: Ich bin vor 25 Jahren geboren, ich habe 623 Brüder und lebe in einem Wort mit 10 Buchstaben.

Auch wenn Sie es nicht glauben: Dort wo eben noch der Abgrund nach mir griff, stand eine Eselsbrücke! (Wenn Sie noch nie über eine Eselsbrücke gelaufen sind, sollten Sie das unbedingt einmal tun.)

Kurze Zeit später stand ich auf dem Boden, und Tüpfelchen nahm wieder seinen gewohnten Platz über meinem Kopf ein. Nun musste ich nur noch den Buchbesitzer finden und ihn dazu bringen, in meinem Buch zu lesen, was mir weitaus schwieriger erschien als der Bau einer Eselsbrücke.

In diesem Moment hörte ich ein leises Schnarchen.

Es war noch früh – zu früh für diese Wesen, die sich Menschen nannten und zu Leseratten wurden, wenn sie ein gutes Buch öffneten. Dieser Mensch da auf dem Bett war eindeutig keine Ratte. Ich staunte: Der Junge, den ich sah, war viel größer als ich ihn in Erinnerung hatte.

Was sollte ich ihn fragen, wenn er aufwachte? „Hey, du ... ich bin´s: Ein i. Ich weiß, wir haben uns lange nicht gesehen. Warum liest du auch nicht mehr in meinem Buch?“ Nein, das ging nicht. Er würde bloß lachen – wenn er mir überhaupt zuhörte. Denn wie Sie ja wissen, gibt es nicht viele Menschen, die mehr als ein „Iiih“ hören, wenn ich mit ihnen rede.

Wie konnte ich den Jungen nur dazu bringen, das Buch aus dem Regal zu holen?

„Tüpfelchen?“

„Ja ...“

„Hast du eine Idee?“

Wenn Tüpfelchen Schultern gehabt hätte, hätte er in diesem Moment mit ihnen gezuckt. Statt dessen schüttelte er den Kopf.

„Ich hab´s!“ Das war nicht Tüpfelchen, sondern ich. „Bevor er das Buch herausholen kann, muss er es erstmal bemerken. Stimmt´s?“

„Stimmt. – Und wie willst du das machen, mein oberkluger Unter-mir-Wohner?“

„Ich sag ihm das, was er auf jeden Fall versteht.“

Tüpfelchen sah mich ratlos an. „Iiih?“

Ich nickte.

„Und was soll das?“