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Wilhelm von Humboldt spielte eine zentrale Rolle in der Formationsphase der Geschichtswissenschaft, der sogenannten "Sattelzeit" um 1800. Er entwickelte die Vorstellung von der Geschichtsschreibung als "Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu gewinnen". Seine theoretischen Überlegungen präsentierte er nicht systematisch, sondern in verstreuten Essays. Die wichtigsten Texte sind in diesem E-Book versammelt. Jörn Rüsens Nachwort bietet eine Einführung in Humboldts Geschichtsdenken und dessen Bedeutung bis heute. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.
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Seitenzahl: 161
Veröffentlichungsjahr: 2021
Wilhelm von Humboldt
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jörn Rüsen
Reclam
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-961887-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014167-0
www.reclam.de
Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte
Über den Geist der Menschheit
Betrachtungen über die Weltgeschichte
Betrachtungen über die bewegenden Ursachen in der Weltgeschichte
Über die Aufgabe des Geschichtschreibers
Über das Studium des Altertums, und des griechischen insbesondre
Über den Charakter der Griechen, die idealische und historische Ansicht desselben
Anhang
Zu dieser Ausgabe
Literaturhinweise
Nachwort
Unter allen Bildern, welche die Geschichte darbietet, zieht wohl keines eine allgemeinere und regere Aufmerksamkeit an sich, als das Bild des Menschen in der Verschiedenheit seiner Lebensweise nach der verschiedenen Beschaffenheit der leblosen und lebendigen Natur um ihn her, unter deren unaufhörlichem Einwirken er lebt. Gefesselt von dem Interesse, das den Menschen jedes Erdstrichs und jedes Jahrhunderts an den Menschen knüpft, stellt der betrachtende Forscher ferne, längst hingeschwundene Geschlechter neben sich und seine Zeitgenossen, vergleicht mit prüfendem Blick ihr inneres Dasein, ihre Empfänglichkeit für äußere Eindrücke, ihre Fähigkeit den empfangenen Stoff in ihr Eigentum zu verwandeln, und mit bereicherter Ideenfülle, und verstärkter Empfindungskraft eigene Schöpfungen hervorzubringen, ihre äußere Lage, die Welt, die sie umgibt, und die Gestalt, zu der sie sie umbilden, den Genuss, den sie aus den Gaben des Schicksals und aus den Früchten ihrer Tätigkeit ziehen. Bald sieht er aus seiner Lage, mit seinen Gesichtspunkten auf die Vorzeit hin, bald versetzt ihn seine Phantasie selbst in dieselbe, und eignet ihm den Gesichtspunkt, den ehmals ihre Wirklichkeit gab, und so wägt er unrichtiger oder richtiger das Gute und Beglückende jedes Jahrhunderts, genießt jetzt des frohen Bewusstseins des eigenen Vorzugs, und jetzt wieder des wehmütigeren und dennoch süßen Gefühls, dass eine Trefflichkeit hoher beseligender Schönheit einmal blühte und nun nicht mehr [6]ist! Wenn er auf diese Weise die Schicksale der Nationen von Epoche zu Epoche verfolgt, so kann ihm der Zusammenhang nicht entgehen, der, bald wirklich, bald scheinbar, jede Begebenheit mit allen folgenden verbindet. Schon der eigentümlichen Natur des menschlichen Geistes nach, der unaufhörlich das Allgemeine sucht, und das Einzelne in ein Ganzes zusammenzufassen strebt, wird er alle zerstreuten Züge in Ein Gemälde sammlen, und der wechselnde Gang aller Schicksale der Erde und ihrer Bewohner wird in seinen Augen zu Einer großen, unzertrennbaren Einheit werden. Wenngleich freilich kein einzelnes Geschöpf die Umwandlungen dieses Ganzen in ihrer Folge erfährt, wenn selbst die leblose Natur, die ihr Schauplatz ist, nicht unverändert bleibt, der Boden, der den Enkel nährt, nicht mehr derselbe ist, den der Ahnherr betrat, und selbst die innerste Felsmasse unsrer Erdkugel vielleicht dem unaufhörlichen Flusse alles Endlichen folgt; so schlingt sich doch mitten durch allen diesen Wechsel hindurch, einer ununterbrochenen Kette gleich, die Reihe der aufeinander folgenden Menschengeschlechter, so erhält sich doch das, was, allein ewig und unvergänglich, den hinfälligen Stoff seines Urhebers überlebt, der Vorrat von Ideen, den die Vorwelt auf die Nachwelt vererbt. An diesen Fäden verfolgt der philosophische Geschichtsforscher oft die Revolutionen des Menschengeschlechts, füllt mit Hypothesen die Lücken, welche die Überlieferung lässt, sieht aus der Vergangenheit die Gegenwart entspringen, ahndet aus dieser die nun neu sich entwickelnde Zukunft, sucht das Ziel zu bestimmen, dem dies ewig rege wirksame Ganze nachstrebt, und erklärt den gleichen abgemessenen Fortschritt desselben entweder aus der Leitung einer weisen Macht, oder aus der nach ewigen [7]Gesetzen ihrer Natur wirkenden Selbsttätigkeit der einzelnen Kräfte. Unverkennbar ist es nun, dass dies Ganze nicht in seiner Phantasie, oder in der Vernunft allein existiert, die ihre Gebilde so oft der Wirklichkeit andichtet. Die wechselseitige Verschränkung aller Begebenheiten des Menschengeschlechts ist klar, und jede folgende Generation tritt in keine andere Lage der Dinge, als in die, welche die vorhergehenden bereiteten, empfängt keine andren Ideen als die, welche diese erfanden oder modifizierten. Mehr Schwierigkeit aber führt die Frage mit sich: ob nun diese Verkettung von Begebenheiten Einem Ziele entgegeneilt, oder das Ziel, das erreicht werden soll, mit jedem einzelnen Menschen von dieser Erde scheidet, ob die längere Dauer derselben eine erhöhetere Vollkommenheit, oder noch dasselbe Maß von Kräften, denselben Grad des Genusses, nur in ewig wechselnden, unendlich mannigfaltigen Gestalten zeigen wird? Dennoch führt nicht leicht eine andere Frage, welche das Leben und Wirken des Menschen betrifft, ein höheres Interesse mit sich, weil die Entscheidung derselben zugleich eine genaue Würdigung alles dessen enthalten müsste, was wir unter den Menschen groß, und gut, und wichtig nennen, und weil sie den mancherlei Führern, Verbesserern und Regierern der Menschen zeigte, wie das Vorbild – dem ihre ohnmächtige Kraft nur nachzuahmen strebt – das allwaltende Schicksal sie leitet. Selbst wenn die Entscheidung nicht diesen Nutzen gewährte, bliebe dennoch immer die Untersuchung in mehr als Einer Rücksicht wichtig. Denn sie muss – wenn sie auf Tiefe und Genauigkeit mit Recht Anspruch machen will – versuchen, alle einzelne Kräfte auseinanderzusetzen, welche den Menschen groß und glücklich machen, so wie alles in und außer ihm, [8]wodurch diese Kräfte Nahrung und Stärkung erhalten, und was sie schwächt und vernichtet; sie muss ferner sogar die ewigen Gesetze zu entdecken suchen, nach welchen der Mensch durch den natürlichen Fortschritt seiner inneren Kraft, verbunden mit den, bei einer ewig wechselnden, und doch im Ganzen immer sich selbst gleichen Natur, ewig neuen und doch immer wiederkehrenden Begebenheiten, bald von dieser, bald von jener Seite entwickelt, bald von dieser, bald von jener beglückt wird.
Ehe aber auch nur ein Versuch über ein Problem gewagt wird, dessen vollständige und fehlerfreie Auflösung wohl niemand von menschlichen Kräften erwarten wird, erfordert zuvörderst die Möglichkeit der Auflösung überhaupt eine eigene Untersuchung. Denn wenn in dem Gange menschlicher Begebenheiten, ihrer wechselseitigen Verkettungen ungeachtet, keine Einheit, kein gleichförmiges Gesetz vorhanden ist, oder wenn dasselbe auf Dingen beruht, welche menschliche Einsicht nicht zu durchschauen vermag, so wird die Phantasie im eitlen Haschen nach dem, was nirgend existiert, Hypothesen an die Stelle der Wahrheit setzen, und der erträglichste Erfolg des Unternehmens wird die Überzeugung seiner Unausführbarkeit sein. Um nun aber hierüber erst zur Gewissheit zu gelangen, dürfen wir uns nicht reiner Vernunftsätze und Schlüsse bedienen. Gesetzt auch, wir besäßen irgendeine Vernunftwahrheit, die auf die Notwendigkeit eines gleichförmigen Gesetzes führte; so dürften wir dennoch dadurch über die Natur und die Beschaffenheit desselben keine Aufschlüsse erwarten. Nur die Betrachtung der wirkenden Kräfte und ihrer Wirkungen, nur also die Erfahrung, sei es die innere in unsrem eignen Bewusstsein, oder die äußre durch Beobachtung, [9]Überlieferung und Geschichte, kann hier Lehrmeisterin sein. Der menschliche Geist hat die Gesetze der Bewegung des Erdballs, und über seinen Wohnsitz hinaus die Stellung und verschiedene Laufbahn der Körper des Sonnensystems entdeckt, zu dem er gehört, und mit Genauigkeit und Zuverlässigkeit weissagt er alle Begebenheiten, die davon abhängen. Wunderbar ist es, dass er, vertraut mit den Revolutionen Millionen Meilen entfernter Sphären, ein Fremdling in den Veränderungen ist, die ihn umgeben, auf die er selbst so mächtig wirkt, und deren Rückwirkung er erfährt. Allein jene Gesetze beruhen, wie fast alles, worüber wir zuverlässige Theorien besitzen, auf allgemeinen Ideen von Größen und Verhältnissen des Raums und der Zeit, und auf Beobachtungen, die meistenteils auch nur darauf hinauslaufen; indes wir hier in einem Gebiete des Wissens sind, in dem alles von den wirklichen Kräften, und dem Wesen der Dinge abhängt, in dem nur die Kenntnis des Individuums der Wahrheit nähert, und jede allgemeine Idee immer gerade im Verhältnis der Menge der Individuen, von denen sie abgezogen ist, von derselben entfernt. Dieser Schwierigkeit und so vieler andren aber – unter welchen die einer in dem Grade extensiv ausgebreiteten, und intensiv eindringenden Beobachtung, als hier eigentlich erfordert würde, nicht vergessen werden muss – ungeachtet, ist dennoch so viel gewiss, dass jegliche Veränderung auf der Erde eine Wirkung entweder der menschlichen Kräfte, oder der übrigen lebendigen Geschöpfe, oder der leblosen Natur, oder vielmehr, da in keinem dieser Teile der Schöpfung etwas vorgeht, das nicht einen, wenngleich in den nächsten Folgen nicht bemerkbaren Einfluss auf die übrigen hätte, ein Resultat der Wirkungen und Rückwirkungen aller [10]dieser Kräfte zusammengenommen ist. Nun sind die Kräfte des Menschen im Ganzen genommen dieselben, die Notwendigkeit ihrer Erhaltung bringt dieselben Bedürfnisse hervor, und aus diesen, wie aus dem angenehmen Gefühl ihrer Befriedigung entspringen ohngefähr dieselben Neigungen, Begierden und Leidenschaften. Eben so hat auch die übrige Natur immer und überall im Ganzen einen gleichen Vorrat von Mitteln, den Bedürfnissen des Menschen zu genügen. Wie ihre Natur, so bleibt auch der gegenseitige Einfluss dieser Eigenschaften sich gleich. So lässt die Gleichförmigkeit der Kräfte, als der Ursachen, auf eine Gleichförmigkeit der Wirkungen, der Ereignisse des Menschengeschlechts, schließen. Eine andre Bestätigung dieses Schlusses ließe sich aus der Geschichte selbst hernehmen. Allein so wichtig und notwendig ihr Zeugnis bei dem ganzen Gegenstande bleibt, den ich behandle; so vermeide ich doch mit Fleiß, die eigentlichen Beweise in ihr zu suchen, vorzüglich hier bei der Prüfung der Ausführbarkeit meines Unternehmens, wo es am wichtigsten ist, nicht durch Irrtümer getäuscht zu werden. Denn wenn unsre Geschichte auch einen größeren Zeitraum umfasste, wenn ihr Zusammenhang durch weniger Lücken unterbrochen wäre, und ihre Gewissheit weniger Zweifel litte, als es überhaupt der Fall ist; so würde es dennoch immer dem Schlusse von dem, was geschehen ist, auf das, was geschehen wird, von dem Gewöhnlichen auf das Notwendige an Zuverlässigkeit mangeln. Es musste daher, auch die Schwierigkeit noch abgerechnet, das Einfache, und Beständige in einer so verwickelten und wechselnden Masse, als wir durch die Überlieferung erhalten, aufzusuchen, auf die Kräfte zurückgegangen werden, welche eigentlich alle Veränderungen [11]hervorbringen. Wenn wir nun auf diesem Wege die Wirklichkeit gleichförmiger Gesetze in den menschlichen Begebenheiten entdeckt zu haben glauben; so müssen wir jetzt, um auch die Möglichkeit zu untersuchen, die Natur dieser Gesetze zu entwickeln, die einzelnen Kräfte, deren zusammengesetzte Resultate die Begebenheiten sind, voneinander trennen, und sehen, wie weit wir die Eigentümlichkeiten einer jeden zu erforschen vermögen. Die Kräfte des Menschen kennen wir aus unsrem eignen Gefühle, und über das Maß derselben sowohl, als über ihren wechselseitigen Einfluss aufeinander, und auf die Natur, die sie umgibt, haben die Weltweisen aller Zeiten eine große Menge von Beobachtungen gesammelt. Freilich aber hat man noch, diese einzelnen Kräfte auf die Einzige zurückzuführen, von der sie eigentlich nur verschiedene Seiten sind, zu sehr versäumt, die Entwickelung einzelner hervorstechender oft der Entwicklung des ganzen Wesens, in allen Teilen, vorgezogen, und die Wichtigkeit des Einflusses mancher Ideen, Sensationen, und Gefühle, gegen den Einfluss andrer, den man über die Gebühr erhöhte, zu sehr verkannt. Indes ist doch hier klar, dass angestrengte, und fortgesetzte Beobachtung seiner selbst und andrer und Vermeidung alles einseitigen und parteiischen Räsonnements, wenn nicht wirklich zum Ziele, wenigstens demselben immer näher führen müsse. Die Gattungen der Tiere, das Maß ihrer Kräfte, den möglichen Einfluss derselben auf die Menschen, und der Menschen auf sie kennen wir gleichfalls wenigstens im Ganzen, und so mangelhaft und dunkel unsre Kenntnis auch ist; so ist dennoch hier noch einiges Licht. Völlig aber verschwindet dies bei der leblosen Natur. Wohl lehrt uns eine lange Erfahrung ihre Erscheinungen, [12]und – wenigstens bei vielen – eine auf Erfahrung und Räsonnement gebaute Wissenschaft ihre notwendige oder gewöhnliche Folge. Allein, wenn wir gleich alle Dinge, uns selbst nicht ausgenommen, nur als Erscheinung und nicht ihrem Wesen nach kennen, so vermögen wir doch – unsre Vorstellung sei nun richtig oder nicht – uns gleichsam in die Natur jedes lebendigen Wesens zu versetzen, uns nicht bloß vorzustellen, wie es uns erscheint, sondern auch, wie es wohl sich selbst in sich fühlt. Mit jedem lebendigen Wesen sind wir gleichsam verwandt, und erwarten in ihm nichts, als wovon wir wenigstens analoge Empfindungen haben. Allein mit der Vorstellung des Lebens verlässt uns jede Vorstellung des Seins. Wie einem Volk auf einer durch weite Meere von andren Nationen geschiedenen Insel ein Schiff fremder Ankömmlinge schrecklich ist, so und schrecklicher sollte uns die leblose Natur sein, jedes Gebirge, das wir vor uns erblicken, der Fußboden, den wir betreten. Was sichert uns, dass nicht das Gebürge über uns herstürzt, und der Boden sich öffnet, und beide uns den Leichnamen zugesellen, aus welchen ihre Masse besteht? Nur Gewohnheit und Erfahrung einer Lebenszeit vermag unsre Besorgnisse zu schwächen. Allein so wahr auch dies im Allgemeinen ist, so dürfen wir auf der andren Seite auch nicht vergessen, dass wir mit den gewöhnlichen Erscheinungen auch der leblosen Natur, ihren Wirkungen auf uns, und vielerlei Mitteln auch an ihr Veränderungen hervorzubringen vertraut sind, und dass die größeren nicht im Voraus zu berechnenden Revolutionen, ihre Seltenheit noch abgerechnet, gewöhnlich nur kleinere Räume treffen. So wie aber hier die Schwierigkeit kleiner erscheint, so ist bei denjenigen Veränderungen, welche aus menschlichen Kräften [13]entspringen, im Vorigen eine größere übersehen worden. Wie genau und tief man auch in die Natur der menschlichen Kräfte eingedrungen sein mag, so kann und muss selbst zu dem gegenwärtigen, wie zu jedem wissenschaftlichen Zwecke, diese Kenntnis nur immer allgemein sein. Nun aber ist jede menschliche Handlung ein Resultat der ganzen Beschaffenheit der Kräfte des Handlenden, in ihrer durchaus bestimmten Individualität, und welche Revolutionen eine einzelne Tat eines einzelnen Menschen hervorzubringen vermag, davon ist die ganze Geschichte ein lebendiges Zeugnis. Hieraus vorzüglich entspringt es, dass bisher über die gegenwärtige Materie noch eigentlich nichts gesagt ist, das innere Konsequenz hätte, und mit Sicherheit zu irgendeinem Ziele führte. Man hat die Geschichte im Ganzen betrachtet, und den Zustand des jetzigen Jahrhunderts mit dem der vorhergehenden verglichen. Natürlich mussten viele wahre und unleugbare Vorzüge des ersteren in die Augen fallen, nicht minder manche scheinbare hinzukommen, so wie sich beinah dartun lässt, dass jedes Zeitalter, das die Untersuchung anstellt, auch selbst bei eitelkeitfreier Anspruchlosigkeit sich den Vorzug beimessen wird. Denn jedes Zeitalter pflegt vorzüglich Eine Seite seiner Kraft zu üben, in dieser findet es sich natürlich überlegen, und es wäre nicht auf diese vorzügliche Übung geraten, wenn es nicht zugleich dieser den Preis vor andren zuerkennte. Vor allem aber konnte niemandem die Menge der Mittel entgehen, die unser Jahrhundert zur höheren Bildung des Menschen erfand, und die mannigfaltigen Arten diese Mittel auch wiederum der Nachwelt zu sichern. Dies bestimmt denn auch gewöhnlich die meisten für ihre Enkel noch größere Vollkommenheit und ein höheres Glück zu hoffen, als [14]sie selbst um sich erblicken. Dagegen wenden andre die Beispiele aus der Geschichte ein, wo schnelle und große Revolutionen dergleichen Mittel wenn nicht ganz zernichtet, dennoch der Nachwelt auf lange Zeit hin vorenthalten haben; und nun beruht der Streit auf Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten, die jeder leicht seinem Interesse gemäß wenden kann, ungerechnet, dass hiebei noch immer unentschieden bleibt, ob nun auch wirklich die Vollkommenheit und das Glück der Menschen im Verhältnis der Menge der Mittel – vorzüglich derer, welcher unser Jahrhundert sich rühmt – wächst, und ob, wenn es eine Armut gibt, die jede Kraft niederdrückt, sich nicht auch ein Reichtum denken lässt, bei dem sie mitten im schwelgenden Genusse dahinschwinden? Dies warnende Beispiel lehrt uns daher einen andren Weg einschlagen; es wird aber nicht uns von dem ganzen Unternehmen abzuschrecken vermögen. Denn wie verschieden in ihren Richtungen, und wie wichtig in ihren Einflüssen die einzelnen menschlichen Handlungen auch sind, wie unmöglich es ist, die Gesetze zu entdecken, nach welchen auch nur viele derselben aufeinander folgen; so halten doch die menschlichen Kräfte immer einen ihnen eigentümlichen Gang. Auf einen bestimmten Grad und eine bestimmte Richtung derselben kann wieder nur ein andrer gleich bestimmter Grad, und eine andre gleich bestimmte Richtung folgen; und nichts, auch die mächtigste physische Revolution, vermag diesen Gang zu verändern, sie kann nur ihn beschleunigen oder zurückhalten. Diesem Räsonnement zufolge ist daher die abgemessene Entwicklung der menschlichen Kräfte allemal das, was die Revolutionen unsres Geschlechts vorzüglich bestimmt. Viele dieser Revolutionen sind unmittelbare [15]und alleinige Folgen derselben; bei den übrigen gibt es wenigstens bestimmte Schranken, innerhalb welchen jene Kräfte allein von ihnen verändert werden können. Nun aber ist es gerade die Entwickelung dieser Kräfte, die wir am genauesten erforschen können, gerade ihr Gang, der schon in mannigfaltigen Verhältnissen bekannt ist, und dessen gänzliche genaue Entdeckung wenngleich unendlich schwierig, doch nicht unmöglich erscheint. Die Aufsuchung der Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte auf Erden wird demnach den genauer bestimmten Gegenstand der gegenwärtigen Arbeit ausmachen. Diese Gesetze können aufgesucht werden bei dem einzelnen Menschen, sobald man ihm zugleich eine bestimmte Lage auf der Erde anweist; bei ganzen Nationen, insofern gemeinschaftliche Lage, und verbundenes Leben eine Gleichförmigkeit ihrer Kräfte hervorbringt; endlich bei aufeinander folgenden Menschengeschlechtern, insofern ihre Wirksamkeit nicht durch Revolutionen unterbrochen worden, die den Wirkungen ihrer fortschreitenden Kräfte fremd sind, sowohl den unmittelbaren, als denjenigen mittelbaren, welche zunächst zwar aus der physischen Natur entspringen, indes doch nur aus derjenigen Form derselben, welche sie selbst von jenen Kräften erhielt, insofern also keine nachfolgende Generation etwas andres erfährt, als was die immer vorhergehende vorbereitete. Nicht leicht zwar werden sich nun in der wirklichen Welt auch nur zwei Generationen genau in dieser Lage befinden; genau werden also auch die auf diesem Wege noch so richtig entdeckten Gesetze auf die Wirklichkeit nicht passen, mehr oder weniger möglich aber wird ihre Anwendung sein, je mehr oder weniger sie dieser Lage sich nähern. [16]Revolutionen, welche jenen vorhergenannten Wirkungen fremd sind, können entweder bloß ungewöhnliche physische, oder auch menschliche Unternehmungen und einzelne Menschen und ganze Völker sein, welche mit denen, auf welche sie jetzt wirken, entweder außer aller Verbindung standen, oder deren Art zu sein doch, sei es in minderem oder höherem Grade, nicht durch die Verhältnisse dieser motiviert war, die also, Teile einer Reihe für sich, sich in eine andre Reihe mischen. Wenn man sich überhaupt alle Ereignisse des Menschengeschlechts als eine Menge einzelner Reihen vorstellt, die sich zwar eine jede aus sich selbst entwickeln, allein auch einander mannigfaltig durchkreuzen, und sich miteinander verbinden, und durch die Berührung und Verbindung den berührten und verbundenen andre Modifikationen mitteilen; so lassen sich wohl – wenigstens scheint der Möglichkeit nichts entgegenzustehen, wenngleich die Ausführung selbst mancherlei erschwert – die Gesetze entdecken, nach welchen die einzelnen Teile einer Reihe aufeinander folgen, und nach welchen eine jede durch die Berührung einer andren – wofern nur diese gegeben ist – verändert wird, allein unerforschbar menschlicher Einsicht möchten wohl die bleiben, nach welchen das ganze Gewebe sich durch einander verschlingt. Je mehr also der einzelnen Reihen, desto abgebrochner die Anwendung der entdeckten Gesetze, desto ausgebreiteter aber, je mehr der verbundenen, und so möchten die letztverflossenen Jahrhunderte mit Recht eine größere Aufklärung erwarten, als die früheren. Da auch die hinterlassenen Werke einer Generation nicht immer gleich von der nächstfolgenden, oft erst von einer bei weitem späteren benutzt werden, und oft nicht von dieser ganzen, nicht einmal von einzelnen [17]ganzen Nationen, sondern nur einer, oder der andern ihrer Klassen, wenn nicht gar Individuen: so kann die Reihe, die wir in dem gegenwärtigen Verstande Eine nennen, nicht immer weder der Zeitfolge nachgehen, sondern muss oft mehrere Jahrhunderte überspringen, noch den Massen der einzelnen Nationen, sondern kann oft nur einzelne Mitglieder derselben berühren, je nachdem nämlich der Einfluss der Fortschritte einer Generation diese mit der nächstfolgenden, oder einer späteren, mit einer ganzen Nation, oder einzelnen Teilen derselben verbindet. Denn diese Reihen sind – wie schon der Zusammenhang des Vorigen hinlänglich zeigt – nicht eigentlich Reihen der Begebenheiten, sondern der physischen, intellektuellen, und moralischen Kräfte