Schreien nützt nichts - Helene Jarmer - E-Book

Schreien nützt nichts E-Book

Helene Jarmer

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Beschreibung

Eine bemerkenswerte Biografie wie aus einem Hollywood-Drehbuch

Helene Jarmer hat einen Sitz im österreichischen Nationalrat und ist die erste gehörlose Abgeordnete im deutschsprachigen Raum. Die nicht nur positiven Reaktionen auf ihre Nominierung zeigen, dass noch viel für die Gleichberechtigung behinderter Menschen und gegen Diskriminierung getan werden muss. Helene Jarmers verlor zweijährig bei einem Autounfall das Gehör. Ihre Eltern förderten sie umfassend und ermöglichten ihre Ausbildung an der Höheren Technischen Lehranstalt wie auch ihr Pädagogikstudium an der Universität Wien - für behinderte Menschen ein hürdenreicher Weg. Als Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes und als Behindertensprecherin der Grünen im Parlament setzt sie sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein. Und sie wird gehört – ihre politischen Erfolge beweisen es!

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Seitenzahl: 347

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Hinweis: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden in diesem Buch sowohl die weibliche und die männliche als auch die doppelte beziehungsweise übergreifende Form bei Berufsbezeichnungen und Ähnlichem verwendet. Es sind jedoch selbstverständlich immer beide Geschlechter gemeint.

Inhaltsverzeichnis

VorwortPrologIch heiße HeleneHörst du mich?Tu einfach so, als könntest du hörenLeih mir dein Ohr, gib mir deine StimmeImmer noch die Ausnahme – eine gehörlose LehrerinMein Weg auf das politische ParkettIch kann alles außer hören — der Alltag mit und ohne DiskriminierungenNicht ohne meine DolmetscherinnenWenn ich mir etwas wünschen dürfte — Gedanken & VisionenDanksagungAnhangCopyright

Vorwort

Was ist das für ein Gefühl, die eigene Stimme nicht zu kennen? Wie lebt man, wenn man noch nie Musik gehört hat? Macht es traurig, wenn man noch nie das Lachen eines Kindes gehört hat? Oder die Schritte im Schnee? Das Knistern von Holz im Kamin?

Vielleicht fragen sich manche gehörlose Menschen ab und an, wie sich ein bestimmtes Geräusch anhören mag. Aber insgesamt ist die Stille ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens. Ich habe zum Beispiel bewusst noch keine Musik gehört, aber ich kann sie fühlen. Ich spüre den Rhythmus, die Vibration der Bässe, die Schwingung des Bodens.

Wie meine eigene Stimme klingt? Auch daran kann ich mich nicht erinnern. Ich war noch zu jung, als ich mein Gehör verlor. Und das Lachen eines Kindes? Es genügt mir, wenn ich dieses Lachen sehe, die Freude, die strahlenden Augen.

Ich erfahre die Welt ringsum mit all den Sinnen, die ich habe. Und glauben Sie mir, das ist fast so gut, manchmal vielleicht sogar besser, als alles zu hören. Als gehörlose Frau lebe ich in der Stille – so drückt man es gern poetisch aus, aber für mich ist die Gehörlosigkeit positiv besetzt, sie ist wie eine Insel ohne Lärm.

Mit meinem Buch lade ich Sie ein, mit mir auf eine Reise zu gehen. Eine Reise in meine Welt, in die Welt der Gehörlosigkeit. Auf den folgenden Seiten erfahren Sie viel über mich: über Helene, das kleine Mädchen, das nach einem Unfall ertaubte. Über Helene, die gehörlose Schülerin, allein unter hörenden Mitschülern. Und über die Helene, die es geschafft hat, zu studieren und als gehörlose Lehrerin zu unterrichten. Schließlich lernen Sie auch die gehörlose Politikerin Helene Jarmer kennen. Ich lade Sie ein in meine Welt. Ich gewähre Ihnen einen Blick in mein Leben.

Warum tue ich das? Weil ich Ihnen meine Welt der Gehörlosigkeit zeigen möchte, da sie beispielhaft ist für das Leben so vieler behinderter Menschen in unserer Gesellschaft. Ich möchte, dass Sie selbstsicherer im Umgang mit behinderten Menschen werden und sich künftig nicht mehr abwenden, wenn ein behinderter Mensch Ihren Weg kreuzt. Dass Sie hinschauen und nicht weggucken, wenn Rollstuhlfahrer vor einer Treppe stehen, blinde Menschen den Fahrplan nicht lesen können, ein Kind mit Down-Syndrom Sie strahlend anlächelt und Sie nicht wissen, wie Sie reagieren sollen. Mein Buch ist ein Plädoyer für ein selbstverständlicheres Miteinander – und das kann nur wachsen, wenn wir uns einander zuwenden.

Vielleicht haben Sie dieses Buch in die Hand genommen, weil der Titel Sie neugierig gemacht hat. Gut so: Neugierige Menschen können wir brauchen. Ja, wir brauchen viel mehr neugierige Menschen, die wissen wollen, wie es sich anfühlt, behindert zu sein.

Und genau das will ich mit meinem Buch erreichen: Meine Sache braucht Begeisterung, sie braucht Empörung und sie braucht Betroffenheit. Sie braucht Menschen, die sich stark machen für andere!

Akzeptanz von Behinderung fängt mit Integration an, beginnt damit, den anderen nicht als minderwertig zu betrachten, sondern ihn einzubinden, ihn teilhaben zu lassen an allem, was ringsum passiert. Es ist nicht genug, wenn behinderte Menschen sich selbst um ihre Bildung kümmern, es braucht auch eine Gesellschaft, die sich öffnet.

Ich möchte dieses Buch auch all jenen mitgeben, die in der Familie und im Freundeskreis mit Behinderung konfrontiert sind. Ich möchte Sie auffordern, wenn es um Gehörlosigkeit geht, Ihre Ängste beiseite zu schieben und eine bilinguale Kommunikationsebene zu schaffen. Nur so kann man den Grundstein für ein selbstbestimmtes Leben legen.

Und ich hoffe, dass dieses Buch einen kleinen Teil dazu beitragen kann.

Ihre Helene Jarmer

Prolog

PARLAMENT

Es ist der 10. Juli 2009. Heute ist der Tag gekommen: Meine erste Rede vor einem so großen Publikum, vor dem österreichischen Parlament. Hier wird jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Als ich noch klein war, hat mein Vater mir immer wieder in Gebärdensprache gesagt: »Helene, gib nie auf!« Dass ich einmal vor dem österreichischen Parlament sprechen werde, hatte er damals wahrscheinlich nicht im Sinn. Aber jetzt stehe ich hier und spreche, nein: Ich gebärde in Österreichischer Gebärdensprache meine Antrittsrede. Und das nur wenige Stunden nachdem ich als Behindertensprecherin der Grünen in Österreich angelobt (Anmerkung der Redaktion: österreichischer Ausdruck für »vereidigt«) wurde.

»Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Hohes Haus!

Werte Kollegen, werte Kolleginnen! Liebe Behindertengemeinschaft!

Sie alle wissen: Ich bin gehörlos. Und deshalb sitzt mir gegenüber eine Gebärdensprachdolmetscherin. Sie leiht mir nun ihre Stimme und ihr Ohr. Das Ziel ist, dass Sie meine Rede jetzt barrierefrei mitverfolgen können.

Meinen Namen kennen Sie, aber nicht meinen Gebärdennamen. Helene also. Gebärdennamen haben nichts mit dem Namen an sich zu tun, sondern sie haben mit einer Besonderheit, mit einem besonderen Merkmal, mit einem Charakteristikum einer Person zu tun.

Ich möchte ein Beispiel eines berühmten Politikers bringen, den Sie alle kennen: Schüssel. (Ich gebärde den Gegenstand Schüssel.) Das wäre die Gebärde »Schüssel«. Aber diese Gebärde »Schüssel« würde jetzt nicht wirklich passen. Er hat die Gebärde, die vom Mascherl kommt. (Ich gebärde den Gebärdennamen des Abgeordneten Dr. Schüssel, indem ich mit meinen Händen ein »Mascherl« forme.)

(Anmerkung der Redaktion: Im österreichischen Sprachgebrauch ist ein »Mascherl« eine Fliege. Diese war das Markenzeichen von Dr. Wolfgang Schüssel zu seiner Zeit als Bundeskanzler, da er stets eine Fliege trug.)

Wolfgang Schüssel trägt zwar nicht mehr sein Mascherl, aber die Gebärde bleibt. Genauso wie meine Gebärde für Helene (ich gebärde meinen Vornamen und mache dabei mit meinen Händen eine Gebärde in Höhe meiner damaligen Haarlänge) weiterhin besteht, obwohl ich mittlerweile mein Haar kurz trage.

Wir haben heute einen ganz besonderen Tag und eine Premiere hier im Hohen Haus erlebt. Sie haben zwei Gebärdensprachdolmetscher erlebt, damit zehntausend gehörlose Menschen und GebärdensprachbenützerInnen die Parlamentsdebatte mitverfolgen können. Mein besonderer Dank gilt Frau Nationalratspräsidentin Prammer und der Parlamentsdirektion, dem Präsidium und den ParlamentsmitarbeiterInnen.

Das hier ist nun ein Anpassen an die besonderen Bedürfnisse gehörloser Menschen. Behinderung hat verschiedene Gesichter – und ein Gesicht davon ist die Gehörlosigkeit. Ich möchte mich auch an dieser Stelle beim ORF bedanken, dass er heute und auch in Zukunft die kompletten Parlamentsdebatten ausstrahlen wird. Somit haben gehörlose Menschen zu Hause und ebenso jene, die hier auf der Galerie sitzen, die Möglichkeit, die Parlamentsdebatte mitzuverfolgen.

Bevor ich jetzt auf den Behindertenbericht eingehe, möchte ich noch kurz etwas über Gebärdensprache bringen. Über das Wort »Österreichische Gebärdensprache« wundern sich viele, denn sie gehen davon aus, dass die Gebärdensprache eine internationale Sprache ist. Das ist sie nicht. Wir haben nationale Gebärdensprache und sogar dialektale Varianten. Sie sind jetzt wahrscheinlich erstaunt.

Ich möchte Ihnen gerne ein paar Beispiele bringen. In der Österreichischen Gebärdensprache ist das (ich zeige die entsprechende Gebärde) die Gebärde »Danke«. Sie können mitmachen: »Danke« – versuchen Sie es! Im Chinesischen sieht »Danke« anders aus – das hängt von der Kultur ab: Man verneigt sich, wenn man sich bedankt. Würde man diese Gebärde in Österreich verwenden, würde sie »Kugelschreiber« bedeuten.

Und ein Beispiel zu Dialektvarianten: Im steirischen Dialekt heißt es »machen«, in Tirol sieht es ganz anders aus: machen. (Ich zeige jeweils die entsprechende Gebärde dazu.) Also auch wir in der Gebärdensprache haben Dialekte. Sie kennen das ja von den gesprochenen Sprachen. Es gibt auch eine amerikanische Gebärdensprache, American Sign Language. Sie ist sozusagen die Weltsprache der Gehörlosen, das Pendant zum Englischen.

Ich möchte gerne ein paar Gebärden zeigen und möchte Sie einladen, mit mir mitzumachen. Bewegen Sie sich ein wenig! (Ich sehe, wie die Abgeordneten lachen.)

Parlament: (Ich forme mit den Händen eine Art Halbkreis.) Das hängt von den Sitzreihen ab, und Sie sitzen hier in dieser besonderen Form.

Abgeordnete: Was glauben Sie, wie die Gebärde aussieht? (Ich klopfe mehrmals aufs Rednerpult.) Kommt vom Tischklopfen.

Jetzt zu einer etwas schwierigeren Gebärde:

Behindertengleichstellungsgesetz: (Ich mache mit beiden Armen eine ausladende Bewegung.) Ich denke, das ist besonders für Sie eine wichtige Gebärde.

Sie werden sich vielleicht Gedanken machen, wie Sie mit mir jetzt wirklich zusammenarbeiten können. Ich bin gehörlos. Ich höre nichts, ich höre wirklich nichts. Und gleich vorab: Schreien nützt nichts — ich höre nichts.

Ich bitte Sie, deutlich zu sprechen, aber jetzt nicht in einer Überartikulation, sondern langsam, und ich bitte Sie um einen Blickkontakt, denn der ist sehr wichtig für mich.

Wie können Sie mich nun erreichen? Per SMS, per E-Mail, es gibt Chat-Programme, und Sie können auch mit mir telefonieren. Ich habe eine Gebärdensprachdolmetscherin, so wie hier jetzt, ganz einfach. So weit zum Umgang mit Ihnen.

Ich weiß, ich bin immer sehr schnell, und ich muss erst lernen, Pausen zu machen.

Nun zur Grammatik der Österreichischen Gebärdensprache und der Gebärdensprachen allgemein. Sie ist völlig anders aufgebaut. Eine Gebärde ist ein Wort oder mehrere Wörter. Man kann es vergleichen mit dem Chinesischen. Es gibt auch im Chinesischen Schriftzeichen, die jeweils ein Wort bedeuten. Deshalb braucht auch meine Gebärdensprachdolmetscherin immer etwas länger; damit Sie sich nicht wundern.

Ich selbst bin gehörlos, bin eine gehörlose Behindertensprecherin, und mir liegen alle Anliegen aller behinderten Menschen am Herzen – egal ob es sich um gehörlose, um blinde Menschen, um RollstuhlfahrerInnen, um ältere Menschen, um Mobilitätseingeschränkte, um Mehrfachbehinderte handelt. Mir sind wirklich alle Anliegen wichtig, aber in diesem Zusammenhang ist es für uns besonders wichtig, für uns hier, dass wir eine bindende Festhaltung, eine schriftliche Festhaltung treffen: Wir müssen behinderten Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben ermöglichen.

Unabhängig von meiner Parteizugehörigkeit wundere ich mich darüber, ich wundere mich wirklich über diesen Behindertenbericht und welches Verständnis von Behinderung und behinderten Menschen hier gezeigt wird. Zum Beispiel: Das Bundesministerium für Inneres sagt, Wahllokale haben keinen barrierefreien Zugang für RollstuhlfahrerInnen und mobilitätseingeschränkte Menschen, weil das Schulgebäude schon älter ist und man es nicht barrierefrei gestalten kann. Ein anderes Beispiel, das ich gelesen habe: Da heißt es, es gibt Schulen, da wird Österreichische Gebärdensprache angeboten. Aber in Wahrheit dürfen LehrerInnen gehörlose Kinder unterrichten, ohne eine einzige Gebärde zu beherrschen! Ich bin selbst Lehrerin. Und Sie haben wirklich richtig gehört: LehrerInnen dürfen gehörlose Kinder unterrichten, ohne eine einzige Gebärde zu beherrschen. Unglaublich! Was würden Eltern sagen, wenn eine Lehrerin Französisch unterrichtet, ohne ein Wort Französisch zu können?

Der Behindertenbericht muss beinhalten, welche konkreten Schritte zu setzen sind. Die Leute, die etwas verändern wollen, die wirkliche Barrierefreiheit erreichen möchten, brauchen diese Schritte, müssen wissen, was sie zu tun haben.

Zum Abschluss möchte ich gerne sagen: Was das Behindertengleichstellungsgesetz angeht, möchte ich mich gerne mit Ihnen und mit allen BehindertensprecherInnen an einen Tisch setzen, damit wir dieses Gesetz verändern. Die Politik kann das Leben behinderter Menschen wirklich revolutionieren! Wir haben 1,6 Millionen behinderte Menschen hier in Österreich, und wir können deren Leben verbessern. Wir müssen an die Menschen von morgen und von übermorgen denken!

Zum Schluss möchte ich noch gerne – und bitte, erlauben Sie mir das – einen kurzen Kontext zur Wirtschaftskrise herstellen. Ich erinnere mich noch an unseren ehemaligen Bundeskanzler Schüssel. Er sagte, Politik kann keine Arbeitsplätze schaffen. Er hat sich geirrt: Die GebärdensprachdolmetscherInnen hier beweisen genau das Gegenteil.

Auf eine gute, barrierefreie Zusammenarbeit!«

Für mich war wichtig: Man hat mir zugesehen, zugehört und mitgemacht! Und durch das Lachen und Klopfen haben mir die Abgeordneten signalisiert, dass sie verstanden haben, wovon ich spreche – zumindest in diesem Moment.

Aber das reicht mir natürlich nicht: dieser Moment. Alle, die mich kennen, wissen, dass ich nicht lockerlasse, meinen Mund oder besser gesagt meine Hände nicht stillhalten kann. Ich bin nicht leise und zurückhaltend. Ich bin groß, selbstbewusst und gehörlos. Ich bin behindert – na und? Ich bin gehörlos – na und? Ich kann alles erreichen, wenn ich nur will. Ich kann Zeichen setzen: für mich und für eine andere Gesellschaft. Und deshalb erzähle ich meine Geschichte. Hier und jetzt! Ich lade Sie ein, mir zu folgen.

Denn: Behinderung hat immer auch einen sozialen Aspekt. Nicht allein die Eigenschaften und Einschränkungen einzelner Menschen sind dabei ausschlaggebend, sondern auch die Reaktionen der Umwelt, die Gesellschaft können behindern. Das kommt durch den Terminus »behindert sein« im Gegensatz zu »behindert werden« zum Ausdruck.

Eine Journalistin fragte mich einmal, was ich mir wünschen würde, wenn ich einen Wunsch frei hätte. Nun, ich würde mir nicht wünschen, hören zu können. Ich müsste alles neu lernen, mich völlig umstellen. Ich habe mich an die Welt der Stille gewöhnt. Genauso interessiert es die Menschen, ob ich nicht etwas vermissen würde. Was bitte soll ich vermissen? Hören Sie den Baulärm auf der Straße? Das Hupen der Autos? Glauben Sie mir: Das vermisse ich nicht! Ich werde auch oft gefragt, wie ich mir Lärm vorstelle. Das ist eine der Fragen, die mich ärgern, denn sie ist ähnlich unsinnig, als ob man von einem blinden Menschen wissen wollen würde, wie er sich Farben vorstellt. Vielleicht überrascht es manche, wenn ich behaupte, dass ich Lärm, richtig laute Geräusche, sehr wohl wahrnehmen kann. Allerdings nicht über das Gehör, sondern über das Gefühl: Ich spüre die Schwingungen. Anhand dieser Schwingungen kann ich angenehme und unangenehme Geräusche unterscheiden.

Nun, wenn ich mir nicht wünsche, hören zu können, was wünsche ich mir dann? Ja, wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann wäre das echte Chancengleichheit in allen Lebenslagen: in der Schule, im Beruf, im Alltag – im Sinne des selbstbestimmten Lebens. Überall barrierefreie Kommunikation und gleiche Lebensqualität.

Und ich wünsche mir, dass Sie, wenn Sie dieses Buch zu Ende gelesen haben, verstehen können, was es bedeutet, gehörlos zu sein. Es ist eine Behinderung, aber kein Handicap. Und es ist keine Schmach, sondern eine Herausforderung.

Ich heiße Helene

HELENE

Mein Name ist Helene Jarmer. So steht es in meinem Pass. Da steht auch, dass ich am 8. August 1971 in Wien geboren wurde. Ich bin groß, blond und gehörlos (das steht übrigens nicht in meinem Pass). Seit Sommer 2009 bin ich Behindertensprecherin der »Grünen« im österreichischen Parlament. Das ist schon etwas Besonderes: erste gehörlose Parlamentarierin Österreichs.

Mein Leben änderte sich im Jahre 1973. Da war ich gerade mal zwei Jahre alt. Ich saß in einem Buggy und meine Mutter schob mich den Gehweg entlang. Plötzlich geschah es: Ein Lastwagen rast ungebremst auf die Kreuzung zu, trotz rotem Ampellicht, und rammt ein Auto. Bremsen kreischen, Reifen quietschen, dann ist es einen Herzschlag lang ganz still.

Der Autofahrer hat keine Chance, meine Mutter hat keine Chance, ich habe keine Chance. Es gibt keine Chance, den Unfall zu vermeiden. Der Lastwagen erfasst das Auto. Metall trifft mit unheimlicher Wucht auf Metall. Es muss ein schreckliches Geräusch gewesen sein. Das Auto gerät ins Schleudern, überspringt mühelos die Schwelle zum Bürgersteig und erfasst den Buggy, in dem ich sitze.

Meine Mutter hat es nicht gehört, weil sie gehörlos ist, aber sie hatte es kommen sehen – und trotzdem keine Chance mehr gehabt, den Kinderwagen rechtzeitig aus der Gefahrenzone zu ziehen. Es ging alles viel zu schnell.

Das Auto trifft den Kinderwagen. Ich bin zum Glück angeschnallt und fliege nur deshalb unter der Wucht des Aufpralls nicht heraus. Aber mein Kopf wird hin und her geschleudert. Meine Ohren prallen gegen das Seitengestänge des Buggys, erst links, dann rechts. Dann wird alles still. Blut rinnt mir aus den Ohren.

Ich selbst kann mich an den Tag, an dem ich gehörlos wurde, nicht mehr erinnern. Ich war noch zu klein und kenne deshalb die Ereignisse nur aus den Erzählungen meiner Eltern. Aber wenn ich mir heute die Fotos von damals anschaue, ist mir klar: Es ist ein Wunder, dass ich diesen Aufprall überlebt habe.

Meine Mutter war nach dem Unfall die Erste, die den Verdacht hatte, ich könnte mein Gehör verloren haben. Sie hat gerufen und Geräusche gemacht, bislang hatte ich auf akustische Signale immer reagiert – nun nicht mehr. Leider wurde ihr Verdacht bald darauf durch die ärztliche Diagnose »an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit« bestätigt. Ich war also gehörlos und konnte Sprache nicht mehr über das Ohr aufnehmen.

Trotz allem war es für mich Glück im Unglück: Da meine Eltern beide gehörlos sind, konnten sie mich sofort in dieser Situation auffangen.

Ich erzähle die Geschichte, wie ich gehörlos wurde, nicht gern. Eigentlich ist sie nicht wichtig, nicht für mich. Aber für die anderen, vor allem für jene, die glauben, dass Gehörlosigkeit eine vererbbare Krankheit ist. Natürlich gibt es das auch, aber die Zahlen sind verschwindend gering.

Dass meine Lebensgeschichte ungewöhnlich ist, ist mir bewusst. Manche nennen es Schicksal, denn schließlich kam ich als Kind gehörloser Eltern hörend auf die Welt. Ein Freund sagte einmal, das wäre der Stoff, aus dem Hollywoodfilme sind. Ich sehe es nicht so, für mich war diese Einschränkung eher eine Chance. Wer weiß, wo ich heute sonst stehen würde.

Wir waren eine besondere Familie. Nicht nur deshalb, weil ich hörend war und meine Eltern beide gehörlos. Sondern auch, weil sich meine Eltern dieser besonderen Herausforderung bewusst stellten und mich von Anfang an auf jede erdenkliche Weise förderten.

Als ich noch hören konnte, waren Nachbarn und Freunde mein »Ohr« zur hörenden Welt. Sie kamen regelmäßig vorbei, um sich mit mir zu unterhalten. Wie wichtig diese sprachliche Prägung ist, wussten meine Eltern. Heute denke ich, für sie war es selbstverständlich, mir einen Zugang zu beiden Welten zu vermitteln, zur akustischen ebenso wie zur visuellen Welt. Sie ließen Glöckchen neben meinem Ohr klingeln, wenn ich ins Spiel vertieft war, und ich kann mich auch daran erinnern, dass ich eine Spieluhr hatte, die immer wieder abgespielt wurde.

Meine Eltern nannten mich Helene, genauso wie meine Mutter heißt. Sie war also die große Helene und ich hieß, als ich noch klein war, »Lene«. Als ich heranwuchs, wurde daraus »Tochter Helene«.

Auf konventionelle Art würde man einen Namen mit dem Fingeralphabet buchstabieren. Das wäre allerdings immer recht mühsam, deshalb hat innerhalb der Gehörlosen-Community jeder Mensch zusätzlich einen Gebärdennamen und es ist üblich, sich mit diesem Namen anzusprechen. Dadurch drücken wir eine Verbundenheit aus, die alle Menschen dieser Community umfasst. Unter »Community« verstehen wir in diesem Zusammenhang all diejenigen, die in Gebärdensprachen kompetent sind. Uns verbinden ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, gemeinsame Interessen – eine kulturelle Identität. Das bedeutet, dass nicht nur gehörlose Menschen, sondern ebenso Hörende Teil dieser Gemeinschaft sind. Nicht die Behinderung Gehörlosigkeit steht im Vordergrund, sondern die Leichtigkeit, in einer gleichen Sprache, nämlich der Gebärdensprache, auf einer Ebene kommunizieren zu können. Dadurch entsteht ein Gefühl kultureller Zusammengehörigkeit, das Bewusstsein, ein Teil der Gebärdensprach-Community zu sein.

Der Gebärdenname kann verschiedene Ursprünge haben: Manch ein Gebärdenname bezieht sich auf Äußerlichkeiten, andere weisen auf eine typische Charaktereigenschaft hin oder auf ein besonderes Merkmal einer Person.

Wenn zum Beispiel jemand gern Tee trinkt, dann könnte seine Namensgebärde etwas wie »Teebeutel in die Tasse geben« lauten. Ein anderes Beispiel: Wenn der Vorname einer Frau mit »F« beginnt und sie hat lange, lockige Haare, dann zeigt man vielleicht »F« in Verbindung mit der Gebärde für lange Locken.

Unter meinen Freunden gibt es auch einen Mann, dessen Gebärdenname »das Gesicht eines Neugeborenen mit eingedrückter Nase« bedeutet. Das sagt einerseits etwas über sein Aussehen aus, aber andererseits zeigt es auch, dass dieser Mann Humor hat (sonst hätte er bestimmt Einspruch erhoben).

Gebärdennamen haben also mit dem geschriebenen Namen nicht mehr viel zu tun, sagen aber mehr über einen Menschen aus als der geschriebene Name. Nomen est omen – für die Gebärdennamen gilt das in besonderer Weise.

Mein Gebärdenname sieht so aus: Meine linke Hand bewegt sich in der Höhe des linken Ohrs hin und her. Wichtig: die linke Hand und nicht die rechte. Ich habe den Namen in der Schule bekommen, da war ich fünfzehn Jahre alt. Ich trug mein Haar lang, so wie es alle Mädchen taten, und es hing mir ständig ins Gesicht, besonders beim Schreiben. Für meine Schulkameraden an der Mittelschule war dieses Bild – Helene tief über ihr Heft gebeugt, die Haare bedeckten die linke Gesichtshälfte wie ein Vorhang – typisch für mich. Es war mein Merkmal, mein individuelles Erkennungszeichen. Und bis heute ist dies mein Gebärdenname geblieben. Jetzt trage ich die Haare kürzer, aber die Gebärde bleibt. Auch wenn manche darüber Witze machen und meinen, ich müsste nun weiter oben ansetzen. Aber nein, es bleibt dabei.

Namensgebärden ändern sich also nicht. Früher war es üblich (und das ist es teilweise auch heute noch), die Namensgebärden mit dem Anfangsbuchstaben des eigenen geschriebenen Namens zu verknüpfen. Also den Anfangsbuchstaben in einer Bewegung darzustellen. Damals hat die Gebärdensprache auch noch eine starke Identifikationsfläche geboten. Der Druck auf gehörlose Menschen, sich anzupassen, war sehr groß. Aber mittlerweile ist es so, dass auch gleichaltrige hörende Freunde von gehörlosen Menschen einen Gebärdennamen bekommen. Und Kinder gehörloser Eltern erhalten – egal, ob sie hören können oder nicht – ebenfalls einen Gebärdennamen von ihren Eltern.

Es ist quasi unser Alleinstellungsmerkmal, unterstreicht unsere Einzigartigkeit, hebt uns aus der anonymen Masse heraus – es ist ein Code, eine Geheimsprache: »Hey, ich gehöre dazu! Du auch?«

Gebärdennamen erleichtern uns auch die Kommunikation. Sie sind präziser – denn wir gehörlosen Menschen kommen gern direkt und ohne Umschweife auf den Punkt. Ich bin beispielsweise mit drei Frauen namens Sandra befreundet, aber die drei mit dem gleichen Vornamen haben komplett unterschiedliche Gebärdennamen: Die eine liebt die Farbe Rosa und deshalb wird ihr Gebärdenname wie »Rosa« gebärdet. Die andere Sandra lacht sehr viel, also ist ihre Namensgebärde die für »lachen«. Die dritte Sandra ist immer sehr genau, deshalb entspricht ihr Gebärdenname dem Begriff »genau«. Anhand der Namensgebärde könnte ich also meine Freundinnen sofort identifizieren, anhand des Namens Sandra müsste ich nachfragen: »Welche Sandra meinst du?«

Natürlich könnte man auch einen Namen mit dem Fingeralphabet buchstabieren und auf diese Art eine Person neutral ansprechen. Das Fingeralphabet ist Teil der Gebärdensprache. Bei einem ersten Kontakt stelle ich mich nicht gleich mit meinem Gebärdennamen vor, sondern buchstabiere meinen Namen und zeige dann die Geste für meinen Gebärdennamen und bedeute, dass dieser zu mir gehört.

Meine Eltern gebärden Namen noch sehr traditionell, also mit dem Fingeralphabet. Peter bleibt Peter, Josef bleibt Josef, Maria ist Maria und wenn ein Mensch gleichen Namens im Bekanntenkreis hinzukommt, wird er auch so gebärdet.

Es ist in der Community ganz wichtig, mit einer Gebärde verbunden zu sein. Dabei können Menschen auch Namen bekommen, die sie vielleicht gar nicht verwenden. Auch Personen, die nicht Teil der Gehörlosengemeinschaft sind, bekommen manchmal Gebärdennamen, Politiker zum Beispiel. Da man diese nicht alle persönlich kennt, kann man wenig über ihre Charaktereigenschaften sagen, deshalb beziehen sich die entsprechenden Namensgebärden überwiegend auf die Optik des Menschen oder assoziieren einen Begriff, der seinem Nachnamen ähnelt.

Wie zum Beispiel der Gebärdenname des österreichischen Politikers Wolfgang Schüssel. Sein Name wird nicht wie »Schüssel« gebärdet, sondern wie ein »Mascherl«, eine Schleife, was sich wiederum auf seine Fliege bezieht, die er früher stets anstatt einer Krawatte trug.

Manchmal wird mit dem Gebärdennamen aber auch Schindluder getrieben. Im Fernsehen befragte man nach meinem Amtsantritt einmal eine Gebärdensprachdolmetscherin nach Gebärden für Politiker und sie zeigte diese in einer solchen Art, dass schon fast eine Schimpfgebärde daraus wurde. Unser Finanzminister heißt beispielsweise Pröll. Und was diese Dolmetscherin da für seinen Namen gebärdete, wirkte sehr negativ (es bedeutete ungefähr »fett« oder »dick«). Das ist einfach nur peinlich – und schadet unserer Sache mehr, als dass es Verständnis weckt.

Es gibt natürlich Menschen, die etwas kräftiger gebaut sind. In dem Fall kann man aber einfach höflich fragen: »Ist es okay, dass ich dich so gebärde?« Wenn jemand damit kein Problem hat, kann man die entsprechende Gebärde verwenden. Die Gebärden sind jedoch oft auch missverständlich. So kann die Gebärde für »Doppelkinn« beispielsweise leicht mit »Trottel« verwechselt werden. Wenn jemand aber nicht weiß, was die Gebärde bedeutet, und sich dementsprechend nicht wehren kann, dass er so negativ dargestellt wird, finde ich das schon mehr als bedenklich.

Bei einer etwas kabarettistisch angehauchten Talkshow, zu der ich eingeladen war, fragte man mich: »Na, wie gebärdet man denn jetzt ›Pröll‹?« Und ich antwortete beziehungsweise gebärdete: »P-R-Ö-L-L« (mit dem Fingeralphabet). Dann konfrontierte man mich damit, dass er als »Doppelkinn« gebärdet wurde oder als »dicker Bauch«. Meine Antwort in dieser Talkshow und auch jetzt lautet, dass dies die Sache derjenigen Person ist, die diesen Namen so gebärdet hat, aber das ist nicht meine Sprache. Innerhalb der Gebärdensprachen-Community weiß man, was man offen zeigen kann und was nicht, und so etwas ist unter unserem Niveau.

Es gibt auch heute noch nationale Unterschiede, in den USA ist man beispielsweise konservativer, dort hat die Namensgebärde nur mit dem geschriebenen Namen zu tun. Trotzdem haben sich dort inzwischen auch schöne Gebärden durchgesetzt, wie zum Beispiel für »Obama«. Dabei wird die Gebärde für die Flagge der amerikanischen Nation mit dem »O« als Anfangsbuchstaben von Obama kombiniert. Die Gebärde verbreitete sich schnell, sodass man sie inzwischen überall auf der Welt für den Namen des amerikanischen Präsidenten verwendet. Beim Namen der Bundeskanzlerin Angela Merkel haben es die gehörlosen Menschen in Deutschland nicht ganz so einfach. Auf seriöse Weise gebärdet man Frau Merkels Namen – in Bezug auf ihren Nachnamen – mit einer sich drehenden Kurbel in Kopfhöhe, etwa so wie »merken«. Es gibt aber auch Gebärdennamen für Angela Merkel, die sich auf ihre einprägsame Kinnpartie beziehen. In einer so kleinen Gemeinschaft verbreiten sich seriöse und weniger seriöse Informationen eben recht schnell und umfassend.

Gehörlose Menschen leben in zwei Welten – in der stillen und in der hörenden. Und so wie wir die Gesten und Rituale der Hörenden übernehmen und einzuordnen wissen, so haben wir auch unsere eigenen Rituale und Gesten, die eng mit der Gebärdensprache verknüpft sind.

Ein Beispiel sind die Begrüßungen. Hörende begrüßen sich in etwa so: »Hallo, ich heiße soundso. Wie geht es dir?« Gehörlose dagegen fragen zuerst: »Wo kommst du her?«

Das ist wichtig, weil die Gebärdensprachen unterschiedlich sind, und in der Regel kennt jeder gehörlose Mensch jede andere gehörlose Person in seiner Umgebung. Aber: Viele gehörlose Menschen reisen mehr als hörende. Weil unsere Community so klein ist, nehmen wir weite Reisen in Kauf, um etwas von der Welt zu erfahren. Deshalb zielt unsere erste Frage auf die gemeinsame Verständigungsbasis ab: »Welche Sprache sprichst du?«

Und dann können wir uns überlegen, wie wir miteinander kommunizieren. Die Herkunftsfrage kommt in der hörenden Welt nicht (so schnell) vor beziehungsweise wird erst gestellt, wenn man sich besser kennengelernt hat.

Ich verstehe eigentlich auch nicht, warum viele Menschen die Gebärdensprache so skeptisch betrachten. Gebärden verwendet schließlich jeder, manche Menschen mehr, andere weniger. Auch das Reden selbst wird oft von Gebärden und Gesten begleitet. Und je weiter man zum Beispiel in den Süden Europas kommt, desto gestenreicher wird auch die gesprochene Sprache. Wie sehr man den Körper beim Sprechen einsetzt, ist offensichtlich kulturabhängig. Es gibt beispielsweise italienische Gesten, die jeder versteht. Das ist nonverbale Kommunikation. Körpersprache im wahrsten Sinn des Wortes.

Auch bei einer Reise durch Ägypten hatte ich den Eindruck, dass dort beinahe jeder gebärden kann: »Hallo, wie geht es dir, woher kommst du, hast du Kinder …?« Die Art der Kommunikation war so basal, dass ich nicht den Eindruck hatte, dort mit niemandem sprechen zu können. Im Gegenteil – alle sprachen mit mir.

Ähnliches erlebe ich in Spanien – ich habe den Eindruck, dass die Spanier in mancher Hinsicht weniger verkrampft mit gehörlosen Menschen umgehen, als wir es hierzulande gewohnt sind. Woher ich das weiß? Mein Mann ist Spanier, gehörlos und lebt mit mir gemeinsam in Wien. Er hat einen Beruf, der mit meiner politischen Welt nicht in Verbindung steht. Das ist gut, denn es ermöglicht uns, ein echtes Privatleben zu führen.

Am Anfang unseres gemeinsamen Lebens stand eine Fernbeziehung. Nach der Hochzeit entschloss sich mein Mann, nach Österreich zu ziehen. Seitdem habe ich eine richtig große (spanische) Verwandtschaft in der Nähe von Madrid. Wir sind jetzt »multikulti« und das bedeutet in unserem Fall: Wir praktizieren einen galaktischen Spagat zwischen den Lautsprachen Deutsch und Spanisch, zwischen der Österreichischen Gebärdensprache (ÖGS) und der spanischen Gebärdensprache Lengua de signos española (LSE), zwischen spanischem Temperament und österreichischem Gemüt. Leider sind die Wege zwischen Madrid und Wien nicht die kürzesten, aber das Videotelefonieren übers Internet macht es möglich, dass auch unsere Familie etwas näher zusammenrückt. Da die Schwester meines Mannes ebenfalls gehörlos ist, findet so ein reger Austausch statt. Mit dem Rest meiner spanischen Familie kommuniziere ich in der spanischen Lautsprache, genauso wie mit dem Umfeld, wenn ich dort zu Besuch bin.

Geheiratet haben mein Mann und ich übrigens zweimal: Zuerst in Wien (standesamtlich) und dann noch einmal in der Nähe von Madrid (kirchlich) – und immer wurde die Zeremonie von Dolmetschern in die verschiedenen Laut- und Gebärdensprachen übersetzt. Ich fand das schön, vor allem, weil die kirchliche Trauungszeremonie in Spanien noch einen ganz anderen, höheren Stellenwert hat.

Ich gebärde übrigens mit meinem Mann zumeist in der Lengua de signos española, nur ein bisschen österreichisch und auch minimal in der American Sign Language (ASL). Ich denke, es ist normal, dass sich die Sprachen vermischen, wenn man eine multinationale Beziehung führt. Da wir in Wien leben und ich natürlich mittlerweile schon recht häufig auf der Straße erkannt werde, hat das auch Vorteile. Die spanische Gebärdensprache kann hierzulande fast niemand, wir können also plaudern, ohne belauscht zu werden.

Das ist vielleicht ein Manko der visuellen Sprachen, sie lassen sich schlecht »heimlich sprechen«. Jeder, der die Gebärdensprache beherrscht, kann verstehen, was man so gebärdet. Nun, das ist für mich persönlich kein so großes Problem, da ich extrem schnell gebärde, sodass selbst Muttersprachler oft nicht mitkommen. Immer wieder werde ich deshalb bei öffentlichen Auftritten und Diskussionsrunden gebeten, doch etwas langsamer zu gebärden.

Gebärden sind also eine öffentliche Sprache. Jeder, der sie sieht und versteht, weiß, was gebärdet wird. Flüstern geht nicht, aber man kann minimalistisch gebärden, also klein oder versteckt unter dem Tisch … So fluchen wir beispielsweise auch beim Autofahren.

Wenn ich hierzulande mit jemanden sprechen möchte, stoße ich automatisch auf eine massive Front, zumindest aber auf extreme Zurückhaltung oder Verunsicherung. Wahrscheinlich ist es uns in unserem Kulturkreis anerzogen – ich weiß es nicht. Aber bei vielen Menschen bewegt sich (schön anzuschauen in diversen Talkshows) beim Sprechen maximal das Kinn, und die Hände liegen ordentlich gefaltet im Schoß.

Wenn man mit mir Kontakt aufnehmen will und keine Ahnung von Gebärdensprache hat, dann sollte man langsam und deutlich sprechen und vielleicht das Gesagte durch eindeutige Gesten unterstreichen. Wichtig, damit ich von den Lippen ablesen kann, ist ein großes Mundbild. Das bedeutet: Die formulierten Worte lassen sich deutlich an den Lippen ablesen, der Mund wird gut sichtbar bewegt. Das ist ein grundsätzliches Problem im deutschsprachigen Raum, denn hier sprechen fast alle Menschen mit einem kleinen Mundbild. Die Spanier, wie überhaupt alle Südeuropäer, zeigen eher ein großes Mundbild. Hier bei uns frage ich dagegen schon manchmal, ob jemand seinen Mund beim Reden nicht ein bisschen weiter aufmachen kann, denn sonst »kann ich nichts lesen«. Dann reagieren manche Menschen leicht pikiert.

Natürlich werde ich immer wieder gefragt, ob man die Gebärdensprache leicht erlernen kann. Für die Antwort auf diese Frage bin ich nicht »kompetent«, weil mir das Gebärden leicht fällt. Es ist wie beim Erlernen jeder anderen Sprache auch: Je früher man damit beginnt, desto einfacher fällt einem das Lernen. Und genau deshalb ist die zweisprachige (bilinguale) Förderung gehörloser Kinder so wichtig – deren Zweisprachigkeit umfasst die Gebärden- und die Lautsprache.

Vor allem Kinder lernen die Gebärdensprache mit Leichtigkeit. Als ich in meiner Zeit als Lehrerin einmal eine bilinguale Klasse gemeinsam mit einer hörenden Kollegin unterrichtete, begriffen auch die hörenden Schüler die Gebärden sehr schnell – und übersetzten dann wiederum der hörenden Kollegin, was ich gerade gebärdet hatte. Verkehrte Welt!

Manchmal wird behauptet, Gebärdensprache sei primitiv und Lautsprache höherwertig. Ich würde sagen, mittlerweile sind beide Kommunikationsformen einander ebenbürtig. Welche davon ein Mensch bevorzugt, hängt von verschiedenen Aspekten ab. Dabei spielt es auch eine wichtige Rolle, wann man sein Gehör verloren hat beziehungsweise wie lange man vorher hören konnte. Es gibt gehörlose Menschen, die die Gebärdensprache als ihre Muttersprache ansehen (so wie ich) und sich der Gehörlosenkultur zugehörig fühlen. Und es gibt sogenannte »Oralisten«, das sind gehörlose Menschen, die das Sprechen den Gebärden vorziehen. Es gibt aber auch solche, die irgendwo dazwischen stehen und sich einer Kombination aus Laut- und Gebärdensprache bedienen. All diese Menschen sind durch ihre unterschiedlichen Lebenswege und -umstände geprägt. Manche von ihnen haben Internatsschulen besucht, andere Integrationsschulen, die wiederum unterschiedliche Konzepte der Integration anbieten. Mancher gehörlose Mensch besuchte Schulen, an denen er allein unter Hörenden und ohne Hilfe zurechtkommen musste. Es gibt Menschen, die schon vor dem Spracherwerb ertaubt sind, es gibt schwerhörige und spätertaubte Menschen. Und es gibt gehörlose Menschen mit hörenden Eltern und andere mit gehörlosen Eltern … Je nach persönlicher Geschichte definiert sich Gehörlosigkeit anders. Verallgemeinernd lässt sich nur festhalten: Alle, die sich daran erinnern können, wie sich gesprochene Sprache anhört, können besser artikulieren – »besser« (weil verständlicher) für das hörende Ohr.

Hörende Eltern sind oft völlig überfordert, wenn ihr Kind die Diagnose »taub« oder »schwerhörig« bekommt, und holen Rat bei diversen hörenden Experten ein. Natürlich war auch ich häufig im Spital und musste regelmäßig Hörtests, sogenannte Audiogramme, absolvieren, allerdings ging für mich ansonsten das »normale« Leben weiter. (Es ärgert mich ein bisschen, dass ich gewisse Worte hier im Text hervorheben muss. Wie gerade eben das Adjektiv »normal« im Zusammenhang mit dem Wort »Leben«. Das will ich eigentlich nicht in Anführungszeichen setzen, weil dadurch ein falscher Eindruck entstehen kann. Andererseits will ich es tun, um auf die Absurdität gewisser Situationen und Umstände hinzuweisen.) Mein Leben änderte sich natürlich auch, aber sicherlich weniger als in anderen Familien, in denen die Eltern nicht so schnell, kompetent und konstruktiv auf die Diagnose reagieren können, wie meine das taten.

Eltern möchten stets das Beste für ihr Kind. Das ist normal. Aber was ist das Beste für ein gehörloses Kind? Diese Frage lässt sich nicht allgemeingültig beantworten – und auch ich habe keine Antwort darauf. Ein Schritt in die richtige Richtung ist es sicher für alle Beteiligten, zu akzeptieren, dass das Kind behindert ist.

Die erfolgreiche französische Schauspielerin Emmanuelle Laborit beschreibt in ihrer Autobiografie ihre Kindheit als gehörloses Kind in einer hörenden Familie.1 Lange Zeit lebte sie in dem Irrglauben, dass es außer ihr keine gehörlosen Menschen gebe, vor allem aber keine gehörlosen Erwachsenen. In der logischen Konsequenz dachte sie: Gehörlose Menschen werden nie erwachsen. Gut, mancher mag das für übertrieben halten, aber der Kontakt zu anderen gehörlosen Menschen ist für gehörlose Kinder sehr wichtig. Dieser Kontakt ist ein Weg aus der Isolation – für Kinder und Eltern.

Übrigens: Emmanuelle Laborit hat es geschafft. Sie ist erwachsen geworden, und sie ist heute eine anerkannte Schauspielerin. Für ihre Hauptrolle im Bühnenstück »Kinder des Schweigens« erhielt sie den Molière-Preis.

Die Gemeinschaft der gehörlosen Menschen und der Kontakt untereinander bieten Chancen für Kinder und Eltern. Das Kind erlebt, dass es sich nicht immer »anders« fühlen muss, nur weil es nichts hört. Das kann sehr befreiend sein und weckt deshalb bei den Eltern oft die Sorge, dass ihr Kind sich ihnen dadurch entfremdet. Aber das tut es nicht. Im Idealfall treffen auch Eltern mit anderen Eltern zusammen, die das Gleiche erleben und die von den gleichen Sorgen und Ängsten geplagt sind. Vor allem aber hilft allen die Erkenntnis, dass es keine Barrieren geben muss.

Meine Geschichte ist eine außergewöhnliche, denn ich erfuhr von dem Moment an, in dem ich mein Gehör verlor, eine wunderbare, individuelle Förderung. Wichtigster Bestandteil dieser Förderung war dabei immer die Gebärdensprache.

Gehörlosigkeit – wie auf einer Insel ohne Lärm

Nicht hören zu können, ist eine unsichtbare Behinderung. Kein äußeres Merkmal deutet darauf hin, nur die Tatsache, dass ein Mensch nicht auf Geräusche und Sprache reagiert, gibt einen Hinweis. Erfahren Eltern, dass sie ein gehörloses Kind haben, so ist das zunächst ein Schock. Sie können sich oft nicht vorstellen, wie es ist, sich in einer Welt, die so viele akustische Reize bietet, ohne dieses wichtige Sinnesorgan zurechtzufinden. So richten sie zunächst ihre ganze Aufmerksamkeit und ihre ganze Hoffnung darauf aus, den Gehörsinn herzustellen beziehungsweise dem gehörlosen Kind das Sprechen beizubringen. Beides ist eine Tortur – und beides sorgt für Frust und Wut auf allen Seiten.

Aber warum muss das sein? Weil wir so wenig voneinander wissen! Gehörlose Menschen sind visuelle und zugleich auch sehr feinfühlige Menschen. Was sie sehen und spüren, macht die Dinge für sie begreifbar. Die Augen sind ihr wichtigstes Instrument, um in der Welt zurechtzukommen. Visuelle Reize sind aber auch so mächtig, dass sie Ängste hervorrufen können, die sich – wegen mangelnder Möglichkeit zur Kommunikation – nur schwer ausräumen lassen.

Die Dinge beim Namen nennen – gar nicht so einfach!

Ein gehörloses Kind lebt in der Stille, natürlich kann es dennoch denken, und sein Denken entwickelt sich. Allerdings muss es sich auf alles einen eigenen Reim machen, und das ist nicht zwangsläufig der richtige. Und solche falschen Rückschlüsse sorgen für Verwirrung, für »Unordnung« und ganz häufig führen sie eben auch zu Angst.

Das geht schon mit ganz simplen Dingen los. Zum Beispiel mit der Frage: Wer bin ich? Was ist mein Name? Wobei diese zweite Frage schon zu weit führt, denn woher soll ein Kind wissen, dass es einen Namen hat, wenn es ihn noch nie gehört hat? Hörende Kinder werden von ihren Eltern immer wieder mit ihrem Namen angesprochen und ordnen diesen sich selbst zu. Sie sagen also zu Beginn der Sprachentwicklung nicht: »Ich habe Hunger«, sondern beispielsweise: »Maria hat Hunger«. Sie sprechen von sich in der dritten Person, machen den Eltern und sich selbst dadurch deutlich: »Mein Name gehört zu mir.« Ebenso ist es mit dem Benennen anderer Menschen oder Dinge. Eltern sprechen in etwa so mit ihren Kindern: »Mama kommt gleich!« – »Papa spielt mit dir!« Durch das ständige Wiederholen von Namen werden diese den Personen zugeordnet. Möchte man es ganz übertrieben ausdrücken, so ist ein gehörloses Kind von namenlosen Menschen umgeben. Es weiß sie trotzdem zuzuordnen, aber es kennt ihre Namen nicht. Hörende Kinder erhalten ihre Namensidentität quasi mit der Geburt. Sie brauchen nicht darüber nachzudenken, stellen sich keine Fragen über sich selbst. Sie sind »ich« und dieses »ich« hat einen Namen. Für mich persönlich war das zum Glück auch kein Thema, denn obwohl ich im Alter von zwei Jahren gehörlos wurde, hatten meine Eltern mir meinen Namen schon immer auch in Gebärdensprache visualisiert. Ich wusste also: Diese Kombination der Gesten – das bin ich.

Viele gehörlose Menschen, die erst später zur Gebärdensprache gefunden haben, beschreiben diese Findungsphase als qualvoll und sich selbst als orientierungslos. Erst durch die Gebärden konnten sie mit der Welt ringsum in Kontakt treten und auch ihre eigene Identität finden.

Wer ist gehörlos?

Der Begriff »gehörlos« wurde Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem im deutschsprachigen Raum eingeführt. Bis dahin bezeichnete man Menschen, die nicht hören konnten, als »taubstumm«. In anderen Ländern verwendet man bis heute weiterhin den Begriff »taub«. Nach wissenschaftlicher Definition gelten heute all jene Menschen als »gehörlos«, die normal laut gesprochene Sprache ohne technische Hilfsmittel nicht hören. Das bedeutet, dass verschiedene Geräusche, aber auch gesprochene Sprache, nicht über das Ohr wahrgenommen werden.2

Wie viele gehörlose Menschen gibt es?

Gehörlosigkeit ist weiter verbreitet, als man vermutet: Allein im deutschsprachigen Raum werden durchschnittlich jeden Tag zwei Kinder gehörlos geboren. Bei der Hälfte der Kinder liegt ein genetischer Defekt vor, die anderen verlieren ihr Gehör durch eine Viruserkrankung der Mutter während der Schwangerschaft wie beispielsweise Masern oder Röteln. Auch im Kleinkindalter führen diese Kinderkrankheiten besonders oft zum Verlust des Hörvermögens. 3 Unter den heutigen Bedingungen beträgt die Rate der vor- und nachgeburtlichen Gehörlosigkeit etwa 0,1 Prozent in den höher entwickelten und bis etwa 2 Prozent in den weniger hoch entwickelten Ländern.4

Statistisch gesicherte Daten gibt es nicht, weil oft die Diagnosen »gehörlos« und »schwerhörig« verknüpft werden: In Österreich geht man von circa 10 000 Menschen aus, die völlig gehörlos sind. Dazu kommen 10 000 bis 15 000 Menschen, die so stark schwerhörig oder ertaubt sind, dass eine Verständigung allein über das Gehör kaum mehr möglich ist. Auch in der Schweiz leben circa 10 000 gehörlose Menschen – in Deutschland sind es um die 80 000. Weltweit ist etwa einer von 1 000 Menschen gehörlos.5

Wann kann man die Diagnose »gehörlos« stellen?

Die Diagnose »gehörlos« wird bei manchen Babys beim Neu- oder Frühgeborenen-Screening gestellt, weil die Kleinen dabei auffällige Reaktionen zeigen. Es gibt neuartige medizinische Untersuchungsgeräte, die rasch Gewissheit bringen. Aber immer noch sind es häufiger die Eltern selbst, die mit dem Verdacht einen Kinderarzt aufsuchen. So stellen sie beispielsweise fest, dass das Kind nicht so auf Geräusche reagiert, wie es sollte. Oder dass es bei einem unerwarteten lauten Geräusch nicht erschrickt. Einem solchen ersten Verdacht folgen zahlreiche genauere Untersuchungen. Am Ende der Testreihen steht dann oft die Diagnose »taub« oder »schwerhörig«, man spricht auch von Hörbehinderung oder Hörbeeinträchtigung. Die ganze Tragweite dieser Feststellung ist zunächst schwer vorstellbar, ja abstrakt. Man braucht Zeit, um sie zu verstehen und noch mehr Zeit, um zu begreifen, welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Und langfristig: welche Veränderungen des Lebens diese Diagnose mit sich bringt, für die gesamte Familie! Die neue Realität, die daraus entsteht, ist eine große Herausforderung. Dann kommt eine Phase, in der man nach Informationen sucht, nach Hilfe und Unterstützung. Im Idealfall erhält man von den betreuenden Ärzten Antworten auf alle Fragen.

Die wichtigste Information ist die, wie viel das Kind hört. Dies wird in Dezibel (dB) angegeben. Da Laien mit dieser Angabe allein nicht viel anfangen können, erklären verständnisvolle Mediziner ihnen genau, welche Tonhöhen, welche Lautstärken und welche Geräusche das Kind hört.

Aus dieser Information ergibt sich, mit welchen Möglichkeiten man dem Kind helfen kann. Helfen bedeutet in erster Linie »unterstützen«, zum Beispiel durch technische Hilfsmittel wie Hörgeräte. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Frühförderung für Kinder und Eltern, wie sie beispielsweise von den Gehörlosenorganisationen angeboten wird.

Welchen Einfluss hat das Alter bei der Diagnose Gehörlosigkeit?