Schöne neue Wirklichkeit - Jens Heisterkamp - E-Book

Schöne neue Wirklichkeit E-Book

Jens Heisterkamp

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Beschreibung

Nicht erst seit die Rede von „alternativen Fakten“ aufgekommen ist, herrscht Verunsicherung über elementare Grundlagen der Verständigung: Wirklichkeit und Wahrheit stehen als Orientierungsgrößen zur Disposition, das verantwortungsfähige Individuum droht zu einem bloßen „Konzept“, Moral zu einer Sache der Deutungshoheit zu werden. Die postmoderne Relativierung aller Werte hat sich in Form negativer Glaubenssätze tief in unsere Gesellschaft eingenistet. In der Konsequenz bereiten sie einem Klima den Weg, in dem rückwärtsgerichtete Kräfte leichtes Spiel haben. „Schöne neue Wirklichkeit“ plädiert für eine Besinnung auf die Grundlagen denkender Vernunft und verantwortlicher Moral und kann gleichzeitig als eine entscheidende Alternative verstanden werden: Wollen wir die pseudo-Realität der Beliebigkeit oder eine Wirklichkeitserfahrung echten Seins, aus der persönliche Erfüllung und gesellschaftliche Verbindlichkeit entstehen kann?

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Seitenzahl: 124

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E-Book
1. Auflage September 2017
Info3-Verlag, Frankfurt am Main
Herstellung: Kulturfarm, Rintelnwww.kulturfarm.de
Umschlagsgestaltung: Frank Schubert
ISBN 978-3-95779-058-3© 2017 Info3-Verlagsgesellschaft Brüll & Heisterkamp KG
Buchausgabe
1. Auflage 2017 Info3-Verlag, Frankfurt am Main
Typographie und Satz: Clarissa Heisterkamp, Hannover
Umschlag: Frank Schubert, Frankfurt am Main, unter Verwendung eines fotolia-Motivs
Druck und Bindung: booksfactory, Szczecin, Polen
ISBN 978-3-95779-055-2
© 2017 Info3-Verlagsgesellschaft Brüll & Heisterkamp KGwww.info3.de

Jens Heisterkamp

Schöne neue Wirklichkeit

Sieben post-faktische Denkblockaden und ihre Überwindung

 „Wahrheit könnte man definieren als das, was der Mensch nicht ändern kann; metaphorisch gesprochen ist sie der Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt."

Hannah Arendt, Wahrheit und Politik

Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Trommelfeuer gegen die Vernunft
Wenn Beliebigkeit Einzug hält
Von der akademischen Theorie zum Populismus
Eingrenzende Denk-Schablonen oder große Gedanken?
1. Warum wir noch nicht denken und wie wir zur Wirklichkeit kommen
Weshalb das Denken ein Ausgangspunkt ist
Denken macht frei – Despoten wollen Dummheit
Denken ordnet
Wie Denken die Wirklichkeit erreicht
Denken und Sein
Ohne Denken ist die Welt nicht fertig
2. Fragwürdiger Relativismus und angemessene Behutsamkeit
Die Gefahr des Beliebigen
Wahrheit lässt sich gewahren
3. Agnostische Einseitigkeit versus Perspektivität als Gewinn
Unerreichbare Wirklichkeit?
Der blinde Fleck des Subjektivismus
Wege zum realen Kontakt
Perspektivität und Einheit
Blitze, Gold und Elefanten
4. Im Mittelpunkt der Mensch? Falsche Bescheidenheit und echter Hochmut
Versuchen Sie mal die Welt ohne sich zu denken!
Im Mittelpunkt der Mensch!
5. Warum wir uns zu Maschinen machen und wie wir wirklich konstruktiv werden können
Vorsicht vor Absolutismus
Echt konstruktiv!
6. Vom ethischen Relativismus zur Würde der freien Entscheidung
Besser oder schlechter?
Den Unterschied machen Sie!
Freiheit ist Risiko
Egoistisch – dann aber schön und gut!
7. Ein Plädoyer für den Dialog und die Kraft der Sprache
Vernunft als Basis der Offenen Gesellschaft
Verstehen im Dialog
Was Sprache vermag
Zugang zur Wirklichkeit
Literatur
Danksagung

Einleitung: Trommelfeuer gegen die Vernunft

Im Januar 2017 schrieb die amerikanische Präsidentschaftssprecherin Kallyanne Conway ein kleines Kapitel Begriffs-Geschichte. Von einem Journalisten auf offensichtlich falsche Zuschauerzahlen bei der Amtseinführung des neuen Präsidenten Trump angesprochen, sagte Conway den legendär gewordenen Satz, bei den zu hoch angesetzten Zahlen habe es sich nicht um falsche, sondern um „alternative Tatsachen“ („alternative facts“) gehandelt. Ihre Aussage rief ein kritisches bis empörtes Echo hervor. Und das nicht ohne Grund, denn hier wurde mit einem Grundpfeiler unserer Common-Sense-Vereinbarungen gespielt, wonach Tatsachen und Fakten sich eben dadurch auszeichnen, dass sie stimmen oder widerlegbar sind. Entweder waren bei der Amtseinführung, wie ein anderer Präsidentensprecher zuvor behauptet hatte, mehr Menschen in Washington anwesend als bei der ersten Amtseinführung Obamas (also mehr als zwei Millionen), oder es waren, wie die meisten Medien und Augenzeugen berichteten, deutlich weniger. Beides zugleich ist schon logisch nicht möglich und bei einer sorgfältigen Recherche aller zur Verfügung stehender Wahrnehmungen von Beteiligten ließ sich die tatsächliche Größenordnung rekonstruieren. „Alternative“ Tatsachen gibt es nicht. Schon Hannah Arendt hatte im Blick auf den politischen Umgang mit Fakten auf den fatalen Umstand verwiesen, „warum es so leicht ist, Tatsachenwahrheiten dadurch zu diskreditieren, dass man behauptet, sie seien eben auch Ansichtssache“ (Arendt 1972).

Obwohl damit das Projekt der „alternativen Fakten“ auf verlorenem Posten steht, ist die Sache leider so einfach nicht. Es reicht angesichts der Verwirrungen nicht aus, im Blick auf Tatsachen oder Fakten einfach auf eine naiv als existierend gedachte Welt zu verweisen. In Teilen der modernen und postmodernen Philosophie und Kultur würde die Position, wonach es so etwas wie „alternative Fakten“ gibt, vermutlich sogar Unterstützung finden. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde ein Vertreter der philosophischen Postmoderne sogar noch weitergehen und sagen: Von alternativen Fakten zu reden ist möglich, weil es so etwas wie Fakten als letzten Bezugspunkt gar nicht gibt. Was wir als Fakten oder Tatsachen bezeichnet, ist keineswegs etwas neutral Vorhandenes, sondern immer ein Ergebnis unserer Deutung und unserer Interpretation, es ist der Endpunkt eines Prozesses, in den bereits eine Vielzahl von Vorannahmen, Setzungen, Definitionen und Interessen eingeflossen sind. Das „Konzept“ der „Tatsache“ als einer objektiv vorhandenen beziehungsweise objektiv beurteilbaren dinglichen Gegebenheit ist dann eben ein bloßes Konzept, eine Konstruktion – ein Geschöpf unseres Verstandes. Soweit die Postmoderne, die insofern die jüngere Wortschöpfung des „post-faktischen“ philosophisch implizit vorweggenommen hat. „Indem Postmodernisten den wissenschaftlichen Objektivitätsanspruch unterminierten, haben sie unwissentlich die philosophische Grundlage für die Wiederkehr des Autoritarismus gelegt“, hieß es passenderweise kurz nach der Wahl Trumps im „Scientific American“. 

Ich bin nicht sicher, wieweit man der postmodernen Philosophie die Verantwortung dafür zuschreiben kann, dass der begrifflichen Nebelschwaden-Politik von Trump und anderen Neo-Despoten unserer Zeit der Boden bereitet wurde; der Vorwurf ist allein deshalb schon mit Vorsicht zu genießen, als politische Vorgänge viel zu komplex sind, um nur auf einer Ebene befriedigend erklärbar zu sein. Und doch hat der Gedankengang einen wichtigen, sehr ernsten Kern: Er weist auf den Zusammenhang zwischen behaupteter Beliebigkeit und praktizierter Manipulation.

Wenn Beliebigkeit Einzug hält

Wie genau hat diese Beliebigkeit nicht nur in die Philosophie, sondern auch in das gesellschaftliche Denken Einzug gehalten?

„Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“, lautete 1998 ein erfolgreicher Buchtitel, dem man einen gewissen Stimulationseffekt nicht absprechen kann. Abgesehen von einer vielleicht heilsamen Verunsicherung des Gewohnten ist die Aussage allerdings gedanklicher Unfug. Ebensowenig wie der Inhalt eines Witzes dadurch wahr wird, dass er uns zum Lachen bringt, ist auch diese Begriffsverbindung vom Lügner, der die Wahrheit „erfindet“, nicht dadurch überzeugend, dass er Verblüffung auslöst. Die Wahrheit als „Erfindung“ – und wer hat das nun wieder erfunden?! 

Aus meiner Studienzeit Anfang der 1980er Jahre erinnere ich mich an eine Szene, wo ein Mitstudierender in einem Seminar eine ganz ähnliche Frage stellte: „Seit Aristoteles glauben wir an den Satz vom Widerspruch, wonach entweder eine Aussage gelten kann oder ihr Gegenteil, aber nicht beides. Woher wissen wir, dass das wahr ist?“ Die Botschaft war klar: Unsere ganze Logik beruht möglicherweise lediglich auf der machtvollen Setzung eines philosophischen Giganten, dessen wirkmächtige Aussage nie in Frage gestellt wurde. – Wir schätzen Denker wie Michel Foucault, der darauf hingewiesen hat, wie sehr die etablierte „Ordnung des Diskurses“ von Machtverhältnissen geprägt ist. Wer wollte leugnen, dass geistige und politische Autoritäten zu allen Zeiten maßgeblich mitbestimmt haben, was Gegenstand des philosophischen oder wissenschaftlichen Denkens wurde und was nicht, die festgelegt haben, was als Fakten, um zu diesem Begriff zurückzukommen, anerkannt wurde und was als Ketzerei oder Aberglaube gilt? Aber heißt das, dass wir es letzten Endes nur mit Macht, nie aber mit Wahrheit zu tun haben?

Foucaults Begriff des Diskurses ist in letzter Zeit durch das Modewort „Narrativ“ abgelöst worden. Dahinter verbirgt sich die Annahme, dass die Wahrnehmung von Wirklichkeit durch das konstituiert wird, was sich als zentrale Erzählung in einer Gesellschaft durchsetzt oder auch einfach nur etabliert hat. Auch dieser Sicht entsprechend gibt es keine erreichbare Objektivität, sondern allein konkurrierende Narrative. Auch hier geht es mir nicht darum, die Existenz solcher Leit-„Narrative“ zu bezweifeln; die Geschichte Emanzipation etwa ist ein bekanntes Narrativ der gesellschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte, ein besonders schönes dazu und dass es sich um ein Narrativ handelt, bedeutet keinesfalls, dass es sich bei der zunehmenden Emanzipation der jüngeren Moderne um  ein bloßes Konstrukt handelt. Fatal wird es, wenn man im Zuge dieser Überlegungen die politische mit der logischen Ordnung gleichsetzt und eine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Diskurs beziehungsweise Narrativ und dem, worauf sie sich beziehen, leugnet. Zum bloßen Relativismus führt es, wenn in Folge dieser Diskurs- und Narrations-Logik bestritten wird, dass immer etwas Zugrundeliegendes existiert, auf das sich Diskurse und Erzählungen beziehen und von dem aus auch Beurteilungen darüber möglich sind, welche Gültigkeit einem Narrativ zukommt.

In einem persönlichen Austausch mit einem Vertreter der Narrationstheorie über den Status geschichtlicher Tatsachen kam der Name des Historikers Hayden White auf, den ich schon aus der Zeit meines Studiums kenne. Er war bereits früh mit der Auffassung hervorgetreten, dass unser geschichtliches Wissen durch narrative Akte produziert werde – „Klio dichtet“ lautete einer seiner Leitsprüche. Mein Gesprächspartner verabsolutierte nun diesen Ansatz: Es gäbe letzten Endes gar nicht so etwas wie historische Tatsachen, sondern nur Erzählungen unterschiedlicher Art. Ich fragte ihn daraufhin, ob denn beispielsweise auch das, was wir über den Holocaust wissen, nur Narrative seien, und ob diese auch ganz anders lauten könnten – was mein Gegenüber durchaus bejahte. Ich hielt dem entgegen, dass wir doch schließlich Zeitzeugen aller Art hätten, Aussagen von Opfern und Tätern, aus denen man mit historischen Methoden ein Bild konstruieren könne. Diesem käme ein gewisser narrativer Charakter zwar durchaus zu, das Geschäft der Geschichtsschreibung liege aber doch gerade darin, immer wieder im Vergleich der Aussagen mit anderen historischen Dokumenten und Quellen zu einem möglichst wirklichkeitsgesättigten Bild des Gewesenen zu kommen. Sollten wir denn bezweifeln, dass etwa der Bericht eines Lager-Überlebenden realen Charakter habe? Mein Gesprächspartner blieb dabei, dass wir nichts von Tatsachen, sondern nur von Narrativen wissen könnten, da sich in jede Tatsache bereits ein narratives Element mische.

Ich halte es für problematisch, wenn in der Rede von Narrativen das konstruierende Element derart verabsolutiert wird und es am Ende darauf hinausläuft zu sagen, Tatsachen und die geschichtliche Wirklichkeit seien nichts als Konstruktionen. Solche „Nichts-als“-Aussagen begründen einen ebenso wirklichkeitsfernen wie gefährlichen Relativismus in der Art, dass es „nichts als“ politische und gesellschaftliche Machtverhältnisse sind, die das bestimmen, was als Tatsache oder Wahrheit gilt – und dass wir am Ende nichts wirklich wissen können. „Die Wissenschaft“ oder „die Eliten“ oder „die Medien“ würden dann am Ende ihre Narrative diktieren. In der Version, dass immer die Sieger die Geschichte schreiben, hat diese Auffassung eine Variante gefunden, die zumeist von zweifelhaften Geschichtsverdrehern verwendet wird, um Verunsicherung zum Beispiel gegenüber der Schuldfrage bezüglich des Zweiten Weltkriegs zu säen – von Holocaust-Leugnern ganz zu schweigen.

Ein Beispiel dafür, wie man denselben Sachverhalt diametral anders interpretieren und in sich vollkommen widersprechende Narrative kleiden kann ist der Hitler-Attentäter Claus von Stauffenberg. In den Tagen und Wochen des 20. Juli 1944 und noch weit darüber hinaus galt Stauffenberg einem überwiegenden Teil der deutschen Gesellschaft als Verräter, der aus politischer Verblendung den Tod zahlreicher Menschen in Kauf genommen hatte – eine Einschätzung, die sich in manchen Kreisen noch bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik hinein fortsetzte. Erst allmählich wendete sich die Beurteilung seiner Tat und sein Versuch, Hitler gewaltsam zu beseitigen, wurde als einer der wenigen Schritte entschiedenen Widerstands gegen das NS-Regime gewürdigt. Heute sehen die meisten Stauffenberg als Held, nach ihm werden Straßen benannt und der mit standrechtlichen Erschießungen blutig beendete 20. Juli ist bis heute ein wichtiger Gedenktag für die Identität der Bundesrepublik. Verbrecher oder Widerstandskämpfer – ist es nun wirklich so, dass dieses Urteil nur von den jeweils herrschenden politischen Umständen abhängt? Es gibt nicht wenige Menschen, die wirklich so denken. Für sie wäre es dann auch nur eine Frage der Perspektive, ob islamistische Fanatiker heute nicht vielleicht verkannte Widerstandskämpfer gegen ein bestimmtes „System“ sind. Solche Relativierungen verkennen allerdings, dass sich Handlungen durchaus an intersubjektiven Werten messen lassen. Stauffenberg und seine Mitstreiter wollten einem verbrecherischen Vernichtungskrieg nach außen und einer mörderischen Herrschaft nach innen durch die Beseitigung Hitlers ein Ende setzen; einen legalen Weg dazu oder Möglichkeiten des gewaltlosen Widerstands gab es nicht; dass bei der Ausführung ihres Attentats auch vergleichsweise unbeteiligte Menschen zu Schaden kommen würden, hat ihr Gewissen belastet, war aber aus ihrer Sicht unvermeidlich und nach Abwägung aller Umstände auch gerechtfertigt. Das Attentat galt ihnen als letztes Mittel innerhalb eines ideellen Gesamtziels, das auf Beseitigung des Terror-Regimes und die Rettung und Wiedereinsetzung des Humanen gerichtet war. Für die Verantwortlichen beispielsweise der Anschläge vom 13. November 2015 in Paris oder andere islamistisch motivierte Attentäter stellt dagegen das wahllosen Töten möglichst vieler Menschen selbst schon ein Ziel dar, das wegen seiner angenommenen Gottgefälligkeit den direkten Weg ins Paradies verheißt. Der ideelle Gesamtrahmen ist hier die Beseitigung einer auf Freizügigkeit ausgerichteten Gesellschaft und die Errichtung eines ideologischen Zwangssystems, das Menschlichkeit nur für Angehörige einer bestimmten Glaubensrichtung und auch hier nur unter ganz besonderen Voraussetzungen gewährt. Dieser unterschiedliche Werte-Kontext ist es, der den beiden Gewaltphänomenen eine jeweils vollständig andere moralische Dimension verleiht: Im einen Fall ist es ein legitimer Akt des Widerstands, im anderen Fall ein religiös verbrämtes Verbrechen für die Errichtung eines Unrechtssystems. 

Von der akademischen Theorie zum Populismus

Dass wir uns so leicht verunsichern lassen, beides klar zu unterscheiden, ist Folge einer intellektuellen Immunschwäche, die sich lange angebahnt hat. Das Problem mancher postmoderner Ansätze liegt dabei auch darin, dass sich ihre Positionen meist aus ihrem ursprünglich hoch differenzierten, theoretischen Ursprungsmilieu (in dem viel in Konjunktiven und mit angemessener Vorsicht diskutiert wird) gelöst haben und zu vereinfachten Allgemeinplätzen geworden sind: „Es gibt keine Tatsachen oder Fakten“ (siehe oben), „Es gibt keine Wirklichkeit“, „Alles ist relativ“ sind die trivialisierten Folgen davon. Sie stellen aber keineswegs nur theoretische Spitzfindigkeiten dar, sondern verunsichern in der Konsequenz unser Wirklichkeits- und auch Daseins-Gefühl bis in die Grundlagen. Diese Verunsicherung gilt dann auch für das Gebiet von Ethik und Moral: Sätze wie „es gibt keinen Unterschied zwischen Gut und Böse“ sind längst zu Totschlagsargumenten geworden, die jeden ernsthaften Diskurs über verbindliche gesellschaftliche Werte unterminieren. Es sind Sätze, die zu fast allgemein anerkannten Glaubenssätzen geworden sind und deren Wirkung dem des kirchlichen oder absolutistischen Dogmas früherer Zeiten kaum nachsteht. Sie haben aufgrund ihrer Popularität nicht nur zu einer allgemeinen Verflachung des Denkens geführt, sondern sind auch zu einer schweren Beeinträchtigung für die Verständigung innerhalb der gesellschaftlichen Realität geworden.

Wir würden allerdings in dieser Lage nicht weiterkommen, wenn wir nun allein die postmoderne Philosophie für die Misere verantwortlich machen wollten. Das hieße nicht nur, ihren Einfluss auf die Gesellschaft nun doch etwas zu überschätzen. Es hieße auch, die postmoderne Philosophie als Ursprung für etwas zu sehen, dessen Sprachrohr sie vielleicht nur geworden ist. Möglicherweise prägt nicht die Postmoderne als Ursache die Zeit, sondern diese hat ihrerseits gewisse Grundannahmen gebündelt, die uns Zeitgenossen ohnehin einleuchtend erscheinen und sie lediglich mit Argumenten untermauert. 

Die Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken gefasst, hat Hegel gesagt. Postmoderne Positionen sind insofern nicht irgendwo abstrakt aufbewahrte Konzepte, sondern sie sind Glaubenssätze, die in vielen Zeitgenossen auch ganz unabhängig von Fachdiskussionen tief verankert leben – möglicherweise in jedem von uns, was hier nicht als freundlicher Pluralis Majestatis verstanden werden soll, sondern als Eingeständnis, dass auch ich selbst mich bei ehrlicher Betrachtung der Faszination dieser Glaubenssätze nicht gänzlich entziehen kann. Sie sind deshalb so wirksam, weil sie uns in gewisser Weise als moderne Menschen ausmachen, nicht nur unser Denken, sondern unser ganzes Lebensgefühl definieren. Der Zweifel an der Wirklichkeit, das Infragestellen der Möglichkeit von Objektivität, die Verunsicherung über die eigene Ich-Identität und die tiefe Krise des Ethischen sind Elemente, die bei vielen von uns das Lebensgefühl als modern-postmoderne Menschen ausmachen. 

Eingrenzende Denk-Schablonen oder große Gedanken?