Schöne neue Psychiatrie – Band 1 - Peter Lehmann - E-Book

Schöne neue Psychiatrie – Band 1 E-Book

Peter Lehmann

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Beschreibung

In diesem Band stehen die vielfältigen Risiken und Schäden psychiatrischer Psychopharmaka auf der psychischen Ebene und im Bereich der geistigen Fähigkeiten im Mittelpunkt. Themenschwerpunkte: Psychopharmakabedingte emotionale Verarmung, Persönlichkeitsveränderung, Depression, Verzweiflung, Selbsttötung, Verwirrtheit, Delire und psychotische Zustände; Störungen der Sinnesorgane; Gedächtnis-, Konzentrations-, Schlaf- und Traumstörungen; Selbstversuche von Medizinern; Psychopharmakaversuche an Tieren. ++++ Leonard Roy Frank, der US-amerikanische Experte für Elektroschockschäden, stellt in einem eigenen Kapitel die negativen Wirkungen (insbesondere Gedächtnisverlust) dieser umstrittenen Methode dar. +++ Originalausgabe 1996. Mit umfangreichem Schlagwortverzeichnis, allen (im Jahr 1996) aktuellen deutschen, österreichischen und Schweizer Psychopharmaka-Handelsnamen und 1106 Quellenangaben.

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Peter Lehmann

Schöne neue Psychiatrie Band 1: Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken

Mit dem Artikel »Elektroschock« von Leonard Roy Frank

Aktualisierte Neuausgabe

»Schöne neue Psychiatrie« erschien original 1996 in zwei Bänden.

• Band 1: »Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken« (ISBN 978-3-925931-09-3)

• Band 2: »Wie Psychopharmaka den Körper verändern« (ISBN 978-3-925931-10-9).

Als gedruckte Buchausgaben sind beide Bände vergriffen. Band 2 – www.antipsychiatrieverlag.de/snp2 ist ebenso als ePUB E-Book (ISBN 978-3-925931-75-8), MobiPocket E-Book (ISBN 978-3-925931-76-5) und PDF E-Book (ISBN 978-3-925931-77-2) erhältlich.

Der Artikel »Elektroschock« von Leonard Roy Frank erschien original unter dem Titel: »Electroshock: Death, brain damage, memory loss, and brainwashing« im Journal of Mind and Behavior, Band 11 (1990), S. 489-502. Leonard Frank aktualisierte ihn für die deutsche Übersetzung, die Rainer Kolenda vornahm.

Die Fußnoten und die innerhalb von Zitaten kursiv gesetzten Erläuterungen in Klammern stammen von Peter Lehmann.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Gebrauchs- und Handelsnamen in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- oder Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Dies gilt insbesondere für Übersetzungen, Bearbeitungen, Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung und Einspeicherung in elektronischen Systemen.

© 2022 Peter Lehmann. Alle Rechte vorbehalten.

Berlin / Lancaster: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 2022

www.antipsychiatrieverlag.de · www.peter-lehmann-publishing.com

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-98756-151-1

Table of Contents
Innentitel & Impressum
Rechtlicher Hinweis
Vorwort zur eBook-Neuausgabe
Vorwort zur Originalausgabe von 1996
Einleitung
Schöne neue Psychiatrie?
Pro & contra Psychopharmaka / Elektroschocks
Lesehinweise
Überblick
Die psychiatrischen Psychopharmaka
Elektroschock
Aufbau des Zentralnervensystems
Neuroleptika
Indikationen
Unerwünschte psychische Wirkungen
Emotionale Verarmung
Ruhigstellung
Wie Neuroleptika emotional panzern
Energie- und Willenlosigkeit
Persönlichkeitsveränderung
Arbeitsschwierigkeiten
Psychische Erstarrung
Hirnlokales Psychosyndrom
Bleibende und tödlich endende Apathie
Depression und Suizidalität
Depressiv machende Eigenwirkung
Depressionen mit Bewegungsunfähigkeit
Zukunftsängste
Veränderte Stimmung nach dem Absetzen
Versuchte und vollendete Selbsttötung
Suizidalität und Sitzunruhe
Risikofaktor Depot-Neuroleptika
Weitere neuroleptikabedingte Risikofaktoren
Weitere psychiatrische Risikofaktoren
Lässt sich diese Suizidalität verhindern?
Verwirrtheit und Delir
Emotionale Labilität
Angstzustände und Aggressionen
Hirnorganisch bedingte Psychosen
Supersensitivitäts- und tardive Psychosen
Delire
Vorboten und Verlauf von Deliren
Bleibende und tödliche Folgen von Deliren
Häufigkeitsangaben
Apathie, Depressionen und Suizide
Verwirrtheitszustände und Delire
Über die psychischen ›Nebenwirkungen‹
Schadensursache Überdosierung?
Dramatische Zunahme der Selbsttötungen
Nur Nebenwirkungen?
Selbstversuche von Psychiatern
Gerhard Orzechowski
Klaus und Cécile Ernst
Hans Heimann und Peter Nikolaus Witt
Ernst Grünthal
Rudolf Degkwitz
Weitere Selbstversuche
Tierversuche
Bewegungsunfähigkeit
Ruhigstellung, Reflexdämpfung, vegetative Wirkungen
Wesensveränderungen
Neuroleptika in der Tiermedizin
Geistig-zentralnervöse Störungen
Wirkungsweise im Zentralnervensystem
Auswirkungen im Zentralnervensystem
Wirkung bei Tieren
Wirkung bei Menschen
Wachstörungen
Störungen der Sinnesorgane
Schlaf- und Traumstörungen
Bleibende Schäden
Tödliche Behandlungsverläufe
Häufigkeitsangaben
Über die geistig-zentralnervösen ›Nebenwirkungen‹
Schadensursache Überdosierung?
Nur Nebenwirkungen?
Sauerstoffmangelversuche
Erwünschte geistig-zentralnervöse Wirkungen
Schlussbetrachtung
Wirken Neuroleptika antipsychotisch?
Neuroleptika plus Elektroschocks
Antidepressiva
Indikationen
Unerwünschte psychische Wirkungen
Gefahr der Selbsttötung
Suizide und Suizidversuche in der AMÜP-Studie
Toxische Psychosen und Delire
Geistig-zentralnervöse Störungen
Häufigkeitsangaben
Über die ›Nebenwirkungen‹
Selbstversuche
Schlussbetrachtung
Lithium
Indikationen
Unerwünschte psychische Wirkungen
Geistig-zentralnervöse Störungen
Syndrom der Lithiumvergiftung
Riskante Kombinationen
Häufigkeitsangaben
Über die ›Nebenwirkungen‹
Schlussbetrachtung
Carbamazepin
Indikationen
Unerwünschte psychische Wirkungen
Geistig-zentralnervöse Störungen
Über die ›Nebenwirkungen‹
Schlussbetrachtung
Psychostimulanzien
Indikationen
Unerwünschte psychische Wirkungen
Paradoxe Wirkungen, Aggressivität, Psychosen
Geistig-zentralnervöse Störungen
Über die ›Nebenwirkungen‹
Schlussbetrachtung
Tranquilizer
Indikationen
Unerwünschte psychische Wirkungen
Ruhigstellung, Persönlichkeitsveränderung
Depression, Verzweiflung, Selbsttötung
Verwirrtheit und Delir
Feindseligkeit, Aggressivität
Hirnorganisch bedingte Psychosen, Angst, Panik
Geistig-zentralnervöse Störungen
Bewusstseins- und Gedächtnisstörungen
Am Beispiel Triazolam (Halcion)
Bleibende Schäden
Häufigkeitsangaben
Über die ›Nebenwirkungen‹
Tierversuche
Selbstversuche
Schlussbetrachtung
Elektroschock (Leonard R. Frank)
Der Insulinkoma-›Patient‹
Der erste Elektroschock
Zahlen und Fakten
Anwendungsmethoden
Behauptungen zur Wirksamkeit
Hirnschäden
Gedächtnisverlust
Modifikationen des Elektroschocks
Elektroschock und Gehirnwäsche
Schlussbetrachtung
Schlusswort
Vorenthaltene Aufklärung oder Selbstinformation
Informierte Einwilligung?
Wie, wann und worüber muss aufgeklärt werden?
Anhang
Fachbegriffe, Fremdwörter, Abkürzungen
Quellen
Über die Autoren
Weitere Titel bei Peter Lehmann Publishing und im Antipsychiatrieverlag

Rechtlicher Hinweis

Unser Wissen ist ständigen Entwicklungen unterworfen. Erfahrungen erweitern unsere Erkenntnisse, auch was die medizinische Behandlung von Menschen mit psychischen Problemen und die Beendigung der Behandlung anbelangt. Soweit unerwünschte Wirkungen von Psychopharmaka und Elektroschocks in diesem Buch erwähnt werden, dürfen die Leserinnen und Leser darauf vertrauen, dass der Autor große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand 1996 bei Fertigstellung der Publikation entsprachen. Da individuelle Faktoren (körperlicher und psychischer Zustand, Alter, soziale Lebensverhältnisse etc.) die Verträglichkeit psychopharmakologischer und elektrotechnischer Anwendungen beeinflussen, dürfen die Aussagen jedoch nicht als problemlos übertragbar auf alle Menschen aufgefasst werden.

Die Leserinnen und Leser sind angehalten, durch sorgfältige Prüfung ihrer Lebenssituation und gegebenenfalls nach Konsultation eines geeigneten Spezialisten bzw. einer Spezialistin festzustellen, ob ihre Entscheidung, nach der Lektüre dieser Publikation Psychopharmaka einzunehmen, ihre Dosis, Einnahmeform oder Kombination beizubehalten, zu verändern oder auf eine spezielle Weise abzusetzen, in kritischer und verantwortlicher Weise erfolgt. Dies betrifft ebenso den Entschluss, sich Elektroschocks verabreichen zu lassen oder lieber nicht.

Eine sorgfältige Prüfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Präparaten und Apparaten oder solchen, die neu auf den Markt gebracht worden sind. Aufgrund dieser Umstände übernimmt der Autor und Verleger keine Verantwortung für die Folgen unerwünschter Wirkungen beim Einnehmen, Verweigern, Reduzieren oder Absetzen von Psychopharmaka bzw. einem Ja oder Nein zu Elektroschocks.

Peter Lehmann

Vorwort zur eBook-Neuausgabe 2018

Seit der Originalausgabe des Buches 1996 hat sich einiges geändert. Manche Psychopharmaka sind vom Markt genommen worden, neue kamen hinzu. Der Elektroschock wird zunehmend verabreicht. Nicht geändert hat sich der Anstieg der Verordnungszahlen von Antidepressiva und Neuroleptika, insbesondere der neuen, patentgeschützten, gewinnbringenden und deshalb massiv beworbenen Substanzen. Einige dieser Antidepressiva und Neuroleptika wurden schon 1996 oder zuvor eingeführt, sind also in diesem Buch enthalten. Bei den Neuroleptika sind dies Amisulprid, Clozapin, Risperidon und Sulpirid, bei den Antidepressiva Citalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Mirtazapin, Paroxetin, Sertralin und Venlafaxin.

Nach 1996 auf den Markt gekommene bzw. als neu geltende Substanzen finden Sie in dem Buch »Neue Antidepressiva, atypische Neuroleptika – Risiken, Placebo-Wirkungen, Niedrigdosierung und Alternativen« von Peter Lehmann, Volkmar Aderhold, Marc Rufer und Josef Zehentbauer (siehe Anzeige am Ende dieses E-Books und www.peter-lehmann-publishing.com/neue-ebook). Es enthält zudem einen ausführlichen Exkurs zur Wiederkehr des Elektroschocks mit Informationen zu seinen modernen Varianten, den ausgeweiteten Indikationen, den von den Anwendern intern eingestandenen Schäden, den besonderen Risiken bei seiner Anwendung in der Schwangerschaft und den Appell der Anwender (die als Sprachrohr der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde – DGPPN) fungieren, Patientenverfügungen gegebenenfalls zu übergehen und mit rasch und massiv verabreichten Elektroschocks vollendete Tatsachen zu schaffen.

Geändert hat sich auch die Rechtslage zumindest in Deutschland. Gemäß BGB § 1901a (Patientenverfügungsgesetz) können auch Menschen mit psychiatrischen Diagnosen einigermaßen rechtswirksam verfügen, wie sie zukünftig behandelt oder nicht behandelt werden wollen. Es ist ratsamer denn je, eine Psychosoziale Patientenverfügung zu verfassen (Lehmann, 2015).

Mittlerweile sind die Ausführungen in »Schöne neue Psychiatrie« zur verminderten Lebenserwartung psychiatrischer Patientinnen und Patienten vielfältig bestätigt worden. Fachintern diskutieren Psychiater, die ihre Augen nicht komplett vor der Wirklichkeit verschließen, in Deutschland (siehe Hoffmann, 2007; Aderhold, 2007) und international über die Ursachen der ca. zwei bis drei Jahrzehnte verminderten Lebenserwartung. 2006 wies beispielsweise Joe Parks, Vorsitzender des Beirats der Ärztlichen Leiter der US-amerikanischen National Association of State Mental Health Program Directors, auf die große Zahl früh sterbender Patientinnen und Patienten »mit schwerer psychischer Erkrankung«, das heißt Menschen mit den Diagnosen »Schizophrenie«, »bipolare Störung«, »schwere Depression« oder »Persönlichkeitsstörung«). Der Psychiater warnte:

»Es ist seit Jahren bekannt, dass Menschen mit schwerer psychischer Erkrankung früher sterben als die Durchschnittsbevölkerung. Allerdings zeigen jüngste Ergebnisse, dass sich die Rate für Anfälligkeiten (Krankheit) und Sterblichkeit (Tod) in diesem Personenkreis beschleunigt hat. Tatsächlich sterben Menschen mit schwerer psychischer Erkrankung nunmehr 25 Jahre früher als die Durchschnittsbevölkerung.« (Parks, 2006)

Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen wies Parks auf den Zusammenhang des frühen Todes mit den Neuroleptika der neuen Generation hin:

»Allerdings sind mit zunehmender Zeit und Erfahrung die antipsychotischen Medikamente der zweiten Generation stärker mit Gewichtszunahme, Diabetes, Dyslipidemie (Fettstoffwechselstörung), Insulinresistenz und dem metabolischen Syndrom (Komplex aus Übergewicht, Störungen des Fettstoffwechsels, Bluthochdruck und Insulinresistenz) in Verbindung gebracht worden, die Überlegenheit des klinischen Ansprechverhaltens (außer für Clozapin) wurde bezweifelt. Andere psychotrope Medikationen, die ebenfalls mit Gewichtszunahme verbunden sind, können ebenso Anlass zur Sorge geben.« (Parks et al., 2006, S. 6)

Die seit Jahren steigenden Verordnungszahlen zeugen nicht gerade von großer Sorge unter Psychiatern.

Quellen

Aderhold, Volkmar (2007): »Mortalität durch Neuroleptika«, in: Rundbrief des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener, Nr. 3, S. 11-15

Hoffmann, Michaela (für die Redaktion) (2007): »Liebe Leserinnen und Leser«, in: Soziale Psychiatrie, 31. Jg., Nr. 4, S. 2

Lehmann, Peter (18.12.2015): »PsychPaV – Psychosoziale Patientenverfügung. Eine Vorausverfügung gemäß StGB § 223 und BGB § 1901a«

Parks, Joe (Oktober 2006): Foreword, in: Joe Parks, Dale Svendsen, Patricia Singer & Mary Ellen Foti (Hg.): »Morbidity and mortality in people with serious mental illness«, Online-Publikation, Alexandria: National Association of State Mental Health Program Directors, Medical Directors Council, S. 4

Parks, Joe / Svendsen, Dale / Singer, Patricia / Foti, Mary Ellen (Hg.) (Oktober 2006): »Morbidity and mortality in people with serious mental illness«, Online-Publikation, Alexandria: National Association of State Mental Health Program Directors, Medical Directors Council

August 2018

Peter Lehmann

Vorwort zur Originalausgabe von 1996

Die Buchveröffentlichung »Der chemische Knebel – Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen«, 1986 erstmals erschienen und seit 2010 in der sechsten Auflage vorrätig, löste eine Welle von Briefen Betroffener, Angehörigen und einiger weniger psychiatrisch Tätiger aus. Haupttenor der Schreiben war das Dilemma der Situation der Psychiatrisierten, ihre Ohnmacht, ihre Wissenslücken, ihr Misstrauen. Mediziner und Psychiater blieben insgesamt stumm, mit Ausnahme von Peter Breggin, Peter Stastny, Josef Zehentbauer und Marc Rufer, die andererseits ohnehin bereits seit Jahren recht einsame Warner vor den gängigen Psychiatriemethoden sind. Lediglich eine Rezension des Leiters der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel, Asmus Finzen, lässt ahnen, dass das Buch auch ins Bewusstsein der institutionellen Psychiatrie vorgedrungen ist; denn es schien ihm daran gelegen zu sein, sich »mit der Denkweise Lehmanns vertraut« zu machen, um den Beschwerden und Klagen seiner ›Patienten‹, die sich auf den »Chemischen Knebel« berufen, besser entgegnen zu können und ihnen »ihre Angst zu nehmen« 283.

Die Reaktionen auf mein Buch, die damit verbundenen Fragen von Seiten der Betroffenen sowie die notwendigen Aktualisierungen und Ergänzungen (Antidepressiva, Lithium, Carbamazepin, Psychostimulanzien und Tranquilizer) brachten vier eigenständige neue Bücher. Da die körperlichen, geistigen und psychischen Auswirkungen der psychiatrischen Psychopharmaka von gravierender Bedeutung sind, habe ich ihre Darstellung völlig neu konzipiert und auf zwei jeweils in sich abgeschlossene Bücher verteilt: »Schöne neue Psychiatrie, Band 1: Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken«, und »Schöne neue Psychiatrie, Band 2: Wie Psychopharmaka den Körper verändern«. Das Buch »Psychopharmaka absetzen – Neuroleptika, Antidepressiva, Lithium, Carbamazepin, Psychostimulanzien und Tranquilizer« wird in absehbarer Zeit folgen. »Statt Psychiatrie« (unter anderem mit dem Kapitel »Ausstieg aus der Psychiatrie«), entwickelt aus dem Anhang zum »Chemischen Knebel«, eine Sammlung von Artikeln über alternative Möglichkeiten zur Bewältigung akuter psychischer Krisen und psychiatrischer Bedrohung, gab ich bereits 1993 gemeinsam mit Kerstin Kempker heraus.

Einleitung

Wer Klarheit über die Risiken will, die mit der Verabreichung von psychiatrischen Psychopharmaka und von Elektroschocks verbunden sind, muss sich mit deren Wirkungsweise und Auswirkungen auseinandersetzen, erst recht, wenn ärztlicherseits das Interesse an einer umfassenden Aufklärung zu wünschen übrig lässt. Das Buch kann angesichts der Inhalte zugegebenermaßen keine leichte Lektüre sein. Umfassende und eindeutige Informationen, die in dieser Form den sogenannten Laien von den Ärzten und Psychiatern nach wie vor vorenthalten werden, sollen das psychiatrische Dilemma (»Schöne neue Psychiatrie«) beim Namen nennen und dazu beitragen, das kritische Potenzial der Betroffenen und ihnen nahestehender Personen weiterhin zu schüren. Sie können so – sofern sie überhaupt die Chance haben – selbst wählen und sich eigenständig für oder gegen Psychopharmaka und Elektroschocks entscheiden. Ist bereits ein Schaden eingetreten, soll der Nachweis erleichtert werden, daß der Schaden auf die Behandlung zurückzuführen ist.

Schöne neue Psychiatrie?

»Brave new world«, 1932 original erschienen, hieß der bekannte Zukunftsroman des englischen Wissenschaftlers und Literaten Aldous Huxley (1894-1963), sein prophetischer Alptraum einer übertechnisierten und entindividualisierten Welt, in der die Versklavung der Massen mit einem durch die Droge »Soma« garantierten und genormten Glück Hand in Hand gehen. Der Titel »Brave new world« von Huxleys Satire ist einer Zeile aus der Komödie »The tempest« (»Der Sturm«) von William Shakespeare entlehnt, in der es heißt: »O, wonder! / How many goodly creatures are there here! / How beauteous mankind is! O brave new world, / That has such people in’t!« 900:89 (Ausspruch Mirandas, 5. Aufzug, 1. Szene; deutsche Übersetzung: »Oh Wunder! / Was gibt's für herrliche Geschöpfe hier! / Wie schön der Mensch ist! Wackre neue Welt, / Die solche Bürger trägt!« 900:89) 1959 veröffentlichte Huxley »Brave new world revisited« (deutsche Übersetzung: »Wiedersehen mit der Schönen neuen Welt«, späterer Titel: »30 Jahre danach«). Huxley maß seine Visionen der 1930er Jahre an der Realität der späten 1950er und kam zu dem Schluss, dass ein Teil längst bittere Wirklichkeit geworden war. Hierzu zählte er die Manipulation des Menschen durch »Soma«.

Im Kapitel »Chemische Beeinflussung« kam er unter anderem auf den Neuroleptika-Prototyp Chlorpromazin, das chemisch eng verwandte Reserpin sowie den Tranquilizer Miltown (Wirkstoff Meprobamat; 1996 im Handel als Cyrpon, Epikur, Meprobamat, Meprodil, Microbamat, Miltaun, Pertranquil und Visano; enthalten in Lenticor und Medium) zu sprechen, die damals neuesten Produkte der Pychopharmaka-Industrie:

»Am meisten in der Öffentlichkeit angepriesen werden unter diesen die drei neuen Beruhigungsmittel Reserpin, Chlorpromazin und Meprobamat. Bei gewissen Klassen von Psychopathen angewendet, haben sich die beiden ersten als bemerkenswert wirksam erwiesen, nicht indem sie Geisteskrankheit heilen, sondern indem sie deren unangenehmere Symptome, zumindest zeitweilig, zum Schwinden bringen. (...) Keines dieser Mittel ist völlig harmlos; aber ihr Preis, in körperlicher Gesundheit und geistiger Leistungsfähigkeit ausgedrückt, ist außerordentlich gering. In einer Welt, in welcher niemand etwas umsonst bekommt, bieten Beruhigungsmittel sehr viel für sehr wenig. Miltown und Chlorpromazin sind noch nicht Soma; aber sie kommen gewissen Eigenschaften dieses mythischen Präparats ziemlich nahe. Sie gewähren zeitweilige Befreiung von nervöser Spannung, ohne in der großen Zahl der Fälle dauernden organischen Schaden zuzufügen und ohne mehr als eine ziemlich leichte Beeinträchtigung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten während ihrer Wirkung zu verursachen.« 475:319f.

Wäre es Huxley vergönnt gewesen, noch »60 Jahre danach« zu schreiben, hätte er vermutlich den Boom an Tranquilizern für den Aufbruch in ein realisiertes modernes Somazeitalter gehalten. Dabei sind diese Substanzen nicht frei von unangenehmen ›Nebenwirkungen‹ und besitzen zudem ein abhängig machendes Potenzial. Studien über unerwünschte Wirkungen lagen zu seiner Zeit kaum vor, anders bei Neuroleptika. Interessant ist hier, dass Huxley offensichtlich ein Opfer von Manipulation und Schönrednerei geworden ist. Anders ist seine blauäugige Einschätzung der Negativfolgen von Chlorpromazin, Reserpin und Meprobamat als »außerordentlich gering« nicht zu erklären. Denn die Berichte über die Anwendungen aus den frühen 1950er Jahren, die er sich hätte zugänglich machen können und in denen spontan auftretende Schäden im Mittelpunkt stehen, wiesen bereits mit aller Deutlichkeit auf mittel- und langfristige Schädigungen hin. Und so nimmt es nicht wunder, dass schon 1962 Walter Schulte von der Psychiatrischen Universitätsklinik Tübingen die aufkommende »Schöne neue Psychiatrie« hinter den Klinikmauern wie folgt beschreiben konnte:

»Geht man heute durch die Abteilungen einer Anstalt, so ist eigentlich nicht mehr die Unruhe das Problem, sondern diese geradezu beunruhigende Ruhe der Erstarrung, Lähmung und Abstumpfung.« 883;zit.996:63

Pro & contra Psychopharmaka / Elektroschocks

Ideologisches Fehlgeleitetsein, psychotische Wirklichkeitsverkennung oder Ignoranz infolge destruktiver Triebstruktur, das sind Etikettierungen, die viele Psychiater, die pharmazeutische Industrie und die von ihr mit teuren Anzeigen gesponserten Fachzeitschriften für die Warner vor unkalkulierbaren Risiken psychiatrischer Anwendungen parat haben, die sie für segensreich, einzigartig effektiv zu preisen keine Mühen und Kosten scheuen. Otfried Linde, Psychiater aus Rheinland-Pfalz, meinte in einer Werbeanzeige des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie e.V.: »Pharma-Fortschritt? Er hat vielen psychisch Kranken die Menschenwürde zurückgegeben.« zit.135 Kurt Heinrich von der Psychiatrischen Klinik Düsseldorf geriet ins Schwärmen, als er sein Psychiatriebuch einleitete: »Richtig angewendet sind die modernen Psychopharmaka in der Lage, die Summe von Glück und Freiheit in der Welt zu vermehren.« 406:1

Auch der Elektroschock, die Auslösung eines epileptischen Anfalls mittels Stromschlägen durch das Gehirn, erscheint in mancher Schrift in rosigen Worten. In einem Buch heißt es unter dem Schlagwort »Heilkrampfbehandlung«:

»Diese ist bei sorgfältiger Indikationsstellung und unter den Bedingungen der heute geübten Technik (Narkose und Muskelrelaxation [-entspannung]) als komplikationslose und weitgehend nebenwirkungsfreie Therapie anzusehen.« 556:355

Dass Psychopharmaka, insbesondere Neuroleptika, Antidepressiva und Lithium, sowie Elektroschocks für die Betroffenen mitnichten eitel Sonnenschein bedeuten, zeigt eine zunehmende Zahl kritischer Veröffentlichungen 116;117;552;999. Sogenannte Nebenwirkungen von Psychopharmaka treten bei bis zu 100 % der Behandelten auf, schrieben 1989 die Autoren des Buches »The limits of biological treatments for psychological distress« (»Die Grenzen der biologischen Behandlung psychischer Not«) 219. In 5 % bis 10 % der Fälle führen die störenden Wirkungen zum Abbruch der Behandlung, in 7,5 % aber zur Klinikeinweisung 438 und bei älteren Menschen in 20 % zur Einweisung in psychogeriatrische Einrichtungen 610.

Dass sich viele Betroffene vehement gegen Psychopharmaka wehren, ist in psychiatrischen Schriften wie auch in der bürgerlichen Presse nachzulesen. Michael Heim von der Psychiatrischen Klinik Arnsdorf (Dresden) sprach 1992 von einer 60 %-igen Verweigerung 400. Wolfgang Böker und Kollegen der Psychiatrischen Universitätsklinik Bern befragten die Behandelten beispielsweise zu ihrer Meinung über Neuroleptika und erkannten:

»Bezieht man in die gesamthafte Betrachtung die Werttönung der Äußerungen mit ein, dann überwiegen insgesamt die negativen Stellungnahmen der Patienten über positive Stellungnahmen.« 102:97

Dass dieses Dilemma für Psychiater nachvollziehbar sein kann, zeigen die Beobachtungen von Pascale Wohlgemuth aus Zürich:

»Wiederholt war ich bei Patienten, die ich selbst aufgenommen und zum Teil in der ersten Phase der Hospitalisation betreut hatte, schockiert und entsetzt über den Zustand, in welchem ich diesen nach Monaten auf offenen Abteilungen begegnete. Zwar waren sie meist wieder in einen Arbeitsprozess integriert, aber sie erschienen mir wie angepasste, geordnet wandelnde, roboterhafte Karikaturen von Menschen (...). Wie gut konnte ich es nachempfinden, wenn die Patienten meinten, sie fühlten sich wie lebendige Tote, unwirklich. Auch für schlechte ›Compliance‹ (Kooperation bei der Einnahme von Medikamenten) hatte ich in Anbetracht der erheblichen Nebenwirkungen Verständnis.« 1086:13

Noch drastischer fallen Bemerkungen von Psychiatrie-Betroffenen aus, wenn sie freimütig und rückhaltlos reden können. Dies zeigt eine kleine Auswahl von Aussagen im vorliegenden Buch. Diese Psychiatrie-Betroffenen äußerten sich ohne Angst, ihre kritischen Aussagen könnten sich in erhöhten Dosierungen niederschlagen.

Es gibt aber auch Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen Psychopharmaka einnehmen – zum Beispiel weil sie vor ihren Gefühlen und den Folgen ihrer Äußerungen mehr Angst haben als vor den Gefahren, die von den Mitteln ausgehen, mit denen sie ihre Gefühle unterdrücken oder kontrollieren wollen. Aus eigener mehrjähriger Erfahrung im Bereich der Psychopharmaka- und speziell Absetzberatung weiß ich allerdings, dass in aller Regel diese Menschen ursprünglich zur Psychopharmaka-Behandlung genötigt oder durch Falschinformation und mangelhafte Aufklärung verführt wurden. Das hat dazu geführt, dass viele, aus welchen Gründen auch immer, große Probleme haben, einen Ausweg aus der psychopharmakologischen Drehtürpsychiatrie zu finden, sofern sie ihn überhaupt suchen.

Psychiater sprechen in der Öffentlichkeit im Wesentlichen von positiven Erfahrungen. Kritiker und Kritikerinnen lassen sie in aller Regel nicht zu Wort kommen, nicht in ihren Einrichtungen, nicht in ihren Zeitschriften, nicht auf ihren Veranstaltungen. Sie sprechen von Elektroschocks, die keine Schäden anrichten, von Neuroleptika und Antidepressiva, die nicht abhängig machen, von geringen Risiken, die zudem erst nach langer Zeit der Verabreichung, unter hohen Dosen und vorwiegend bei vorgeschädigten älteren Menschen in Einzelfällen auftreten. Eine Profession, die so wenig Kritik erträgt und – soviel soll vorweggenommen sein – Risiken und Schäden derart bagatellisiert, sollte sich nicht wundern, wenn davor gewarnt werden muss, ihr weiterhin Vertrauen entgegenzubringen. Diese Notwendigkeit wird besonders deutlich angesichts der Falschinformation bei Elektroschocks. Da sich Ärzte nicht viel anders verhalten als Psychiater, sollte auch ihnen mit Skepsis begegnet werden.

Letztlich ist es Sache der Leserinnen und Leser, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Da es außerdem viele mit diesen psychiatrischen Methoden behandelte Menschen gibt, zum Beispiel im Bekanntenkreis oder in Selbsthilfegruppen, kann es auch ratsam sein, sie – die Betroffenen – nach ihren Erfahrungen zu befragen.

Lesehinweise

Untereinander sind sich Ärzte und Psychiater einig, dass innerhalb der einzelnen Psychopharmaka-Klassen keine selektiven Wirkungsunterschiede bestehen, aus denen eine differenzielle Indikation abgeleitet werden könnte 577:92. Es sei ohne Bedeutung, ob die gleiche Wirkung beispielsweise von dem Neuroleptikum Trifluperazin (Jatroneural) oder von dem Neuroleptikum Thioridazin (Melleretten, Melleril, Sonapax) erreicht wird 79:93. Alle Psychopharmaka einer Klasse wirken mehr oder weniger gleich und haben im Prinzip dieselben Risiken und ›Nebenwirkungen‹. Leserinnen und Leser, die sich ausschließlich für die ›Nebenwirkungen‹ bestimmter Psychopharmaka interessieren, finden ein paar – allerdings nicht ausreichend kritische und vor allem unvollständige – Stichworte in der jährlich neu erscheinenden »Roten Liste«, im »Austria-codex« und im »Arzneimittelkompendium der Schweiz«. Diese Produktverzeichnisse der Pharmaindustrie können im Internet (teilweise nur mit Zugangsberechtigung) oder in Apotheken und Bibliotheken eingesehen werden.

Beim Einsatz von Psychopharmaka geht es um eine indirekte Beeinflussung mentaler Prozesse 35;788. Zu diesen Prozessen sind die gesamte Geistestätigkeit und das psychische System zu rechnen. Die primäre Wirkung besteht aus einer Beeinflussung organischer Stoffwechselprozesse. Deshalb wäre es gerechtfertigt, die psychischen und die geistigen Wirkungen als die eigentlichen Nebenwirkungen zu bezeichnen. Der Begriff »Nebenwirkung« enthält jedoch die Vorstellung einer Zweitrangigkeit und Nebensächlichkeit. Außerdem ist die Sinnes- und Lebensweise des Menschen weder bloßes Anhängsel von Stoffwechselprozessen noch überhaupt von diesen zu trennen. Deshalb sollte vermieden werden, von »Nebenwirkungen« zu sprechen. Otto Schrappe, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Marburg, zeigte in einem Artikel über unter anderem unangenehme Wirkungen von Tranquilizern, wie die korrekte Ausdrucksweise aussähe. Er setzte Nebenwirkungen in Anführungsstriche und erläuterte sie in Klammern mit dem Begriff »Intoxikationserscheinungen« 880:1080, zu deutsch: »Vergiftungserscheinungen«.

Bei Publikationen über die Wirkungen von Psychopharmaka wird meist der Wirkstoff genannt. Damit besser verstehbar wird, wovon die Artikel und Zitate handeln, gebe ich bei der jeweils ersten Erwähnung in Klammern die derzeit (1996) im deutschen Sprachraum handelsüblichen Produktnamen an. Das muss aber nicht heißen, dass die im Text erwähnten Substanzen unter einem dieser Handelsnamen eingesetzt wurden.

Als Kompromiss zwischen ästhetischen und praktischen Kriterien wählte ich das bereits angewandte Zitierverfahren. Dabei bezieht sich die erste Ziffer des Literaturhinweises – Beispiel: 441:1571 – auf die im Quellenverzeichnis aufgelistete soundsovielte (hier 441.) Quellenangabe; sofern vorhanden, weist die zweite Ziffer – im angeführten Beispiel 1571 – auf die betreffende Seitenzahl.

Die Übersetzung von Zitaten aus fremdsprachiger Literatur stammt von mir. Wo ich medizinisches Fachchinesisch zitiere, füge ich hinter den jeweiligen Fachbegriff in Klammern und Schrägschrift die Übersetzung in die Umgangssprache an.

Überblick

Drei Fragen sollen einführend beantwortet werden: Was sind eigentlich psychiatrische Psychopharmaka? Wie sieht der Aufbau des Zentralnervensystems (ZNS) aus, der Hauptangriffsort der modernen psychiatrischen Anwendungen? Weshalb soll man sich noch mit dem Elektroschock beschäftigen, ist er nicht überholt?

Die psychiatrischen Psychopharmaka

»Alle Substanzen, die den Aktivitätszustand des ZNS und damit psychische Prozesse beeinflussen, sind als Psychopharmaka im weiteren Sinne zu bezeichnen.« 871:220

Diese Definition stammt aus dem Buch »Pharmakotherapie – Klinische Pharmakologie«. Mit Psychopharmaka im engeren Sinn meint man diejenigen psychotropen, das heißt die Psyche beeinflussenden Substanzen, die – mehr oder weniger – gezielt eingesetzt werden, um psychische Veränderungen herbeizuführen. Werden sie mit medizinisch-psychiatrischen Überlegungen eingesetzt, nennt man sie psychiatrische Psychopharmaka. Dabei kommt es nicht darauf an, welche medizinische Grundausbildung der Verordner erfahren hat, ob er als Arzt oder Psychiater tätig ist. Die Psychiatrisierung des Alltags hat längst die Praxen von Allgemeinmedizinern und normale Krankenhausstationen und Altenheime erreicht. Überall werden psychiatrische Psychopharmaka als ›Medikamente‹ eingesetzt, auch ohne dass die Indikationen als ausgesprochen ›psychiatrische Krankheiten‹ kenntlich werden.

In der Medizin insgesamt, zu der sich auch die Psychiatrie rechnet, kommen aus der Vielzahl der psychotropen Substanzen – mit Ausnahme der Halluzinogene – Vertreter aller Gruppen zum Einsatz:

• Neuroleptika, zum Beispiel Chlorpromazin, Dapotum, Esucos, Haloperidol, Imap, Leponex, Nozinan, Risperdal, Truxal

• Antidepressiva, zum Beispiel Anafranil, Aurorix, Fluctin, Insidon, Tofranil, Floxyfral

• Lithium und Antidepressiva, zum Beispiel Anafranil, Aurorix, Fluctin, Insidon, Tofranil, Floxyfral

• Phasenprophylaktika (Stimmungsstabilisatoren): Lithium und Antiepileptika, zum Beispiel Finlepsin, Tegretal, Timonil

• Tranquilizer, zum Beispiel Halcion, Lexotanil, Librium, Ludiomil, Noveril, Rohypnol, Tavor, Valium

• Hypnotika (Beruhigungs- und Schlafmittel), zum Beispiel Amytal, Antabus, Baldrian, Distraneurin, Heroin, Luminal, Opium

• Psychostimulanzien, zum Beispiel Captagon, Kokain, Ritalin, Stimul, Tradon

• Halluzinogene, zum Beispiel Haschisch, LSD, Marihuana, Mescalin.

Antiparkinsonmittel (zum Beispiel Akineton, Amantadin, Artane, Sormodren) sind keine Psychopharmaka, werden aber in Verbindung mit Neuroleptika gerne zur Kaschierung von Muskelstörungen oder zur Linderung akuter Muskelkrämpfe gegeben und können unerwünschte psychische Wirkungen haben (zum Beispiel Angst- und Unruhezustände, Halluzinationen und toxische Delire).

Das Schwergewicht des psychiatrischen Psychopharmaka-Gebrauchs liegt bei Neuroleptika, Antidepressiva und Lithium; gelegentlich werden noch Tranquilizer gegeben. Antiepileptika werden wegen ihrer dämpfenden Wirkung ebenso eingesetzt wie Psychostimulanzien, die man aufgrund ihrer ›paradoxen‹ Wirkung zur Ruhigstellung von ›Zappelphilippen‹ nutzen will. Antiparkinsonmittel, die auch psychische Auswirkungen aufweisen, benutzt man zur Unterdrückung Neuroleptika-bedingter Muskelstörungen.

Nichttranquilizer-artige Hypnotika werden in der Psychiatrie kaum verabreicht. Distraneurin und Antabus spielen bei der Behandlung alkoholabhängiger Menschen eine wichtige Rolle. Diese Substanzen sind deshalb in »Schöne neue Psychiatrie«, wo es im Wesentlichen um die Behandlung von sogenannten psychischen Krankheiten geht, nicht angesprochen. Manche Autoren zählen hirndurchblutungsfördernde Mittel (Noo-, Neurotropika) zur Gruppe der Psychopharmaka. Wegen ihrer gefäßerweiternden und durchblutungsfördernden Wirkung verabreicht man sie bei gestörten oder abnehmenden Hirnleistungen vorwiegend im Alter. Unter den Indikationen finden sich auch psychische Zustände, zum Beispiel emotionale Labilität, Verstimmungen, Unruhezustände und Verwirrtheit. Seit Jahren ist ein nahezu konstant steigender Absatz garantiert. Marktrenner unter den Wirkstoffen ist Piracetam (1996 im Handel als Avigilen, Cerebroforte, Cerepar, Cuxabrain, durapitrop, Encetrop, Memo-Puren, Nootrop, Nootropil, Normabraïn, Novocetam, Piracebral, Piracetam und Sinapsan). Die therapeutische Wirkung der Nootropika ist umstritten, außerdem sind sie nicht frei von unerwünschten Wirkungen. Im Arzneiverordnungs-Report werden seit Jahren immer wieder skeptische Stimmen laut:

»Die relativ hohen Kosten kontrastieren auffällig mit den unsicheren Erfolgen, die bei der Behandlung altersbedingter Hirnleistungsstörungen erreicht werden können.« 637:375

Neben Piracetam gehören folgende Substanzen zu den Nootropika: Cyclandelat (Cyclandelat, Natil), Dihydroergotoxin (Dacoren, DCCK, Defluina, DH-Tox, Ergodesit, Ergohydrin, ergoplus, Hydergin, Hydro-Cebral, Orphol, Progeril, Sponsin), Meclofenoxat (Cerutil, Helfergin), Nicergolin (Circo-Maren, duracebrol, ergobel, Memoq, Nicergolin, Nicerium, Sermion), Nimodipin (Nimotop), Pyritinol (Encephabol, Gerigamma, Logomed, Pyritinol) und Vinpocetin (Cavinton).

Als unerwünschte Wirkungen können auftreten: Depressivität, Angst, Umtriebigkeit, erhöhte Erregbarkeit, Aggressivität; Herabsetzung der Krampfschwelle, Nervosität, starke Benommenheit, Schlafstörungen; allergische Reaktionen, sexuelle Stimulation, Appetit- und Gewichtszunahme, Magen-Darm-Beschwerden (Übelkeit, Brechreiz, Oberbauchbeschwerden), Blutdruckzunahme oder -senkung, Schwindel und vermehrter Speichelfluss 134;475a.

Für jedes Psychopharmakon gibt es drei verschiedene Begriffe: den pharmakologischen Strukturbegriff, seine Kurzbezeichnung (auch internationaler Freiname genannt) und den Handelsnamen. Wer wissen will, zu welcher Gruppe ein bestimmtes Psychopharmakon gehört: im Anhang dieses Buches befindet sich eine Liste, die die Handelsnamen den Substanzgruppen zuordnet.

All diese Substanzen werden einzeln oder in Kombination gegeben. Es ist nicht ungewöhnlich, dass man 5er-, 6er- und 7er-Kombinationen verabreicht, darunter Substanzen mit gegenläufigen pharmakologischen Prinzipien 935:171 oder etwa eine Lithium-Carbamazepin-Haloperidol-Kombinationen 24.

In psychiatrischen Universitätskliniken testet man immer wieder neue Substanzen, die in den Chemielaboren der Pharmafirmen entwickelt werden. Dabei überwiegt das Angebot die Nachfrage bei weitem, wie Hanfried Helmchen von der Berliner Psychiatrischen Universitätsklinik mitteilte:

»Werden im Allgemeinen für bekannte Krankheitsbilder Medikamente gesucht, so werden hier für interessante Substanzen Indikationen gesucht. Solche ›Indikationen‹ mögen durchaus außerhalb konventioneller psychiatrischer Nosologien (Krankheitslehren) liegen: z.B. Erschöpfungszustände bei überarbeiteten Managern oder berufstätigen Müttern, ›Schulmüdigkeit‹, Konzentrationsstörungen, aggressive Zustände bei Strafgefangenen, schizoide (kontaktarme, ungesellige) oder zyklothyme (durch ausgeprägte Stimmungswechsel charakterisierte) Persönlichkeitsstrukturen, Empfindlichkeit gegen Geräusche, leichter Schlaf (...). Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Welt immer künstlicher, ›menschengemachter‹ werden wird, gleichzeitig die Anforderungen der Leistungs- und Massengesellschaft an unsere psychische Stabilität immer größer werden, muss dann nicht jede mögliche chemische Beeinflussung psychischer Funktionen auf ihre eventuelle soziale Brauchbarkeit hin untersucht werden?« 434:16f.

Wie naiv und gutgläubig macht sich dagegen doch Huxleys Alptraum aus.

Elektroschock

Elektroschocks, obwohl in Deutschland, Österreich und der Schweiz nie völlig aus der Mode gekommen, haben ebenfalls einen Aufwärtstrend. Mit steigender Akzeptanz sozialdarwinistischer und rassistischer Werte in Teilen der Bevölkerung werden auch diejenigen psychiatrischen Maßnahmen wieder interessanter, die in den rechtsfreien Räumen der faschistischen Diktatur ihren Durchbruch erlebten. In den letzten Jahrzehnten hatten Anästhesistinnen und Anästhesisten, ohne die die Schockprozedur, die fachintern umstrittenste Maßnahme der Medizin 707a, nicht durchgeführt werden kann, offen oder verdeckt ihre Dienstleistung verweigert, so dass an vielen Einrichtungen der Vollzug von Elektroschocks undurchführbar war 851.

Wie bei psychiatrischen Psychopharmaka gelten auch bei Elektroschocks die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht und das Alter als Risikofaktoren, um solch einer Behandlung unterzogen zu werden. So ergab eine Studie von Roland Littlewood und Sybil Cross in Großbritannien 1980, dass von allen Elektrogeschockten 80 % Frauen sind 635. In den USA sind zwei Drittel der Elektrogeschockten weiblichen Geschlechts, die Mehrheit davon älter als 65 Jahre 236. Frauen, die man elektroschockt, bleiben laut einer vielzitierten Studie aus dem Jahre 1968 mit durchschnittlich 234 Tagen auch wesentlich länger in der Klinik als Männer (mit 160 Tagen) 667:154.

In den letzten Jahren werben Psychiater und deren journalistische Lobby wieder für mehr Elektroschocks. »Viel zu selten« zit.112 wird nach Hans Lauter von der Technischen Universität München, einem der Protagonisten dieser Methode, der Elektroschock verabreicht. 96 % der leitenden Psychiater in deutschen Universitätskliniken seien für Elektroschocks 110. Wie wenig dazugehört, als Rebell unter Psychiaterkollegen zu zählen, wird an Klaus Dörner von der Psychiatrischen Klinik Gütersloh deutlich. Dieser lehrt ›nur‹ den Vollzug des Elektroschocks 239:545f., setzt ihn aber momentan in der eigenen Klinik nicht ein – allerdings unter der Prämisse, dass

»... morgen ein Tag kommen kann, der mich einem Patienten begegnen lässt, bei dem ich die Indikation für die Elektrokrampftherapie befürworte.« 237:32

Gegenüber der Münchner Illustrierten äußerte Fritz Reimer, langjähriger Vorsitzender der Bundesdirektorenkonferenz (Verband der Leiter psychiatrischer Kliniken und Krankenhaus-Abteilungen in Deutschland), 1988:

»Ich hoffe, dass bald alle wieder schocken. In Schweden, der Schweiz, England oder Holland hat die Psychiatrie einen wesentlich höheren Standard, d. h. es wird dort sehr viel mehr geschockt als bei uns.« zit.297:22

Ausgerechnet auf die Volksrepublik China berief sich 1992 der US-Amerikaner Max Fink, Anführer der internationalen Elektroschockfraktion, als er sich auf einer Werbetour für seine bevorzugte Methode durch Europa befand: »In China sei die EKT (Elektrokrampf-›Therapie‹) weit verbreitet...« 1066:28 – was in Anbetracht der dortigen Verhältnisse wenig überrascht.

Laut Here Folkerts von der Psychiatrischen Universitätsklinik Münster sollten die Schocks bis zu zwei Minuten dauern. Einigkeit bestehe zwischen ihm und seiner Kollegenschaft,

»... dass ein generalisierter Krampfanfall – wenn auch durch die Relaxierung modifiziert – die Conditio sine qua non (unerlässliche Bedingung) für die therapeutische Wirkung darstellt.« 292:244

Er meinte 1995 im Deutschen Ärzteblatt, Elektroschocks hätten in den letzten zehn Jahren wieder an Bedeutung gewonnen, ihre Anwendungsbreite habe zugenommen, und die Betroffenen seien mehrheitlich sehr zufrieden. Beispiele und Gründe für eine auch nur ansatzweise Unzufriedenheit oder eine strikte Ablehnung der ›therapeutischen‹ Stromstöße durch das Gehirn nannte er allerdings nicht, Berichte über Risiken und Schäden stritt er rundherum ab 293. Seine unkritische und einseitige Haltung fand im folgenden Jahr in der gleichen Zeitschrift immerhin eine radikale Absage, und zwar durch die Ärztin Eva Heim aus Karlsruhe. Sie wies Folkerts zurecht: Tierversuche, bei denen man schon bei vergleichsweise sehr geringer Dauer und Stärke erhebliche Hirnschäden nachwies, habe er ebenso verschwiegen wie die eher gestiegene Krampfdauer und Stromstärke:

»Doch selbst wenn dem nicht so sein sollte, bleibt die conditio sine qua non dieser Therapie der iatrogen provozierte, in kurzen Abständen mehrfach wiederholte Grand-mal-Anfall, ein Ereignis, das neurologischerseits unter Einsatz massiver Medikation zu vermeiden versucht wird, vor allem wegen der im Verlauf der Krankheit erworbenen Hirnschädigung und der daraus folgenden epileptischen Demenz.

Die ›heilsame‹ Wirkungsweise der EKT sei bis heute nicht vollständig geklärt – ein Fall von retrograder Amnesie, günstigstenfalls! Denn bis in die 1950er Jahre trugen amerikanische EKT-Anwender keine Bedenken, diese eindeutig zu benennen, vor Aufkommen der öffentlichen Kritik jedenfalls. In den USA heute noch als chirurgisches Verfahren definiert, wird die EKT vom amerikanischen Psychiater Golla 1943 als ›provisorische Leukotomie‹ beschrieben, als gewollte und gezielte Schädigung von Hirngewebe mit dem Ziel, daß der Patient seine jeweilige Krankheit (damals vorherrschende Indikation: Schizophrenie) ›vergessen‹ sollte.« 398:A193f.

Folkerts forderte 1995 in der Psychiater- und Neurologenzeitschrift Nervenarzt, auch verschiedenste neurologisch begründete Krankheiten sollten zum Anlass für Elektroschocks genommen werden. Bedenken seien zumeist nicht angebracht: »Entgegen der Erwartung mancher Neurologen oder Internisten gibt es kaum Kontraindikationen...« 292:249 Unter anderem nannte er folgende Indikationen für Elektroschocks: Schüttellähmung, Encephalomyelitis disseminata (multiple Sklerose; entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems), Alzheimer-Demenz, Jakob-Creutzfeld-Erkrankung (mit Muskelstörungen und deliranten Symptomen einhergehende Erkrankung des ZNS), Veitstanz, Alkohol- und Barbituratentzugsdelir, Wernicke-Enzephalopathie (Stammhirnerkrankung unter anderem bei chronischem Alkoholismus und der Vitaminmangelkrankheit Beriberi), Urämie (Harnvergiftung), Schädelhirntrauma, Hirntumor, Myasthenia gravis (fortschreitende Schwäche der quergestreiften Muskulatur), Muskeldystrophie (fortschreitende entzündliche Muskelerkrankung mit Schwund der rumpfnahen Muskulatur), Friedreich-Ataxie (mit fortschreitendem Muskelschwund einhergehende Erkrankung des ZNS), Lupus erythematodes (Schmetterlingsflechte), Neurosyphilis, Morbus Wilson (Symptomenkomplex mit unter anderem Leber und Gehirn betreffender Degeneration), Hypophysenvorderlappeninsuffizienz (Unterfunktion des hormonaktiven Teils der Hirnanhangdrüse), Epilepsie und Depressionen nach Kohlenmonoxidvergiftung oder bei Thalamussyndrom (Sensibilitäts- und Sehstörung bei Verletzung des Thalamus) nach Hirninfarkt. Allerdings, so Folkerts bedauernd,

»... sind die immer noch grassierenden Vorurteile gegenüber der EKT auszuräumen. Diese effektive Behandlung sollte keinem Patienten aus Unkenntnis oder wegen emotionaler Ablehnung vorenthalten bleiben...« 292:249

Zahlen zur Elektroschockverabreichung nannte Heinrich Sauer von der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg. 1985 seien in der BRD lediglich ca. 500 Menschen Elektroschocks verabreicht worden, was eine Behandlungsfrequenz von 0,08 pro 10.000 Einwohner darstelle. In Großbritannien mit fünf oder in Dänemark mit 3,8 Anwendungen pro 10.000 Einwohner würde wesentlich mehr geschockt, selbst in der Schweiz sei die Rate mit 0,25 um einiges höher. Dabei liege die »minimal erforderliche Anwendungsfrequenz« 851:521 zwischen 3,0 und 4,5, was bedeute, dass die Schockrate in der BRD um das 25-fache steigen müsse. Unter der Überschrift »Rettung aus der Steckdose« 112 warb der Mediziner Hans Harald Bräutigam im November 1992 in der Zeit. Ihn hatten die Wellen des »1. Europäischen Symposiums über die Elektroheilkrampftherapie« erreicht, das Fink und seine Anhänger im Frühjahr desselben Jahres im Anatomischen Institut der Universität Graz veranstaltet hatten. Anschließend waren in vielen Städten regionale Propagandaveranstaltungen (›Fortbildungsreihen‹) durchgeführt worden.

Geschockt wird auch in Österreich. In Convulsive Therapy, der Zeitschrift der Freunde des Elektroschocks, berichteten P. König und Kollegen der Psychiatrischen Klinik Valduna in Rankweil (Vorarlberg) über seit 1984 wieder ansteigende Schockraten in ihrer Einrichtung. Zwischen 1980 und 1987 seien durchschnittlich 0,7 % aller Insassinnen und Insassen ihrer Klinik zehnmal, 15 mal und mehr geschockt worden 568. Da sie die Kombination von Elektroschocks und Psychopharmaka für die beste Behandlungsmethode hielten und keinerlei Kontraindikationen sahen, ist anzunehmen, dass auch hier ein Signal für mehr Elektroschocks gegeben werden sollte.

Auch in der Schweiz entfachten Psychiater eine Pro-Elektroschock-Kampagne. Nachdem hier 1981 die Zahl der Elektrogeschockten auf 166 gesunken war, hatte sie sich 1985 bereits mehr als verdreifacht. Wie der Züricher Arzt und Psychotherapeut Marc Rufer 1992 warnte, plante zu diesem Zeitpunkt jede zweite Klinik, zukünftig vermehrt zu schocken 883.

Eine Aufklärung über Risiken von Elektroschocks für die Betroffenen ist nicht vorgesehen. Auf eine parlamentarische Anfrage von 1990 antwortete die Westberliner Senatsgesundheitsverwaltung, »Aufklärung sei ›kein Entweder-Oder-Ereignis‹, sondern ein ›auf das Vermögen (gemeint: Einsichtsfähigkeit, P.L.) des Patienten abgestellter Prozess‹« 985. Die Auskunft war von Psychiatern derjenigen Kliniken formuliert worden, in denen schon seit jeher Elektroschocks verabreicht werden. Von einer rechtswirksamen Entscheidung der Betroffenen, ob sie ihre Gehirne – in Kenntnis aller möglicher Risiken und sonstiger für ihre Entscheidung wichtiger Faktoren – Elektroschocks aussetzen und epileptische Anfälle erleiden wollen, war auch hier keine Rede. Eine schriftliche Information über die Gefahren sei – so die Gesundheitsbürokratie – ein »unmenschlicher Vorschlag, der eine Krankenbehandlung mit bürokratischer und juristischer Patientenverwaltung verwechsle« zit.985.

In der Vergangenheit befassten sich nur wenige Studien mit der Frage, ob und worüber Psychiater vor anstehenden Elektroschocks aufklären. Im Australian and New Zealand Journal of Psychiatry äußerten sich R.A. Kerr und Kollegen 1982 dahingehend, dass 59,9 % aller Betroffenen aussagten, man habe ihnen niemals mitgeteilt, was vorgehe 551. 1989 publizierte Katy Malcolm vom Northern General Hospital in Sheffield eine Studie über die Ergebnisse einer Befragung von 100 Personen, die zwischen Februar 1986 und März 1987 in ihrem Krankenhaus sowie im Sheffielder Middlewood Hospital Elektroschocks erhalten sollten. In aller Regel waren die Befragten, die fast ausnahmslos unter Neuroleptika oder Antidepressiva standen, über mögliche Risiken und Schäden völlig im unklaren gelassen worden. Malcolm schrieb über den Wissensstand der Betroffenen nach dem Arztgespräch, in welchem meist die Einwilligung zur Elektroschock-Behandlung erfolgte, selten die Ablehnung (der dann zum Teil trotzdem und zwangsweise verabreichten Elektroschocks):

»Die meisten Patienten (89) wussten, dass man ein allgemeines Anästhetikum anwendet, aber weniger als die Hälfte der Patienten war informiert über andere entscheidende Informationen in bezug auf EKT einschließlich der Tatsache, dass man Elektroden benutzt und dass elektrischer Strom durch das Gehirn geleitet wird. Nur 16 Patienten wussten, dass man einen Krampfanfall auslöst, einige machten Kommentare wie ›Sie würden die Behandlung stoppen, wenn man einen Anfall hätte‹ und ›Ich bin sicher, dass die Ärzte mir niemals so etwas antun würden‹. Es gab wenig Bewusstheit über die Anzahl der Behandlungen und Behandlungsintervalle, und eine übliche Fehlannahme war, es sei nur eine Behandlung vorgesehen. 40 Prozent der Patienten dachten, die Behandlung würde zukünftigen depressiven Episoden vorbeugen. Eine Differenzierung der Daten nach dem Alter zeigte, dass die Unter-65-Jährigen viel besser informiert waren als die älteren Patienten, besonders hinsichtlich der Tatsache, dass man Elektroden benutzt, ein Strom fließt und ein Krampfanfall auftritt. Männer hatten tendenziell ein größeres Gesamtwissen als Frauen. (...) 33 Patienten sagten, man hätte ihnen die Prozedur überhaupt nicht erklärt, aber nur zwölf von ihnen hatten das Gefühl, dass dies unbefriedigend ist. Der Rest machte Bemerkungen wie ›Ich bin glücklich, den Doktor entscheiden zu lassen, was am besten für mich ist‹.« 665:162

Abzuwarten bleibt, ob neben Elektroschocks auch Lobotomien eine Renaissance erleben werden. Die operative Durchtrennung von Nervenbahnen im Vorderhirn war ebenfalls im Faschismus als psychiatrische Therapie entwickelt worden. Lobotomien werden, wenn auch nur vereinzelt, immer noch durchgeführt, auch in Deutschland. Als Indikationen gelten »Depressionen«, »Angst- und Zwangsneurosen« und »manisch-depressives Irresein«. Manfred Bleuler von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich verwies 1983 darauf, dass in manchen Kliniken »die Indikation selbst bei Kranken gestellt wird, die nicht schwer und unheilbar psychotisch sind« 95:190. 1991 beschrieb der Independent die Situation in Großbritannien, wo diese Prozedur mit neuester Technik und – wie üblich – angeblich komplikationslos durchgeführt werde. Man wende das Verfahren nur an, wenn andere Maßnahmen, zum Beispiel umfassende Kombinationen von Psychopharmaka und Elektroschocks, nicht geholfen hätten. Es sei bemerkenswert sicher, so eine Interviewaussage des Psychiaters Paul Briedges vom Brook Hospital in London, Persönlichkeitsveränderungen fänden nicht statt 1025.

Weder Psychopharmaka noch Elektroschocks noch Lobotomien führen zu irgendwelchen gesundheitlichen Problemen – meinen viele Psychiater bei Auftritten in der Öffentlichkeit sowie im Gespräch mit Betroffenen und ihren Angehörigen vor Behandlungsbeginn. Die Wirklichkeit sieht dann anders aus.

Aufbau des Zentralnervensystems

Gehirn und Rückenmark bilden zusammen das ZNS. Seine einzelnen Teile üben folgende Funktionen aus:

• Verlängertes Mark: Durchleitung sensibler und motorischer, das heißt Bewegungen betreffender Bahnen; Atemzentrum, Brechzentrum, Speichel- und Tränenabsonderung.

• Brücke: Schaltstation der Bahnen, die die Großhirn- mit der Kleinhirnrinde verbinden. Die Beeinträchtigung der Brücke führt zu Empfindungsstörungen.

• Mittelhirn: hierzu gehören die Bewegungszentren Roter Kern und Schwarzer Kern (Substantia nigra). Bei Schädigung des Schwarzen Kerns kommt es zu Muskelstarre, ruckweise ablaufenden Zahnradbewegungen, Schüttelbewegungen der Hände sowie zu psychischen Störungen, zum Beispiel Antriebsmangel. Weitere Funktionen des Mittelhirns: Anpassung des Auges an unterschiedliche Entfernungen, Steuerung der Stimmungslage. Bei Störungen des Mittelhirns treten Erschöpfung und Depressionen auf.

• Hirnstamm (Stammhirn): Zentrum für Atmung und Kreislauf, beteiligt an der Steuerung von Motorik und Atmung zur Bewältigung psychischer Erregung (Angst, Schmerz, Reflexe wie Niesen, Husten, Gähnen, Schlucken).

• Kleinhirn: Kontrollzentrum der Motorik, Meldestelle für Tastsinn und Tiefensensibilität, Überprüfungsstelle für motorische Funktionen wie Muskelspannung, Muskelkraft und Muskelkoordination; Schaltstelle zum Großhirn. Eine Erkrankung des Kleinhirns führt zur Störung der Muskelkoordination, beispielsweise zu überschießenden und unsicheren Bewegungen, krankhaften Augenbewegungen, Sprachstörungen, Veränderung der Körperstellung.

• Großhirn: Ursprung der bewussten und vieler unbewusster Handlungen, Sammelstation aller bewussten Sinneseindrücke, Sitz des Gedächtnisses. Der rechten Großhirnhälfte wird speziell der Sitz des Unbewussten, der linken der Sitz des Bewussten, der Handlungsebene und des Sprachvermögens zugeschrieben.

• Stirnhirn: Seine Aufgabe ist es, das Handeln bestimmten Absichten und Plänen unterzuordnen und bestimmte Verhaltensweisen zu kontrollieren. Bei Verletzungen kommt es zum Beharren auf einer einmal begonnenen Tätigkeit, zu erhöhter Ablenkbarkeit, zu Änderungen des Zeitgefühls, zu Antriebslosigkeit.

• Thalamus: Schaltstation fast aller von Haut, Ohren, Augen und anderen Hirnteilen ankommenden Nervenbahnen mit Umschaltung zum Großhirn (›Tor zum Bewusstsein‹); wichtig für emotionale Regungen, für die Sensibilität von Extremitäten, Rumpf, Gesicht; beteiligt an der Steuerung der Motorik. Tastempfindung, Tiefensensibilität, Temperatur- und Schmerzempfindung, Seh- und Riechfunktion, Gesichtsausdruck, Gebärden.

• Mandelkern: Zwischenschaltstation.

• Hypothalamus: oberste Befehlsstelle des vegetativen (autonomen) Nervensystems; Zentrum des Wasserhaushalts, Steuerung von Körperwärme, Kreislauf, Nahrungsaufnahme, Stoffwechsel; Wach- und Schlafzentrum. Der Hypothalamus spielt über die benachbarte Hirnanhangdrüse eine beherrschende Rolle im Hormonsystem.

• Hirnanhangdrüse (Hypophyse): produziert ca. 20 verschiedene Hormone; Zentralstelle der hormonalen Regelung, Beeinflussung und Steuerung aller anderen hormonausschüttenden Organe.

• Ammonshorn: Sitz des Riechzentrums; beteiligt an langfristiger Speicherung von Gedächtnisinhalten; Vermittlerrolle zwischen Denken und Fühlen.

• Limbisches System: sehr altes und ursprüngliches System, was die Entwicklungsgeschichte der Menschheit betrifft. Anatomisch besteht es aus dem Mandelkern, dem Ammonshorn, den Scheidewandkernen, der Gürtelfurche und einer Reihe weiterer Gehirnteile. Über seine Funktion ist wenig bekannt. Allgemein nimmt man jedoch an, dass es die ›Programmauswahl‹ des Hypothalamus an die Bedürfnisse des Körpers anpasst, das Wach-Schlaf-Verhalten beeinflusst, eng mit Lernprozessen verknüpft ist und für die Vorgänge eine wichtige Rolle spielt, die mit den Begriffen »Emotion«, »Motivation« und »Trieb« verbunden sind. So wird vom limbischen System wahrscheinlich auch das Ausdrücken von Emotionen (Wut, Zorn, Unlust, Freude, Glück) gesteuert. Seine zentrale Aufgabe ist die Selbsterhaltung (Ernährung, Verteidigung, Angriff) und die Arterhaltung (Sexualität im engeren und weiteren Sinn). Außerdem verarbeitet es Rückmeldungssignale aus dem Körperinnern und Reize von der Umwelt.

Andere wichtige Teile des Gehirns, die hin und wieder erwähnt werden, sind die Stammganglien (Basalganglien). Dies sind an der Unterseite des Großhirns sitzende und aus einer Anhäufung von Nervenzellen bestehende Nervenknoten. Die bedeutendsten sind der Schwanzkern (Nucleus caudatus) und die Schale (Putamen). Der Schwanzkern umfasst den Thalamus seitlich und vorn, empfängt dessen sensible Impulse und leitet sie an andere Stellen weiter. Schwanzkern und Putamen bilden gemeinsam, einschließlich der sie verbindenden grauen Substanz, den Streifenkörper (Corpus striatum). Dieser regelt die Muskelspannung. Seine Schädigung führt zu Veitstanz oder zur Schüttellähmung: diese äußert sich unter anderem im Fehlen der Mitbewegungen, in übersteigerter Muskelspannung und im Maskengesicht.

Die Formatio reticularis ist ein Nervenmaschenwerk, das sich durch den gesamten Hirnstamm zieht. Es vereinigt motorische Teilfunktionen zu komplizierten Gesamtleistungen und beeinflusst Kleinhirn, Thalamus, Körperhaltung, Bewegungen, zentrale Kreislauf- und Atmungsregulationen, vegetativ-hormonausschüttende Funktionen im Hypothalamus, vegetativ-skelettmotorische Reflexe, Sinneswahrnehmungen und durch ihre Weckwirkung auf das Großhirn den Grad der Bewusstseinshelligkeit.

Ein weiteres wichtiges Zentrum des zentralen Nervensystems ist das extrapyramidale System. Es wird von Nervensträngen gebildet, die vom Großhirn über verschiedene Mittelhirnkerne zum Rückenmark verlaufen. Sein Name stammt von der anatomisch unterschiedlichen Lage der Nervenstränge zur Pyramidenbahn des Stammhirns, zu der allerdings Nervenverbindungen bestehen. Das extrapyramidale System dient der Steuerung der unwillkürlichen Körperhaltung, der unwillkürlichen Mitbewegungen der Gliedmaßen bei Körperbewegungen und vor allem der Muskelspannung.

Neuroleptika

Der Begriff »Neuroleptikum« ist zu übersetzen mit »Nervendämpfungsmittel«. Es gibt eine Reihe synonymer Begriffe: »Neuroplegikum« (»Nervenlähmungsmittel«), »major tranquilizer«, »Antischizophrenikum« oder »Antipsychotikum«. Die verschiedenen Neuroleptika werden ihren chemischen Strukturgemeinsamkeiten entsprechend in Gruppen und Untergruppen aufgeteilt:

• Trizyklische Neuroleptika:

Phenothiazine wie Atosil / Phenergan, Chlorpromazin / Largactil, Decentan / Trilafon, Dapotum / Lyogen / Lyorodin / Omca, Melleril / Melleretten, Neurocil / Nozinan, Psyquil, Taxilan Thioxanthene wie Ciatyl / Sordinol, Ciatyl-Z / Cisordinol / Clopixol, Fluanxol, Truxal

Andere trizyklische Neuroleptika wie Dominal, Leponex

• Butyrophenone wie Buronil / Eunerpan, Glianimon, Haloperidol, Imap, Orap, Dipiperon

• Rauwolfia-Alkaloide wie Reserpin

• Sonstige Neuroleptika wie Arminol / Dogmatil / Meresa / neogama / Sulp / Sulpirid, Belivon / Risperdal, Delpral / Tiapridex, Deniban, Roxiam.

Die Unterteilung ist allerdings zweitrangig, die einzelnen Neuroleptika wirken mehr oder weniger gleich, die Risiken unterscheiden sich prinzipiell nicht voneinander. Standardisierte Verabreichung, der Trend der letzten Jahre – nachzulesen 1992 in Fortschritte der Neurologie – Psychiatrie561 –, betrifft nicht nur die Dosishöhe (Standarddosis für alle), sondern auch die Auswahl an Neuroleptika. Finzen beispielsweise empfiehlt seinen Kollegen die Beschränkung auf drei Neuroleptika: ein hochpotentes Neuroleptikum (das – neben einer Vielzahl von vegetativen und sonstigen Wirkungen – in besonderem Ausmaß die Motorik beeinträchtigt), ein niederpotentes Neuroleptikum (das neben einer Vielzahl von motorischen und sonstigen Wirkungen in besonderem Ausmaß das Vegetativum beeinträchtigt) und ein Depotneuroleptikum (mit besonders langer Wirkdauer) 281:14.

WIRKSTOFFE und HANDELSNAMEN (auf dem Stand von 1996; neuere Handelsnamen, unter denen die Produkte 2018 vertrieben werden, sind kursiv gesetzt):

Alimemazin: Repeltin

Amisulprid: Amisulprid, Amisulpride, Deniban, Solian

Azaperon: Stresnil

Benperidol: Benperidol, Glianimon

Bromperidol: Impromen, Tesoprel

Chlorpromazin: Chlorazin, Chlorpromazin, Largactil, Propaphenin

Chlorprothixen: Truxal, Truxaletten

Clopenthixen: Ciatyl

Clotiapin: Entumin

Clozapin: Clopin, Clozapin, Lanolept, Leponex

Dapiprazol: Benglau, Remydrial

Dixyrazin: Esucos

Droperidol: Dehydrobenzperidol, Halkan, Ponveridol, Xomolix; enthalten in Thalamonal

Fluanison: Sedalande

Flupentixol: Fluanxol; enthalten in Deanxit

Fluphenazin: Dapotum, Fluphenazin, Lyogen, Lyorodin, Omca

Fluspirilen: Imap

Haloperidol: Buteridol, duraperidol, Haldol, haloper, Haloperidol, Sigaperidol; enthalten in Vesalium

Levomepromazin: Levomepromazin, Minozinan, Neurocil, Nozinan, Tisercin

Melperon: Buronil, Eunerpan, Neuril

Methofenazat: Frenolon

Moperon: Luvatren

Penfluridol: Semap

Perazin: Perazin, Taxilan

Periciazin: Neuleptil

Perphenazin: Decentan, Perphenazin, Trilafon

Pimozid: Antalon, Orap

Pipamperon: Dipiperon, Pipamperon

Pipotiazin: Piportil

Promazin: Prazine, Protactyl, Sinophenin

Promethazin: Atosil, Eusedon, Phenergan, Promethazin, Prothazin, Soporil; enthalten in Lysedil, Rectoquintyl-Promethazin, Rhinathiol Promethazin

Propionylpromazin: Combelen

Prothipendyl: Dominal

Remoxiprid: Roxiam

Reserpin: enthalten in Adelphan, Barotonal, Bendigon, Brinerdin, Briserin, Darebon, Disalpin, Durotan, Elfanex, Hygroton-Reserpin, Modenol, Pressimed, Pressimedin, Resaltex, Supergan, Suprenoat, Terbolan, Tri.-Thiazin Reserpin, Triniton

Risperidon: Aleptan, Belivon, Risperdal, Risperidon, Risperinorm

Sulpirid: Arminol, Dogmatil, Meresa, Meresasul, neogama, Sulp, Sulpirid, Sulpivert, Vertigo-Meresa, vertigo-neogama

Thiethylperazin: Torecan

Thioridazin: Melleretten, Melleril, Sonapax, Thioridazin

Tiaprid: Delpral, Tiapridex

Trifluperazin / Trifluoperazin: Jatroneural; enthalten in Jatrosom, Stelabid

Trifluperidol: Triperidol

Triflupromazin: Psyquil

Zotepin: Nipolept

Zuclopenthixol: Ciatyl-Z, Cisordinol, Clopixol

Indikationen

Heutzutage werden Neuroleptika von Psychiatern ebenso vielfältig eingesetzt wie von Allgemein-, Kinder oder Tierärzten. Hauptsächlich verabreicht man Neuroleptika bei Diagnosen wie »Psychose«, »Wahn«, »Schizophrenie«, »Paranoia« usw. In der »Roten Liste«, dem offiziellen deutschen Verzeichnis handelsüblicher Medikamente, finden sich folgende Indikationen für Neuroleptika:

• Endogene, exogene, schizophrene, involutive, subakute, akut-produktive, symptomatische, akute, chronische, posttraumatische und Alkohol-Psychose; Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis mit Minussymptomatik; Schizophrenie; schizophrene Rest- und Defektzustände; paranoid-halluzinatorisches Syndrom; Hebephrenie; Katatonie, katatoner Stupor; chronifizierter Wahn; Manie; Schwachsinn

• Neurosen, Psychoneurosen; Hysterie; Angst-, Spannungs-, Unruhe- und Erregungszustände; nichtpsychotische Angstsyndrome; schizoaffektive Störungen bei begleitender emotionaler oder kommunikativer Zurückgezogenheit; Psychopathie; Autismus; endogene, neurotische, reaktive und larvierte Depression

• Denk- und Ich-Störungen; Antriebslosigkeit, Antriebsschwäche; Nervosität, Unruhe, Konzentrationsschwäche, Schlaf- und Verhaltensstörungen bei Kindern; abnorme Reaktionen bei Kindern und Erwachsenen; Stimmungslabilität; Affektverarmung; Aggressivität; Verstimmung und Reizbarkeit im Alter; Alkoholismus; psychisch bedingte Versagenszustände; Stottern; Dämmerschlafeinleitung

• Zerebralsklerose; Chorea Huntington (Veitstanz); Gilles-de-la-Tourette-Syndrom; Tics; Epilepsie; interne oder chronische Schmerzzustände; Verwirrtheitszustand im Delirium tremens und im Alter; Alkoholentzugssyndrom

• Psychosomatische Erkrankungen; vegetative Dystonie; allergische Reaktionen zum Beispiel nach Insektenstichen; Schwindelsymptome; funktionelle Herzbeschwerden; Asthma; Keuchhusten; Bronchitis; schwerer Schluckauf; Übelkeit; Erbrechen; Reiseübelkeit; Gastritis (Magenschleimhautentzündung); Krämpfe der Gallenblase; Zwölffingerdarm- und Magengeschwür; juckende Hauterkrankungen, Juckreiz; Rückbildung arzneimittelbedingter Pupillenerweiterung; Geburtserleichterung; Narkosevorbereitung

• Unterstützung von Psycho- oder Gastritistherapie; Prophylaxe bei Suchterkrankung; Vorbeugung oder Langzeitbehandlung unter vielen der genannten Indikationen.

Aufgrund der nahezu unbegrenzten und teilweise willkürlichen Indikationsstellungen wächst die Beliebtheit der Neuroleptika unter den Verschreibenden. Umsatzsteigerungen und entsprechende Berichte in bürgerlichen Medien spiegeln diesen Trend wider. Unter der Überschrift »Pillen, die glücklich machen«, wurden beispielsweise in der Bunten Illustrierten 1991 neben dem Antidepressivum Imipramin die Neuroleptika Sulpirid (1996 im Handel als Arminol, Dogmatil, Meresa, neogama, Sulp und Sulpirid) und Fluspirilen (1996 im Handel als Imap) als Sorgentröster angepriesen:

» 1) Ich bin allein. Jeden Freitag bekomme ich schreckliche Angst vor dem Wochenende. Gibt es dagegen eine Pille? Wirkstoff: Ja, es sind violette Kapseln. Sulpirid oder Imipramin. Verschreibungspflichtig. Macht gute Laune, steigert die Aktivität, baut Kontaktschwierigkeiten ab.

2) Ich wache nachts auf, weil ich Sorgen habe. Welche Pille beruhigt meine Gedanken? Wirkstoff: Fluspirilen. Verschreibungspflichtig. Löst Verkrampfungen, beruhigt die Nerven, macht die Sorgen kleiner. (...) Wer es nimmt: Marilyn Monroe. Sie hatte Versagensängste.« 764:39

Neuroleptika seien als körperliche Therapie seelischer Störungen eine Dienerin der Psychotherapie 938:200 – so wird die Verabreichung gerne begründet. Wie sehen die psychischen und geistig-zentralnervösen Wirkungen aus, unter denen Psychotherapie stattfinden soll?

Unerwünschte psychische Wirkungen

Wenn im Folgenden psychische Neuroleptika-Wirkungen mit Begriffen beschrieben sind, wie sie auch Psychiater benutzen, so sind diese Begriffe der Depression, Suizidalität, Angst oder Verwirrtheit usw. allgemein beschreibend verwendet, keinesfalls im Sinn beispielsweise einer psychiatrischen Theorie der Depression.

Gegen eine störende und unbequeme Lebens- und Sinnesweise, eine als übermäßig empfundene emotionale Beteiligung, entwickeln Neuroleptika in der Regel eine »sedativ-(ruhigstellend-)hypnotische Wirkung« 1040:288. Dadurch wird die Spaltung von Motorik und Stimmung möglich 802:472. Chemisch unterdrückt oder gelegentlich in paradoxer Weise hochgeputscht werden Triebe und Affekte 628, Stimmung 895, Spontaneität und Fähigkeit der Zuwendung zu Dritten 393, also die gesamte emotionale Ansprechbarkeit 263.

Psychische Neuroleptika-Wirkungen äußern sich im Wesentlichen in zwei unterschiedlichen Tendenzen: in Apathie, emotionaler Panzerung und Verzweiflung auf der einen und Verwirrtheitszuständen aller Art auf der anderen Seite.

Emotionale Verarmung

Die vielfältigen psychischen Wirkungen der Neuroleptika, denen eine Tendenz zur emotionalen Verarmung gemeinsam ist, lassen sich unter verschiedenen Aspekten darstellen. Um den Überblick zu behalten, sind die Wirkungen aufgeteilt in die Schwerpunkte Ruhigstellung, emotionale Panzerung, Energie- und Willenlosigkeit, Persönlichkeitsveränderung, Arbeitsschwierigkeiten, psychische Erstarrung, hirnlokales Psychosyndrom und Apathie.

Ruhigstellung

»Alle nieder- bis mittelpotenten Neuroleptika (zum Beispiel Levomepromazin [1996 im Handel als Levomepromazin, Minozinan, Neurocil und Tisercin – P.L.], Chlorprothixen [1996 im Handel als Truxal und Truxaletten – P.L.], auch Clozapin [1996 im Handel als Leponex – P.L.]) entfalten eine mehr oder weniger ausgeprägte sedierende Wirkung. Dieser ›ruhigstellende‹ Effekt, in Laienkreisen oft dramatisch überbewertet, kann allerdings durchaus erwünscht sein.« 999:57

Das hier von Frank Tornatore von der University of Southern School of Pharmacy, Los Angeles, und Kollegen erläuterte ›Therapeutische‹ der Neuroleptika besteht aus einer schlafanstoßenden und ruhigstellend-hypnotischen Wirkung, die binnen fünf Minuten eintreten kann 598.

Unangepasste, ›überaktive‹, leidenschaftliche, impulsive, erregbare oder rücksichtslose Kinder können wirksam mit Neuroleptika, zum Beispiel Chlorpromazin (1996 im Handel als Chlorazin, Chlorpromazin, Largactil und Propaphenin), Chlorprothixen oder Haloperidol (1996 im Handel als Buteridol, duraperidol, Haldol, haloper, Haloperidol und Sigaperidol; enthalten in Vesalium), ruhiggestellt werden 18;153;302;318;1052;1061. Laut einem Bericht in Soziale Medizin empfahl die Schweizer Firma Sandoz AG afrikanischen Hebammen, bei Säuglingen mit Melleril psychische Probleme wie Nervosität, Unruhe, Gereiztheit oder emotionales Ungleichgewicht auszuschalten 555.

Grundlage der Wirkung ist eine ausgeprägte psychomotorische Ruhigstellung. Unter Psychomotorik versteht man die die Körpermotorik beeinflussende dynamische Struktur der Psyche, im weiteren Sinn das für das Individuum typische Gesamt seiner willkürlichen Bewegungen. Die »beeindruckende psychomotorische Dämpfung mit affektiver Entspannung« 598:361 kann sich als ununterbrochene, zwingende Müdigkeit und Schläfrigkeit äußern.

Wie Neuroleptika emotional panzern

»Die meisten schizophrenen Kranken werden durch Psychopharmaka ruhiger, entspannter, angepasster, zugleich jedoch auch unproduktiver. Sie reagieren weniger fein und lebhaft, nach längerem Gebrauch werden sie stumpf und apathisch. Eine öfter schon geäußerte Empfindung von differenzierten Kranken, die Psychopharmaka erhielten, kann in diesem Rahmen die Wirkung zusammenfassen: Man fühlt sich seelisch wie ›eingemauert‹. Störungen im Bereich des Blutes, der Leber, des Gehirns und des Herzens, wie man sie manchmal als ›Nebenwirkungen‹ von Psychopharmaka feststellt, liegen dieser seelischen Beeinträchtigung zugrunde.« 1002:230f.

Wie hier vom anthroposophischen Psychiater Rudolf Treichler beschrieben, folgt die Veränderung des Gefühlslebens der körperlichen Wirkung der Neuroleptika. Die psychische Wirkung zeigt sich als abgestumpftes und erkaltetes Gefühlsleben, und zwar in Form

• einer »seelischen Abstumpfung« 68:109

• einer »Lähmung der emotionalen Spontaneität und Reagibilität (Reaktionsfähigkeit)« 503:639

• einer »wunschlosen Indolenz (Gleichgültigkeit) ohne erkennbare Benommenheit« 741

• einer seelischen Einmauerung

• einer affektiven Abstumpfung und Einengung

• eines künstlichen dicken Fells 280:96

• einer »Indifferenz gegen äußere Reize und Verlangsamung der Reaktionen bis zu katatonieartiger Erstarrung bei erhaltener Ansprechbarkeit« 871:221

• einer emotionalen Neutralität, intentionalen Verarmung, emotionalen Gleichgültigkeit und Unentschiedenheit, Verminderung der emotionalen Mitschwingungsfähigkeit und Dämpfung der Emotionalität 263;391;593;895

• einer Kaltstellung des Ich-Kerns und emotionalen Panzerung 980;1040.

Hans Walther-Büel von der Psychiatrischen Klinik Münsingen (Schweiz) fand mit dem Bild der Kaltstellung des Persönlichkeitskerns eine anschauliche Formulierung:

»Es werden Erregungen jeglicher Art, also endogene, psychogene und organische, im Sinne der Sedation und Apathisierung gedämpft, ohne dass das Bewusstsein getrübt und die formalen psychischen Vollzüge, abgesehen vom Wegfall der dynamischen Komponente, verändert wären. Manische Zustände werden, nach dem treffenden Ausdruck von Escalar und Balduzzi, in das Bild der ›Mania fredda‹ (›erkalteten Manie‹) verwandelt. Die affektive Reaktion und Resonanz zu jeder Qualität krankhaften psychischen Erlebens, also auch paranoid-halluzinatorischer Verfolgung, depressiver Verzweiflung, ekstatischer Entrückung, neurotischer Spannung wird abgestumpft. Dem psychotischen Erleben werden die verzehrenden Energien, der Wind aus den Segeln entzogen, anstelle stürmischer Auseinandersetzung tritt die ökonomisierende Sparschaltung vorwiegend animalisch orientierten Daseins mit ausgiebigem Schlaf und Essen. Die Probleme der Psychose und damit des Menschseins und die psychotischen Inhalte werden zwar nicht beseitigt, aber der Ichkern mit seinen überschießenden und oft destruktiven Reaktionen beruhigt, gleichsam kaltgestellt, so dass Höhen der entrückten und Tiefen der gequälten Seele in nivelliertem Gleichmut erscheinen.« 1040:290

In seinem Buch »Schizophreniebehandlung aus der Sicht des Patienten« ließ Klaus Windgassen von der Psychiatrischen Universitätsklinik Münster, ein vehementer Befürworter der Neuroleptika-Verabreichung, Betroffene zu Wort kommen, die sich in ähnlicher Weise wie Walther-Büel äußerten:

»... Nehm’ ich die Tabletten, leb’ ich eben nicht intensiv genug... dann bin ich halt wie unter so ’ner Käseglocke. Abgeschirmt gegen meine Umgebung, und das will ich ja nicht. Ich will ja mit den anderen zusammenleben.« zit.1072:81

»... Ich habe das Gefühl, völlig verflacht und verarmt zu sein«, und zwar schon seit ungefähr drei Jahren; »Es ist mir aber jetzt erst bewusst. Ich stufe mich jetzt erst als krank ein. Vorher habe ich mich dagegen vehement gewehrt. (...) Ich kann nichts mitvollziehen, als wenn ich gefühlsmäßig nicht mehr differenzieren könnte.« 1072:78

»... Ich fühle gar nichts mehr!« zit.1072:81

»... Die Gefühle sind schwächer geworden. Ich habe das Gefühl, ich lebe hier nicht...« zit.1072:81

Energie- und Willenlosigkeit

»Mehr und mehr erstreckte sich meine Sorge nicht nur auf die furchtauslösenden Vorgänge in der Politik, sondern auch auf die kleinen, alltäglichen Probleme. Ein Loch in der Hosentasche, ein abgerissener Knopf, die erforderliche Bestellung des Gartens, alles wurde zum Problem, und ich war wie gelähmt. Ich saß stundenlang im Sessel und blickte ins Leere (...). Das morgendliche Aufstehen war eine Qual, ich hatte nichts zu tun, nein, ich konnte nichts tun und wäre am liebsten den ganzen Tag im Bett geblieben. Die Sinnlosigkeit meines Daseins war so überwältigend, dass sie mich erdrückte. Ich war ein Niemand, ein Nichts, dessen Persönlichkeit sich am Zusammenstoß mit der Wirklichkeit aufgelöst hatte. (...) Ich saß immer noch träge im Sessel, ging stocksteif (weil ich immer noch meine wöchentliche Spritze Imap – etwas niedriger dosiert – bezog) durchs Zimmer, was meine Frau nervös machte, und feuerte mich selbstgesprächsweise mit Rufen wie ›Der Geist muss siegen‹ oder ›We shall overcome‹ an..... 1031:86f./93

So schilderte Jörg von Bannsberc-Freiheit seinen Zustand nach der Klinikentlassung unter der gemeindenahen Weiterbehandlung mit Imap.

Unter Neuroleptika stumpft das Gefühlsleben ab. Das psychische Energieniveau sinkt, Lebendigkeit 391 und Streitlust 497 werden geringer:

»Im Übrigen ist zu erwarten, dass sich auch die antriebsmindernde Eigenschaft der Phenothiazinbehandlung auf alle seelischen Grundfunktionen auswirkt, da der Antrieb als unterhaltender Impuls jeder psychischen Tätigkeit erscheint; Largactil ›erzielt eine Senkung des allgemeinen psychischen Energieniveaus, welches sich auf alle seelischen Leistungen auswirkt.‹« 391:362

Herabgesetzter Antrieb infolge Stammhirnstörung ist eine geläufige Erscheinung 263. Unter Antrieb verstehen Psychiater die Summe von Motorik, Emotionalität, Sinnes- und Geistestätigkeit, letztlich den Willen des Menschen. Für den beschriebenen Zustand des herabgesetzten psychischen Energieniveaus erfand Heinrich den Begriff »postremissives (nach dem Nachlassen der ›Krankheit‹ auftretendes) Erschöpfungssyndrom«. Damit kennzeichnete er die Apathie, wie sie mit den Neuroleptika-bedingten Hirnveränderungen einhergeht 405.

Ehrig Lange von Psychiatrischen Klinik der Medizinischen Akademie Dresden sprach von Hypobulie, womit ein herabgesetzter Willensantrieb gemeint ist. Gleichzeitig sei dieser Zustand

»... gekennzeichnet von unnatürlich bis quälend erlebter Dösigkeit (qualitativ abnorme Müdigkeit, Benommenheit bis Somnolenz [stärkerer Grad von Benommenheit], sogenannter Winterschlafeffekt).« 598:360

Äußere Reize werden nur noch gedämpft wirksam 359. In Zusammenhang mit den psychischen Neuroleptika-Wirkungen erwähnte Walther-Büel die Bradyphrenie: eine bei hirnorganischen Veränderungen auftretende Verlangsamung psychischer Abläufe, Antriebsschwäche, Interesselosigkeit und mitunter verdrießlich-unrastige Stimmung 1040:289. Hans-Joachim Haase von der Psychiatrischen Klinik Landeck machte klar, dass die neuroleptisch verminderte Psychodynamik alle Erlebnisse verkümmern lässt, und zwar die als »krank« diagnostizierten ebenso wie die als »normal« akzeptierten 368.

»Die Patientin erlernte trotz ihrer vorgeschobenen Ablehnung das Flötenspiel.« 103:9

Mit diesen Worten priesen drei Beschäftigungstherapeuten der Berliner Klinik Phönix die enormen Fortschritte einer unter Neuroleptika stehenden Frau in ihrem psychiatrischen Rehabilitationsprogramm an. Für psychiatrisch Tätige ist der apathische Zustand eine wesentliche Wirkung der Psychopharmaka:

»Antriebsdämpfung, Initiativverarmung und Interessenverlust sind als neuroleptische Hauptwirkung bekannt.« 425:457

Die Neuroleptika-Pioniere Jean Delay und Pierre Deniker nannten die psychomotorische Apathie an erster Stelle der Wirkungen, die ein Psychopharmakon zum Neuroleptikum machen 212. Im »Handlexikon der Medizin« ist die Verringerung des vitalen, an die Existenz gehenden Antriebs als charakteristische Wirkung der Neuroleptika erwähnt 986,II:1722. Helmut Selbach von der Psychiatrischen Universitätsklinik Berlin betonte die Kraftlosigkeit, die vielfach von einer auffallenden Schlafsucht begleitet sei 895. Die einen legen Wert auf die motorische Aktivitätsminderung 579, die anderen auf Schwäche und Passivität 211. Immer wieder stellen Psychiater in ihren Berichten die Willenlosigkeit der Behandelten heraus. In der Zeitschrift Fortschritte der Neurologie – Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete kamen einige psychiatrisch Tätige zu Wort:

»Der Patient bietet ein Bild des Stumpfsinns und der Willenlosigkeit. (...) Der Patient liegt oder sitzt im Bett, rührt sich nicht... Meist schweigt er. Spricht man ihn an, so antwortet er nach einer gewissen Pause langsam mit monotoner, indifferenter Stimme... Es kommt aber nur selten vor, dass er eine Frage stellt oder Befürchtungen oder Wünsche ausdrückt. (...) Gleichmütig und gelassen tut der Patient, was man von ihm verlangt. Willen und Antrieb sind gehemmt.« zit.391:361

So können psychiatrisch Tätige pflegeleicht mit den Objekten ihrer Tätigkeit umgehen. Deren Temperament ist nun transformiert 305. Ihr Misstrauen nimmt ab 881, sie werden »kooperativer und zugänglicher« 498:10, »gefügig« 502;zit.858:92, kontrollierbar 30, geben die ablehnende Haltung auf, werden lenkbar 932. Problemkinder werden »pädagogisch leichter führbar« 250:1846. Unliebsame Insassinnen und Insassen von Heimen, die Anzeichen von Unzufriedenheit offenbaren, lassen sich einfach behandeln, insbesondere Kinder und ältere Menschen. Aus einem Altenheim in Freiburg berichtete Claudia Reutner:

»Ich arbeite ab und zu aushilfsweise in Pflegeheimen, dort ist es ganz »normal«, dass etwa die Hälfte der Bewohner(innen) mit Haldol oder Atosil behandelt werden, damit sie nicht »den Stationsablauf stören«. Manche bekommen die Medikamente schon seit Jahren, und auf Nachfrage konnte mir niemand sagen, warum eigentlich. Als eine Patientin des öfteren nachts mit ihrem Stock auf dem Boden herumgehauen hat, wurde sie sofort von der Neurologin ›eingestellt‹. Das Ergebnis: die Frau wurde apathisch, antwortete nicht mehr, und wenn, nur noch mit ›ja‹ oder ›nein‹... 810

Querschnittsgelähmte Kinder, denen man Chlorpromazin verabreichte, funktionierten ebenfalls besser 215. Aus der Städtischen Nervenklinik Bremen berichteten A. Schopmans und H. Tempel, wie es ihnen gelang, mit Perphenazin (1996 im Handel als Decentan, Perphenazin und Trilafon) für Ruhe und Ordnung zu sorgen:

»Die Sedierung durch eine einzige, einleitend gegebene i.v. Injektion ließ sich mit der Wirkung einer wiederholten Elektrokrampfbehandlung vergleichen. (...) Patienten, die anfangs alle Medikamente ablehnten und sich bei jeder Injektion heftig wehrten, nahmen, zum Beispiel nach kurzzeitiger parenteraler (unter Umgehung des Verdauungstraktes, das heißt per Spritze oder Infusion durchgeführter) Behandlung, willig Dragées. (...) Vier schizophrene Patienten, die nach dem Erwachen aus dem Insulinschock anhaltend laut und unruhig waren, ließen sich durch parenterale Perphenazingabe bis zur Einleitung des nächsten Insulinschocks ausreichend ruhigstellen.« 872:758

Dieselbe Substanz setzte H. Mohr im Nervensanatorium Oberwil-Zug in der Schweiz mit vergleichbarem Ergebnis ein:

»Derart therapierte Patienten dösten uninteressiert vor sich hin, schliefen jedoch nicht, sondern waren jederzeit kontaktfähig und ansprechbar, wenn auch ihre Antworten, ihrem eingeengten Gesichtskreis entsprechend, kaum über lapidare Bejahungen oder Verneinungen hinausgingen; spontane Äußerungen wurden sehr selten. Auch anfänglich äußerst erregte, unruhige, tätlich-aggressive Patienten wurden fügsam, ließen sich leicht an ihrem Platze bzw. in ihrem Bette halten.« 692:39

Hoimar von Ditfurth, in den 1950er Jahren Psychiater der Universitätsklinik Würzburg, berichtete schon bald nach der Einführung des Chlorpromazin von ihn optimistisch stimmenden Erfolgen bei bis dahin ›therapieresistenten Fällen‹, das heißt sich gegen die Behandlung wehrenden Menschen bzw. solchen, bei denen die Behandlung bisher nicht wie gewünscht wirkte: »Eine bis dahin völlig negativistische Patientin ließ sich mit einem Male füttern...« 1034:57 Von Perphenazin war man ähnlich begeistert:

»Eine 37-jährige Defektschizophrene, immer hochmütig-ablehnend, die sich regelmäßig in wüsten Beschimpfungen erging, wurde aufgeschlossen, freundlich und lächelte.« 872:758

Klaus Ernst von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich gelang es sogar, mit Hilfe von Chlorpromazin die Wahrnehmung einer Frau völlig umzudrehen:

»Eine depressiv-paranoide Spätschizophrene korrigierte ihre Schuld- und Verfolgungserlebnisse einsichtig als etwas Krankhaftes, berichtete uns jedoch beseligt über das Gottesreich, dessen baldiges Kommen ihr nun verheißen worden sei. Schwestern und Ärzte, die ihr vorher als teuflische Sendboten erschienen waren, redeten jetzt mit Engelsstimmen zu ihr.« 265:584

Möglich ist aber auch das Gegenteil, nämlich dass das bisher Vertraute plötzlich als Fremdes wahrgenommen wird, »dass es über Depersonalisationserscheinungen zu psychotischen Abwandlungen der veränderten Selbstwahrnehmung kommt« 102:106.

Die verabreichten Neuroleptika können, wie Böker und Kollegen mitteilten,

»... zu Konflikten mit aggressiven Ausbrüchen und langdauernden Regressionen führen. Durch die Möglichkeit, größere Nähe zu erleben, können hier vor allem nahestehende Menschen plötzlich als fremd erlebt werden, und die Wahrnehmung des eigenen Unbeteiligtseins in der Beziehung dürfte eine zusätzlich Belastung darstellen.« 102:106