Schnee - Giles Whittell - E-Book

Schnee E-Book

Giles Whittell

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Beschreibung

"Dieser Gruß an die Freuden und Risiken des Schnees funkelt!" The Sunday Times In diesem Buch stürzen wir uns gemeinsam mit Ghiles Whittell Pisten hinunter, entdecken die Geheimnisse des Schnees, enträtseln die Form der Kristalle oder folgen Lawinenwarnungen bis in die abgelegensten Schnee-Lagen dieser Erde. Hier kommen Ski-Fans und Schnee-Wanderer ebenso auf ihre Kosten wie Leser, die sich vor dem Kamin gemütlich in eine Decke hüllen und schmökern möchten. Giles Whittell liebt den Schnee und damit Wintersport in jeder Form, auch wenn der gefeierte Journalist nicht in den Bergen, sondern in den Großstädten der Welt zu Hause ist. Nach Korrespondententätigkeit in L.A., Washington und Moskau lebt der Chefredakteur der Times mit Frau und drei Söhnen in London. Sein Buch über alle Geheimnisse des Schnees wurde in Großbritannien als eines der wichtigsten Reise-Bücher ausgezeichnet. Giles Whitell kennt aber nicht nur die höchsten Skigebiete, die Rodelhänge mit dem meisten Schnee oder die wichtigsten Wintersport-Resorts: Er weiß, dass Schnee direkt vom Himmel kommt, weshalb wir alle von diesem Phänomen beeindruckt sind und ihn hoffnungsfroh betrachten, zumal der Schnee alles mit einer wattig-weißen Schicht bedeckt und nicht nur die Landschaft verzaubert, sondern auch uns. Schnee erschafft eine alternative Wirklichkeit, in der wir Menschen uns verlieren, bis wir uns wie der Autor Giles Whittell in Schnee-verrückte Enthusiasten verwandeln. Nun gibt es endlich das ultimative Schnee-Buch, das Dank der Liebe des Autors zum Thema nicht einen Moment kalt lässt: Was Giles Whittell an Geheimnissen über den Schnee offenbart, ist bester Lesegenuss. Mit unterhaltsamem Faktencheck als Add-On. "Wie Whittell das Wunder einer Schneeflocke mit wissenschaftlicher Präzision beschreibt, das grenzt an Poesie." The Spectator

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Seitenzahl: 346

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Giles Whittell

Schnee

Alles über das weiße Geheimnis

Aus dem Englischen von Christiane Bernhardt

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Das Winter-Lesebuch zum Schmökern, Stöbern und Staunen: Gemeinsam mit dem Autor entdecken wir die Geheimnisse des Schnees, enträtseln die Form der Kristalle, wir stürzen uns mit Skifahrern Pisten hinunter und folgen Lawinenwarnungen bis in die abgelegensten Schneelagen dieser Erde. Denn laut Giles Whittell erschafft der Schnee eine alternative Wirklichkeit, in der wir Menschen uns verlieren, bis wir uns in schnee-verrückte Enthusiasten verwandeln.

Ein Schnee-Buch nicht nur für Winterfans, das uns Dank der Sprachkraft, aber auch der Liebe des Autors zu seinem Thema nicht einen Moment kalt lässt.

Inhaltsübersicht

Widmung

Einleitung

Eins Perfekter Schnee

Zwei Wenn Eisbären sprechen könnten

Drei Schneemo sapiens

Vier Was Bruegel sah

Fünf Die falsche Art Schnee

Sechs Rekordverdächtig

Sieben Winter des Schreckens

Acht Beim Spiel in den Schneefeldern der Götter

Neun Letzte Riten

Zehn Alpine Ingenieurskunst

Elf Schneepokalypse

Zwölf Snowbusiness

Dreizehn Nomaden im Schnee

Vierzehn Die Zukunft des Schnees

Fragen und Antworten zum Schnee

Dank

Anmerkung zu den Quellen

Für Lucinda, die mich mit echtem Schnee bekannt gemacht hat

EinsPerfekter Schnee

Steve: Das ist Schnee. Fühl mal.

Wonder Woman: Das ist magisch!

Steve: Ja, nicht wahr?

 

Wonder Woman, Drehbuch 2017

 

 

An einem Januarmorgen vor nicht allzu langer Zeit fanden die Einwohner der algerischen Stadt Aïn Séfra nach dem Aufwachen eine Überraschung vor. Seit kurz nach Mitternacht war Schnee auf die Sanddünen gefallen, die die Stadt umgeben. An manchen Stellen war er 30 Zentimeter hoch. Der Schulunterricht wurde verschoben, damit die Kinder draußen spielen konnten, was die meisten auch taten, denn in Aïn Séfra ist Schnee eine Seltenheit. Schließlich ist Aïn Séfra eine Oase am Rand der Sahara. Algier liegt etwa 500 Kilometer nordöstlich. Der Atlantik ist mindestens genauso weit entfernt, allerdings in Richtung Westen. Schnee ist hier so selten, dass er einem Wunder gleicht; und als die Kinder sich, Kopf voraus, in die Sanddünen warfen, die in weiß gekrönte Wellen verwandelt waren, kreischten sie wie wilde Papageien.

Auf dem Kamm der Dünen sah der Schnee so aus, als gehöre er dorthin. Weiter unten jedoch schmolz er schnell wieder weg. Eine Rutschpartie dauerte etwa fünf Sekunden, dann kamen die tapferen Kinder auf Sand auf, rannten wieder hinauf und legten gleich von vorne los. Mit jeder Rutschpartie wurde aus Schnee ein sandiger, pink eingefärbter Matsch. Am Vormittag war er verschwunden, doch keineswegs vergessen. Man hatte Videos aufgenommen und ins Internet hochgeladen, und zur Mittagszeit konnte man die Szenen längst auch in Brasilien sehen. Für all jene aber, die die intensive Kälte und Glätte gespürt hatten, blieb das Erlebnis einzigartig. So also fühlte sich Schnee an. Der Gedanke, es könne noch mehr Schneearten geben, wäre wahrscheinlich völlig abwegig erschienen. Entweder Schnee fiel auf einen oder eben nicht, und, Gott sei’s gelobt, er war gefallen. Die These wäre nicht zu gewagt, dass dies der großartigste Schnee der Welt gewesen sein musste. Zumindest solange er sich hielt. Was an die These des utilitaristischen Philosophen Jeremy Bentham gemahnt: Hier handelte es sich um »das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl an Menschen pro Schneeflocke«.

Mir gefällt die Aussage, aber sie ist nicht unproblematisch. Tatsächlich könnte man sich mit der schwarz auf weiß abgedruckten Behauptung, der Schnee von Aïn Séfra sei der großartigste der Welt gewesen, eine Klage einhandeln, da »der großartigste Schnee der Welt« ein Markenzeichen des US-Bundesstaats Utah ist und seit 1975 mit Argusaugen bewacht wird. Doch damit nicht genug: Das Konzept von »großartigem Schnee« ist kein einfaches Thema. Es ist umstritten, und es steht einiges auf dem Spiel.

Der Schnee von Aïn Séfra war kein meteorologischer Einzelfall. Er war Teil von etwas viel Größerem. Die wichtigste Zutat vor Ort war ein Sturm, der sich vom Atlantik bis ins Landesinnere bewegt hatte. Nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit, stieß er doch auf eisige Luft, die aus der über 4800 Kilometer entfernten Arktis stammte, was das Ereignis in ein Wetterphänomen verwandelte, wie es nur einmal in einer Generation vorkommt. Ungewöhnlich waren die Entfernung, die die Luft zurückgelegt hatte, die Masse und Temperatur und wie lange sie weiter einströmte. Auf ihrem Weg in den Süden hatte die arktische Luft Feuchtigkeit aus der Nordsee aufgenommen und für extreme Kälte und den heftigsten Schneefall innerhalb von 30 Jahren in den Alpen gesorgt.

Hätte es diesen alpinen Schnee nicht gegeben – er begrub den Gletscher oberhalb des Ortes Engelberg in der Schweiz unter einer Schneeschicht von fünfeinhalb Metern und weckte bei der älteren Generation vage Erinnerungen an etwas, von dem sie dachten, sie würden es nie wieder erleben –, hätte der Nebenschauplatz Aïn Séfra möglicherweise kaum Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Wie die Dinge lagen, wurde der Schneefall in der Sahara jedoch als Beweis für beunruhigende Theorien eines massiven Wandels des Wettergeschehens gewertet.

Der Nationale Wetterdienst Frankreichs kündigte den Retour de l’Est an, ein exotischer Name für östliche Winde, die aus Sibirien kommend das Schwarze Meer und den Mittelmeerraum streiften und schließlich aus östlicher Richtung auf die Alpen trafen, wo sich zeitgleich das atlantische Sturmtief aus dem Nordwesten einstellte. Angelsächsische Wetterbeobachter waren mit einer Hochdruckzone über Grönland beschäftigt, die den Golfstrom zu einem Umweg in Richtung Norden zwang vor der gewohnten Wende nach Europa. Und dann war da auch noch die Nordatlantische Oszillation, kurz: NAO, eine atomsphärische Schwankung, verursacht vom Azorenhoch und einem Islandtief. Sind beide schwach, spricht man von einer negativen NAO, was bedeutet, dass weniger Stürme vom Atlantik her Europa erreichen. Sind beide jedoch stark, wirkt sie sich negativ aus, und das verheißt stürmische Zeiten.

Im Januar 2018 war die NAO stark positiv. Normalerweise wäre der als Folge erwartete Regen relativ warm, doch der Retour de l’Est und das Grönlandhoch hatten ihn unverhofft abgekühlt. Daher die Aufregung – und der Schnee.

Ein Meter nach dem anderen fiel vom Himmel: mächtige Schneeladungen ohne Ende. Kaltfronten stauten sich über dem Nordatlantik und rollten dann über die Britischen Inseln und die Benelux-Staaten bis zu der Wasserscheide, die einst Hannibal überquert hatte. Und dort hingen die Wolken an den Alpen fest, und alles strömte aus ihnen heraus, ganz so wie bei einem Tanker, der auf ein Riff aufgelaufen ist.

Ich druckte Berichte, ganze 20 Seiten, von einer meiner Lieblingshomepages über Schnee aus und saß da und sah sie mir an. Bilder, die von Tourismusbüros und europäischen Wetterdiensten eingingen, zeigten allesamt Variationen des Themas »Begräbnis«. Begrabene Lastwagen. Begrabene Sessellifts. Begrabene Gebäude. Jede Oberfläche war gleichsam ein Podest für die Kunstinstallationen der Natur. Vergessen der Wunsch, den Rhythmus und die Routinen des alltäglichen Lebens aufrechtzuerhalten.

»Irrsinnige Schneehöhen in Cervinia«.

»Höchste Gefahrenstufe«.

»Außergewöhnlich starker und potenziell gefährlicher Schneefall …«

»Chaos in den Alpen!«

Solche Schlagzeilen lassen mein Herz höherschlagen. Zermatt war von der Außenwelt abgeschnitten. Besuchern von Tignes wurde es verboten, die Häuser zu verlassen, zu groß war die Gefahr, unter dem von den Dächern rutschenden Schnee lebendig begraben zu werden. Donald Trumps Helikopterflotte traf in Davos ein, begleitet von Schlagzeilen wie »Apocalypse Snow«. Jede Erinnerung an das vorangegangene, fade Jahr war verbannt, denn ausnahmsweise einmal konnten sich die Europäer einreden, in ihren Bergen fiele ebenso viel Schnee wie in den amerikanischen Mountains. Und auch wenn der Gedanke romantisch erscheint, so ganz wahr ist er nicht.

Einst eine große Schneemacht, muss sich Europa heute langfristig mit seinem Niedergang in Sachen Schnee abfinden. Es sind die geografischen Gegebenheiten des amerikanischen Westens und Westwinde, die vom größten Ozean der Welt stammen, die die USA als Schneefabrik schier unschlagbar machen. Nun schien das Jahr 2017 wie die Ausnahme dieser Regel, doch selbst dann noch hinkte Europa hinterher: Das Zusammenspiel der Erwärmung des Pazifiks und der unbeugsamen Berge an der Grenze zwischen Kalifornien und Nevada hatte ein Jahr zuvor nämlich etwas hervorgebracht, was die Alpen auf die Ränge verwies.

Zunächst hatte der Winter des Jahres 2016 in der Sierra Nevada lange auf sich warten lassen. Bis Weihnachten hatte es nicht viel geschneit, doch Anfang Januar zeigten Satellitenmessungen Wasserdampf in der Luft über dem Ostpazifik, Vorboten eines bekannten Musters. Feuchtigkeitsgesättigte Luft war in einem 160 Kilometer weiten Band zu erkennen, das auf der Höhe von Hawaii und Acapulco seinen Anfang nahm. Bei allem Respekt für den Ozean, aber das war ja mitten im Nirgendwo. Und dennoch wirbelten dort zwei gigantische Tiefdruckzonen in gegenläufige Richtung, die Feuchtigkeit in das Band zogen wie Teig in eine Nudelmaschine. Von hier dehnte sich das Band immer weiter aus, wurde über 3200 Kilometer lang und erstreckte sich nach Nordosten, wo es schließlich südlich von San Francisco die Küste erreichte. Während es sich so ausbreitete, stieß es auf Bodenerhebungen, die es gefrieren ließen, es in Schnee verwandelten.

Dieses Wettermuster wurde als »Ananas-Express« bekannt. Schließlich stammt es aus den Tropen und ist außerdem auf einigen der Karten der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) als grün-gelbe Linie erkennbar. Heutzutage ist die Wetterlage eher unter dem zeitgemäßeren Namen »atmosphärischer Fluss« bekannt; obgleich Yong Zhu und Reginald Newell, die beiden Wissenschaftler, von deren Forschungsarbeiten aus den 1990er-Jahren sich der Begriff herleitet, lieber von »troposphärischen Flüssen« sprachen.

Die Wortwahl von Zhu und Newell ist äußerst aufschlussreich. Die Troposphäre ist die unterste Schicht der Erdatmosphäre. Je tiefer eine Luftmasse hängt, umso wärmer ist sie, es kann darin mehr Feuchtigkeit gespeichert werden – und früher oder später muss sie auf Berge treffen.

Beinah der gesamte Wasserdampf, der in den großen atmosphärischen Fluss vom Januar 2017 eingespeist wurde, war auf 6000 Metern über dem Meeresspiegel oder darunter transportiert worden. Ein Teil kondensierte in Form von Regen aus und bewässerte die Gärten von Carmel und die Zitronenhaine des San Joaquin Valley. Der Rest sollte wenig später auf die Sierras treffen.

So also arbeiten Kalifornien und der Pazifik zusammen, um Schneestürme zu produzieren. Für einen großen Sturm müssen eine ganze Reihe von Variablen zusammenwirken. Tun sie das nicht, schmilzt der Schnee, und die Gärten in Los Angeles fallen starkem Regen zum Opfer; ernst zu nehmende atmosphärische Ströme aber können laut der NOAA15 Mal so viel Wasser mit sich führen wie der Mississippi.

»Es war wie ein Angriff mit einem Feuerwehrschlauch«, berichtete ein Meteorologe von der NASA der Nachrichtenagentur Associated Press, als der Schneefall begann.

Innerhalb von sechs Tagen, zwischen dem 6. und dem 11. Januar 2016, fiel in der Sierra Nevada so viel Schnee, dass nach der Schmelze 80 Wasserreservoirs wieder aufgefüllt wurden; als alles geschmolzen war, betrug das gesamte Wasservolumen 40 Kubikkilometer. Allein Mammoth Mountain, der in einem Abschnitt der High Sierra sitzt und Wettereinflüssen aus dem Norden und dem Süden ausgesetzt ist, bekam in den paar Tagen immerhin 4,5 Meter ab. Den restlichen Januar über und größtenteils auch noch im Februar zeigte sich der Feuerwehrschlauch jedoch weiterhin ergiebig. Squaw Valley zog die Aufmerksamkeit der Medien auf sich, als man verkündete, man werde den Skilift den gesamten Sommer über geöffnet lassen. Doch es war ein kleineres Resort auf der anderen Seite des Sees, das am tiefsten im Schnee versinken sollte: In Mount Rose, das man nach einer steilen Auffahrt in die Berge Renos erreicht, wurde bis zur Schließung der Skilifts eine Gesamtschneehöhe von beinahe 20 Metern gemessen.

Insgesamt 20 Meter Schnee, das übersteigt beinahe unsere Vorstellungskraft. Das entspricht drei zweistöckigen Häusern, allerdings aufeinandergestapelt. Als ich Mike Pierce, den Marketingleiter des Tourismusbüros in Mount Rose, mit der Frage konfrontierte, wie sich das angefühlt habe, sagte er: »Atomsphärische Flüsse wurden zur Normalität. Ba-boom, ba-boom, ba-boom, ba-boom. Es gab Momente, in denen wurde es einem zu viel. Es fühlte sich bodenlos an.«

Ich selbst verbinde mit atmosphärischen Flüssen positive Erinnerungen – auch wenn ich das damals so nicht formuliert hätte. Denn 1996 saß ich vier Tage fest, und während einer dieser Flüsse immer mehr Schnee auf den Mammoth Mountain abwarf, nahm ich allen Mut zusammen und fragte eine andere Schneesüchtige, ob sie mich heiraten wolle. Sie sagte Ja, und daher war dieser Schnee vielleicht auf seine ganz eigene Art perfekt. Vielleicht. Doch wenn man sich zu sehr auf den Schnee als Ganzes fokussiert, besteht die Gefahr, dass man die einzelnen Schneeflocken aus den Augen verliert.

Im nach ihr benannten Film sieht Wonder Woman auf einem vom Krieg verwüsteten Marktplatz zum ersten Mal Schnee. Sie ist fasziniert und nennt ihn »magisch« – und sie hat recht.

Schnee ist magisch, nicht zuletzt, weil ihm etwas Rätselhaftes anhaftet. Jedes Staunen über herabfallenden Schnee ist gerechtfertigt. Seit der ersten Flocke sind mehrere Milliarden Jahre vergangen. Wir können Gene bearbeiten und Membrane von der Dicke eines Atoms herstellen, doch wir wissen immer noch nicht, wie das Wachstum von Schneeflocken vor sich geht.

Weitere 320 Kilometer südlich des Mammoth Mountains ragt eine andere Bergkette über der Mojave-Wüste auf; und an ein paar wenigen Tagen im Jahr fällt auf der Nordseite Schnee. Das meiste, was dort runterkommt, liegt zwischen licht verteilten Douglasfichten auf über 8000 Metern Höhe, wo es den Boden kühlend bedeckt und auf die Gesichter derer ein Lächeln zaubert, die den Schnee dort zuverlässig aufgestöbert haben.

Einige Jahre lang war dieser Schnee für uns der nächstgelegene. Wir fuhren von unserem Zuhause in der Hitze L. A.s aus gern hinauf in die Berge, um ihn zu bewundern; was wir nicht ahnten: dass wir an jemandem vorbeikamen, der mehr tat, als nur zu staunen.

Die Straße zu den Bergen führt durch Pasadena in Kalifornien, die Heimstätte von Caltech, wo Ken Libbrecht die meiste Zeit damit verbringt, den Geräuschen des Weltalls zu lauschen, um Beweise für Neutronensterne und Gravitationswellen zu finden. Seine wahre Leidenschaft gilt jedoch den Schneeflocken, genauer gesagt, verbringt er den Großteil seiner Forschung damit, den Schneeflocken die Geheimnisse ihrer Morphologie zu entlocken. Am Caltech, wo er eigens von ihm entwickelte Geräte benutzt, hat er die perfektesten künstlichen Schneeflocken der Welt herangezüchtet und die bisher umfassendste Beschreibung ihres Wachstums vorgelegt.

Die Entstehung einer Schneeflocke beginnt mit ein paar Milliarden Wassermolekülen. In jeder handelsüblichen Wolke sammeln sich solche Wassermoleküle in winzigen Tröpfchen, die noch kein Dampf, dabei aber klein genug sind, um sich der Schwerkraft zu widersetzen. Sie schweben einfach dort herum, von der Luft getragen. Die Moleküle in ihnen drängen sich wie die Menschen beim Shoppen immer dicht zusammen, aber nicht in ordentlichen Reihen. Und – besonders erwähnenswert – sie haben eine natürliche Vorliebe für diesen flüssigen Zustand.

Wenn Wolken über dichteren Luftmassen oder an Bergwänden nach oben steigen, kühlen sie ab. In der Theorie sollten die einzelnen Wassertropfen darin gefrieren, sobald die Temperatur 0 °C beträgt, doch seltsamerweise geschieht das nicht. Ohne etwas, an dem es sich festsetzen könnte, kann Wasser bis zu minus 40 °C in einem extrem kalten flüssigen Zustand bleiben. Sogar wenn es etwas zum Andocken gibt, kann sich ein Tröpfchen in einer Wolke bis zu einer Temperatur von minus 6 °C dem Gefrieren widersetzen.1

Da kommt Staub ganz gelegen. Winzige Staubpartikel eignen sich perfekt als Kristallisationskeime für Eiskristalle, schließlich gibt es davon reichlich in der Luft. Sie stammen aus Vulkanen, von Waldbränden oder Stürmen, die über die Erde fegen, und tatsächlich auch von Schlachthöfen. So wurde im Januar 2011 ein ungewöhnlicher Schneefall in der Nähe von Dodge City in Kansas vom US National Weather Service den Dämpfen und dem Ruß zugeschrieben, die aus zwei Schlachtereien südöstlich der Stadt entwichen. Ein in der Nähe gelegenes Kraftwerk sorgte für noch mehr Dampf; und die drei Gebäude standen allesamt in Reih und Glied in Richtung des vorherrschenden Windes aus Südosten. Fast anderthalb Zentimeter Schnee fielen in Form eines sich ausdehnenden Schweifes nordöstlich der Stadt – genau dort, wo man ihn unter diesen Umständen erwarten würde. Das Gleiche passierte bei einem Atomkraftwerk in Pennsylvania, das in Windrichtung stand, und zwei Jahre später bei einer Kläranlage. In Sibirien behaupten die Leute, sie könnten es auf mehr oder minder gleiche Weise schneien lassen, indem sie einfach einen Topf lauwarmes Wasser durchs Küchenfenster ausleeren. Vermutlich hilft es, wenn sie ein paar Stockwerke weiter oben wohnen.

Üblicherweise verläuft die Entstehung einer Schneeflocke nicht ganz so prosaisch, doch sie beginnt immer mit einem Eiskristall, und der Kristall hat immer sechs Seiten.

Warum gerade sechs? Vor dem Siegeszug der Wissenschaft schlug diese Art Frage geradewegs in die tückische Kerbe zwischen Natur und Gott. Davon unbeeindruckt, veröffentlichte der deutsche Tagträumer Johannes Kepler 1611 einen Aufsatz zu dem Thema. Cum perpetuum hoc sit, sinnierte er, quoties ningere incipit, ut prima illa nivis elementa figuram prae se ferant asterisci sexanguli, causam certam esse necesse est, was so viel bedeutet wie: »Da immer, wenn es zu schneien beginnt, die ersten Schneeflocken die Figur von sechsstrahligen Sternen haben, muss es dafür eine bestimmte Ursache geben.«

Streng genommen ging Kepler eher der Form von Eis- als von Schneekristallen nach, doch es lief auf dasselbe hinaus: Er scheiterte an der Beantwortung der Frage. Kepler brütete über den Konstruktionsprinzipien der Natur, wie sie bei Erbsenschoten, Granatapfelkernen und Bienenwabenzellen vorgefunden werden, heutzutage als Prinzip der dichtesten Packung bekannt. Er fragte sich, ob Schneeflocken nach derselben Logik aufgebaut wären, wie man zur damaligen Zeit Kanonenkugeln stapelte – in Form einer Pyramide. In gewisser Weise trifft das zu, allerdings beruhten seine Ausführungen auf nicht viel mehr als einer Annahme.

Vier Jahrhunderte später wissen wir es besser. Die sechs Seiten eines Eiskristalls ergeben sich als natürlicher Winkel aus den zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom in einem Wassermolekül. Dieser Winkel beträgt immer genau 108