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Ein einziges Wort verändert alles: Krebs. Kurt, 48, Architekt, Einzelgänger, mit einem Kater namens Henry – plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Zwischen Diagnoseschock, Chemotherapie und dem Versuch, die Krankheit zu ignorieren, beginnt eine Reise, die ihn letztlich an die raue Küste der Ostsee führt. Dort, zwischen Wind und Wellen, stellt er sich den großen Fragen: Was bleibt? Was zählt? Und wie lebt man, wenn die Zeit endlich ist? Ein tief bewegendes Buch über Verlust, Hoffnung und die Kunst, Frieden mit dem Leben zu schließen.
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Seitenzahl: 207
Veröffentlichungsjahr: 2025
Martina Guderjahn
Schritte auf dünnem Eis
Tagebuch eines Krebskranken
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Widmung
Worum geht es?
DAS RAD DES LEBENS
Ich bin Kurt
DIAGNOSE – WENN DAS LEBEN KIPPT
4. April – Der Moment, der alles veränderte
4. April – Am Abend
4. April – Der Abend danach, zwei Stunden später
4. April – Nachts
5. April – Der Morgen danach
5. April – Ein langer Tag
5. April – Der Nachmittag
5. April – Zusammenbruch
5. April – Die Nacht und die Erinnerungen
5. April – Erschöpfung
LEUGNEN - EIN KAMPF GEGEN DIE WAHRHEIT
6. April – Der Morgen danach
6. April – Der Gedanke an Krebs
6. April – Der Film in meinem Kopf
6. April – Begegnung im Park
6. April – Der Gedanke an den Tod
6. April – Der Schatten des Sterbens
6. April – Das Licht des Fernsehers
6. April – Schlaflose Nacht
7. April – Der verpasste Termin
8. April – Der Krebs vergisst nicht
8. April – Rückzug ins Bad
8. April – Der Versuch, zu fliehen
9. April – Modellbau und der Hohn der Sonne
9. April - Flucht aus Plastik und Klebstoff
9. April – Wut und Tränen
9. April – Der Versuch, Ruhe zu finden
KONFRONTATION - DER WENDEPUNKT
DIE ZEIT VERLIERT IHRE BEDEUTUNG
Ein unerwarteter Anruf
Ein Anfang
Zwischen Vergangenheit und Zukunft
Ein fremder Begleiter
Ein anderer Alltag
Der Termin
Die Phase der Recherche
Das Leben, neu sortiert
Zwischen Rückzug und Öffnung
Eine Liste für mich
Ein unerwarteter Zuhörer
Im Moment
Ein ungewöhnliches Schweigen
Die Kunst der Dankbarkeit
Der erste Schritt in den Kampf
Die erste Chemo - Zweifel und Klarheit
Ein Name, der keiner ist
Nach dem ersten Schlag
Körperliche Erschöpfung
Mentale Zermürbung
Emotionale Zerrissenheit
Mehr Sterben als Leben
Die Nacht danach
Der erste Tag danach
Die folgende Woche
Drei Wochen bis zum nächsten Schlag
Ein Schritt gegen den Strom
RÜCKZUG - DIE ZEIT AN DER OSTSEE
Die Entscheidung für einen Neuanfang
Der Weg in die Freiheit
Eine neue Welt
Eine Begegnung und ein besonderer Moment
Der Neubeginn an der Ostsee
ABSCHLUSS - VERGEBUNG UND LOSLASSEN
Die Akzeptanz
Die Vorbereitung für den Abschied
Weihnachten am Meer
Das Loslassen
Ein Jahreswechsel am Meer
Der Frieden mit der Vergangenheit
Das Vermächtnis des Augenblicks
Der Horizont bleibt offen
MÖGLICHKEIT UND ENTSCHEIDUNG
Das Happy End – Licht am Horizont
Ein Horizont voller Möglichkeiten
Die Wende
Wie ich es erzählte
DIE ANDERE ART ZU ENDEN
Ein stiller Abschied
Das Leben wird kleiner
Der Brief an Johanna
Kurts letzte Tage
Ein Moment völligen Friedens
Der nächste Tag
Ein Wind, der Worte trug
Wenn ich etwas sagen darf …
Nachwort
WAS WIRKLICH ZÄHLT
Danke
Zur Autorin
Impressum
Impressum neobooks
„Für alle, die Frieden suchen – möge
diese Geschichte euch Hoffnung geben.“
Was tust du, wenn das Leben dir den Boden unter den Füßen wegzieht?
Kurt, 48, Architekt und Liebhaber stiller Tage, wird nach einer Diagnose aus seiner Routine gerissen. Mit seinem Kater Henry und der rauen Schönheit der Ostsee im Rücken begibt er sich auf eine Reise – nicht nur durch die letzten Kapitel seines Lebens, sondern zu sich selbst. „Schritte auf dünnem Eis“ erzählt von Verlust und Hoffnung, von Liebe und Loslassen. Eine Geschichte, die berührt, nachklingt und fragt: Was macht das Leben lebenswert?
Es gibt keinen Weg,
das Leben zu kontrollieren,
nur die Möglichkeit, es anzunehmen.
(unbekannt)
Mein Name ist Kurt, 48 Jahre alt, geschieden, keine Kinder. Mein Zuhause ist meine Burg: eine kleine Wohnung mit hohen Decken, viel Licht – genau so, wie ich es mag. Mein Rückzugsort, mein Schutzraum. Und dann ist da noch Henry, mein Kater. Henry ist wahrscheinlich der Einzige, der meine Gesellschaft wirklich zu schätzen weiß. Oder vielleicht auch nur das Futter, das ich ihm gebe. Aber das ist in Ordnung. Er redet nicht, er fordert nichts. Wir verstehen uns, ohne viele Worte – und das reicht.
Mein Leben war nie besonders spektakulär. Keine großen Abenteuer, keine Liebesromane, die man verfilmen könnte. Aber es war meins. Es hatte Struktur, Gewohnheiten. Ich wusste, was mich erwartet, und das war mir immer genug. Bis jetzt. Bis zu diesem einen Moment, der alles verändert hat.
Ich bin Architekt, ein Beruf, den ich liebe – oder geliebt habe. Früher habe ich Häuser gebaut, die ein Zuhause sein sollten. Heute entwerfe ich Glasfassaden für Firmen, die kaum wissen, was Wärme bedeutet. Es gab eine Zeit, da war Architektur für mich mehr als nur ein Beruf. Es war eine Möglichkeit, Geschichten zu erzählen – die Geschichte einer Familie, die ein neues Kapitel beginnt, die Geschichte von Träumen, die Stein für Stein gebaut werden. Ich habe mit Leidenschaft entworfen: Häuser mit großen Küchen, in denen Kinder um den Tisch rennen können. Wohnzimmer, die das Licht so einfangen, dass es jeden Nachmittag wie ein Versprechen wirkt. Häuser, die ein Zuhause sein sollten.
Aber irgendwann hat sich etwas geändert. Es war, als hätte jemand den Stecker gezogen. Die Menschen wollten keine Häuser mehr, die von Wärme und Leben erzählten. Sie wollten Schnelligkeit. Effizienz. Glas und Stahl, die man leicht abwischen kann, und nicht Ecken und Kanten, die Geschichten haben. Ich habe mitgemacht, natürlich. Man muss ja leben. Aber jedes Mal, wenn ich eine sterile Glasfassade für eine Firma entwerfe, frage ich mich: Wer soll hier eigentlich arbeiten? Menschen? Maschinen? Ich weiß es nicht mehr. Was ich weiß, ist, dass ich mich selbst in diesen Fassaden verloren habe. Kein Licht mehr. Keine Wärme.
Meine Exfrau hat immer gesagt, ich hätte zwei Leidenschaften: Architektur und meine Ruhe. Sie hat es versucht, wirklich. Aber irgendwann wollte sie mehr – ein anderes Leben, eine Familie. Ich nicht. Claudia war immer ein wenig zu laut für mich. Zu lebendig. Ich mochte das anfangs. Sie brachte Energie in meine geordnete Welt, und ich dachte, das sei genau das, was ich brauchte. Aber irgendwann wurde diese Energie zu einer Forderung, und ich konnte nicht mithalten. ‚Kurt, du bist ein toller Architekt, aber wann willst du mal etwas für uns bauen? Für uns beide?‘ Ich weiß noch, wie sie das sagte, mit diesem schiefen Lächeln, das immer bedeutete, dass sie sich wünschte, ich wäre ein anderer Mensch. Aber ich war nicht dieser andere Mensch. Ich war ich. Ich liebte die Stille in meinem Kopf. Die Abende, an denen ich einfach da saß und Henry beim Schlafen zusah.
Und irgendwann war das nicht mehr genug für sie. Sie wollte Kinder, ein Haus mit einem Garten, in dem die Wäsche an der Leine flattert. Ich wollte … ich wollte, dass alles so bleibt, wie es war. Dass ich abends meine Ruhe habe und morgens früh zur Arbeit fahren kann, ohne dass jemand ‚Papa‘ ruft. Sie hat versucht, mit diesem Wunsch zu leben, wirklich. Aber ein Wunsch, der zu lange ignoriert wird, wird irgendwann zur Bitterkeit. Und ich kann es ihr nicht verübeln. Es war besser so, als sie ging. Für sie. Und vielleicht auch für mich.
Seit Jahren lebe ich allein, und meistens war das auch in Ordnung. Ich habe nie viel Wert auf Gesellschaft gelegt. Nicht, weil ich Menschen nicht mag, sondern weil mir der Aufwand oft zu groß erschien. Gespräche über belanglose Dinge bei Firmenfeiern – all das war nie meins. Mein Freundeskreis? Wenn man das so nennen will, besteht er aus ein paar flüchtigen Bekannten von der Arbeit und der Frau im Café an der Ecke, die immer weiß, dass ich meinen Kaffee schwarz trinke.
Ich war nie der Typ für große Geburtstagsfeiern oder lange Abende mit Freunden. Smalltalk hat mich immer müde gemacht, als würde er Energie aus mir saugen. Ich mochte die Einsamkeit, weil sie mir die Freiheit gab, niemandem etwas erklären zu müssen. Sie war wie eine zweite Haut, die sich angenehm vertraut anfühlte. Henry, mein Kater, war Gesellschaft genug. Sein ruhiges Schnurren war wie ein Anker in einem Meer von Stille, das ich nie als bedrohlich empfunden habe.
Einsamkeit ist keine Strafe, wenn sie selbst gewählt ist. Aber jetzt fühlt es sich anders an. Jetzt weiß ich nicht mehr, ob ich allein sein will.
Jetzt fühlt sich diese Stille anders an. Sie ist nicht mehr angenehm. Sie ist laut, wie ein Echo, das in einem leeren Raum widerhallt. Früher habe ich gesagt: ‚Ich brauche niemanden.‘ Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht, weil ich weiß, dass niemand kommen wird, wenn ich falle. Es gibt keine Hand, die mich auffängt, keine Stimme, die sagt: ‚Du schaffst das.‘ Vielleicht ist das das Schlimmste an der Krankheit. Sie nimmt dir die Möglichkeit, die Einsamkeit zu genießen. Sie zwingt dich, dich zu fragen, ob du wirklich allein sein willst,wenn das Ende näher kommt. Und ich weiß nicht, wie ich mir diese Frage beantworten soll.
Ich hatte einen Termin beim Arzt gemacht, weil mich der Husten nervte. Nicht, weil ich Angst hatte, nicht, weil ich mir ernsthaft Sorgen machte. Wer geht schon wegen ein bisschen Husten vom schlimmsten aus? Ich jedenfalls nicht. Ich war nie Hypochonder gewesen, nie einer von denen, die bei jedem Zwicken gleich ans Schlimmste dachten. Ich hatte nie geraucht, nie großartig Raubbau an meinem Körper betrieben. Warum also sollte es etwas sein, das nicht mit ein paar Tabletten oder einer einfachen Behandlung wieder verschwinden würde?
Und doch war da dieses Gefühl. Kein richtiger Gedanke, keine konkrete Angst – eher eine diffuse Unruhe, die ich nicht abschütteln konnte. Wie wenn man im Dunkeln einen Schatten sieht, aber sobald man das Licht anmacht, ist da nichts. Vielleicht war es Einbildung. Wahrscheinlich sogar.
Ich saß im Wartezimmer und blätterte durch eine Zeitschrift, ohne ein Wort zu lesen. Der Raum roch nach Desinfektionsmittel und Papier, Stimmen flüsterten, ab und zu ein Husten, Schritte auf Linoleum. Alles war banal, völlig gewöhnlich. Ein Arztbesuch eben.
Als mein Name aufgerufen wurde, stand ich auf, zog die Schultern zurück und trat in ein Zimmer, aus dem ich als ein anderer Mensch wieder herauskommen würde – ohne es zu wissen.
Ich weiß noch, wie ich in diesem sterilen Raum saß. Ein Schreibtisch, zwei Stühle, eine dieser trüben Pflanzen in der Ecke, die niemand gießen will. Der Arzt kam rein, eine Mappe in der Hand, und ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmt. Man spürt so etwas. Es war in der Art, wie er mich ansah – mit einem Hauch zu viel Mitgefühl, der einen sofort misstrauisch macht.
‚Herr Schröder, wir haben die Ergebnisse.‘ Seine Stimme war ruhig, fast mechanisch, als hätte er diesen Satz schon hundertmal gesagt. Vielleicht hatte er das. Aber ich nicht. Ich saß da, starrte auf die Mappe in seiner Hand, als könnte sie explodieren.
‚Es ist ein Tumor.‘ Ein Tumor. So sagte er es. Ohne Drama, ohne Zittern in der Stimme. Als wäre es ein Fleck auf meiner Haut, den man einfach abwaschen könnte. ‚Bösartig. Wir müssen handeln.‘
Ein Tumor. Bösartig. Krebs.
Es war, als würde jemand einen Staudamm in meinem Kopf brechen. Das Wort hallte wider, wieder und wieder. Krebs. Ich spürte meine Hände auf den Oberschenkeln, als müsste ich mich selbst festhalten, damit ich nicht auseinanderfalle. Aber in meinem Kopf tat ich das schon. Zerbrechen, Stück für Stück.
Die nächsten Minuten waren wie in Watte gepackt. Ich hörte, was er sagte – OP, Chemo, Optionen – aber nichts davon kam wirklich bei mir an. Mein Verstand hatte aufgehört zuzuhören, als er das Wort gesagt hatte. Krebs. Ein einziges Wort, das mein ganzes Leben auseinanderreißt. Ich habe nie gedacht, dass ein einziges Wort so viel Macht haben könnte.
Als ich nach Hause ging, fühlte sich die Welt falsch an. Die Luft, die Straßen, die Menschen – alles war noch da, aber es war, als würde ich durch eine Scheibe sehen. Als würde ich nicht mehr dazugehören. Ich war ein Fremder in meinem eigenen Leben. Alles fühlte sich schwerer an. Mein Schlüssel in der Tür, Henrys leises Miauen, als ich reinkam. Selbst er schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Aber was sollte ich ihm sagen? Was soll man überhaupt sagen, wenn man nicht einmal die richtigen Worte für sich selbst findet?“
Ich saß auf dem Sofa und starrte auf die Wand. Es war schon dunkel draußen, aber ich hatte nicht das Licht angemacht. Warum auch? Es hätte nichts geändert. Henry saß auf der Armlehne neben mir, sein Fell schimmerte im letzten Rest des Tageslichts. Er schnurrte leise, ein vertrauter Rhythmus, der normalerweise beruhigend wirkte. Heute nicht.
Meine Hände lagen schlaff in meinem Schoß, und ich fragte mich, wie sie sich so ruhig verhalten konnten, wenn ich innerlich auseinanderbrach. Mein Kopf schrie. Meine Brust war eng, als hätte jemand eine Klammer darum gelegt. Aber nach außen war ich still. So still, dass es mich selbst erschreckte.
‚Krebs.‘ Ich sagte es laut, als müsste ich das Wort in den Raum werfen, um zu testen, ob es wirklich existiert. Es klang falsch. Fremd. Und doch war es jetzt mein Wort. Mein Leben. Mein Körper, der mich im Stich ließ.
Ich beugte mich vor und ließ meinen Kopf in die Hände sinken. Wie konnte das wahr sein? Wie konnte ich heute Morgen noch in meinem Büro gesessen haben, die Pläne für ein neues Bürogebäude geprüft haben, und jetzt hier sitzen, mit diesem Wort, das wie ein Stein in meinem Bauch lag?
Henry sprang auf meinen Schoß, leicht wie immer, als wüsste er, dass ich etwas brauche, auch wenn ich es selbst nicht wusste. Er rollte sich zusammen, legte den Kopf auf meine Hand, und sein Schnurren wurde lauter. Ich konnte nicht anders, als meine Hand in sein Fell zu legen. Es war warm, weich, lebendig. Anders als ich fühlte.
‚Henry, was machen wir jetzt?‘
Meine Stimme brach. Es war lächerlich, mit einem Kater zu sprechen, als könnte er mir antworten. Aber in diesem Moment war er der Einzige, mit dem ich reden konnte.
Er schaute mich an, seine großen, grünen Augen voller Ruhe, als wollte er sagen: ‚Wir sitzen das aus. Schritt für Schritt.‘
Es war albern, aber genau das brauchte ich. Etwas Einfaches. Einen Grund, wenigstens bis morgen durchzuhalten. Also blieb ich sitzen, streichelte Henrys Fell und ließ die Dunkelheit im Raum weiter wachsen. Und für einen Moment dachte ich, dass das vielleicht reicht. Für heute zumindest.
Ich saß im Dunkeln, nur das schwache Licht einer Straßenlaterne fiel durch die Vorhänge und warf Streifen auf den Boden. Henry lag auf meinem Schoß, zusammengerollt, als wäre die Welt noch in Ordnung. Sein Schnurren war gleichmäßig, ein leises Brummen, das sonst beruhigend auf mich wirkte. Aber heute spürte ich nur den Druck seiner kleinen, warmen Pfoten auf meinen Beinen – wie eine Erinnerung daran, dass er da war. Dass er mich brauchte.
Was wird aus ihm?
Der Gedanke schoss durch meinen Kopf, und ich konnte ihn nicht loswerden. Henry war elf, ein alter Kater, der in all diesen Jahren zu meiner einzigen wirklichen Konstante geworden war.
Was würde er machen, wenn ich nicht mehr da bin?
Wer würde ihn füttern, ihn streicheln, wenn er auf die Couch springt? Wer würde seine Ticks verstehen – die Art, wie er immer erst an seinem Napf schnuppert, bevor er frisst, oder wie er vor dem Einschlafen seinen Platz dreimal umrundet?
Ich stellte mir vor, wie er alleine in der Wohnung sitzt, wartend. Tag für Tag. Er würde die Tür anstarren, vielleicht noch ein paar Nächte auf meinem Kopfkissen schlafen, bevor er irgendwann aufgibt. Es war eine absurde Vorstellung, aber sie brachte meine Kehle zum Brennen.
‚Was mache ich mit dir, Henry?‘, flüsterte ich, während ich meine Hand durch sein Fell gleiten ließ. Er öffnete ein Auge, blinzelte mich an und ließ den Kopf wieder sinken. Er hatte keine Ahnung. Vielleicht war das das Schlimmste – dass er nicht wusste, wie zerbrechlich alles geworden war. Für ihn war ich einfach da, so wie immer.
Ich dachte an meinen Nachbarn. Herr Bergmann, Mitte sechzig, ein Witwer mit einer Vorliebe für Kreuzworträtsel. Er mochte Henry. Er hatte ihn schon einmal gefüttert, als ich vor ein paar Jahren ein Wochenende weg war. Vielleicht könnte ich ihn fragen. Falls es wirklich so weit kommt.
Der Gedanke fühlte sich wie Verrat an, als würde ich bereits aufgeben, bevor der Kampf überhaupt begonnen hatte. Aber das war die Realität, oder? Ich wusste nicht, wie lange ich noch für Henry da sein konnte. Diese Frage nagte an mir, und ich hasste mich dafür. Für die Unsicherheit. Für die Angst. Für die Möglichkeit, dass ich ihn irgendwann alleine lassen müsste.
Henry schnurrte immer noch, als ich meinen Kopf gegen die Sofalehne lehnte. Es war ein kleiner Trost, dass er nichts davon verstand. Aber gleichzeitig machte es alles schlimmer. Ich wusste, dass ich nicht nur für mich kämpfen müsste. Sondern auch für ihn.
Ich lehnte mich zurück, ließ den Kopf gegen die Sofalehne sinken und schloss die Augen. Henry lag immer noch auf meinem Schoß, warm und schwer. Sein Schnurren war wie ein leises Summen in der Stille, ein Rest von Normalität in einer Welt, die sich plötzlich fremd anfühlte.
Mein Körper war schwer, als hätte die Diagnose jede Zelle mit Blei gefüllt. Ich hatte den ganzen Tag nicht wirklich etwas gegessen, aber ich hatte keinen Hunger. Nur diese Müdigkeit. Eine Müdigkeit, die nicht einfach körperlich war. Es war, als hätte mir jemand die Energie aus der Seele gezogen.
Der Gedanke kam leise, wie ein Flüstern, das ich zuerst ignorieren wollte, aber es wurde lauter, bis ich es nicht mehr überhören konnte: ‚Ich habe Krebs.‘
Ich öffnete die Augen und starrte an die Decke. Der Gedanke war da. Echt. Schwer. Unvermeidlich.
‚Ich habe Krebs.‘
Ich wiederholte es in meinem Kopf, als wollte ich testen, ob ich es begreifen konnte. Aber es fühlte sich immer noch an, als würde ich über jemand anderen sprechen.
Ich wollte aufstehen, wollte die Decke nehmen und ins Bett gehen, aber mein Körper rührte sich nicht. Stattdessen blieb ich auf dem Sofa sitzen, Henry auf meinem Schoß, die Dunkelheit um mich herum. Mein Atem ging flach, und meine Gedanken begannen langsam zu verblassen.
Kurz bevor ich einschlief, mit Henrys Schnurren in meinen Ohren und der Leere in meiner Brust, war da nur noch dieser eine Satz: ‚Ich habe Krebs.
Das erste, was ich spürte, war Henrys Gewicht auf meiner Brust. Er lag da wie immer, seine Augen halb geschlossen, seine Schnurrhaare zuckten leicht, als er mich ansah. Für einen Moment war alles normal. Es hätte ein Morgen wie jeder andere sein können. Der Kaffee stand auf mich wartend in der Küche, die Arbeit war eine Selbstverständlichkeit, und mein Leben … mein Leben war mein Leben.
Doch dann war da dieser Hauch von Erinnerung, der wie ein Riss in den Morgen sickerte. Es war nicht laut oder dramatisch. Es war leise, hintergründig. Ein Gefühl, wie ein kalter Schatten, der sich langsam über mich legte.
‚Krebs.‘
Das Wort war da, bevor ich es bewusst denken konnte. Wie ein ungebetener Gast, der in der Tür steht und dich anlächelt, als gehöre er schon immer zu deinem Leben. Henry rieb seinen Kopf an meinem Kinn und miaute leise, fordernd. Aber ich konnte mich nicht rühren. Nicht gleich.
Ich schloss die Augen und versuchte, das Wort wegzudrücken. Noch einen Moment so tun, als wäre es nicht da. Aber es blieb. Krebs. Der Gedanke drängte sich immer weiter nach vorne, wie eine Welle, die sich aufbaut und irgendwann alles überspült. Ich atmete tief durch und setzte mich auf. Henry sprang von meinem Schoß und landete mit einem leisen Plumps auf dem Teppich. Er trottete Richtung Küche, der perfekte Inbegriff von Gelassenheit.
Ich beneidete ihn in diesem Moment mehr als alles andere. Für ihn war nichts anders. Für ihn war ich immer noch der Mann, der ihn füttert und seinen Napf auffüllt.
Für mich war alles anders.
Ich stand auf, meine Beine fühlten sich schwach an, als hätte ich sie über Nacht vergessen. Es dauerte einen Moment, bis ich festen Stand fand. Henrys Miauen wurde drängender. ‚Ich komme ja schon‘, murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu ihm. Aber die Stimme, die aus meinem Mund kam, klang seltsam. Fremd.
Ich goss Futter in seinen Napf und beobachtete, wie er fraß, jeden Bissen sorgfältig kaute. Es war seltsam beruhigend, ihm zuzusehen.
Diese einfache Routine – sein Hunger, meine Aufgabe, ihn zu stillen – war alles, was mir in diesem Moment einen Sinn gab. Es war, als würde ich mich selbst daran festhalten. Ich griff nach der Kaffeemaschine, drückte auf den Knopf, und das Summen füllte die stille Küche. Während der Kaffee in die Tasse tropfte, stützte ich mich auf die Arbeitsplatte und ließ meinen Kopf hängen.
‚Krebs.‘
Es war da. Immer noch. Immer wieder.
Als der Kaffee fertig war, nahm ich die Tasse und ging zum Fenster. Ich sah hinaus, auf die Straße, die Autos, die vorbeifuhren, die Menschen, die sich beeilten, irgendwohin zu kommen. Alles sah aus wie immer, aber ich fühlte mich wie ein Fremder in meiner eigenen Welt. Die Diagnose hatte mich aus meinem Leben katapultiert, und jetzt stand ich daneben und sah zu, wie es einfach weiterging.
Ich nippte am Kaffee, aber er schmeckte nicht. Nichts schmeckte. Nicht heute.
Ich weiß nicht, wie ich ins Büro gekommen bin. Irgendwann stand ich vor meinem Schreibtisch, mit meiner Tasche über der Schulter und dem Gefühl, etwas vergessen zu haben. Aber da war nichts. Alles war da: der Computer, die Pläne, die leere Kaffeetasse vom Tag davor. Nur ich fühlte mich … abwesend.
Der Morgen hatte sich in eine Art Nebel verwandelt. Ich erinnerte mich daran, mich angezogen zu haben, aber nicht daran, wie ich es gemacht hatte. Die Krawatte, die ich immer für wichtige Termine trug, war ordentlich gebunden, meine Schuhe poliert, als hätte ein anderer diese Aufgaben für mich erledigt. Alles lief automatisch. Ich lief automatisch.
‚Morgen, Kurt!‘ Sandra, meine Assistentin, lächelte wie immer, während sie an meinem Schreibtisch vorbeiging.
Ich nickte, murmelte etwas wie ‚Morgen‘ zurück, aber die Worte fühlten sich hohl an, als wären sie nicht wirklich von mir.
Sie hielt kurz inne, ihre Stirn legte sich in Falten. ‚Alles okay? Sie sehen ein bisschen blass aus.‘
Blass. Das war wohl das Mindeste. Ich zwang ein Lächeln auf mein Gesicht, das sich wie eine Maske anfühlte.
‚Alles gut. Nur schlecht geschlafen.‘
Eine Lüge. Oder vielleicht nicht. Ich wusste nicht einmal mehr, was die Wahrheit war.
Die Stunden schleppten sich dahin. Mein Bildschirm füllte sich mit Zahlen und Linien, Plänen, die ich hätte prüfen sollen. Aber ich sah nicht wirklich hin. Meine Augen glitten über die Zeichnungen, meine Finger tippten unbewusst auf der Tastatur. Es war, als würde mein Körper arbeiten, während mein Kopf woanders war.
Krebs.
Das Wort tauchte immer wieder auf, wie ein Echo in einem leeren Raum. Es klang jedes Mal anders.
Mal sachlich, wie der Arzt es gesagt hatte: ‚Ein Tumor. Bösartig.‘
Mal wie ein Schrei. Und manchmal wie eine Frage, die ich nicht beantworten konnte: ‚Krebs? Wirklich?‘
Hatte ich mich verhört?
Ich war mir nicht mehr sicher. Vielleicht hatte der Arzt etwas anderes gesagt, und ich hatte es falsch verstanden. Vielleicht war es gar nicht so schlimm. Vielleicht hatte er von einem Verdacht gesprochen, von Möglichkeiten, von irgendetwas, das noch nicht sicher war.
Vielleicht …
Ich öffnete den Entwurf eines neuen Projekts, ein Bürogebäude mit einer glänzenden Glasfassade. ‚Effizient, modern, minimalistisch‘ stand in der Beschreibung. Die Linien verschwammen vor meinen Augen. Früher hätte ich an den Details gefeilt, die Lichtführung geprüft, die Balance zwischen Funktionalität und Ästhetik gesucht.
Heute war es nur ein Haufen Striche auf einem Bildschirm. Ein leises Klopfen riss mich aus meinen Gedanken.
‚Kurt?‘ Sandra stand in der Tür, ein Stapel Dokumente in der Hand. ‚Die Kollegen warten auf dich. Projektbesprechung.‘
‚Ja. Gleich.‘
Meine Stimme klang tonlos, und ihr Blick sagte mir, dass sie es bemerkt hatte. Aber sie fragte nicht. Vielleicht dachte sie, dass ich einen schlechten Tag hatte. Ich nickte und stand auf. Mechanisch. Immer noch mechanisch.
Die Besprechung war eine Aneinanderreihung von Worten, die an mir vorbeirauschten.
‚Budget. Zeitrahmen. Konzept.‘
Ich nickte, machte Notizen, die ich später nicht mehr lesen würde. Die Minuten krochen, jede einzelne fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Einmal sah ich aus dem Fenster und fragte mich, wie es sein konnte, dass die Welt sich noch immer drehte.
Wie die Menschen einfach weitergingen, während ich in meinem Kopf festhing, in diesem Moment beim Arzt, in diesem einen Satz: ‚Bösartig. Wir müssen handeln.‘