Schuldig ist, wen der Richter für schuldig hält! Aber ist das auch gerecht? - Renée Wum - E-Book

Schuldig ist, wen der Richter für schuldig hält! Aber ist das auch gerecht? E-Book

Renée Wum

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Beschreibung

Wie gerecht sind Polizei und Justiz? Diese Frage stellt sich Autorin Renée Wum in ihrem neuen Buch „Schuldig ist, wen der Richter für schuldig hält! Aber ist das auch gerecht??“. Persönlich muss sie erfahren, wie schwierig es ist, sich im Luxemburger Dickicht von Polizei und Gerichten durchzusetzen, zwischen Rechtsanwälten, Zeugen und Anklägern den Durchblick zu behalten und am Ende ein faires und gerechtes Urteil zu bekommen. Alles begann mit ihrem Sohn Koby, der als Kind und Jugendlicher in Schule, Internat und Sportverein Missbrauch und Gewalt erlebte. Besonders perfide daran war, dass es sich um Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Handicap handelte. Seine Geschichte erzählt Renée Wum in ihrem ersten Buch „Mein Gang durch die Hölle“. Gerechtigkeit erfährt ihr Sohn nicht. Damit nicht genug, nimmt das Schicksal erneut Anlauf und auch sie selbst gerät in die Mühlen von Polizei und Justiz. Kobys Erlebnisse haben sie zu einer gemeinnützigen Institution geführt, die Opfern von Gewalt hilft, doch dort scheint einiges nicht zu stimmen. Nach drei Jahren ehrenamtlicher Tätigkeit kommt es schließlich zu einem Eklat zwischen ihr und der Leitung. Sie muss die Institution verlassen und es beginnt eine zermürbende Phase der Beschuldigungen, Anklagen und Vorladungen bei der Polizei. Wieder und wieder gibt es Vorwürfe gegen sie, was immer sie gesagt und getan hat, wird ihr im Munde umgedreht. Niemand scheint auf ihrer Seite zu sein. Renée Wum wehrt sich nach Kräften und sucht zwischen Polizei und Gerichtssaal nach Gerechtigkeit. Mehr und mehr liegen ihre Nerven blank. Aufgeben gilt für sie trotzdem nicht, bis zum Schluss glaubt sie an ein gerechtes Urteil. Doch am Ende siegt das System der Täter. Was auf diesem Weg alles geschah, erzählt sie in ihrem vorliegenden dritten Buch „Schuldig ist, wen der Richter für schuldig hält! Aber ist das auch gerecht?“. Eine gute Frage – und eine weitere wahre Geschichte von Renée Wum.

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Die Handlung dieses Buches beruht auf einer wahren Geschichte. Alle darin vorkommenden Personen, Orte und Institutionen sind verfremdet; eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und tatsächlich lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Inhalt

Vorwort

Das Versagen der Behörden

Hilfsorganisationen

Die Vereinigung

Uneinigkeit zwischen dem Präsidenten und der Vizepräsidentin

Ausschluss aus dem Verwaltungsausschuss

Meine letzte Generalversammlung

Eine »Querulantin« wurde ausgeschlossen

Zwei Störenfriede wurden fallen gelassen

Das Polizeirevier im Osten des Landes

Eine Beschwerde und eine Anzeige

Verfolgungen und die Polizei unternahm nichts

Noch zwei Polizeireviere

Missbrauch im Einkaufszentrum

Meine Schreiben an den Präsidenten

Mein Termin bei der Kripo

Maggy, meine beste Freundin

Die drei unzertrennlichen Freundinnen

Der Keller

Eine heimtückische Unterstellung

Jemand aus der Organisation informierte die Täter

Im Zweifel gegen das Opfer

Das Einschreiben

Termin bei der Untersuchungsrichterin

Mein erstes Buch: »MEIN GANG DURCH DIE HÖLLE«

Maggy und ihr Geliebter

Einsicht in die Akte

Das Polizeirevier im Zentrum des Landes

Liebesdramen

Mit dem Strom schwimmen nur tote Fische

Die komplette Akte

Das Treffen mit der Cousine

Der damalige Vizepräsident

Das Justizgebäude

Erster Tag meines Gerichtsprozesses

Zweiter Tag meines Gerichtsprozesses

Die Plädoyers

Das Urteil

Eine neue Freundin

Der Berufungsprozess

Schuldig ist, wen der Richter für schuldig hält! Aber ist das auch gerecht?

Die Schuldigen wurden nicht vor Gericht gestellt

Die Bewährungshelferin vom Staat

Termin bei der Abteilung »Jugendschutz« bei der Kripo

Recht und Gerechtigkeit

Die Großloge der Freimaurer in Luxemburg

Über die Autorin

Von der Autorin bereits erschienen

DANK

Hüte dich vor Menschen, die

ihre eigenen Lügen für die

absolute Wahrheit halten. Überführst du sie

der Lüge, drehen sie dir das Wort

noch im Mund um!

Die Wahrheit ist eine unzerstörbare Pflanze.

Man kann sie ruhig unter einem Felsen vergraben,

sie stößt trotzdem durch, wenn es an der Zeit ist.

Vorwort

Die Menschen, die vor einen Richter oder Untersuchungsrichter treten, erwarten einen höflichen und respektvollen Umgangston. Ein Gericht und seine Richter müssen unvoreingenommen sein, dabei objektiv und stets neutral. Aber sind sie das? Es ist wohl eher ein frommer Wunsch, denn vor dem Gesetz sind im Ländchen längst nicht alle gleich. Der Bericht eines ehemaligen Generalstaatsanwalts sowie der eines Staatsrates bescheinigen Luxemburgs Justiz ein hohes Versagen. Da offensichtlich auch jegliche Kontrollinstanzen versagen, macht Luxemburgs Justiz einfach, was sie will. Dabei verletzt sie nicht nur Menschenrechte, europäische und nationale Gesetze, sondern auch das Gebot der Neutralität. Eine renommierte deutsche Zeitung wirft Luxemburg einen gravierenden Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vor, weil Luxemburgs Richter und Staatsanwälte gegen das Prinzip der Öffentlichkeit in Gerichtsverfahren verstoßen. Für den Normalbürger ist es sehr bedenklich, dass er in Begleitung eines Rechtsanwalts zur Polizei gehen muss, um überhaupt in einem freundlichen Umgangston behandelt und nicht unter Druck gesetzt zu werden.

Ich schätze mich glücklich, nicht in diese Organisation gepasst zu haben, von der ich heute weiß, dass sie von Verbrechern geführt wird. Und die Außenwelt weiß nichts davon, schon gar nicht ihre Opfer. Ich würde mich nie mehr in meinem Leben an einen Tisch setzen mit einem mutmaßlichen Pädophilen und schon gar nicht mit einer Führungskraft, die diesen Mann deckt und viele Frauen zu Sex genötigt hat. Als ich noch nichts von den Machenschaften dieser beiden Männer wusste, tranken wir regelmäßig zusammen Kaffee im Sitz der Organisation. Ich wage zu behaupten, dass es ein Skandal ist, dass es zwei Verbrecher an der Spitze dieser Organisation gibt. Von der legalen Gerichtsbarkeit werden sie als gesund angesehen, in meinen Augen sind sie Soziopathen. Und auch die großen Menschenmassen fallen leichter einer großen Lüge zum Opfer als einer kleinen. Doch ich habe einen Soziopathen kennengelernt und ich habe ihn entlarvt. Respekt und Anerkennung wäre das Mindeste gewesen, das ich als Ehrenamtliche verdient hätte. Ich nenne den hier dargestellten Fall eine gemeine Intrige. Viele Menschen, die ich kenne, sagen, dass er aufrüttelnd und erschütternd ist. Ein Vergeltungsakt und eine infame Abrechnung mit mir für meine drei Jahre unentgeltliche Arbeit in dieser Organisation. Die Kämpfe des Lebens werden nicht von den Stärkeren gewonnen, auch nicht von den schnelleren, sondern nur von denen, die nicht aufgeben.

War es Schlamperei oder Absicht, dass damals nie nach Opfern gesucht wurde, weder im Holzchalet noch im Wald, im Schlachthof und an vielen anderen Plätzen, von denen die Kripo in Deutschland und Luxemburg wusste? Hatte die Justiz Angst, Vermisste zu finden, nach denen niemand gesucht hatte? Wer weiß, auf jeden Fall hat man mit dem Finger auf mich gezeigt. War es Schlamperei oder Absicht, dass damals keiner der Sexualverbrecher nicht einmal den Weg zu einem Untersuchungsrichter antreten musste? War es Schlamperei oder Absicht, dass es einen Gerichtsprozess für mich gab? War es Schlamperei oder Absicht, dass mein Gerichtsprozess so endete? War es Schlamperei oder Absicht, dass ich sieben Vorladungen von Polizei und Kripo bekam?

Alles begann mit meinem Sohn Koby, der als Kind und Jugendlicher in Schule, Internat und Sportverein Gewalt und Missbrauch erlebte. Es ist ein roter Faden, der sich durch diesen sowie durch den Fall meines Sohnes Koby zieht. Zwei Methoden wurden angewandt: die Behauptung der Unglaubwürdigkeit und Druck.

Warum schützen die Gesetze Sexualverbrecher, insbesondere Pädophile, immer noch und immer wieder? Zahlen müssen auf den Tisch! Wie steht es um solche miesen Verbrechen in Luxemburg? Wie viele Kinderschänder sind verurteilt? Und wie viele Ermittlungsverfahren gab es bis jetzt? Das Problem bei Kindesmissbrauch besteht darin, dass es immer noch viel zu oft ein Tabu ist. Über Taten dieser Art wird gern geschwiegen. Warum müssen Opfer Beweise erbringen? Warum gibt es Verjährungsfristen bei Sexualdelikten? Bei Mord gibt es keine Verjährung, doch bei Seelenmord schon, dabei leiden die Opfer ein Leben lang.

Vor der Vorsitzenden Richterin durfte ich nicht einen einzigen Satz zu Ende sprechen. Da sie mich nicht zu Worte kommen ließ, schrieb ich dieses Buch. Mein Urteil stand fest, ehe ich den Gerichtssaal betreten hatte.

Das Versagen der Behörden

Um dieses Buch zu schreiben, habe ich mich an viele Plätze begeben, dorthin, wo so vieles passiert ist, angefangen bei der Schule und dem Internat. Das Ferienhaus und ein Pfadfinderchalet bleiben geheimnisvoll. Keine Spuren sind mehr vorzufinden, alle sind sie weggefegt. Weggezaubert. Man hatte hier nicht nach Vermissten gesucht, es waren keine gemeldet. Die Staatsanwaltschaft hatte kein Interesse daran, zum richtigen Moment eine Hausdurchsuchung durchzuführen. Wäre dies gemacht worden, wäre aber so manches Opfer gefunden worden. Aber es waren junge Menschen mit psychischem Handicap, die alle störten. Niemand sollte sie jemals wieder vorfinden. Manche waren von ihren Familien alleingelassen und vollkommen vergessen worden, auch von ihrem weiteren Umfeld. Es waren perfekt inszenierte und organisierte Verbrechen.

Es gab Veränderungen an vielen Plätzen, vergitterte Tore wurden angebracht, das Schlachthaus mit den Kühlräumen, wo die jungen Menschen leiden mussten, ist nicht mehr in Betrieb. Über diesen unterirdischen Bau im Wald wurden so viele Steine gelegt, dass es unmöglich wurde, ohne Bagger alles wegzukriegen. Es bedürfte vieler Hände, um das ganze Gesteine beiseitezuschaffen. Und eine Armee wäre nötig gewesen, um in den Unterbau zu gelangen. In dem kleinen verlassenen Haus, unter dem ein großer stählerner Behälter liegt, wurde der Eingang nach unten zubetoniert. Doch vor diesem Eingang lag vor einer Woche noch eine schmutzige Puppe ohne Augen und mit einem abgerissenen Arm. Dass man diese vielen Stellen so veränderte, die wichtigsten Spuren vernichtete, muss doch einen Grund haben. Vielleicht haben die Kriminellen Angst bekommen und ihre Gefangenen anderswo untergebracht. Vielleicht halten sie dort die armen Seelen aber noch immer fest. Oder es gibt sie heute nicht mehr, diese jungen Menschen, nach denen damals schon niemand suchte.

Obschon die Polizei mehrmals hierüber informiert wurde, wurde nichts unternommen. Die vielen Hinweise wurden einfach nicht ernst genommen und nicht genutzt. Das Konzept der Befragungen war beunruhigend, eine Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Polizeidienststellen und der Staatsanwaltschaft gab es nicht. Es gab auch keine gerichtlichen Nachspiele für die Täter aus Schule und Internat, auch nicht für diejenigen, die an dunklen Plätzen und in unterirdischen Verstecken die Menschen einsperrten. Auch nicht für die Täter, die meinen Sohn Koby an der Bushaltestelle zusammenschlugen. Trotzdem ein ärztliches Attest vorlag, wurde vonseiten der Polizei nichts unternommen. Die Täter in dem Sportclub, in dem Koby eine grauenhafte Zeit erfuhr, leben noch immer auf freiem Fuß. Die Täter, die meinen Sohn im Supermarkt überfielen, auch der Sportdirektor des international bekannten Sportclubs für Menschen mit Behinderungen, sind ebenfalls alle noch auf freiem Fuß. Koby wurde kläglich im Stich gelassen, alle, die sich hätten kümmern sollen, haben kläglich versagt. Es war das komplette Versagen einer Schule, eines Internats, der Behörden, der Allgemeinheit. Dabei gibt es Behörden, deren Beruf es ist, Menschen zu schützen, wie die Polizei. Und diese Organisation, die von sich sagt, Hilfe für Opfer von Verbrechen anzubieten. Doch auch dort hat Koby nicht hingepasst. Warum? Weil er störte? Und schlussendlich gibt es die Justizbehörden, aber auch sie haben versagt. Das trieb mich so zu diesem öffentlichen Aufschrei in Form eines Buches. Nichts war unternommen worden, Polizei und Justiz hatten sich nicht für Kobys Schicksal interessiert. Ebenso wenig, wie sie sich für das Schicksal junger Menschen mit physischem und psychischem Handicap interessieren, die in Arbeitsstätten arbeiten, wo niemand einen Einblick hat. Bedenklich bleibt auch, dass Menschen mit Handicap noch immer Sport treiben in diesen zwei Sportclubs, in denen Koby missbraucht wurde. Sie können nicht reden oder man lässt sie nicht reden, und vor Gericht dürfen sie nicht sprechen, denn sie stehen unter Vormundschaft. Doch Koby redete und hörte nicht mehr auf. Es sind vielleicht andere Opfer heute, doch Menschen mit Handicap wachsen nach, die Täter bleiben dieselben, es kommen immer wieder welche dazu. Aber man zeigte mit dem Finger auf die Ankläger.

Als Koby endlich nach und nach über seine erlittenen Qualen berichtete, bekam ich in kurzem Abstand fünf Vorladungen bei der Polizei. Alle diese Inszenierungen waren organisiert vonseiten der Täter, bis schlussendlich eine Anzeige ein beschämendes Urteil erbrachte. Wie hätte ich ahnen können, dass sich die Organisation »Hilfe für Opfer von Verbrechen« mit dem vermeintlichen Sportclub zusammentat, um gegen mich anzutreten, und dass die Justiz nichts an diese Organisationen ranlässt? Mein Misstrauen gegenüber Heuchelei, bigotter Doppelmoral und übertriebener Loyalitäten begleitet mich seitdem täglich. Damit niemand mehr beschmutzt wird mit Anschuldigungen, sollten die Ankläger zum Schweigen gebracht werden. Wenn sich schon kein Opfer umbrachte und es auch zu keiner Unterbringung in der Psychiatrie kam, so sollten sie wenigstens Angst bekommen und nicht mehr reden. So die Hoffnung der Täter.

Die Namen der Betroffenen, die mir ihre Erfahrungen anvertrauten, die sie in dieser Organisation gemacht haben, die mir offen und ehrlich begegneten, habe ich verändert. Ich werde ihr Vertrauen nicht missbrauchen, indem ich ihre echten Namen verrate. In der Hoffnung, dass mein seit Jahren andauernder Albtraum endlich ein Ende findet und ich zur Ruhe komme, habe ich dieses Buch geschrieben – und beim Schreiben kann kein Richter mich unterbrechen. Niemand im Gerichtssaal wollte aus meinem Mund die unbequemen Wahrheiten über eine Vereinigung hören, die behauptete, da zu sein für »alle« Opfer von Kriminalität und Verbrechen. Bis heute empfinde ich starke Gefühle von Ohnmacht, Verzweiflung, Angst und Traurigkeit. Der Schock sitzt noch immer tief und wird wohl so bald nicht vergehen.

Hilfsorganisationen

In Luxemburg gibt es eine lange Liste von Beratungsstellen. Es gibt die offiziellen Behörden, die privaten und die individuellen Beratungsstellen für Kinder, für Erwachsene und für Senioren in allen Lebenssituationen, soziale Hilfseinrichtungen für Alkoholiker und Medikamenten- und Drogenabhängige, Menschen ohne Einkommen und ohne festen Wohnsitz, psychotherapeutische Dienste für Kinder und Jugendliche, für Frauen in Not, Informations- und Präventionsstellen für Selbstmordgefährdete, Erziehungs- und Familienberatungsstellen, Beratungsdienste für Schulfragen, Sexualität und häusliche Gewalt, soziale Assistenzdienste für alle und ausnahmslos jeden. Zusätzlich gibt es in allen Städten Luxemburgs die medizinischen psychosozialen Beratungsbüros, die jeder Bürger des Landes unentgeltlich in Anspruch nehmen kann. Es gibt kaum ein Land in Europa, das im Verhältnis zur Einwohnerzahl so viele Beratungsstellen und Hilfsinstitutionen wie Luxemburg aufweist. Und so gibt es auch eine Liste von Beratungs- und Hilfestellen für Menschen, die Opfer von Verbrechen und Gewalt wurden. An eine solche Hilfsvereinigung hatte sich mein Sohn Koby gewandt. Sie versprach Beistand und Hilfe für Opfer und Familienangehörige. Auf der offiziellen Seite der Luxemburger Polizei war sie als ganz oben auf einer langen Liste zu finden. Lange Jahre hatte er das erlittene Trauma unterdrückt, doch er brach eines Tages zusammen und beschloss, um Gerechtigkeit zu kämpfen. Nachdem er seine letzte Hoffnung in diese Vereinigung gesteckt hatte und dann später von ihren Vertretern und ihrem Präsidenten höchstpersönlich gesagt bekam, dass er nicht in diese Vereinigung passen würde, erlitt er ein zusätzliches Trauma. Auf halbem Wege wurde er im Stich gelassen von dieser Organisation, als unglaubwürdig hingestellt, verspottet und erniedrigt. Er wurde ein zweites Mal Opfer von Menschen, von denen er sich Hilfe versprochen hatte. Dieses weitere Drama, mit dem er nie gerechnet hatte, ließ sein ganzes Vertrauen wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Als Opfer von Gewalt war er bei dieser Hilfsorganisation in Luxemburg vorstellig geworden. Kurze Zeit danach trat ich eine ehrenamtliche Tätigkeit als freiwillige Mitarbeiterin bei dieser Vereinigung an. Nur eine Handvoll Mitarbeiter waren dort tätig. Viele waren weggegangen, gerade waren zwei Personen zurückgekehrt, die schon einmal im Streit die Organisation verlassen hatten.

Dieses Buch enthält Einzelheiten von Kobys Leiden, von denen er sich bis heute nicht erholt hat. Die Frage, die Koby sich bis heute stellt, lautet: »Warum bin ich ausgerechnet zu dieser Vereinigung gegangen? Es gab doch eine Fülle anderer Hilfsorganisationen, das Resultat hätte niemals schlechter ausfallen können. Hat mein Schicksal es so schlecht mit mir gemeint?«

Die Vereinigung

Sie würden Menschen, die Opfer von Kriminalität und Gewalt geworden sind, helfen. Und auch deren Angehörige würden sie unterstützen mit ihrer gemeinnützigen Tätigkeit und ihren ehrenamtlichen Helfern. So stand und steht es noch in der Selbstbeschreibung der besagten Organisation.

Ich habe das geglaubt und wollte als Ehrenamtliche mitarbeiten. Ich wurde förmlich ins kalte Wasser geworfen, niemand stand mir zur Seite. Es galt, selbst herauszufinden, wie dies und jenes gemacht wird, wie etwas vor meiner Zeit gehandhabt wurde oder was am dringendsten war. Voller Tatendrang machte ich mich mit meiner neuen Aufgabe vertraut und gab mein Bestes, um allen Anforderungen gerecht zu werden. Ich konnte mir anhand der Ablagen ein vages Bild von manchen Arbeiten machen. So sah ich, wie sie in der Vergangenheit von anderen Freiwilligen erledigt worden waren. Es war eine Aufgabe, die ich im Dienste von hilfesuchenden Menschen mit größtem Verantwortungsbewusstsein und nach bestem Wissen und Gewissen ausführte. Einführungs- oder Ausbildungskurse wären sehr nützlich gewesen, wurden mir aber nicht angeboten. Früher hatte es wohl mal solche Kurse gegeben.

Wir waren nur eine Handvoll Ehrenamtlicher, Freiwillige standen hier nicht Schlange, um ihre Hilfe anzubieten. Es gab keine klare Aufteilung der Arbeiten und so wusste ich nicht, ob jeder von uns genaue Aufgaben hatte, die er erledigen musste, oder ob es jedem freigestellt war, daran zu arbeiten, was ihn gerade interessierte. Jede helfende Hand wurde gebraucht, so auch für kleine handwerkliche Tätigkeiten. Dazu kam, dass sich nicht alle Mitarbeiter freinehmen konnten für jeden Bereitschaftsdienst. Es gab auch manche, die noch berufstätig waren und nur einmal pro Woche kommen konnten und das jeweils erst am späten Nachmittag. Immer mal wieder kam ein Freiwilliger mit gutem Vorsatz vorbei und danach sahen wir ihn nicht wieder. So sah ich einige kommen und gehen und es waren wenige, die blieben.

Viele wertvolle, sensible und seelisch verwundete Menschen habe ich in dieser Zeit kennengelernt. Mit Einfühlungsvermögen bin ich auf diese Menschen, die Opfer von Kriminalität oder Gewalt geworden waren, eingegangen. Sie haben mir großes Vertrauen entgegengebracht. Ich war immer verschwiegen gegenüber meiner Umwelt, was die Namen der Betroffenen und alle Details ihrer Erlebnisse betraf. Und ich wurde dann schließlich zum Mitglied des Verwaltungsausschusses ernannt. Die Betreuung der Opfer lag mir sehr am Herzen. Eine weitere Aufgabe war die Begleitung zu Terminen bei Rechtsanwälten und Justizbehörde. Dreimal pro Woche war Bereitschaftsdienst im Sitz der Vereinigung, den ich oft alleine machte. Einmal kamen einige sehr junge Studentinnen einer Sekundarschule, die an einem Projekt teilnahmen, zur Vereinigung. Sie zeigten Interesse, indem sie sich nach dem Funktionieren der Organisation erkundigten. Zum Abschluss des Projekts sollten die Studentinnen eine Arbeit schreiben. Auch wollten diese fünf Studentinnen gern als Studentengruppe in der Vereinigung mitarbeiten. Das war eine Idee des Präsidenten gewesen, er wollte unbedingt junge Menschen für seine Organisation gewinnen. Ab und zu kam auch eine Studentin, die für ihr Studium im Ausland weilte, in die Vereinigung und half bei einigen Aufgaben. Doch das geschah sehr selten, denn sie war fast das ganze Jahr für ihr Studium im Ausland. Diese Studentin hatte sich dazu bereit erklärt, die neue Studentengruppe zu leiten. Doch die fünf sehr jungen Studentinnen tauchten nur zwei-, dreimal auf, dann erschienen sie gar nicht mehr – ohne Ankündigung und Begründung blieben sie einfach fort. So verlief diese neue Sache, wie viele anderen auch, im Sande.

Jenseits des Bereitschaftsdienstes – je drei Tage die Woche fünf Stunden lang im Büro der Organisation – wurde die Bereitschaft auf mein persönliches Telefon umgeleitet. So konnten Hilfesuchende rund um die Uhr und sieben Tage die Woche Kontakt aufnehmen. Manche Menschen wollten Ratschläge und Beratung, auch zu später Stunde. Wenn es sich um einen konkreten Fall in Sachen Gewalt oder Kriminalität handelte, wurde mit den Betroffenen ein nächstmöglicher Termin im Büro der Organisation ausgemacht. Termine mit Betroffenen dauerten oft stundenlang und die Sekretariatsarbeiten blieben liegen. So kam es auch vor, dass ich zu Hause fertig schrieb, was ich im Büro angefangen hatte. Und die Einkäufe fürs Büro erledigte ich auch noch zwischendurch. Die Kosten für die Instandhaltung der elektronischen Geräte sowie alle Ausgaben, die nötig waren für das Funktionieren dieser Vereinigung, waren dem Präsidenten zu hoch. Alles, was eingekauft werden musste, war ihm einfach zu teuer. Doch umsonst gab es damals schon nichts, so wie es heute noch der Fall ist.

So wuchs ich in die Aufgaben der Vereinigung rein und die Tätigkeiten gefielen mir. Ich wollte in der Zeit, die ich zur Verfügung hatte, das Beste geben, mithelfen und mitarbeiten, wo es nötig war. So investierte ich mehr oder weniger 20 Stunden pro Woche. Früher wurde auch mal eine Nikolausfeier mit einer Bescherung für Kindergruppen organisiert, doch während meiner Zeit fand keine solche Feier statt. Jedoch eine Weihnachtsfeier für Opfer von Gewalt und ihre Familienangehörigen fand Anfang Dezember in einer noblen Hotelanlage statt. Ein Weihnachtsmenü wurde ausgewählt und die Vorbereitungen für die Feier bedeuteten ganz schön viel Arbeit, allerdings war sie auch eine angenehme Abwechslung zum üblichen Papierkram. Der Festsaal wurde schon Monate vorher reserviert, am Tag der Feier wurden die Tische mit Weihnachtsschmuck dekoriert. Geschenke wurden eingekauft und unter den Weihnachtsbaum gelegt. An diesem Weihnachtsfest konnte ich gute Gespräche führen mit Menschen, die Opfer geworden waren. Alle Gäste waren geladen worden, um an diesem Abend an einem Festessen teilzunehmen und für kurze Zeit ihre schrecklichen Erlebnisse zu vergessen. Ich machte dann nach Absprache und mit Genehmigung aller immer mal wieder ein paar Fotos von dem Ereignis.

Die jährliche Generalversammlung, die in derselben Hotelanlage stattfand wie die Weihnachtsfeier, wurde Anfang des Jahres vorbereitet. Alle Mitglieder, die den jährlichen Beitrag leisteten, wurden schriftlich eingeladen, daran teilzunehmen. Das war ebenfalls eine Aufgabe, die viel Zeit in Anspruch nahm, und mehr Freiwillige wären mir sehr nützlich gewesen. Etwa zu diesem Zeitpunkt keimte in mir das Gefühl auf – und meine Gefühle täuschen mich nie –, dass mein stetiger Einsatz in dieser Vereinigung einigen Leuten nicht gefiel. Niemand sprach mich darauf an, doch dieses Gefühl ließ mich nicht mehr los. In der Schule war es auch schon immer so gewesen, wenn die Prüfungsaufgaben mit »sehr gut« benotet wurden, hatte man Neider, war es einmal danebengegangen, dann wurde man belächelt oder gar ausgelacht. Auf das Mobbing angesprochen, dem ich mich plötzlich ausgesetzt fühlte, bagatellisierte der Präsident mir gegenüber das Ganze und tat es als blödes Zeug ab. Als er dann gewisse Aufgaben, die ich eigentlich immer erledigte, der Studentin übertrug, die sich dreimal im Jahr sehen ließ, war ich darüber nicht erfreut. Doch man musste immer mit allem einverstanden sein, was er entschied, übrigens in der Regel ohne Rücksprache mit dem Team. Nachdem ich mir dann einmal erlaubt hatte, auf kleine Missstände innerhalb der Vereinigung hinzuweisen, behauptete er, ich sei gefährlich. Das habe ich damals nicht verstanden – wieso gefährlich? Weil ich ihm ins Gesicht gesagt hatte, dass im Nebenraum, in der Küche oder im Keller Entscheidungen über bevorstehende Aufgaben fielen und ich nicht darüber informiert würde? Was hatte ich verkehrt gemacht? Ich wollte, dass wir uns alle zusammensetzen und besprechen, wer was macht und wie die zukünftige Aufgabenverteilung aussieht. Doch der Präsident wollte keinen Dialog. Keine Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft oder Freundschaft kann funktionieren, wenn es keinen Dialog gibt. Die Entscheidungen traf er allein, ob nun jemand klar damit kam oder nicht. In letzter Minute meldete er sich ab und erschien nicht wie vorgesehen. Das durfte sich kein Freiwilliger erlauben, ohne dass er dafür getadelt wurde.

Je unsichtbarer das Mobbing war, umso stärker war er präsent. Weil wir uns nicht zusammensetzten, wälzte ich viele Möglichkeiten in meinem Kopf. Vielleicht dachten oder fürchteten auch die wenigen Freiwilligen, die wir waren, ich würde ihnen einen Teil ihrer Arbeit wegnehmen. Ich bekam nicht so richtig mit, was ein jeder tat, und ich riss mich auch nicht um alle Aufgaben. In Wirklichkeit wäre ich erleichtert gewesen, wenn mir jemand etwas abgenommen hätte.

Uneinigkeit zwischen dem Präsidenten und der Vizepräsidentin

Zur Vizepräsidentin war eine Frau ernannt worden, nachdem der damalige amtierende Vizepräsident entlassen worden war. Der alternde Mann mit grauen, zotteligen Haaren, der annähernd zehn Jahre lang Vizepräsident der Vereinigung gewesen war, war eines Tages während eines Rundgespräches mit den Anwesenden vom Präsidenten aufgefordert worden, die Vereinigung zu verlassen. Der Grund: Es bestand der Verdacht der Pädophilie, er lag allerdings schon einige Zeit zurück. Ob dieser Verdacht begründet war, wusste damals niemand. Die Schlüssel von der Eingangstür zum Sitz der Vereinigung musste er dalassen. Das war für mich ein regelrechter Schock gewesen und ich fragte mich, wie es möglich sein konnte, dass ein vermeintlich Pädophiler, also ein Sexualverbrecher, in einer solchen Vereinigung eine führende Stelle innehatte und so Kontakt hatte mit Opfern und auch Einblick in ihre Akten. Die Aufnahme jedes ehrenamtlichen Mitarbeiters geschah nur, nachdem der Betreffende einen rezenten Auszug aus seinem Strafregister vorgelegt hatte. Das hieß, der Auszug durfte keine gerichtlichen Strafen enthalten. Heute liegt die Frage nahe, ob dieser Mann über ein leeres und reines Strafregister verfügt hatte oder ein solches nie erfragt worden war.

In dieser Vereinigung gab es keine Transparenz und niemand hatte den Durchblick, auch der Präsident nicht. So verwahrte er besagte Auszüge aus dem Strafregister sämtlicher Mitarbeiter von damals bis heute in einem stets abgeschlossenen Schrank, zu dem er allein einen Schlüssel hatte. Ob er selbst jemals einen Auszug aus seinem eigenen Strafregister beigebracht hatte und wie dieser aussah, das muss ich mich heute fragen. Als Präsident stellte er die Regeln auf für alle, nur er selbst hielt keine Regeln ein und keiner hatte ihm Vorschriften zu machen, er hatte das Sagen.

Als der entlassene Vizepräsident damals seiner Wege gehen musste, war es auch die alleinige Entscheidung des Präsidenten gewesen. Der Mann ließ sein Büro mit allen seinen Habseligkeiten zurück. Eine Woche lang waren die Ehrenamtlichen damit beschäftigt, es auszuräumen, zu säubern und den verbliebenen Müll zu entsorgen. Ich habe ihn noch heute als einen Stadtstreicher in Erinnerung, da er stets ungepflegt war und nicht gerade vor Sauberkeit strotzte. Obwohl der Bereitschaftsdienst um 14. 00 Uhr begann, kam er immer erst nach 16. 00 Uhr, gerade dann, wenn Kaffee und Tee bereitstanden. Dafür blieb er abends bis tief in die Nacht hinein. Was er zu so später Stunde machte, wusste niemand. Auch nicht, ob er über Nacht zum Schlafen in diesem warmen Büro blieb, denn zu Hause erwartete ihn niemand. Auf jeden Fall stellte ich einmal fest, dass auf seinem Computer irgendwelche Pornoseiten angeklickt worden waren. Er hatte einen Privatkurs im Computerwesen belegt und gemeint, er könnte mir in dieser Sache noch etwas beibringen. Ich jedoch schätzte mich glücklich, wenn er den Computer mal nicht selbst bediente, dann hatte ich nämlich kein Problem, meine schon geleistete Arbeit korrekt auf dem Bildschirm abzurufen. Ab einem gewissen Moment speicherte ich meine Arbeit auf einer externen Diskette, die ich immer bei mir behielt, und verlor keine Zeit mehr mit dem Wiederherstellen von gelöschten Dateien. So konnte ich jegliche Diskussionen über Computerarbeiten umgehen und brauchte mich nicht mehr zu ärgern. Jeder von uns wusste außerdem, dass er sich abends spät auch in den Bars am Bahnhof aufhielt.

Die Frau, die die Funktion der Schatzmeisterin innehatte, wurde nach der Entlassung des mutmaßlich pädophilen Mannes auch die Vizepräsidentin. Sie erinnerte mich an die Sängerin Castiafiore aus der Comicreihe Tim und Struppi – vor allem wegen ihres voluminösen Busens und den farbigen weiten Röcken und Kleidern, die eher aussahen wie Zeltplanen, wo sie alles reinpacken und verstecken konnte. Hosen trug sie nie. Dass ich die Ähnlichkeit ihres Aussehens und ihrer grellfarbigen Kleider mit dieser Sängerin festgestellt hatte, behielt ich für mich, weil ich der Meinung war, das würde von den anderen Mitgliedern negativ aufgenommen werden. Sie war nie Sängerin gewesen, doch ich dachte immer an diese Sängerin aus dem Comic, wenn es mal wieder uneinig hin und her ging. Das half mir, heimlich über sie zu lächeln, und so gelang es mir, über dem Ganzen zu stehen. In ihren jungen Jahren musste sie schlanker und attraktiver gewesen sein, als so viele Frauen, wenn sie jung sind. Das hatte ich auf alten Fotos sehen können, auf die ich rein zufällig gestoßen war, als ich in einer Schublade nach etwas suchen musste. Sie hatte schon einmal der Vereinigung den Rücken gekehrt und sich eine ganze Zeit nicht mehr blicken lassen. Das war geschehen wegen regelmäßiger Streitereien zwischen dem Präsidenten und einigen ehrenamtlichen Mitarbeitern. Es soll auch mal eine Mitarbeiterin gegeben haben, die sich nicht mehr blicken ließ, weil sie sich mit der Vizepräsidentin nicht vertragen hatte. Wie auch immer, damals kam es, wie es kommen musste. Nach einem heftigen Streit hatte ein Ehemaliger alles hingeschmissen, der Präsident sollte seinen Sch… alleine machen. Das hatte zur Folge, dass die drei übrigen Mitarbeiter, die noch verblieben waren, auch nicht mehr aktiv sein wollten und nicht mehr wiederkamen. Denn das Mindeste, was ein Ehrenamtlicher verdiente, waren Vertrauen und Respekt, wenn es in dieser Vereinigung schon keine Anerkennung in irgendeiner Weise gab. Die Vizepräsidentin wollte dann damals nicht mehr Zeugin sein bei den andauernden Zankereien und ging einfach weg.

Nach zwei Jahren Abwesenheit war sie nun also wieder aufgetaucht und man war wieder zur Tagesordnung übergegangen. Der Präsident soll ganz früher mal ihr Idol gewesen sein. Sie war aus freien Stücken gegangen und auch wiedergekommen. Nun hatte sie wieder eine Aufgabe in ihrem eintönigen Privatleben und gehörte bei ihrer Rückkehr auch gleich wieder zum Inventar. Diese Geschichte wurde mir mal nebenbei im Vertrauen von einer anderen Ehrenamtlichen erzählt, als diese die Schnauze vollhatte. Alle ehemaligen Freiwilligen aus früheren Zeiten hätte ich gerne mal kennengelernt und aus ihrem Munde gehört, was sie so zu berichten hatten. Ein Erfahrungsaustausch mit diesen Ehemaligen wäre für mich von Nutzen gewesen für die Tätigkeiten, die ich übernommen hatte. Es wunderte mich auch, dass nie auch nur ein Einziger dieser ehemaligen Ehrenamtlichen auf einen Schwatz vorbeikam, selbst per Telefon hatte sich keiner von ihnen je gemeldet. Der Präsident schwieg über die Vergangenheit. Und ich brachte nicht die Rede darauf, sondern bildete mir einfach allein meine eigene Meinung über die Zeit vor meiner Zeit.

Der Präsident hatte kein Interesse an Computern und Elektronik. Er erhoffte sich das Know-how im Umgang mit dieser Technik von seinen Mitarbeitern, doch Wunder konnten diese auch nicht vollbringen. Wer nichts macht, macht auch nichts verkehrt, so war es auch damals. Und Fehler durfte sich niemand erlauben, denn Fehler wurden hier nicht verziehen. Wenn denen, die sich des Computers bedienten, trotzdem mal ein Lapsus unterlief, war sofort jeder schuld, der am Computer gesessen hatte. Und da der Präsident nichts von Computern verstand, konnte er auch nicht feststellen, wem denn nun ein Fehler unterlaufen war. Hinzu kam, dass er all das, was auf Computern niedergeschrieben wurde, nicht kontrollieren konnte, weil er strikt einen Bogen um Computer machte. Doch es war definitiv eine andere Zeit angebrochen, Computer waren aus den Büros nicht mehr wegzudenken. Ich scheute keine Mühe, um ihn immer wieder mit Basisinformationen vertraut zu machen. Doch das alte arabische Sprichwort, dass man den Esel zum Wasser bringen kann, er aber selbst trinken muss, war hier sehr passend.

Der Präsident und die Vizepräsidentin waren sich eigentlich nie einig, schon gar nicht, wenn es um wichtige Entscheidungen ging. Selten war sie mit ihm einverstanden und zog dann so eine Fresse, das jeder gleich merkte, dass wieder etwas schiefgegangen war. Doch darüber sprachen die beiden nie, sie motzten sich nur gegenseitig an. Ich übersah einfach die beleidigten Gesichter und setzte meine Kraft und Energie in meine Tätigkeiten. Rechthaberisch trat sie schon immer auf, auch damals vor ihrem Weggang. Da war sie auch die Schatzmeisterin gewesen und wurde wieder die Schatzmeisterin, als sie dann zurückkam. Doch seit sie Vizepräsidentin geworden war, war es mit ihr nicht mehr auszuhalten. Sie war der Meinung, wenn man so lange schon aktiv war bei dieser Vereinigung wie sie, dann könnte ihr niemand das Wasser reichen. Eigentlich wollten alle beide immer recht haben, sie, Vizepräsidentin, und der Präsident.

Alles, was in irgendeiner Weise mit Elektronik zu tun hatte, hasste auch sie. Dies galt ganz besonders auch für Computer. Diese heimtückischen Geräte, die Seiten ausspuckten, mit denen sie nicht einverstanden war. Sie traute Computern nicht und war überzeugt davon, diese würden nicht schreiben, was sie wollte. Spuckte der Drucker dann die geschriebenen Seiten aus, war sie selten einverstanden mit dem, was sie sah. Sie schrieb weiter alles per Hand mit Kugelscheiber oder Bleistift auf, benutzte dafür weiße Blätter mit der üblichen Reiheneinteilung oder mit Karos, so wie sie es zu ihrer Zeit in der Schule gelernt hatte. Eigentlich traute sie nur ihren eigenen handgeschriebenen Seiten, bewahrte sie immer und ewig auf, hatte bei sich zu Hause eine Ablage über alles, was sie je geschrieben hatte. So konnte sie immer wieder etwas hervorholen und beweisen, dass sie keinen Fehler begangen hatte, es waren immer die anderen. Präsident und Vizepräsidentin glaubten sich beide fehlerfrei und hatten einen Hass auf die gesamte Elektronik. Zumindest in diesem Punkt passten sie gut zusammen.

Doch die Disharmonie zwischen Präsident und Vizepräsidentin hatte für mich zur Folge, dass ich es den beiden nie recht machen konnte. Entweder war der Präsident nicht einverstanden damit, dass ich Sekretariatsarbeiten jetzt gerade für sie machte, oder es war umgekehrt. Und beide wollten das letzte Wörtchen haben und ich saß oft zwischen den Stühlen. Wenn der Präsident mitten am Nachmittag seine Sachen packte und nach Hause ging, wusste ich, dass sich wieder mal die Vizepräsidentin irgendwie durchgesetzt hatte. Zog sie ein Gesicht, als wäre ihr eine Maus über die Leber gelaufen, dann war das Gegenteil passiert. Hätten diese beiden führenden Kräfte an einem Strang gezogen, wären manche früheren Mitarbeiter geblieben. Keiner kann alles, doch hätte man sich ausgetauscht und ergänzt, wären viele positive Ergebnisse erreicht worden.

Ausschluss aus dem Verwaltungsausschuss

Der Verwaltungsausschuss setzte sich zusammen aus mehreren Personen, die das ganze Jahr über fast nie präsent waren und eigentlich keine Ahnung hatten, was so eine Vereinigung überhaupt macht und was an Arbeit geleistet wird. Mit Sprüchen und Dummreden ist noch nie irgendetwas zustande gekommen. Die Arbeit, die das ganze Jahr über anfiel, wurde erledigt von den wenigen, die regelmäßig ihre Aufwartung machten. Gelegentlich auf einen Kaffeeschwatz erschienen die ständig Abwesenden, um sich über den Stand der Dinge zu informieren. Es kam auch vor, dass sich einer kurz vor Feierabend blicken ließ, gerade so bevor die Türen geschlossen wurden. Es war eben wie in jeder Vereinigung: die einen arbeiteten, die anderen ruhten sich aus und gaben dumme Sprüche zum Besten.

Alle zwei Jahre tagte besagter Verwaltungsausschuss für die Wahl und die Wiederwahl von Mitgliedern dieses Ausschusses. Am Tag der Neuwahlen saßen die fünf Verwaltungsmitglieder schon beisammen, als ich eintraf. Am Ende des langen Bürotisches saß der Präsident und begrüßte alle Anwesenden wie immer. An seiner rechten Seite saß die Vizepräsidentin. Es wurde über die Aktivitäten des vergangenen Jahres gesprochen und über die bevorstehende jährliche Mitgliederversammlung. Jeder sollte sagen, was ihn dazu bewogen hätte, in der Vereinigung mitzuarbeiten. Was soll denn diese Frage? fragte ich mich im Stillen. Jeder Anwesende sagte irgendetwas zu dieser Frage. Als es an mir war, sagte ich, dass meiner Ansicht nach im vergangenen Jahr gute Arbeit geleistet worden wäre. Da unterbrach mich gleich der Präsident mit den Worten: »Ich warte immer noch auf diesen Bericht der Sitzung. Unsere Sekretärin hat den noch immer nicht fertig.«

Damit war wohl ich gemeint und mein Mund ging auf und dann schnell wieder zu, ich fing an zu stottern und wollte sagen, dass die einzige Person, die Berichte schrieb, ich war. Doch ich brachte keinen Ton über die Lippen und dachte daran, dass alle, die hier saßen, über das ganze vergangene Mitgliedsjahr nichts aufzuweisen hatten, also auch nichts verkehrt gemacht hatten. Sie wurden nicht nach einem Bericht gefragt. Und sein Ton gefiel mir gar nicht. Warum konnte er nicht ganz normal nach diesem Bericht fragen? Dann hätte ich ganz normal antworten können, dass ich den geschriebenen Bericht bei mir zu Hause vergessen hatte. Nun, seine Funktion als Präsident und alles, was damit einherging, war ihm schon immer das Wichtigste. Er musste sich immer in der Öfentlichkeit darstellen, wollte gesehen werden. Politiker wäre sein idealer Beruf gewesen. Er hatte auch noch nicht bemerkt, dass ich völlig überlastet war, schon alleine mit der anfallenden Schreibarbeit. Ich empfand diese Frage als eine Erniedrigung vor versammelter Mannschaft. War es sein Ziel, mich ins offene Messer laufen zu lassen?

Ich formulierte schließlich eine Antwort auf meine Weise: »Hätte ich nicht diese Woche die Schlüssel von der Vereinigung zurückgeben müssen, ich weiß heute noch nicht, warum, hätte ich den Bericht schon lange fertig haben können. In meiner Zeit im Bereitschaftsdienst bleibt mir im Moment keine Zeit zum Schreiben.« Die Rückgabe der Schlüssel war in der vorherigen Woche gewesen. Als ich dann nach dem Dienstwagen gefragt hatte, der eigentlich allen zur Verfügung stand und bei Bedarf genutzt werden konnte, war mir dieser vom Präsidenten verweigert worden. Es ging um eine Gerichtsverhandlung im Fall meines Sohnes Koby, ich hätte für die Gerichtsverhandlung nach Lüttich gemusst. Nur dieses eine Mal hatte ich den Dienstwagen beanspruchen wollen und es war doch für eine offizielle amtliche Sache im Dienste der Organisation und eines Opfers. Die Nutzung dieses Wagens wäre eine Sache des Vertrauens, das war seine Antwort. Dieser Satz hatte mich betroffen und nachdenklich gemacht, ich hatte keine Antwort parat.

Castafiore, ich nenne sie mal so hier im Buch, saß also nun da mit gesenktem Blick, ihr Kleid gab den Blick frei auf ihr üppiges Dekolleté, ihr Busen ruhte auf der Tischkante. Herausgeputzt war sie, es fehlten nur die Schleifchen in den Haaren, das hätte sie noch unschuldiger aussehen lassen. Wollte sie vielleicht den älteren Verwaltungsmitarbeiter, der heute neben ihr saß, damit betören? Doch der war anders gestrickt, das müsste sie eigentlich wissen, zumal sie ja nicht nur alles wusste, sondern auch alles besser wusste. Er war ein ehemaliger Manager einer bekannten Hotelkette in Luxemburg und Mitglied in der Stiftung der Vereinigung – es gab die gemeinnützige Vereinigung und die Stiftung. Dieser wohlerzogene und weit gereiste Mann ließ sich auch nur zwei- bis dreimal pro Jahr in der Vereinigung blicken, doch heute hatte man ihn für die zwei anstehenden Wahlen – des Verwaltungsausschusses und der Stiftung– herbestellt. Er war ebenfalls einer der alten Schule, so wie die Castafiore, sie passten zusammen, und gerade war er wieder dabei, ihr zu schmeicheln und sie zu loben für die enorme Arbeit, die sie geleistet hatte. Sie strahlte über das ganze Gesicht.

Die Studentin, die auch nur einige Male im Jahr auftrat, war ebenfalls Verwaltungsmitglied und an diesem Tag präsent. Das ganze Jahr über hatten wir uns zweimal im Büro getroffen, doch heute hatte sie sich freimachen können. Sie verglich immer wieder das Mutterhaus der Vereinigung mit Sitz in Deutschland mit der Vereinigung in Luxemburg. In Deutschland hatten sie schönere Gebäude, Büros und Möbel. Sie tat sich dann immer hervor mit allem, was sie dann in der Vereinigung arbeiten wollte. Doch über eine bevorstehende Arbeit zu sprechen, ist leichter und angenehmer, als sie zu erledigen. Sie begab sich dann gleich wieder zum Studieren nach Deutschland und machte gar keine Arbeit für die Institution. Ihr Name stand auf der Liste der Verwaltungsmitglieder, ansonsten war sie für mich wie ein Gespenst, so wie fast alle Mitglieder, denn man sah sie fast nie.

An diesem Tag der Neuwahlen lag also irgendetwas in der Luft, so sagten es mir auch meine Gefühle und die hatten mich ja noch nie getäuscht. Bei den früheren Sitzungen für die Neuwahlen hatten dieselben, die nun anwesend waren, immer per Schreiben ihr Votum abgegeben. Heute waren alle Mitglieder des Verwaltungsausschusses persönlich erschienen. Als es dann zu der Wiederwahl der Mitglieder des Vorstandes kam und mein Name fiel, hoben alle wie auf Kommando die Hand in die Höhe, der Arm des Präsidenten schnellte als Erster hoch. Nach meinem erstaunten und leisen »Warum« schauten alle betreten weg, es kam keine Antwort. Nun ging mir durch den Kopf, dass bei dieser Sitzung letztes Jahr, als auch über ein bestehendes Mitglied abgestimmt wurde, der Präsident uns allen vorher Geschichten erzählt hatte über dieses Mitglied, von dem er wünschte, dass es ging. Ich wusste damals nicht, ob alles wahr war oder nicht, was er uns so erzählt hatte, doch hatte auch ich gegen diesen Mann gestimmt. Vielleicht war das damals nicht gerecht gewesen. Und was hatte der Präsident wohl über mich erzählt, damit alle gegen mich stimmten? Skrupellos hatte er sich letztes Jahr der Mitglieder bedient, um den einen Mann aus dem Verwaltungsausschuss rauszuhauen. Früher hatte dieser Mann so manches an handwerklichen Tätigkeiten im Gebäude erledigt, er war eben kein Bürokrat. Doch alle Hände waren nützlich. Zurzeit standen aber keine Instandsetzungen, Anstriche oder andere Verbesserungen des Gebäudes mehr an, da wollte ihn der Präsident vielleicht nicht mehr sehen. Solange noch Mitglieder existierten, konnte er immer einen raushauen, wie es ihm passte. Das Muster schien immer gleich. Zuerst machte er einen schlecht und wiegelte die anderen gegen die betrefende Person auf. Auch in meinem Fall war es so, wie mir jetzt klar wurde. Doch egal, was er von mir erzählt hatte, ich würde es nie erfahren. Allerdings wusste ich sofort: Es konnten nur lauter infame Lügen sein. Ich hatte in ihm schon seit einiger Zeit einen Manipulator gesehen. Ich wusste, dass er vollkommen aufrichtig erscheinen konnte, während er unverhohlen eine Lüge erzählte. Diese Gedanken rasten mir nahezu durch den Kopf, ich fühlte eine unendliche Leere in mir, war fassungslos und kopflos. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie einen solchen herben Schlag ins Gesicht bekommen. Als ich aufstand, meine Tasche nahm und mich anschickte, den Saal zu verlassen, kam immer noch kein Ton von den Anwesenden. Feige saßen sie da, starrten betreten auf ihre Unterlagen, die sie von mir in einer Mappe erhalten hatten. Jetzt hatte ich dann auch die Antwort auf meine Frage, warum alle präsent waren. Und meine Gefühle hatten mich mal wieder nicht getäuscht. Mein gesunder Menschenverstand sagte mir weiter, dass hier einiges im Argen lag, aber ich wusste nicht, was das war.

Wie ein geprügelter Hund verließ ich den Saal, verlegen schauten alle weg und niemand wagte es, den Blick zu erheben. Der eine blätterte in einem dicken Ordner, der in der Mitte des Tisches lag, ein anderer musste gerade jetzt austreten. Und Castafiore in ihrem langweiligen dunklen Kleid mit gelben Streifen – der Knopf, der auf der Brust alles zusammenhalten sollte, hatte Schwerstarbeit zu leisten. Ihr Gesicht konnte ich nicht so richtig sehen, von der Seite verdeckt von dem Mann, den sie insgeheim anbetete. Vielleicht hatte sie sich auch extra so hingesetzt, dass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Was ich sehen konnte, war ihre Grusel-Handtasche, die auf dem Tisch stand.

Ich war schon in der Tür, da fragte der Präsident noch: »Hast du den Vortrag vorbereitet für die Generalversammlung am nächsten Samstag?«

Ich konnte es nicht fassen. Er wagte es, mir diese Frage zu stellen, wo er doch gar nicht wissen konnte, ob ich überhaupt an der Generalversammlung teilnehmen würde. War ich nicht gerade ausgeschlossen worden oder hatte ich mich verhört? »Ja, habe ich erledigt«, antwortete ich knapp.

»Bis Samstag dann«, sagte er daraufhin.

Darauf gab ich keine Antwort. Doch eines war mir jetzt schon klar: Sollte ich erscheinen, dann würde ich den von mir vorbereiteten Vortrag über das letzte Jahr, den ich persönlich auf der Generalversammlung vortragen sollte, ganz bestimmt nicht dabeihaben. Sollte das doch jemand anderes tun. Jetzt verlor ich jedoch kein Wort darüber. Ich würde einfach eine ganz andere Sache vortragen, ein ganz persönliches Thema.

Wie ich es damals fertiggebracht habe, meine Unterlagen und Schreibutensilien in meine Mappe zu legen, weiß ich heute nicht mehr. Mein Gesicht war sicher starr, ohne irgendeine Reaktion gewesen. Nur nicht heulen, das hatte ich mir immer wieder gesagt, nicht hier, nicht jetzt. Hoch erhobenen Hauptes hatte ich den Saal verlassen, ohne Gruß. Ich war völlig neben der Spur, als ich aus dem Gebäude trat. Fast fiel ich die Treppe hinunter und hielt mich gerade noch an der Mauer fest. Dann stieg ich ganz behutsam die Treppe hinunter, ging schnell weiter und weg und fing an zu laufen. Nur schnell fort, weit fort, einfach weg, irgendwohin. Denken konnte ich in dem Moment nicht mehr, ich hatte Schmerzen, es tat weh, überall tat es weh. Dann schrie jemand ganz fürchterlich, beschimpfte mich, Schimpfwörter, die ich noch nie in meinem Leben gehört hatte. Ich war gegen einen Fußgänger auf dem Bürgersteig gestoßen, der stieß mich zurück und ich fiel dabei zu Boden. Der Mann schimpfte noch immer und weg war er. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so auf dem Boden gelegen, mir taten alle Knochen weh. Erst jetzt wurde mir bewusst, wo ich mich befand: Bei der Adolphe-Brücke lag ich. Als ich mich aufrappelte, klebten meine nassen und schmutzigen Kleider an mir. Wie ich dorthin kam, ist mir bis heute ein Rätsel. Zu Fuß natürlich, doch mir fehlen die Minuten vom Verlassen des Gebäudes bis hierher. Dieser Mann war meine Rettung gewesen, als ich ihn anrempelte, kam ich in die Gegenwart zurück. Ausgerechnet von dieser Brücke sprangen die Menschen in den Tod, aber das konnte ich doch nicht vorgehabt haben. Mit einem Sprung in die Tiefe auf der Brücke wären eigentlich nur meine beiden Kinder bestraft gewesen, sonst niemand. Es genügte, dass der Vater meiner Kinder, mein Mann, auf so tragische Weise gestorben war. Die schrecklichen Ereignisse, denen Koby in Schule, Internat und Sportclub ausgesetzt war, hatten zu seinem plötzlichen Tod beigetragen. Mittlerweile waren beide erwachsen und lebten noch mit mir im Elternhaus. Schnell weg von der Brücke, nur weg, das war mein nächster Gedanke.

Komplett desorientiert bin ich dann umhergeirrt, konnte mich später nicht mehr daran erinnern, wo ich überall gewesen war. Wo ich mein Auto abgestellt hatte, wusste ich auch nicht mehr. Vor dem Bahnhofsgebäude stand ich und schaute an mir herunter. Nicht nur, dass meine Kleider nass und schmutzig waren, meine Haare klebten an mir, meine Beine waren dreckig, die Füße hatten kaum Halt in den durchnässten Schuhen. Und wo war eigentlich meine Handtasche abgeblieben? Schuld an meinem Zustand war sicher mein Sturz. So wie ich aussah, hätte man mich als Landstreicher festnehmen können, ohne Papiere, ohne Geld. Passabel wollte ich wieder aussehen, wenn ich nach Hause komme. Meine Kinder sollten nichts bemerken. Ich wusste, dass sich im Bahnhofsgebäude Duschen befinden. Ein bisschen Kleingeld, das ich in meiner Manteltasche fand, genügte für eine Dusche. Die Toilettenfrau, die auch für die Duschen zuständig war, schob mir ein schäbiges Handtuch zu, für das ich ihr kein Geld mehr geben konnte. Sie war sehr lieb und verständnisvoll.

Als ich nach zwei Stunden mein Auto in einer Seitenstraße wiederfand, wo ich eigentlich noch nie geparkt hatte, stellte ich fest, dass meine Handtasche, in der auch mein Handy war, neben dem Auto auf dem Boden lag. Leicht hätte sie jemand mitnehmen können. So verwirrt, so weggetreten konnte ich doch eigentlich nicht gewesen sein! Auf dem Display sah ich, dass meine beiden Kinder mich mehrere Male angerufen hatten. Ich rief gleich zurück und konnte sie beruhigen, ich käme später nach Hause. Als ich um Mitternacht zu Hause ankam, sagte ich, wir hätten nach den Wahlen noch gefeiert und dabei etwas getrunken, das hätte zu dieser Verspätung geführt. Dann ging ich gleich zu Bett. Da ich eigentlich noch nie gut lügen konnte, wusste ich, dass die beiden mir diese dumme Ausrede nicht abgenommen hatten. Doch an diesem Abend fragten beide nicht nach, sie beließen es bei meiner Antwort.

Später habe ich mich noch einmal zum Bahnhofsgebäude begeben, um mit der Toilettenfrau ins Gespräch zu kommen. Sie erkannte mich zuerst gar nicht. Erst als ich ihr dankte für Dusche und Handtuch erkannte sie mich. Von nun an besuchte ich sie ab und zu im unteren Stockwerk, wo sich die Toiletten befinden, und wir hielten einen kleinen Schwatz und tranken eine Tasse Kafee.

Meine letzte Generalversammlung

Die jährliche Generalversammlung fand wie jedes Jahr in einer schönen Hotelanlage statt, die sich in ruhiger Lage im Grünen in einem Außenbezirk von Luxemburg befand. Ich hatte darauf bestanden, an dieser für mich letzten Generalversammlung der Vereinigung teilzunehmen, obwohl ich nicht mehr dazugehörte. Die Berichterstattung über das vergangene Mitgliedsjahr hatte immer zu meinen Aufgaben gehört. Vor Wochen hatte ich sie schon niedergeschrieben, doch ich hatte die Unterlagen absichtlich zu Hause gelassen. Bescheid hatte ich nicht gesagt, sollte doch ein anderer sich darum kümmern.