Schüchtern - Florian Werner - E-Book

Schüchtern E-Book

Florian Werner

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Beschreibung

Selbstdarstellung scheint heute selbstverständlich, Schüchternheit hingegen ist passé. Stimmt nicht, wie Florian Werner in seinem Bericht zeigt. Die Gesellschaft der Schüchternen ist auch im 21. Jahrhundert überraschend groß. Amüsant und formvollendet erzählt Werner von seiner Rolle als zweitgeborener Zwilling, von der Bedeutung von Kapuzenpullis, wie er seine Frau kennenlernte und warum er auch gegenüber unverschämten Kellnern zwanghaft höflich bleibt. Werner erklärt außerdem, wie Schüchternheit bei Kindern entsteht, wie der große Markt der Schüchternheitsbekämpfung funktioniert und warum Schüchternheit auch eine Stärke sein kann. Ein geistreicher, ungewöhnlicher und verblüffender Erlebnisbericht.

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Seitenzahl: 184

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N & K Nagel & Kimche E-Book
Florian Werner
Schüchtern
Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft
Nagel & Kimche
ISBN 978-3-312-00550-5
© 2012 Nagel & Kimche
im Carl Hanser Verlag München
Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz
Satz: Gaby Michel, Hamburg
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de
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Für meinen Bruder Tobias

Inhalt

Liebesgrüße aus Tonga
Schüchtern betrachtet
Vom Ei
Nennt mich Kehinde
Peinliche Befragung
Am Apparat
Keine falsche Scham
Von der neuen Insel Aidotopia
Dank
Literaturliste
Liebesgrüße aus Tonga      Es ist, als lastete auf dem Telefon ein böser Zauber. Als hätte ein polynesischer Stammeshäuptling über dem Apparat ein Tabu verhängt, das nur für mich bestimmt ist und das es mir unmöglich macht, den Hörer aufzunehmen und ein Telefonat zu führen. Selbst die harmlosesten Gespräche – mit meinem Steuerberater, mit der Hausverwaltung, einem Handwerker − stellen eine schier unüberwindliche Herausforderung dar. Natürlich schiebe ich solche Telefonate so lange wie möglich hinaus, wodurch die emotionale Last, die auf dem Gespräch liegt, immer größer wird. Erst wenn das Telefonat, meist bereits seit Wochen, unvermeidlich geworden ist, greife ich nach qualvollem Um-das-Telefon-Herumtigern und so ausführlichem wie skeptischem Betrachten des Apparats nach dem Hörer und wähle schnell, bevor ich einen Rückzieher machen kann, die fragliche Nummer.
Das Tuten am anderen Ende der Leitung ist erschreckend laut, wie das Klopfen an eine Grabkammer, das die Totenruhe eines bösen Geistes stören könnte, oder doch immerhin die Mittagspause eines Steuerberaters, Hausverwalters, Handwerkers. Ich wandere weiter durch die Wohnung, als könnte ich dadurch vor dem Telefonat davonlaufen, und fange an zu zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Fünf ist die Grenze, die Erlösung. Wenn sich nach fünfmaligem Klingeln niemand gemeldet hat, lege ich den Hörer schnell wieder auf, zugleich beruhigt, meiner Pflicht genüge getan, und beglückt, mit niemandem gesprochen zu haben.
Zugegeben: Rational nachvollziehbar ist dieses Verhalten nicht. Es ist durchaus schon vorgekommen, dass der oder die Angerufene das Gespräch innerhalb der ersten fünf Freizeichen entgegennahm, und ich bin erstaunlicherweise immer noch am Leben. Keine Flammen schlugen aus dem Hörer, um meinen Gehörgang zu versengen, keine Hand griff durch die Leitung, um mir den Kopf abzureißen. Wider Erwarten war ich häufig in der Lage, vollständige Sätze zu bilden, ich wurde nur selten beschimpft, oft genug war mein Gesprächspartner sogar richtig freundlich. Dennoch packt mich immer wieder diese rasende Angst vor dem Telefon. Daher meine Vermutung, dass ein polynesischer Häuptling, von mir unbemerkt, hin und wieder meiner Wohnung einen Besuch abstattet und meinen Telefonapparat mit einem Abwehrzauber belegt. Auch an anderen Orten treibt er sich herum und macht mir das Leben schwer: Ansammlungen fremder Menschen, städtische Behörden, Läden mit persönlicher Kundenbetreuung – sie alle sind für mich, wie man auf Tonganisch sagt, tabu, oder zu Deutsch: ‹verboten›. Das ist meine privatmythologische Erklärung dafür, weshalb mir der Umgang mit fremden Menschen so schwer fällt. Die allgemein geläufige Beschreibung meines Problems ist weitaus profaner, dafür aber auch weniger anschaulich: Ich bin ganz einfach schüchtern.
Ja, ich bin schüchtern, und es liegt in der Natur der Sache, dass mich selbst ein solch unspektakuläres Bekenntnis einige Überwindung kostet. Mit einem mir unbekannten Menschen ein längeres Gespräch zu führen, womöglich mit Blickkontakt, womöglich ohne Alkoholeinfluss, fällt mir unsagbar schwer. Wenn mich jemand auf der Straße anrempelt, entschuldige ich mich natürlich. Wenn ich das Gefühl habe, beobachtet zu werden, etwa in einer Straßenbahn oder einem Café, weiß ich nicht, wo ich hinschauen soll; zum Glück gucke ich aber meist sowieso auf den Boden, wo die Gefahr, dem Blick eines anderen Menschen zu begegnen, relativ gering ist, außer auf der Liegewiese eines Freibads oder am Strand, zwei Orte, die für Schüchterne allerdings noch ganz andere Probleme bereithalten. Meine Pullover haben fast alle eine Kapuze, unter der ich mich gegebenenfalls verstecken kann, und der Gott des Haarausfalls hat mir frühzeitig eine Glatze beschert, so dass ich bei jeder Jahreszeit eine Entschuldigung dafür habe, eine Mütze oder einen Hut zu tragen. Beim Schlafen ziehe ich immer die Bettdecke über den Kopf, weil ich Angst habe, dass ich von Geistern oder Einbrechern angesprochen werden könnte. Mein Kleiderschrank quillt über von Hosen und Hemden, die ich nur gekauft habe, weil ich nach einem längeren Verkaufsgespräch nicht in der Lage bin, einen Laden ohne Ware in der Hand zu verlassen; alles andere würde mir wie ein Affront gegen den Verkäufer erscheinen, der sich doch solche Mühe gegeben oder mir zumindest nichts Böses getan hat. Telefongespräche, die nicht absolut notwendig sind, suche ich, wie erwähnt, tunlichst zu vermeiden; als meine hochschwangere Frau vor der Geburt unserer Tochter einen Blasensprung hatte, musste sie den Krankenwagen rufen, weil es mir unhöflich schien, die Rettungsstelle mit diesem Problem zu belästigen.
1995, eigentlich ein Jahr voll persönlicher Katastrophen, wird im Pantheon meiner Lieblingsjahre dennoch auf ewig einen Ehrenplatz einnehmen, denn in diesem Jahr erhielt ich meinen ersten E-Mail-Account: ein Quantensprung in der Geschichte der Telefonievermeidung. Leider benötige ich auch zum Verfassen elektronischer Botschaften unbotmäßig lange, da ich aus Furcht, den Empfänger durch unbedachte Wortwahl zu verletzen, selbst bei unwichtigen Mails an den Formulierungen feile, als handelte es sich um einen Beitrag zum Jahrbuch der Deutschen Lyrik; es fehlt nicht viel, und ich würde auch auf Spam-Mails freundliche Absagen verschicken («Herzlichen Dank für Ihr ebenso attraktives wie wohlfeiles Angebot, aber bevor ich ein solches Medikament benötige, bräuchte ich erst eines gegen Schüchternheit»). Wenn mich ein Zauberkünstler im Rahmen einer Vorführung als Demonstrationsobjekt auf die Bühne holte, würde ich umgehend und ohne Zutun des Magiers in zwei Hälften zerfallen oder mich in einen Hasen verwandeln. Wenn ich den FAZ-Fragebogen beantworten müsste, dann stünde bei mir in der Rubrik Ihre Lieblingshelden in der Dichtung der Mann aus Kafkas Türhüter-Legende, der sein ganzes Leben neben einer offenen Tür sitzt und schüchtern darauf wartet, dass man ihm Einlass gewährt, ganz oben.
Was möchten Sie sein? Eine Schildkröte.
Ihre Lieblingsblume? Pflänzlein Rühr-mich-nicht-an.
Ihr Lieblingsvogel? Vogel Strauß.
Ihre Lieblingstugend? Bescheidenheit.
Ihr größter Fehler? Bescheidenheit.
Ihre gegenwärtige Geistesverfassung? Schüchtern.
Allerdings bin ich mit dieser Eigenschaft nicht gerade allein: Angeblich leidet jeder fünfte Bundesbürger unter Schüchternheit, in den USA bezeichnen sich 42 Prozent der Bevölkerung als schüchtern, in Japan wollen es sogar 57 Prozent sein. Die Sozialphobie, also die schwere, pathologische − oder zumindest pathologisierte − Form der Schüchternheit, stellt nach Depressionen und Alkoholabhängigkeit inzwischen die dritthäufigste Form der psychischen Erkrankung in der westlichen Welt dar. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich daher, um eine Formulierung der Soziologin Susie Scott zu verwenden, eine ganze «Schüchternheitsindustrie» herausgebildet. Pharmaunternehmen verdienen mit der medikamentösen Behandlung sozialer Angststörungen ein Vermögen: Allein die britische Firma GlaxoSmithKline nimmt mit dem Verkauf von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern alljährlich an die drei Milliarden Dollar ein. Daneben sollen unzählige Selbsthilfe-Bücher mit Titeln wie Das Buch für Schüchterne, Frei von Angst und Schüchternheit oder Endlich mit Frauen flirten Schüchternen helfen, «Wege aus der Selbstblockade» zu finden, «[s]oziale Ängste [zu] besiegen» beziehungsweise «Schüchternheit und Angst vor dem Flirten mit einfachen Übungen erfolgreich selbst zu überwinden». Wer schüchtern ist, so scheint es, befindet sich in zwar unauffällig-zurückhaltender, aber überraschend großer Gesellschaft.
Doch trotz der Allgegenwart dieses Phänomens fühle ich mich als Schüchterner bisweilen wie ein Auslaufmodell. Vielleicht liegt es daran, dass wir Schüchternen naturgemäß leiser und bescheidener auftreten als unsere unschüchternen Zeitgenossen und daher im öffentlichen Diskurs weniger Aufmerksamkeit bekommen, als uns zahlenmäßig zustehen würde; auf jeden Fall lässt die zeitgenössische westliche Kultur der Schüchternheit immer weniger Raum und hat analog dazu für schüchterne Menschen immer weniger Verständnis.
Wer sich in unserer zunehmend flexibilisierten und kompetitiven Arbeitswelt durchsetzen will, der sollte sich möglichst offensiv selbst vermarkten, der sollte ständig neue Kontakte knüpfen, der tut auch nicht schlecht daran, den hinter ihm auf der Karriereleiter kletternden Kollegen hin und wieder gezielt auf die Finger zu treten − alles Dinge, die Schüchternen nicht gerade leichtfallen. Und auch jenseits der Arbeitswelt herrscht häufig das Recht des Selbstbewussten oder, aus schüchterner Sicht, des Schamlosen: Die Talkshows privater wie öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten befördern rund um die Uhr einen Kult der Selbstentblößung und des Seelenstriptease, der Zurückhaltung in privaten Dingen als einen im besten Fall liebenswert-verschrobenen, im schlechteren Fall depperten Anachronismus erscheinen lässt.
Wer es nicht ins Fernsehen schafft, der kann immerhin auf YouPorn sein Intimleben ins Internet stellen, später kann er dann auf YouTube der Weltöffentlichkeit die ersten Schritte seines dabei gezeugten Babys präsentieren oder die ersten Blockflötenversuche dessen älterer Geschwister. Soziale Netzwerke wie Facebook gestatten in nicht gekanntem Maß Einblick in die persönlichen Fotoalben und Korrespondenzen von Menschen, die man außerhalb solch virtueller Foren nur bedingt als Freunde bezeichnen würde. Und Mikroblogging-Anwendungen wie Twitter suggerieren, dass jedes noch so matte Gedankenwetterleuchten es wert sei, ans Firmament des Internets projiziert und einer möglichst großen Schar von Leserinnen und Lesern zugänglich gemacht zu werden. Die Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und Wolfgang Krischke sprechen angesichts dieser Entwicklung von einer «Casting-Gesellschaft», in der «eine Kultur permanenter Selbstdarstellung und der […] medienförmigen Inszenierung» herrscht; der amerikanische Autor und Jurist Tim Wu prägte entsprechend den Begriff der exposure culture.
Es gibt also einerseits angeblich immer mehr Schüchterne − andererseits leben wir in einer Gesellschaft, die der Schüchternheit immer weniger Raum lässt. Dieser scheinbare Widerspruch wirft natürlich eine Reihe von Fragen auf. Könnte es beispielsweise sein, dass unsere Entblößungsgesellschaft die Schüchternheit allererst hervorbringt: Ist Schüchternheit also eine Reaktion auf die Kultur der Selbstdarstellung und der Schnellfeuerkommunikation? Benötigt umgekehrt unsere selbstbewusste, zumindest in weiten Teilen unschüchterne Gesellschaft eine bestimmte Anzahl von Schüchternen als Folie, gegen die sie sich absetzen kann? Was wäre, wenn all die Psycho-Ratgeber und pharmazeutischen Lockermacher Erfolg hätten und es in absehbarer Zeit keine Schüchternen mehr gäbe? Ist eine Welt ohne Schüchternheit überhaupt vorstellbar? Wäre sie wünschenswert? Und, bevor wir uns solch vertrackten Problemstellungen widmen, eine ganz grundlegende Frage: Was ist überhaupt Schüchternheit?
Schüchtern betrachtet      Wenn ich Freunden gegenüber offenbare, dass ich schüchtern sei, ja dass ich sogar an einem Buch zu diesem Thema arbeite, fallen ihre Reaktionen sehr unterschiedlich aus. Manche fühlen sich, was nicht unbedingt schmeichelhaft ist, in ihrer Wahrnehmung meiner Persönlichkeit hundertprozentig bestätigt: Klar, du warst ja schon immer ein bisschen verklemmt, weißt du noch, damals, hohoho, wer sollte ein solches Buch schreiben, wenn nicht du? Andere wiederum fallen nach eigenem Bekunden aus allen Wolken, da sie mich anscheinend in all der Zeit, die wir uns kennen, niemals als schüchternen Menschen wahrgenommen haben: Was, du willst schüchtern sein? Du stehst doch ständig mit deiner komischen Band auf der Bühne oder machst Lesungen − wie passt das denn zusammen? Diese Reaktion ist deutlich schmeichelhafter, obwohl sie natürlich meine Selbstwahrnehmung als Schüchterner in Frage stellt beziehungsweise mich der Koketterie oder Lüge bezichtigt.
Aus diesem Spektrum unterschiedlicher Reaktionen lassen sich, was die Schüchternheit anbelangt, nun mehrere Schlüsse ziehen. Zum einen ist ‹Schüchternheit› offenbar ein sehr weit gefasster Begriff: Während für den einen erst der therapieerfahrene Sozialphobiker als wahrhaft schüchtern gilt, wertet der andere bereits das Lampenfieber, das vermutlich die Mehrzahl aller Menschen vor einem öffentlichen Vortrag befällt, oder ein zurückhaltendes Betragen beim anschließenden Büffet als Anzeichen der Schüchternheit. Der Textor, das große Synonymwörterbuch der deutschen Sprache, kennt als sinnverwandte Worte für ‹Schüchternheit› die sehr unterschiedlichen Begriffe der ‹Verlegenheit› und der ‹Scham›: Während der erste einen bloß vorübergehenden und vergleichsweise harmlosen Zustand des sozialen Unwohlseins beschreibt, der in der Regel leicht zu überspielen ist, schwingt beim zweiten eine fundamentale, geradezu biblische Dimension von Sünde und Schuld mit: Nachdem Adam und Eva gegen das göttliche Nahrungstabu verstoßen hatten, erkannten sie ihre Nacktheit und schämten sich ihrer. Mit der Erkenntnis von Gut und Böse, ja mit dem Anfang der menschlichen Kultur, so legt diese Bedeutungsdimension des Wortes nahe, beginnt auch die Geschichte der Schüchternheit. Schüchternheit wäre mithin, zumindest in der jüdisch-christlich geprägten Welt, eine anthropologische Konstante.
Die Synonym-Funktion meines Computerprogramms empfiehlt, wenn ich das Wort ‹Schüchternheit› eingebe, die Ausdrücke ‹Scheu›, ‹Bammel›, ‹Bammels›, ‹Hemmung›, ‹Befangenheit›, ‹Scham›, ‹Bescheidenheit› und ‹Feigheit› als mögliche Alternativen − eine Vielzahl von Begriffen, die teils juristisch-wertneutral anmuten (Befangenheit), teils positiv besetzt sind (Bescheidenheit), in der Mehrzahl aber klar negativ konnotiert sind (Bammel, Hemmung, Feigheit). Offenbar hat der Begriff Schüchternheit einen ganzen Schwarm sinnverwandter Wörter in seinem Orbit, die ihn nicht nur mehr oder weniger eng umkreisen, sondern die auch semantisch miteinander kollidieren.
Zum Zweiten äußert sich Schüchternheit, ganz gleich ob sie nun positiv oder negativ besetzt ist, nicht in allen Situationen gleichermaßen: Der Angstforscher Borwin Bandelow von der Universität Göttingen definiert sie als «unbegründete oder übertriebene Angst vor Begegnungen mit anderen Menschen»; der amerikanische Psychologe Philip G. Zimbardo, der Begründer der sogenannten Shyness Clinic an der Universität von Stanford, präzisiert sie als «Angst vor Menschen, die aus irgendwelchen Gründen als emotionale Bedrohung empfunden werden: Fremde, weil man sie nicht kennt und nicht einschätzen kann; Autoritätspersonen, weil sie Macht ausüben; Angehörige des anderen Geschlechts, weil man mit ihnen intime Begegnungen haben könnte». Eine attraktive weibliche Vorgesetzte, die neu in die Firma kommt, dürfte demzufolge für einen schüchternen heterosexuellen Mann das größte anzunehmende Horrorszenario darstellen.
Da Freunde nun per Definition keine Fremden sind, da sie idealerweise keine Macht über ihre Freunde ausüben, und da die Möglich- oder Unmöglichkeit einer sexuellen Beziehung sich in der Regel in der Frühphase einer Freundschaft ausgemendelt hat, ist es tatsächlich gut möglich, dass manche meiner Freunde mich nie als schüchternen Menschen erlebt haben. Zumal ich vorwiegend Menschen zu meinem Freundeskreis zähle, die ebenfalls eher zurückhaltend veranlagt sind und bei denen die Gefahr, dass sie mich zum Tanzen auf einem Biertisch, zum Anquatschen einer wildfremden Frau oder zum öffentlichen Karaokesingen überreden wollen, sowieso gering ist. Wenn ich mich wider Erwarten doch auf einer Karaokebühne wiederfinde, was selten genug geschieht, entscheide ich mich natürlich immer für britischen Shoegazer-Pop, bei dem man schon des Namens wegen den Blick auf die eigenen Fußspitzen gerichtet halten muss.
Mit anderen Worten und auch wenn es paradox klingen mag: Schüchternheit ist zwar eine durchaus hartnäckige Charaktereigenschaft, die sich, anders als die vorübergehende Verlegenheit, nicht so einfach überspielen oder abschütteln lässt − sie zeigt sich aber nicht immer. Wie die von ihr betroffenen Menschen hält sich die Schüchternheit gerne bedeckt. Auch die Schüchternheit ist schüchtern.
Zum Dritten und Letzten handelt es sich, das dürfte aus dem Vorangegangenen deutlich geworden sein, bei der Schüchternheit um eine äußerst subjektive Kategorie. Psychologisch gesprochen: Schüchternheit hat nicht nur eine somatische und eine behaviorale, sondern auch eine kognitive Dimension; sie äußert sich also nicht nur in objektiven körperlichen Symptomen oder bestimmten Verhaltensweisen, sondern ist auch ein Produkt der je individuellen Wahrnehmung.
Wer sich selbst als schüchtern erlebt, dürfte kaum von seinen Freunden, oder auch von seinem Therapeuten, durch Argumente davon zu überzeugen sein, dass er in Wirklichkeit über ein gewaltiges Selbstbewusstsein verfügt. Wer umgekehrt von seiner Umgebung als schüchtern oder verklemmt eingestuft wird − eine gängige Kurzformel unter prä-, inter- und postpubertären Männern dafür lautet, dieser oder jener sei ‹schwul› −, der wird meist große Mühe haben, eine solche Zuschreibung durch Worte oder Taten zu widerlegen; zumal die Bescheinigung, man sei schüchtern, verklemmt, schwul zumindest in einem bestimmten Alter nicht gerade zu Höhenflügen in selbstbewusstem Verhalten anregt.
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen von mir mit vierzehn Jahren unternommenen, leider wenig erfolgreichen Versuch, meine männlichen Mitkonfirmanden von der tief in mir schlummernden Locker- und Verwegenheit zu überzeugen, indem ich während einer Wochenendfreizeit versuchte, mit einer Leiter den Balkon der Mädchenetage zu erklimmen. Kaum dass ich die oberste Sprosse erreicht hatte, zogen die anderen Jungs die Leiter unter mir weg, so dass ich auf äußerst unmännliche Weise am Rand des Geländers zu Baumeln kam und nur durch mitleidig zupackende Mädchenhände vor dem Sturz in die Tiefe bewahrt werden konnte. Ich kann nicht behaupten, dass diese Vorführung mich zu weiteren Verwegenheitsbeweisen inspiriert oder die vorherrschende Meinung über meine sozialen Defizite sonderlich verbessert hätte. Den Spitznamen ‹Schildkröte›, der mir aufgrund meines zurückgezogenen Wesens zu Beginn des Konfirmandenunterrichts zugeteilt worden war, wurde ich jedenfalls, soweit ich mich erinnere, bis zur Konfirmation nicht mehr los.
Auch wenn der Begriff der Schüchternheit also an den Rändern reichlich ausgefranst ist, verfügt er doch über einen stabilen semantischen Kern: Wer schüchtern ist, hat vor allem Angst. Angst vor der Aggression seiner Mitmenschen; Angst, dass er sich in einer sozialen Rolle wiederfinden könnte, die er nicht auszufüllen vermag; Angst, dass er der plötzlichen Missbilligung, dem unverständigen Kopfschütteln, dem spöttischen Gelächter einer ihm kritisch gesinnten Umwelt ausgesetzt sein könnte, die, im Gegensatz zum Schüchternen, mit den in der jeweiligen Situation gefragten sozialen Codes innig vertraut ist. Zumindest ist die Neigung, sich vor solchen Situationen zu fürchten, bei Schüchternen besonders ausgeprägt: Schüchternheit, schrieb schon Immanuel Kant, ist «eine habituelle Beschaffenheit, leicht in Furcht zu geraten».
Diese Furcht bedarf dabei nicht unbedingt eines konkreten Anlasses, sie benötigt, mit dem Philosophen Martin Heidegger gesprochen, kein «Wovor», sondern ist eher eine Disposition − das, was Heidegger als das «Fürchten selbst» bezeichnet: «Nicht wird etwa zunächst ein zukünftiges Übel […] festgestellt und dann gefürchtet. […] Das Fürchten […] hat die Welt schon daraufhin erschlossen, daß aus ihr so etwas wie Furchtbares nahen kann.» In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Schüchternheit auch vom Gefühl der Peinlichkeit oder der Scham, etwas Falsches getan zu haben: Während Letztere in der Regel eine zeitlich begrenzte Emotion darstellt, die schnell wieder verfliegen kann, handelt es sich bei der Schüchternheit um einen dauerhaften Wesenszug, um eine anhaltende Furcht vor Beschämung. Das Wort ‹vor› ist dabei durchaus im temporalen Sinn zu verstehen: Während das Gefühl des Sich-Schämens stets als Reaktion auf eine vorangegangene Situation folgt, geht die Schüchternheit dieser Situation in der Regel voraus. Sie ist also gewissermaßen proaktiv oder besser ‹propassiv›, da sie den Betroffenen gerade von Handlungen abhält, die zur Beschämung führen könnten. Und: Während das akute Scham- oder Peinlichkeitsgefühl sich vorwiegend auf die Tat, den Fauxpas, den begangenen Regelverstoß bezieht, betrifft die Schüchternheit die ganze Person. Wer sich schämt, etwas Unpassendes oder Verwerfliches getan zu haben, kann seine Tat wenn nicht ungeschehen, so doch immerhin ‹wiedergutmachen› − der Schüchterne hingegen müsste sein gesamtes Wesen ändern, um seine Schüchternheit loszuwerden. Er fühlt sich von Grund auf defizitär und verletzlich.
Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass unser Ausdruck ‹Schüchternheit› sprachgeschichtlich eng mit den Begriffen der ‹Scheu› und des ‹Scheuchens› verwandt ist: Ursprünglich bezeichnete das Wort die Furcht, Beutetiere vor Gefahr oder der latenten Bedrohung durch eine ihnen feindselig gesonnene Umwelt empfinden. Wer schüchtern ist, fühlt sich dieser Bedeutung zufolge wie ein aufgescheuchtes Reh auf einer Waldlichtung: exponiert, beobachtet, verletzlich. Er steckt voller Furcht, dass hinter jedem Baum ein potentieller Angreifer lauern könnte, und versucht daher, sich nach Möglichkeit ins Unterholz zurückzuziehen, wo er den Blicken seiner Fressfeinde entzogen ist. Das vielleicht einprägsamste literarische Beispiel für einen solchen chronisch Furchtsamen ist der halb tierische, halb menschliche Protagonist aus Franz Kafkas Erzählung «Der Bau», der sich nach Maulwurfsart in einem unterirdischen Höhlensystem verscharrt hat und dort, fernab von anderen Wesen, mit nichts als der beständigen Sorge um seine Bloßstellung befasst ist: «Gehe ich nur in der Richtung zum Ausgang, […] glaube ich schon in die Atmosphäre einer großen Gefahr zu geraten, mir ist manchmal, als verdünne sich mein Fell, als könnte ich bald mit bloßem kahlem Fleisch dastehen und in diesem Augenblick vom Geheul meiner Feinde begrüßt werden.»
Erst seit Ende des 18. Jahrhunderts fand der Begriff Schüchternheit auch in jenem Sinne Verwendung, in dem er uns heute geläufig ist: also zur Beschreibung einer dauerhaften menschlichen Charaktereigenschaft, die sich durch «zaghafte unsicherheit, blöde befangenheit, furcht vor miszerfolg, miszachtung, miszdeutung» äußert, wie Jacob und Wilhelm Grimm im Deutschen Wörterbuch schreiben. In seinem 1797 erschienenen Versepos Hermann und Dorothea etwa ließ Johann Wolfgang von Goethe den Vater des Titelhelden über seinen sonst wohlgeratenen, leider aber etwas verklemmten Sohn klagen:
Aber ungern seh ich den Jüngling, der immer so tätig
Mir in dem Hause sich regt, nach außen langsam und schüchtern.
Wenig findet er Lust sich unter Leuten zu zeigen;
Ja, er vermeidet sogar der jungen Mädchen Gesellschaft,
Und den fröhlichen Tanz, den alle Jugend begehret.
Der altertümlichen Sprache und etwas verqueren Wortstellung zum Trotz lesen sich diese fünf Verse bereits wie eine durch und durch moderne Definition pubertärer Schüchternheit: Wer schüchtern ist, der scheut die Gesellschaft anderer Menschen, und nicht zuletzt den erotisch aufgeladenen Kontakt mit dem anderen Geschlecht.
Dennoch war der Begriff der Schüchternheit damals nicht notwendigerweise negativ konnotiert: Goethes Zeitgenosse Heinrich Christian Boie etwa galt die Schüchternheit noch als überaus wünschenswertes Attribut. So empfahl der Dichter in seinen idyllischen «Schäferlehren» einem männlichen Werber, dass dieser bei der Brautschau gerade den schüchternen Damen seine besondere Aufmerksamkeit schenken möge:
Seelenwort sey ihre Rede;
Schüchtern blicke sie, nicht spröde,
Nicht mit falscher Scham um sich,
Und ihr Herz erkenne dich!
Die Schüchternheit wird hier interessanterweise sowohl in Gegensatz zur kaltschultrigen ‹Sprödigkeit› als auch zur schlangenhaften ‹falschen Scham› (hinter der sich in Wahrheit ein liederlicher Charakter verbirgt) gesetzt, markiert also die goldene Mitte zwischen sozialer Inkompetenz und übergroßer Kenntnis der gesellschaftlichen Codes und Maskeraden. Sie erscheint als Signum der Authentizität und Ehrlichkeit, als eine Eigenschaft, die mit dem tief aus dem Innersten entspringenden «Seelenwort» auf einer Stufe steht. Tatsächlich galt die Schüchternheit, wie wir sehen werden, gerade im Zeitalter des Sturm und Drang immer wieder als Anzeichen der Innerlichkeit, der Echtheit und der charakterlichen Tiefe.
Allerdings, und dies ist bedeutsam, ist das ideale Wesen, dem hier von Boie ein ach-so-schöner schüchterner Blick angedichtet wird, eine Frau: Da der Begriff der Schüchternheit stets die Abweichung von einer gesellschaftlichen Norm bezeichnet (wer schüchtern ist, verhält sich − oder hält sich für − sozial inkompetenter als der Durchschnitt), ist er auch mehr oder weniger klar gegendert. Nur wer eine Erwartungshaltung nicht erfüllt, wird als defizitär wahrgenommen; nur jemand, von dem man ein offensives, selbstbewusstes Auftreten erwartet, kann auch im negativen Sinn als schüchtern gelten. In einer patriarchal geprägten Gesellschaft, in der, gerade was Geschlechterbeziehungen anbelangt, dem Mann eine aktive Rolle zugesprochen wird, während die Frau das passive Objekt maskuliner Begierde darstellen soll, ist Schüchternheit daher vor allem ein männliches Problem.
Während der Goethesche Hermann sich nach dem Willen seines Vaters ruhig etwas selbstbewusster unter das paarungswillige Jungvolk mischen könnte, um eine Braut zu finden, steht die Schüchternheit dem geschlechtsreifen Weibchen aus Boies «Schäferlehren» allerbestens zu Gesicht. Der Mann darf, ja muss diesem traditionellen Rollenverständnis zufolge die Frau ansprechen, aufreißen, erobern − die Frau hingegen muss sich nur schüchtern zurücklehnen und umgarnen lassen. Bloß allzu