Alles auf Anfang - Christian Mörsch - E-Book

Alles auf Anfang E-Book

Christian Mörsch

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Beschreibung

Märchen für große Kinder Alles auf Anfang ist ein neues Märchen von Christian Mörsch, der uns tief in unsere eigene Seele blicken lässt. Seine Märchen sind leicht zu lesen und trotzdem tiefsinnig. Er erklärt uns in spielerischen Worten, wie das Leben funktioniert, ohne erhobenen Zeigefinger. Er ist ein Meister der Erzählkunst und verzaubert den Leser mit Bildern, die vor dem inneren Auge entstehen und seine Phantasie erblühen lässt. Zusätzlich zu seinem neuen Märchen wurden die besten Geschichten aus allen seinen Werken in dieses Werk integriert.

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Seitenzahl: 194

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Christian Mörsch

Alles auf Anfang

Märchenhafte Geschichten über das Leben

Alles auf Anfang

Das krumme Weihnachtsbäumchen in der Ecke zwischen dem Wohnzimmerschrank und der Glastür war schon festlich geschmückt – wie in jedem Jahr am Tag vor Heilig Abend. Svenja saß mit roten Wangen und einer Wolldecke in gleicher Farbe auf der abgenutzten Couch und blickte zu ihrem Großvater, der es sich im Ohrensessel gegenüber bequem gemacht hatte. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Kakaotasse, aus der ein hoher Berg süßer Sahne emporragte. «Bist du glücklich, Grandpa?»

Großvater zuckte zusammen. «Ich schätze, das ist ziemlich schwer zu beantworten», antwortete er schließlich.

«Ich meine, hast du immer alles richtig in deinem Leben gemacht? Dann müsstest du doch glücklich sein, oder?»

«Du meinst, ob ich etwas anders machen würde, wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte?»

«Genau!»

«Keine Ahnung. Ich schätze, da gäbe es eine Menge Dinge, die ich anders machen würde.»

«Also bist du nicht glücklich!», resümierte Svenja. «Wie wär´s, wenn du einen Wunschzettel schreibst – mit allem, was dich glücklicher machen würde?»

Er seufzte und schüttelte langsam den Kopf. «Großväter schreiben keine Wunschzettel. Aber früher, als ich so alt war wie du, da habe ich auch einen Wunschzettel unter den Tannenbaum gelegt.»

«Und warum tust du es nicht mehr?»

«Ach weißt du, irgendwann hatte ich das Gefühl, dass das Christkind kein Interesse mehr an mir hatte. So ist es eben, wenn man erwachsen wird.»

«Möchtest du denn nochmal Kind sein? So alt wie ich?»

Großvater lachte – doch es klang eher wehmütig als fröhlich. «Na klar. Dann könnten wir den ganzen Tag zusammen Blödsinn machen, um die Wette laufen und die Welt auf den Kopf stellen!»

«Dann wünsch es dir doch!»

«Wenn das so einfach wäre, hätte ich es schon längst getan.»

In diesem Moment klopfte es draußen am Fenster. Großvater zuckte erschrocken zusammen. Es war bereits dunkel, so dass er die Gestalt nicht erkennen konnte, die ihre gefrorene Nase an die Scheibe drückte. Schneeflocken dick wie Wattepads fielen vom Himmel und legten sich schützend über die kahlen Äste der Bäume.

Es klopfte abermals, als Großvater zum Fenster hinüber schlurfte.

Simon wunderte sich. Etwas hatte sich verändert. Der Raum erschien ihm vertraut und fremd zugleich.

«Kannst du nicht einen Zahn zulegen? Mir ist kalt!», rief die Gestalt auf der anderen Seite des Fensters.

«Schneller geht nicht, bin schließlich kein junger Spund mehr», gab Simon maulig zurück.

«Ach ja? Versuchs doch mal!»

Erst jetzt merkte er, dass sich seine Schmerzen im linken Knie in Luft aufgelöst hatten. Simon versuchte einen kurzen Spurt und stellte verdattert fest, dass es gelang. Er streckte sich nach dem Fenstergriff, doch es fehlten glatte 30 Zentimeter. Simon wusste zwar, dass man im Alter allmählich kleiner wurde, aber dieser beschleunigte Schrumpfungsprozess kam ihm mehr als seltsam vor.

Er griff nach einem Stuhl und kletterte hinauf. Sein Gesicht spiegelte sich in der Scheibe. Das ist nicht wahr!

«Mach schon auf!»

Er öffnete das Fenster mit offenem Mund und ließ die Gestalt hinein. Es war ein Mädchen, dessen blonden Haare zum großen Teil von einer hellblauen Mütze verborgen waren.

«Danke!», sagte das Mädchen und schlüpfte hinein.

«Wer bist du?»

«Weißt du denn, wer du bist?», konterte sie.

Ihre Frage traf ihn bis ins Mark. Er war noch er selbst, sah aber aus wie ein zehnjähriger Junge. Es war, als habe er sein ganzes Leben noch vor sich, und doch wusste ein Teil von ihm, dass er die Achtzig gerade überschritten hatte.

«Ich bin da, um dir zu sagen, dass du noch einmal ganz von vorn anfangen kannst.»

Sie klang ein wenig zu altklug für ihr Alter, aber das fiel ihm nur am Rande auf, denn er sah ja auch ein wenig zu jung aus.

«Bist du bereit?»

«Du meinst das wirklich ernst, ja?»

«Klaro, sonst hätte ich mir den Weg durch die Kälte ja sparen können. Du kannst alle Entscheidungen in deinem Leben noch einmal treffen.»

Simon starrte sie an, als hätte sie ihm gerade glaubhaft mitgeteilt, dass der Weihnachtsmann doch existiert.

«Du hast schon richtig gehört: Du darfst dir dein Leben jetzt genauso wünschen, wie du es gern gehabt hättest.»

«Bist du ´ne Zauberin oder sowas?»

Sie antwortete nicht und zog stattdessen ein Blatt Papier und eine altertümlich wirkende Schreibfeder aus ihrer Manteltasche.

«Beginnen wir mit deinen Eltern?»

«Ich soll mir jetzt einfach die Eltern aussuchen, die ich mir gewünscht hätte?»

«So ist es», bestätigte das Mädchen.

Simon dachte nach. Er erinnerte sich an Tage, an denen er mit seinen Eltern gar nicht einverstanden gewesen war, an denen er sich über sie geärgert hatte, an denen es Streit gegeben hatte. Aber hätte er wirklich andere Eltern gewollt? Es hatte auch schöne Tage gegeben, Tage, an denen er sich geliebt gefühlt hatte, Tage, an denen er froh gewesen war, dass sie für ihn da waren. Und – das wusste er heute – aus eigener Erfahrung: Es gab keine perfekten Eltern. Jeder machte auch Fehler. Eltern gaben immer ihr Bestes, aber auch sie waren einmal Kinder gewesen und hatten vielleicht etwas erlebt, das sie nicht ausreichend verarbeitet hatten. Er erkannte, dass er an seinen Eltern gereift war, dass sie ihn geliebt hatten, so gut sie eben konnten.

Simon winkte ab. «Lass mal.»

Das Mädchen ließ den Stift sinken. «Wie du willst. Was ist mit deinem Beruf? Was möchtest du tun?»

Genau diese Frage hatte er sich nach seinem Schulabschluss gestellt. War es richtig gewesen, eine Ausbildung zum Malermeister zu machen? Es war das, was er seiner Meinung nach am besten konnte. Natürlich hätte er auch andere Dinge gerne ausprobiert. Vielleicht hätte er mehr Geld verdient, wenn er einen anderen Beruf gewählt hätte. Aber der Malerpinsel lag ihm besser in der Hand als der Designerkuli eines Managers. Nichts gegen Manager. Jeder Beruf war richtig, solange er Spaß machte.

Er zuckte mit den Schultern und bemerkte verwirrt, dass er das Mädchen um einen Kopf überragte. Während er nachgedacht hatte, musste er unerkannt gewachsen sein.

«In Ordnung. Du bist der Boss. Wie sieht es aus? Mit welcher Frau möchtest du dein Leben verbringen?»

Gab es eine Frau, die er lieber geheiratet hätte, im Nachhinein betrachtet? Er schüttelte vehement den Kopf. Auch wenn ihn an manchen Tagen Zweifel beschlichen hatten, Tage, an denen er nach einem heftigen Streit kurz davor gewesen war, aufzugeben, so hatte er sie doch in der Tiefe seines Herzens immer geliebt. Und wenn er sich andere Beziehungen angeschaut hatte, hatte er festgestellt, dass es überall ähnlich war. Jeder Mensch hatte Macken und Fehler, etwas, über das man sich aufregen, an dem man sich reiben konnte. Unterschiedliche Meinungen prallten in jeder Beziehung immer wieder aufeinander. Er dachte an seine Kinder. Sie wären nicht da, hätte er sich nicht genau für die Frau entschieden, die er geheiratet hatte. Und er liebte seine Kinder über alles. Auch Svenja gäbe es nicht. Sie wäre nie geboren worden.

Simon begann zu zittern. Ein Schmerz fuhr durch sein Knie, als er einen Schritt zurückwich.

«Alles in Ordnung, Grandpa?», fragte Svenja.

Das Mädchen mit der blauen Mütze war verschwunden.

«Yes, Sir!» Das Zittern ließ allmählich nach, als er sich zurück zu seinem Sessel schleppte.

«Warum hast du das Fenster aufgemacht?»

«Ich habe …» Er stockte. «Du hast sie nicht gesehen?»

«Wen meinst du?»

«Ach nichts.»

Svenja blickte ihm lange in die Augen. «Du siehst glücklich aus, Grandpa», sagte sie schließlich.

«Das bin ich auch!» Er nahm sie in die Arme und war einfach nur dankbar, dass es sie gab.

Und, dass alles so war, wie es ist.

Ein Weihnachtstraum

Hicks!» Er setzte den Flaschenhals an den Mund und trank.

«Hicks!»

Verdammter Schluckauf!

Vor ihm lag eine leere Weinflasche. Zwei Euro neunundfünfzig bei Aldi.

Er fröstelte. Es war ein kalter Winterabend. Der Wind schlich durch die dunkle Straße und wirbelte ein paar braune Blätter auf, die vom Sommer übriggeblieben waren.

«Hicks!»

Er kicherte und nickte einer Schaufensterpuppe zu. «Prost!»

Die Schaufensterpuppe trug einen kurzen Rock.

«Komm raus und ... und leiste mir Gesellschaft!»

Die Schaufensterpuppe rührte sich nicht vom Fleck.

«Du solltest dir ... hicks ... einen längeren Rock anziehen. Es ist kalt hier draußen.»

Ihre Augen schauten regungslos auf den breitschultrigen Mann.

«Du bist dir wohl zu fein für mich! – Dann eben nicht!»

Er nahm die Zeitung, mit der er sich in dieser Nacht zudecken wollte. Jemand hatte sie liegen gelassen. Er setzte sich so, dass das Licht der Straßenlaterne auf die Zeitung fiel. Er hatte nie gern gelesen. Es interessierte ihn nicht, was in der Welt passierte. Er schlug den Anzeigenteil auf. – Vielleicht gab es irgendwo etwas zu verschenken.

Er fuhr mit dem Finger über die Seiten. «Gut erhaltener Computer. VB 1500 EURO», «Suche Briefmarken aus dem letzten Jahrtausend», «Weihnachtsbäume zu verkaufen!» So ging es weiter. Seite für Seite. Nichts zu verschenken. Er wollte die Zeitung gerade wieder zur Seite legen, als er stockte. Sein Finger war auf einer sonderbaren Anzeige liegengeblieben. Sie stand ganz unten rechts. Klein und unscheinbar, als gehörte sie nicht hierher.

Tausche F gegen H - Chiffre 224337

oder telefonisch unter 35661

F gegen H. Was sollte das?

Sein Blick fiel auf den Hut, der neben ihm lag. Manchmal träumte er, sein Hut sei bis zum Rand mit Einhundert-Euro-Scheinen gefüllt. Doch jedesmal, wenn er nachschaute, verwandelten sie sich in ein kleines Häufchen Zehncentstücke.

Er nahm ein paar Zehncentstücke aus dem Hut und ließ sie durch die Finger gleiten.

F ... F ... Fo ... Fl ... Er suchte nach einem Wort, das mit F begann. Flasche! ... Fuchs, ... Fisch. Er hasste Fisch. Fo ... Foto. Fa ... Fa ... Das Ganze erinnerte ihn an ein Spiel, das er als Kind gespielt hatte, wenn ihm auf Autofahrten langweilig geworden war. Er hatte versucht, aus den Buchstaben von Nummernschildern Wörter und Sätze zu bilden.

35661. Ob ... ob er da anrufen sollte?

Unsinn! Er hatte schließlich andere Probleme. Und wahrscheinlich war die Anzeige nichts weiter als ein alberner Scherz. Er nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche.

Er versuchte, an etwas anderes zu denken. Doch er ertappte sich dabei, wie er weitere Wörter mit F bildete. Als ihm keine Wörter mehr einfielen, versuchte er es mit H. Ha ... Ha ... Haferflocken. Er schluckte. Als er klein war, gab es morgens immer Haferflocken. Doch er hatte sich stets geweigert, den Mund aufzumachen, egal ob der Löffel für Papa war, für Mama oder Tante Anna. Was würde er jetzt für einen Teller voll Haferflocken geben? Hi ... Hu ... Hund, ... Hut ... Honig.

Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er die Nummer wählte.

3 ... 5 ... Es war lange her, seit er zuletzt telefoniert hatte. Wen hätte er auch anrufen sollen? Wer auf der Straße lebte, hatte keine Freunde ... 6 ... 6 ... 1.

Tüüüt. – Tüüüt. ... Vielleicht war niemand da ... Tüüüt ...

«Hallo?»

«Hallo ... ich ... ich rufe an auf Ihre Anzeige.»

«Ja ...?»

«Ich meine ... ich habe mich gefragt, was ...?»

«Was die Buchstaben in meiner Anzeige bedeuten?»

«Ja ...»

«Suchen Sie sich etwas aus.»

Ihre Stimme war angenehm.

«Was? ... Was soll ich mir aussuchen?»

«Was Sie von mir wollen ...»

«Ein ... eine Decke?»

«Habe ich mich etwa verschrieben? Es sollte heißen Tausche F ... gegen H.»

«Ach so. Ja ... ich meine, nein! Sie haben sich nicht vertan! ... Eine ... eine F ... Flasche ... Schnaps?», fragte er vorsichtig.

«Und was würden Sie mir dafür geben?»

«Ich ...ich habe nichts, das ich Ihnen geben könnte.»

«Jeder Mensch hat etwas, das er geben kann. Sagen Sie schon, was würden Sie mir geben?»

«Meine ... meine Socken?»

«Ein Wort mit H! – Sie haben doch meine Anzeige gelesen?»

«Ja ... Ja. – Meinen Hut?»

«Einen Hut? Mein Schrank ist voll davon! – Wie wäre es mit hundert Euro?»

«Hundert Euro? Für eine Flasche Schnaps? Sie ... sie ... hicks ... sind ja verrückt.»

«Und Sie sind betrunken!»

«Ja? ... Ja. Woher wissen Sie das?»

Sie antwortete nicht auf seine Frage. «Vielleicht möchten Sie lieber etwas anderes haben? Sie haben die freie Auswahl.»

«F ...»

Er warf das letzte Zehncentstück in den Schlitz.

«Mein ... mein Geld ist gleich alle!»

«Dann treffen wir uns morgen im Café? Fünfzehn Uhr. Café Krümel?»

Sie legte auf.

Er hielt den Hörer regungslos in der Hand. Seine letzte Verabredung lag viele Jahre zurück. Er betrachtete seine abgewetzte Jacke. Vielleicht sollte er einfach nicht kommen.

Er war zwei Minuten zu spät.

Niemand sah auf, als er das Café betrat.

Hinter einer Glasscheibe warteten zahlreiche Sahnetorten darauf, verspeist zu werden. Ganz zu schweigen von den Schokoladenkuchen, den Obsttorten und den Apfeltaschen.

Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

«Hätten Sie Zeit, ein Stück Torte mit mir zu essen?»

Er fuhr herum. An einem Ecktisch saß eine alte Dame und blinzelte ihm zu.

«Meinen ... meinen Sie mich?»

Die alte Dame nickte.

Auf dem Tisch standen zwei Teller mit Schwarzwälder Kirschtorte.

«Ich ... eigentlich habe ich eine Verabredung.»

«Nun setzen Sie sich schon.»

Er setzte sich auf den freien Platz gegenüber der alten Dame.

«Darf ich ... ich meine ...?»

«Aber ja ... Sie dürfen.»

Er verschlang die Schwarzwälder Kirschtorte so schnell, als fürchtete er, sie könnte sich wieder in Luft auflösen.

«Haben Sie sich entschieden?»

«Was ... was ...?»

«Sie erinnern sich doch noch an mich?»

«Sie ...? Aber ...»

«Ich nehme an, ich bin ein wenig älter, als Sie vermutet haben.»

«Ja ... – Ja!», gab er zu.

«Und?»

«Und ... was?»

«Haben Sie sich entschieden?»

«Ach so, ein Wort mit F ...»

Sie sah ihn erwartungsvoll an. In diesem Moment bemerkte er, dass ihre Augen unterschiedlich gefärbt waren. Das rechte schimmerte wie ein moosgrüner Teich, während das linke dem blauen Himmel an einem warmen Sommertag glich. Beinahe wie die Augen einer Fee.

«Also?»

«Eine ... ein ... nein, Sie haben mir schon ein Stück Torte geschenkt.»

«Schade!»

Sie stand mühsam auf und griff nach ihrem Stock.

Er sprang auf. «Kann ... kann ich Ihnen helfen?»

Sie nickte dankbar. «Manchmal stelle ich mir vor, dass mein Stock ein Zauberstab ist.» Ihre Augen bekamen einen verträumten Blick. «Dann wünsche ich mir, dass meine Beine wieder so schnell sind, wie sie einmal waren.»

«Wie sie einmal waren?»

«Ich war Hundert-Meter-Läuferin. Aber das ist lange her.»

«Und ... und ist er wirklich ein Zauberstab?»

Sie zuckte mit den Schultern. «Wer weiß ...?»

Sie setzte behutsam einen Fuß vor den anderen. Er bemerkte, dass ihre dünnen Beine zitterten.

«Soll ... soll ich Sie nach Hause bringen?»

«Das würden Sie tun?»

«Ich kann Sie ja auf meinen Schultern tragen ...»

Sie lachte.

«Ich meine ... meine es ernst! Halten Sie sich fest!»

Sie lachte noch immer, als er sie vor Ihrer Wohnung absetzte.

«Das war die schönste Taxifahrt meines Lebens!», sagte sie mit Tränen in den Augen.

«Das … war doch selbstverständlich», entgegnete er verlegen.

«Nein – war es nicht», widersprach sie.

Er räusperte sich. «Also – wenn sie mal wieder Hilfe brauchen …»

Sie strahlte. «Dann kommen Sie doch heute Abend vorbei und helfen mir beim Essen meines Festbratens. – Oder … Sie haben sicher schon etwas anderes vor!»

«Nein. Ich … ich würde wirklich gerne kommen.»

Sie drückte ihm einen Fünfzig-Euro-Schein in die Hand. «Und bringen Sie einen Weihnachtsbaum mit!»

Ich blätterte um. Jemand hatte die letzte Seite der Geschichte herausgerissen. Enttäuscht legte ich das Buch beiseite. Vielleicht war es nur eine leere Seite gewesen, die jemand als Notizzettel verwendet hatte … Oder ging die Geschichte noch weiter? Hatte der Autor seinen Lesern verraten, was aus den Buchstaben der Anzeige geworden war? Ich ertappte mich dabei, wie ich selbst nach Wörtern mit F … und dann mit H suchte.

Schließlich las ich die Geschichte noch einmal und fahndete nach Hinweisen, die ich beim ersten Lesen übersehen hatte. Fünfzig-Euro-Schein? Festessen? Hilfe? Hilfe! Das war möglich. Aber der Fünfzig-Euro-Schein und das Festessen? Beides schien mir zu profan für ein Wort, dessen Anfangsbuchstabe es in den Titel der Geschichte geschafft hatte. Also überlegte ich mir, wie ich die Geschichte weiter geschrieben hätte. Ich hätte dafür gesorgt, dass sie sich wieder getroffen hätten. Und vielleicht wäre daraus … Ja, das ergab einen Sinn. Immerhin – es wäre eine Buchstabenkombination, die es verdient hätte, den Rang eines Titelwortes zu erhalten.

Dann hatte ich eine Idee: Mein Buchexemplar konnte nicht das einzige sein. Ich beschloss, vor meinem Kundentermin um 6 noch in der Bücherei vorbeizuschauen. Kurz nach 5 betrat ich mit meinem Aktenkoffer den mit Buchstaben gefüllten Raum, die sich hinter unzähligen Buchdeckeln verbargen.

Ich hatte Glück. Im vierten Regal stand das Buch, nach dem ich gesucht hatte. Ich setzte mich in einen der Lesesessel und schlug es auf. Ich hatte Recht! Es gab noch eine weitere beschriebene Seite! Da standen sie: die Buchstaben, die in meinem Buch gefehlt hatten:

Fünfzig Euro! Soviel Geld hatte er schon seit Jahren nicht mehr in der Hand gehalten. Für einen Moment war er versucht, das Geld einfach zu behalten. Er schüttelte den Kopf und wischte den Gedanken wie eine lästige Fliege beiseite.

Stattdessen kaufte er den schönsten Tannenbaum, den er finden konnte. Auf dem Rückweg blieb er vor dem Schaufenster eines Second-Hand-Ladens stehen. Er zögerte. Ob die alte Dame sich freuen würde, wenn er mit einem sauberen Hemd käme?

Er fand ein weißes Hemd und eine passende Hose für 5 Euro. Er würde es zurückzahlen, egal wie. Doch vielleicht hatte ihm die alte Dame absichtlich mehr Geld gegeben, als man für einen wohnungstauglichen Baum bezahlen musste …

Er wusch sich auf einer öffentlichen Toilette und zog sich an. Als er in den zerkratzten Spiegel blickte, erkannte er sich kaum wieder.

Mit dem Baum auf der Schulter klingelte er bei Einbruch der Dämmerung an der Tür der alten Dame und ertappte sich bei dem Wunsch, eine gute Freundin zu besuchen. Die ehemalige Hundert-Meter-Läuferin öffnete die Tür und zog die Mundwinkel nach oben. Er erwiderte ihr Lächeln.

«Dann mal herein, junger Mann!»

Während er den Baum einstielte, gelang es dem Duft der im Ofen garenden Gans, ins Wohnzimmer zu gelangen.

Er schielte hungrig in die Küche und machte sich daran, den Baum zu schmücken.

Als die Gans auf dem Tisch stand, hatte er beinahe das Gefühl Zuhause zu sein. «Nur ein Traum», murmelte er.

«Manchmal … werden Träume Wirklichkeit», entgegnete die alte Frau leise.

Zufrieden legte ich das Buch beiseite und blickte auf die Uhr. Ich sprang auf. Der Kundentermin! Im gleichen Moment begann es in meinem Kopf zu brummen. Wieder diese Kopfschmerzen, die mich in letzter Zeit immer öfter während der Arbeit heimsuchten. Der Kunde musste den Vertrag unterschreiben, wenn ich mein Monatsziel erreichen wollte! Ich hastete aus der Bücherei, übersah die Stufe, die das Erdgeschoss vom Fußweg trennte, und landete kopfüber in einer großen Pfütze, die ein Regenschauer hinterlassen hatte. Es blieb mir nichts anderes übrig als den Kundentermin abzusagen. Ich zog das Handy aus meinem durchnässten Mantel und stellte fluchend fest, dass es nicht reagierte.

Zuhause griff ich nach dem Telefon und bat den Kunden, um eine Verschiebung des Termins. Dann ging ich ins Badezimmer und ließ warmes Wasser in die Wanne laufen. Bevor ich in die Wanne stieg, wählte ich die Nummer der Morgenpost.

«Ja bitte?»

«Ich möchte eine Anzeige für den morgigen Donnerstag aufgeben.»

«Ich notiere.»

«Tausche M gegen E.»

«Wie bitte?»

«Tausche M gegen E.»

«Sie müssen es ja wissen. - Ihre Chiffre-Nummer ist 355367.»

Ich legte auf und war gespannt, was M und E am Ende bedeuten würden. Natürlich: In meinem Kopf waren zwei Wörter, die in Frage kamen. Doch letztendlich kam es darauf an, wer sich auf die Anzeige melden würde.

Nachdem ich mich abgetrocknet und einen Bademantel angezogen hatte, setzte ich mich auf die Couch. Wie gewohnt griff ich nach der Fernbedienung und hielt plötzlich inne. Mein Blick ruhte auf der Gitarre, die schon seit Jahren neben dem Wohnzimmerschrank vor sich hinstaubte. Aus einem Impuls heraus holte ich sie herunter, zog neue Saiten auf und begann zu spielen.

Ich hatte nichts vergessen! Wie von selbst flogen meine Finger über die Saiten. Erstaunt bemerkte ich, dass zwei Stunden vergangen waren, als ich die Gitarre wieder weglegte.

Ich kroch in mein Bett und freute mich auf den nächsten Morgen. Alles konnte passieren … Ich dachte an den Obdachlosen und die alte Dame. Ein Tag konnte alles verändern. An jedem Tag konnte etwas Wunderbares beginnen. Ich schloss die Augen und entschied mit der felsenfesten Überzeugung eines Kindes, dass es keinen besseren als den morgigen Tag dafür gab.

Verloren im Labyrinth der Zeit

Darf ich auf deinem Schoß sitzen?», bettelte der kleine Junge.

Sein Großvater nickte gutmütig.

Der Junge liebte es, bei seinem Großvater zu sein, denn auf jede seiner Fragen wusste er eine wunderbare Geschichte zu erzählen.

«Großvater?»

«Ja?»

«Mama sagt immer, sie hat keine Zeit, wenn ich mit ihr spielen will. Aber – was ist eigentlich die Zeit?»

Großvater nickte und dachte darüber nach, ob er eine Geschichte über die Zeit kannte.

«Nun», begann er schließlich, «In ferner Vergangenheit, lange bevor du geboren wurdest, fing die Erde an, sich mit einem Mal schneller und schneller zu drehen. Die Tage und Nächte wurden kürzer und kürzer. Zumindest schien es den Menschen so. Denn sie strebten danach, immer mehr in immer weniger Zeit erreichen zu wollen. Daher bemerkten sie nicht, dass sie selbst es waren, die die Zeit vorantrieben, wie ein Kutscher seine Pferde. In dieser Zeit lebte ein Mann mit dem Namen Silas. Ich will dir nun von dem Tag erzählen, als Silas seine Zeit verlor....

***

.... Es war bereits dunkel, als Silas die Tür zu seiner Wohnung öffnete. Schon seit geraumer Zeit beschlich ihn das unangenehme Gefühl, als verfolgte ihn jemand. Verstohlen wagte er einen Blick über seine Schulter, bevor er in das Chaos seiner unaufgeräum­ten kleinen Wohnung eintauchte. Nichts! Da lag nur ein weiterer langer und anstrengender Tag hinter ihm, dessen quälende Gegenwart allmählich mit dem strömenden Regen im Erdboden versickerte. Den ganzen Tag schon versteckte sich die Sonne hinter einer dicken Wolkenwand, während sein Vorgesetzter ihn zu immer neuen Höchstleistungen getrieben hatte.

Silas war müde und hungrig. Seit dem Frühstück hatte er nichts mehr gegessen, doch der Blick in seine Vorratskammer verhieß nichts Gutes. Eine Reihe leerer Regale starrte ihm mit einer unbestimmten Mischung aus Mitleid und Schadenfreude entgegen. Seine goldene Arm­banduhr zeigte halb acht, während der Sekundenzeiger wie ein unschlagbarer Dauerläufer unaufhörlich seine Runden drehte. Nur noch eine halbe Stunde Zeit zum Einkaufen. Hastig zog er die regennassen Schuhe wieder an und rannte wie eine Maus auf der Flucht vor einer fauchenden Katze durch die hell erleuchteten Straßen der Stadt, bis er plötzlich verdutzt innehielt.

Hier war doch noch nie ein Geschäft gewesen. Er stand vor einem Schaufenster, auf das jemand mit großen Buchstaben «LEBENSMITTEL» geschrieben hatte. Bis zum Supermarkt würde es noch eine Weile dauern, überlegte er, und seine Füße waren schließlich schon nass genug. Also beschloss er, seine leeren Regale nicht länger als notwendig warten zu lassen. Lebensmittel waren schließlich Lebensmittel.